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100 JAHRE BOLLIGEN 1911-2011 100 JAHRE SP BOLLIGEN Festschrift der Sozialdemokratischen Partei Bolligen

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1911-2011100 JAHRE SP BOLLIGEN

Festschriftder Sozialdemokratischen Partei Bolligen

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

SP

«... Im weiteren verdrängt der Finanzplatz den Werkplatz Schweiz.Ausländische Devisen fliessen in die Schweiz,was eine Überbewertung des Schweizerfrankens zur Folge hat ...»(Aus dem Protokoll der SP-Versammlung vom 2. November 1978)

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1911-2011100 JAHRE SP BOLLIGEN

Festschrift der Sozialdemokratischen Partei Bolligen

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InhaltGeschichtliches 7

Gemeindeteilet 1983 15

Porträts prominenter SP-Mitglieder 22

Bauliche Entwicklung 30

Gemeindepräsidium Margret Kiener Nellen 2001–2009: Interview 32

Wohin bewegt sich Bolligen? 35

Visionen Bolligen 2050 38

Konzept: Adrian HadornRedaktion: Verena und Adrian Hadorn und namentlich erwähnte AutorenLayout: Helmut BaureckerDruck: print 24Bolligen, im Oktober 2011

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100 Jahre Sozialdemokra-tische Partei Bolligen! Aufdieses Jubiläum dürfen wir stolz sein. In dieserFestschrift wollen wir zu-rückschauen, uns aberauch Gedanken über die

Zukunft machen.In den zehn Jahren vor dem Ersten Welt-krieg (1914–1918) stieg im Kanton Bern dieZahl der SP-Sektionen von 41 auf 135. ImMärz 1911 war es auch in Bolligen so weit.Als Sozialdemokratische Partei BolligenHabstetten wurde die heutige SP Bolligenaus der Taufe gehoben. Treibende Kräftehinter der Parteigründung waren Ge-werkschafter und Mitglieder des Grütli-vereins. In der Schweiz gab es den Grütli-verein seit 1838 als «patriotisch-demokra-tischer Arbeiterbildungsverein» mit demZiel, durch Bildung Freiheit zu erkämpfen.Auch in unserer Gemeinde setzte sich dieErkenntnis durch, dass die Arbeiterschafteine politische Vertretung braucht, dieGründung der Partei war der logischeSchritt dazu. Für breite Bevölkerungs-schichten war der Alltag in den Grün-dungs- und Aufbaujahren der SP BolligenHabstetten geprägt von sozialer Unge-rechtigkeit, Ausbeutung und einem har-ten Kampf ums Überleben. Die Sozialde-mokraten forderten eine gesicherte Al-tersvorsorge, ein funktionierendes Ge-sundheitswesen, eine gute, kostenloseBildung für alle, bezahlte Ferien, die Ein-führung des Verhältniswahlrechtes undvieles mehr. Die Vision war die Überwin-dung des Kapitalismus und die Einfüh-

rung eines demokratisch-sozialistischenSystems.Viele der massgebend durch die Sozialde-mokratische Partei erkämpften Errungen-schaften sind heute selbstverständlichund werden (mit Ausnahmen) auch vonbürgerlich-konservativen Kreisen nichtmehr in Frage gestellt.Sie mussten von un-seren Genossinnen und Genossen unterharten Entbehrungen erkämpft werden.Ich habe grossen Respekt vor all den Kämp-ferinnen und Kämpfern, die sich für sozia-len Fortschritt und soziale Gerechtigkeiteingesetzt haben. Ebenso grossen Respekthabe ich vor allen, die es heute noch tun,auch wenn es teilweise aus der Mode ge-kommen ist und neoliberale Marktwirt-schaftsapostel das Rad der Geschichte amliebsten zurückdrehen würden. Es brauchtdie SP heute genau so wie in den Grün-dungsjahren. Damals ging es darum, so-zialen Fortschritt zu erkämpfen, heutegeht es darum, diese Errungenschaften zuerhalten, zu verteidigen und weiter auszu-bauen.Die SP Bolligen hat in unserer Gemeindedeutliche Spuren hinterlassen. In denSechziger-Boomjahren des letzten Jahr-hunderts haben unsere Gemeinderäteund Kommissionsmitglieder dafür ge-sorgt, das Bolligen in der damaligenWachstumshysterie nicht vollends ver-schandelt wurde. Unsere Genossen vondamals (die Frauen durften noch nichtwählen oder gewählt werden) waren dieersten Grünen unserer Gemeinde und invielem ihrer Zeit voraus.Auch die SP Bolligen konnte nicht immer

