Bodengestützte Luftabwehr: zeitlos relevant · 2021. 1. 4. · Bodengestützte Luftabwehr: zeitlos...

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36 Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 04/2018 Forschung und Lehre modifizieren, ersatzlos zu streichen oder durch ein neues Produkt zu ersetzen sind. Der Kurzstreckenbereich dagegen ist recht gut abgedeckt durch die 35-mm-Syste- me sowie ASRAD, Crotale und die Flie- gerfäuste. Durch die Ausserdienststellung der 9K37-M1, die Finnland Mitte der 1990er Jahre von Russland erhalten hatte, entstand temporär eine Lücke auf mittle- re und lange Distanz. Diese wird durch die Nachbeschaffung von NASAMS II FIN aus Norwegen (seit 2011) nicht voll- ständig geschlossen werden können. Polen Das NATO-Mitglied Polen ist we- gen seiner Nachbarschaft zu Russland bestrebt, seine militärische Einbindung in die Bündnis-Strukturen und eine ver- stärkte bilaterale Zusammenarbeit mit den USA einzugehen. Dies äusserte sich etwa in der Bereitschaft, Standorte für das amerikanische Aegis Ballistic Missile Defense System zur Verfügung zu stellen. Typisch für ehemalige Ostblockländer verfügt die polnische Armee über eine grosse Menge Material vornehmlich sow- jetischer Herkunft und von unterschied- licher Qualität. Sowohl das Heer als auch die Luftwaffe sind mit der Fliegerabwehr Mauro Mantovani, Amos Dossi Die Dislozierung moderner Luftab- wehrsysteme S-400 nach Kaliningrad und Sewastopol, ihre Beschaffung durch die Türkei, der Abschuss eines russischen Kampfjets SU-25 über syrischem Rebel- lengebiet sowie der spektakuläre Droh- nenangriff auf russische Militärbasen in Tartus und Hmeimim: Ein aktueller Blick auf die Region entlang der NATO- Ostgrenze verdeutlicht die ungebroche- ne Bedeutung bodengestützter Luftver- teidigung (BODLUV). Aktuelle Herausforderungen In Zeiten «hybrider» Kriegführung hat sich Luftverteidigung auf ein Waffenspek- trum auszurichten, das sich von selbstge- bauten Raketen, Artillerie- und Minenwer- fergranaten über GPS-gesteuerte Droh- nen, Helikopter, Düsenflugzeuge, Cruise- Missiles und Stealthflugzeuge bis hin zu nuklear bestückbaren Interkontinental- raketen erstreckt. Wie wahrscheinlich ein Einsatz derartiger Systeme ist, hängt vom jeweiligen Konflikt ab, ist jedoch, wie jüngste Erfahrungen zeigen, kaum lang- fristig vorhersehbar. Jedenfalls erfordert ihre differenzierte Abwehr immer aufwen- digere organisatorische und technologi- sche Vorkehrungen. Nach welchen Krite- rien diese getroffen werden, soll im Fol- genden anhand Finnlands, Polens und Georgiens aufgezeigt werden, welche die geographische Lage beziehungsweise Ex- position entlang der ungefähren Einfluss- grenze NATO–Russland verbindet. Finnland Die Finnen gehen schon seit Jahrzehn- ten von Russland als dem einzigen poten- ziellen Aggressor aus – sowohl zu Lande als auch aus der Luft. Im Hinblick auf das in dieser Region generell wachsende russi- sche Luftkriegspotenzial verfügen die fin- nischen Streitkräfte über etwa 60 selbst- fahrende Boden-Luft-Lenkwaffensyste- me modernerer Bauart: 16 LKW-gestütz- te ASRAD von Rheinmetall; 20 Crotale NG auf Selbstfahrlafette sowie 24 LKW- gestützte NASAMS II FIN. Darüber hi- naus finden Stinger- und RBS-70-Flieger- fäuste Verwendung. An Rohrwaffen gibt es eine grosse Menge 23-mm-Maschinen- kanonen russischer Herkunft, die teilweise mit Laser-Entfernungsmessern und Mis- tral-Raketen kampfwertgesteigert wur- den, sowie 23 35-mm-Systeme der Typen Oerlikon GDF sowie Marksman, letztere selbstfahrend und jüngst vom Chassis des T-90 auf jenes des Leopard 2 umgerüstet. Damit steht in Finnland eine ganze Rei- he verschiedener Flugabwehrsysteme un- terschiedlicher Herkunft und Leistungs- fähigkeit bereit. Ein solches Sammelsu- rium ist logistisch und ausbildungstech- nisch ungünstig, jedoch typisch für die Weiterverwendungsmentalität der Fin- nen. Diese kennt jedoch auch ihre Gren- zen. So ist das Gros der 23-mm-Kanonen- systeme noch im Urzustand und selbst für den unmittelbaren Nahbereich nur begrenzt tauglich. Hier wird sich also die Frage stellen, ob diese Waffen ebenfalls zu Bodengestützte Luftabwehr: zeitlos relevant Drei Beispiele von Staaten entlang der Konfliktzone West-Ost zeigen die anhaltende Bedeutung von BODLUV allgemein, aber auch die divergierende Gewichtung solcher Systeme im Rahmen der nationalen Luftverteidigungsdispositive. Die globalen Trends auf dem BODLUV- Markt begünstigen die Käufer gegenüber den Anbietern. Das NATO-Mitglied Türkei erhält voraussichtlich ab 2020 vier komplette Feuereinheiten des russischen Boden-Luft-Verteidigungssystems S-400 TRIUMF. Bild: Wikimedia