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Vorwort

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

nur Erfolge verzeichnen.Die schmerzhafteGemeindeteilung anfangs der 80-er Jahrehat auch in der SP Spuren hinterlassen.Heute können wir aber feststellen,dass dieMehrheit in der SP damals mit ihrer Forde-rung nach Beibehaltung des Status quoante wohl recht hatte. Viele aktuelle Pro-bleme lassen sich nur regional lösen. DieEinwohnergemeinde BIO (Bolligen mit It-tigen und Ostermundigen) war eine sol-che Region und hätte auch heute noch eineideale Grösse.Die Frauen haben in der SP Bolligen eineentscheidende Rolle gespielt.Die erste Ge-meindepräsidentin kam aus der SP,und dieerste Nationalrätin aus unserer Gemeindeist eine SP-Frau.In der Gemeinde Bolligen haben in denletzten 100 Jahren unzählige Frauen undMänner in den Gemeinderäten und Kom-missionen mitgearbeitet und dafür ge-sorgt, dass die Anliegen der SP in der Poli-tik der Gemeinde ihren Niederschlag ge-funden haben und auch weiterhin finden.Ihnen allen gebührt an unserem Jubiläummein ganz besonderer Dank. Es braucht

auch weiterhin den Einsatz und das Enga-gement vieler Leute in der Sozialdemokra-tischen Partei, Leute, die sich für mehr Ge-rechtigkeit, Solidarität, eine lebenswerteintakte Umwelt und die Menschenrechteeinsetzen. Es braucht die SP, um der gras-sierenden und leider wieder salonfähigenFremdenfeindlichkeit, der Entsolidarisie-rung und den Auswüchsen eines ausserRand und Band geratenen Kapitalismusentschieden entgegenzutreten. Dies sindLeitlinien, die auch für unsere heutige SPBolligen wegweisend sind und die auchkünftig von entscheidender Bedeutungsein werden.Es ist für mich eine grosse Ehre, im Jubi-läumsjahr Präsident der SP Bolligen sein zudürfen. Ich präsidiere eine SP, die stolz aufihre Vergangenheit schauen kann, stolzsein kann auf das Erreichte,aber auch stolzauf ihre aktuelle Arbeit. Ich wünsche allenviel Mut, Kraft und Ausdauer in der politi-schen Arbeit in einem alles andere als ein-fachen politischen Umfeld.

Thomas ZyssetSP-Präsident Bolligen

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Haus Familie Grunder, Bantigenhubel

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1911: Was war das für eine Zeit?

Die ersten Seiten diesesRückblicks auf 100 Jahre SPBolligen sollen der Ge-schichte gewidmet sein,nicht nur der lokalen, son-dern verschiedenen Zwi-schenstufen bis zur globa-len Geschichte. Es ist näm-

lich eine alte Überzeugung der Sozialde-mokratie,dass die einzelne Person und daslokale Umfeld zwar wichtig sind, aber erstdie eigene Lebendigkeit entfalten, wennsie mit dem weiteren Umfeld in Friedenund im kreativen Austausch leben.Deshalb zunächst die folgenden Blitzlich-ter auf lokale und globale Ereignisse imJahre 1911. Beginnen wir mit einer hüb-schen Anekdote aus nächster Umgebungund einem traurigen Disput um die Ar-mutsfallen in der lokalen Arbeiterschaftvor 100 Jahren.Am 31. März 1911 berichtete die Berner Tag-wacht über «idyllische Zustände» :«Wer von der Station Ostermundigen denWeg nach der Ortschaft Deisswil zu unter-nehmen gedenkt, sei darauf aufmerksamgemacht, dass er nur den unzähligen Pa-pierstreifen zu folgen braucht,welche rechtsund links an der Landstrasse zerstreut lie-gen. Dann kann kein Bürger, auch der orts-unkundigste, das Ziel der Fabrikanlagen desHerrn Grossrat Jörg verfehlen. Zwar kommtes hie und da vor, dass den halboffenen Pa-pierballen Sachen entfallen, welche für deneinen oder andern von Interesse sind. Sokam uns letzthin ein Kuvert in die Hände, in