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  • 36 Allgemeine Schweizerische Militärzeitschrift 04/2018

    Forschung und Lehre

    modifizieren, ersatzlos zu streichen oderdurch ein neues Produkt zu ersetzen sind.Der Kurzstreckenbereich dagegen ist rechtgut abgedeckt durch die 35-mm-Syste-me sowie ASRAD, Crotale und die Flie-gerfäuste. Durch die Ausserdienststellungder 9K37-M1, die Finnland Mitte der1990er Jahre von Russland erhalten hatte,entstand temporär eine Lücke auf mittle-re und lange Distanz. Diese wird durchdie Nachbeschaffung von NASAMS IIFIN aus Norwegen (seit 2011) nicht voll-ständig geschlossen werden können.

    Polen

    Das NATO-Mitglied Polen ist we-gen seiner Nachbarschaft zu Russland bestrebt, seine militärische Einbindungin die Bündnis-Strukturen und eine ver-stärkte bilaterale Zusammenarbeit mitden USA einzugehen. Dies äusserte sichetwa in der Bereitschaft, Standorte fürdas amerikanische Aegis Ballistic MissileDefense System zur Verfügung zu stellen.

    Typisch für ehemalige Ostblockländerverfügt die polnische Armee über einegrosse Menge Material vornehmlich sow-jetischer Herkunft und von unterschied-licher Qualität. Sowohl das Heer als auchdie Luftwaffe sind mit der Fliegerabwehr

    Mauro Mantovani, Amos Dossi

    Die Dislozierung moderner Luftab-wehrsysteme S-400 nach Kaliningradund Sewastopol, ihre Beschaffung durchdie Türkei, der Abschuss eines russischenKampfjets SU-25 über syrischem Rebel-lengebiet sowie der spektakuläre Droh-nenangriff auf russische Militärbasenin Tartus und Hmeimim: Ein aktuellerBlick auf die Region entlang der NATO-Ostgrenze verdeutlicht die ungebroche-ne Bedeutung bodengestützter Luftver-teidigung (BODLUV).

    Aktuelle Herausforderungen

    In Zeiten «hybrider» Kriegführung hatsich Luftverteidigung auf ein Waffenspek-trum auszurichten, das sich von selbstge-bauten Raketen, Artillerie- und Minenwer-fergranaten über GPS-gesteuerte Droh-nen, Helikopter, Düsenflugzeuge, Cruise-Missiles und Stealthflugzeuge bis hin zunuklear bestückbaren Interkontinental-raketen erstreckt. Wie wahrscheinlich einEinsatz derartiger Systeme ist, hängt vomjeweiligen Konflikt ab, ist jedoch, wiejüngste Erfahrungen zeigen, kaum lang-fristig vorhersehbar. Jedenfalls erfordertihre differenzierte Abwehr immer aufwen-digere organisatorische und technologi-sche Vorkehrungen. Nach welchen Krite- rien diese getroffen werden, soll im Fol-genden anhand Finnlands, Polens undGeorgiens aufgezeigt werden, welche diegeographische Lage beziehungsweise Ex-position entlang der ungefähren Einfluss-grenze NATO–Russland verbindet.