Adrian Hadorn

welchem das Mitgliederverzeichnis desVolksvereins Ostermundigen nebst demStatut enthalten war. Wir sind dem HerrnGrossrat recht dankbar für die freundlicheÜbermachung der beiden Belege und gebender Hoffnung Ausdruck, auch weiterhin mitsolchem Material versorgt zu werden. Ei-nem andern Ballen entfielen diverse Belegeaus einer bernischen Bank, Vermögensaus-weise, Rentenberechnungen, mit Namengrosser bekannter Persönlichkeiten usw.Auch diverse Schriftstücke über das Betrei-bungsverfahren, Vorladungen mit Namen,Gerichtsprotokolle, Briefe, kurzum allesMögliche liegt da manchmal auf den Stras-sen von umgestürzten Papierfudern zer-streut umher. Auch ein Bündel defekterBanknoten kam einmal zum Vorschein. Die-selben sollen reissenden Absatz gefundenhaben.» Von Datenschutz konnte damals nicht dieRede sein. Einblicke ins Innenleben des po-litischen Gegners («Volksverein») war er-wünscht, Klassenneid («Vermögensaus-weise») an der Tagesordnung.Ein paar Wochen zuvor hatte Der Bund vonweniger idyllischen Zuständen geschrie-ben:«Wie soll die Frau bei all der Samstagsspet-terei vor halb 8 Uhr einkaufen können,wennder teure Gatte und Familienvater erst nach10 Uhr und manchmal erst am Sonntag vor-mittags mit seinem Gelde nach Hausekommt? Ha, mit dem Geld! Vertrunken einViertel oder die Hälfte des mühsam er-schundenen Wochenlohnes, kanonenvoll,wie ein Schwein aussehend, dass man nurMühe hat, ihn den Augen der wachgebrüll-

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Geschichtliches

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ten Kinder zu verbergen. Und wenn er keinGeld mehr hat, nimmt er mir noch die paarFranken, die ich zur Miete mit Waschen undSpetten dazu verdiente und in der Schub-lade aufgespart habe. Warum erzieht diePartei und Gewerkschaft Mitglieder,die eineleichtsinnige Ader haben, nicht anders?Warum machen sich noch Vertrauensleutemit diesen haltlosen Schwächlingen ge-mein und sitzen und kneipen am Samstagmit ihnen, während daheim eine arme Fraumit ihren Kindern auf die paar Franken Lohnwartet, um ihre Einkäufe noch vor halb 8Uhr besorgen zu können?» Darauf erwiderte die Berner Tagwacht:«Für eine derartige Bekämpfung des Alko-holismus bedanken wir uns allerdings. Werdem Alkoholteufel ernstlich zu Leibe gehen

will,der wird mit salbungsvoller Moral nichtans Ziel gelangen. Die erste Voraussetzungfür den erfolgreichen Kampf gegen den Al-koholismus ist die Verbesserung der sozia-len Verhältnisse der ganzen Arbeiterklasse.

100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

Wo die Eltern infolge ihrer kümmerlichenErwerbsmöglichkeit die Kinder sich selbstüberlassen müssen,wo sie ihr Familienlebenin Wohnungen zu fristen haben, die der Rei-che nicht einmal seinem Hund als Unter-kunft zuweisen würde, solange derartschauderhafte, unmenschliche Zuständebestehen, darf man sich nicht wundern,wenn die Alkoholpest mehr und mehr umsich greift.» Hat der Einzelne die volle Verantwortungfür sich selbst? Oder ist auf die Umständeeinzuwirken, welche solch erbärmlicheSchicksale hervorbringen? Der Disput istalt und auch heute noch im Gange.Schauen wir kurz über die Lokalgrenzen imJahr 1911 hinaus:Um 1911 wurde in China die Sklaverei abge-

schafft,in Südafrika der ANC (AfrikanischerNationalkongress) als gewaltfreie Kampf-organisation gegen Rassismus gegründet.1911 wurde in Dübendorf der erste Flugha-fen der Schweiz eingeweiht,kurz zuvor war

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Bolligen um 1910

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Geschichtliches

die steile Niesenbahn eröffnet worden.Glühlampen mit Wolframfaden kamenauf den Markt, die ersten Diesellokomoti-ven wurden erprobt,in Zürich eröffnete dieerste schweizerische Ausstellung für Erfin-dungen die Tore der Zukunft.Am 13. Juni 1911 trat das Bundesgesetz überKranken- und Unfallversicherung in Kraft.Der Arbeiterbildungsausschuss der SPBern nahm seine Arbeit auf. Damals hat-ten bloss 8 (acht) Prozent der Fabrikarbei-ter (bloss 2 bis 3 Tage) Ferien.Und wie kam es im März 1911 zur Sektions-gründung der Sozialdemokratischen Par-tei in Bolligen? Wir konnten keine direktenQuellen finden. Hingegen findet sich inden «Lokal-Statuten der Sozialdemokrati-schen Mitgliedschaft Bolligen-Habstetten»der Hinweis auf der Titelseite «Gegründetim März 1911».Es war eine Zeit des Aufbruchs, die Sozial-demokratie steigerte ihren Stimmenanteilin den Nationalratswahlen zwischen 1902

und 1911 von 20 auf 33%. Im Kanton Bernerhöhte sich der Wähleranteil konstantvon 15,7% im Jahr 1890 auf 42,2% im Jahr1911, die Zahl der Sektionen stieg von 41(1905) auf 135 (1914), die Zahl der Mitglie-der von 1900 auf 6800. Die Partei wuchsnicht nur in den grossen Städten Bern, Bielund Thun, sondern auch in den Agglome-rationsgemeinden und in ländlichen Ge-bieten.Die herausragende Figur war RobertGrimm, 1911 in den Nationalrat und zumPräsidenten der kantonalen Partei ge-wählt.Während des Krieges organisierte erdie Konferenzen in Zimmerwald und Kien-tal, war der Gegenspieler von Lenin undnahm eine führende Position im interna-tionalen Sozialismus ein. Er wurde gegenEnde des Ersten Weltkrieges zur führen-den Figur im Generalstreik 1918, der die so-zialpolitische Entwicklung der Schweiznachhaltig prägen sollte.(siehe Kasten Seite 11)

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Habstetten um 1911

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

1918: Generalstreik

Der Generalstreik vom November 1918 wardie schwerste soziale und innenpolitischeErschütterung der Schweiz im 20.Jahrhun-dert.Im Verlaufe des Ersten Weltkrieges ver-schlechterte sich die Versorgung mit Le-bensmitteln bedrohlich, der Lebenskos-tenindex stieg von 1914 bis 1918 von 100%auf 229%. Arbeiter und Angestellte warenschwersten Entbehrungen ausgesetzt,Hunger gehörte für viele zum Alltag.Wäh-rend die Reallöhne kontinuierlich sanken,stiegen die Dividenden vieler Aktionärevon Schweizer Unternehmen teilweise auf25%. Der langjährige Generalsekretär derFreisinnig-Demokratischen Partei schrieb1926: «Es war keine Übertreibung, wenndamals berichtet wurde, dass namhafteTeile der Bevölkerung unter den Folgen vonSpekulation und Wucher Hunger leidenmussten.» 1918 lebten in Bern 27 000 Personen (26%der Wohnbevölkerung) von Lebensmittelnzu staatlich verordneten verbilligten Prei-sen. Gegen Ende des Krieges kam in derSchweiz eine verheerende Grippeepide-mie dazu. 750 000 Menschen erkrankten,25 000 starben im Winter 1918/19.In diesem wirtschaftlich und sozial aufge-wühlten Klima stellte das Oltener Streikko-mitee unter Leitung des bernischen SP-Prä-sidenten Robert Grimm Forderungen auf,welche die politische Realität der folgen-den Jahrzehnte stark prägen sollten: DieEinführung der Proporzwahlen zum Bei-spiel führte bereits 1919 zu massiven Ver-schiebungen zugunsten der Sozialdemo-kratie im eidgenössischen Parlament. Dieeingeforderte AHV wurde zwar 1925 in dieVerfassung aufgenommen, ihre Verwirkli-

chung musste allerdings bis 1947 warten.Noch länger warteten die Frauen auf das imOltener Forderungskatalog figurierendeFrauenstimmrecht,nämlich bis 1971.Auch in Bolligen hatte der GeneralstreikWirkung: In Ittigen und Ostermundigennahmen die Arbeiterviertel aktiv am Streikteil, in Ferenberg hingegen wurden Drago-ner eingezogen, um ihn niederzuwerfen.