    Finnland

    Die Finnen gehen schon seit Jahrzehn-ten von Russland als dem einzigen poten-ziellen Aggressor aus – sowohl zu Landeals auch aus der Luft. Im Hinblick auf das

    in dieser Region generell wachsende russi-sche Luftkriegspotenzial verfügen die fin-nischen Streitkräfte über etwa 60 selbst-fahrende Boden-Luft-Lenkwaffensyste-me modernerer Bauart: 16 LKW-ge stütz -te ASRAD von Rheinmetall; 20 CrotaleNG auf Selbstfahrlafette sowie 24 LKW-gestützte NASAMS II FIN. Darüber hi-naus finden Stinger- und RBS-70-Flieger-fäuste Verwendung. An Rohrwaffen gibtes eine grosse Menge 23-mm-Maschinen-kanonen russischer Herkunft, die teilweisemit Laser-Entfernungsmessern und Mis-tral-Raketen kampfwertgesteigert wur-den, sowie 23 35-mm-Systeme der TypenOerlikon GDF sowie Marksman, letztereselbstfahrend und jüngst vom Chassis desT-90 auf jenes des Leopard 2 umgerüstet.

    Damit steht in Finnland eine ganze Rei-he verschiedener Flugabwehrsysteme un-terschiedlicher Herkunft und Leistungs-fähigkeit bereit. Ein solches Sammelsu -rium ist logistisch und ausbildungstech-nisch ungünstig, jedoch typisch für dieWeiterverwendungsmentalität der Fin-nen. Diese kennt jedoch auch ihre Gren-zen. So ist das Gros der 23-mm-Kanonen-systeme noch im Urzustand und selbstfür den unmittelbaren Nahbereich nurbegrenzt tauglich. Hier wird sich also dieFrage stellen, ob diese Waffen ebenfalls zu

    Bodengestützte Luftabwehr:zeitlos relevantDrei Beispiele von Staaten entlang der Konfliktzone West-Ost zeigendie anhaltende Bedeutung von BODLUV allgemein, aber auch diedivergierende Gewichtung solcher Systeme im Rahmen der nationalenLuftverteidigungsdispositive. Die globalen Trends auf dem BODLUV-Markt begünstigen die Käufer gegenüber den Anbietern.

    Das NATO-Mitglied Türkei erhält voraussichtlich ab 2020 vier komplette Feuereinheitendes russischen Boden-Luft-Verteidigungssystems S-400 TRIUMF. Bild: Wikimedia

  • betraut. Bodengestützt sind dies nament-lich 20 Systeme 2K12 Kub sowie mehrals 64 Systeme 9K32 Strela-2 und 9K33Osa-AK. Hinzu kommen das fahrzeugge-stützte System 9K31Strela sowie das schul-tergestützte System GROM, eine neue-re polnische Eigenentwicklung. Darüber hinaus existieren 28 selbstfahrende Ka-nonensysteme der Typen ZSU-23-4 undZSU-23-4MP Biala sowie 324 23-mm-Flabkanonen für den Kraftzug. Die Luft-waffe wiederum verfügt über zwei Batte-rien des Langstreckensystems S-200C so-wie 17 Einheiten des KurzstreckensystemsS-125 Neva SC. Der polnische BODLUV-Materialpark ist also gross, aber grössten-teils alt; bis auf die GROM-Fliegerfaustund eventuell die Kanonen auf Selbstfahr-lafette erreicht ein Grossteil des momen-tan in Dienst stehenden Materials dem-nächst das Ende seiner Lebensdauer. Einwichtiger Schritt zur Erneuerung wird dieim November 2017 von den USA freige-gebene Lieferung von 208 Patriot-Lenk-waffen PAC-3 sein, sofern deren Finan-zierung gelingen sollte.

    Georgien

    Georgien hat nach dem Krieg mit Russ-land 2008, der zur Abspaltung von Ab-chasien und Südossetien geführt hat, sei-ne Hinwendung zur NATO und EU be-kräftigt und arbeitet seither mit westlicherHilfe daran, auch das Verteidigungsdispo-sitiv des Landes zu erneuern. Seine Luft-verteidigung besteht aus einer kleinen undveralteten Luftwaffe, die einem russischenAngriff kaum etwas entgegenzusetzen hät-te, und einer bodengestützten Fliegerab-wehr mehrheitlich russischer Herkunft,die als ebenso veraltet gilt: einige Batte-rien der Systeme 9K35 Strela-10, 9K37Buk-M1, 9K33 Osa-AK sowie 9K33Osa-AKM. Darüber hinaus gibt es diverseschultergestützte Systeme: 9K32 Strela-2,9K36 Strela-3 sowie 9K310 Igla-1. An mo-dernen Systemen sind im georgischen Ar-senal nur gerade einige polnische GROM-Fliegerfäuste sowie das jüngst beschaff-te israelische Kurzsstreckensystem Spydervorhanden. Diese Systeme konnten sich2008 durchaus bewähren gegen tief oderlangsam fliegende russische Maschinen,von denen angeblich 21abgeschossen wur-den. Die BODLUV wird auch in Zukunftdie zentrale Rolle in der georgischen Luft-verteidigung darstellen, auch deshalb, weilsich das kleine Land ihren Ausbau eherleisten kann als den Aufbau einer moder-nen Luftwaffe. Ein nächster Schritt könn-

    ten die 2017bestellten französischen Kurz-streckensysteme VL MICA sein.

    Drei globale Trends

    Erweitert man die Analyse der Luft-verteidigungsdispositive auf die weltwei-ten Entwicklungen, so drängen sich dreigrundsätzliche Feststellungen auf:

    Ein Grossteil der gegenwärtig globalvorhandenen Flab-Technologie stammtaus der ehemaligen Sowjetunion oder ausden USA. Das Gros davon entspricht bes-tenfalls dem technischen Stand der frü-hen 1990er Jahre und lässt sich nicht be-liebig weiterverwenden oder kampfwert-steigern. Praktisch kein Staat, dem an derLufthoheit über seinem Territorium ge le -gen ist, wird innerhalb der nächsten Deka-de auf die Grund- oder Teilerneuerung sei-ner BODLUVverzichten können.

    Die Zeiten, als die Supermächte Flab-Systeme in grosser Anzahl herstellen undin ihrer Einflusssphäre fast exklusiv ver-breiten konnten, sind vorbei. Der Produ-zentenkreis hat sich vergrössert, die «poli-tische Kundenbindung» dagegen verrin-gert. Beides schafft grundsätzlich Vorteilefür die Käufer.

    Das richtige Verhältnis zwischen bo-den- und luftgestützter Luftabwehr wirdin Zeiten knapper Budgets und vor demHintergrund interner Verteilkämpfe über-all kontrovers diskutiert. Dabei neigen re-lativ finanzstarke Staaten dazu, ihre Mit-tel in moderne Flugzeuge zu investieren,die ebenfalls einen Teil der zu erwarten-den Luftbedrohungen abwehren können.Finanzschwache Länder dagegen setzenauf die günstigeren bodengestützten Sys-teme und sind im Gegenzug bereit, aufVorzüge einer Luftwaffe – Luftpolizei-dienst, Aufklärung, Erdkampf – zu ver-zichten. Unabhängig vom letztlich gewähl-ten Mix sind Kompromisse fast ebensounvermeidlich wie das Fortbestehen von«Fähigkeitslücken». ■

    Amos DossiM.Sc. Mitarbeiter, DozenturStrategische Studien8044 Zürich

    Mauro MantovaniDr. phil.Dozent Strategische StudienMILAK an der ETH Zürich8903 Birmensdorf

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