Weltwirtschaftskrise und 2. Weltkrieg

Die Medien haben seit 2009 öfters denVergleich der heutigen globalen Finanz-und Wirtschaftskrise mit der Weltwirt-schaftskrise von 1929 gezogen.Gewiss gibtes Parallelen, aber Unterschiede sind nochdeutlicher. Heute ist die Weltwirtschaftviel stärker vernetzt,ein vielfältiges Instru-mentarium zur Steuerung von Finanz- undHandelsströmen ist entwickelt worden.Das Volumen der Produktion, der Finanz-transaktionen und des Handels hat sichvervielfacht.Damals im Oktober 1929 führte der spek-takuläre Börsenkrach zu einem gewalti-

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Robert Grimm vor dem Bundeshaus nach dem Zweiten Weltkrieg

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Geschichtliches

gen Einbruch der Wirtschaftsleistung unddes Welthandels. Der Schock sass tief, dieStaaten schotteten sich ab. Arbeitslosig-keit und soziale Spannungen führten zupolitischen Verwerfungen und zu un-menschlichen Gräueln des Zweiten Welt-krieges. In «The Times» vom 23.Januar 1943war zu lesen,dass Arbeitslosigkeit – nebenden Kriegsfolgen – die zerstörerischste

Krankheit der Generation zwischen denWeltkriegen war.Auch in der Einwohnergemeinde Bolligenzählte man im Winter 1935/36 etwa 400Ganzarbeitslose und über 250 Teilarbeits-lose.Das entsprach 20% der Berufstätigen.Gesamtschweizerisch stieg die Arbeitslo-senziffer bis 1936 auf ca.5% der aktiven Be-völkerung.

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Robert Grimm (1881–1958) war in derbernischen Sozialdemokratie währendeines halben Jahrhunderts die dominie-rende Figur.Er bekleidete fast alle Ämter,in die man gewählt werden konnte.Aberauch international war er eine Leitfigur:In den Konferenzen von Zimmerwaldund Kiental brachte er nicht nur 2 BernerDörfer in die Weltgeschichte, er ver-netzte sozialistische Kriegsgegner underlangte als Gegenspieler von Lenin eineführende Position im internationalenSozialismus.Im Generalstreik vom November 1918spielte er eine zentrale Rolle. Im April1919 wurde er von einem Militärgerichtzu sechs Monaten Gefängnis verurteilt.Während Jahrzehnten war er für weiteTeile des Bürgertums ein rotes Tuch. Ersass fast 44 Jahre lang im Nationalrat.1926 kandidierte er als Ratspräsidentzum höchsten Schweizer. Oberst Zellerschrieb aber in der NZZ: «Herrn Grimmwürde der Leichengeruch der im Abwehr-dienst verstorbenen Wehrmänner aufden Präsidentenstuhl folgen.» 1946 kamdann doch auch dieses höchste Amt sei-ner Karriere dazu.1938 wurde er auch alsbernischer Regierungsrat gewählt undstand während Jahren der Direktion fürBauten und Eisenbahnen vor.

Wie meistens hielt er auch am kantona-len Parteitag vom 18. Februar 1940 einGrundsatzreferat und sagte über dieDiktaturen in Deutschland und Italien:«Diese stellen einen Rückfall in die Barba-rei dar.Sie vernichten die Grundrechte derMenschheit, zerstören die Freiheiten undRechte der Bürger, zerschlagen Treu undGlauben als Grundlagen der gesellschaft-lichen und zwischenstaatlichen Bezie-hungen. Es ist ein bunt zusammenge-würfelter Apparat von ehemaligenLandsknechten und Abenteurern, kultur-los, brutal und geniesserisch zugleich.»Die berüchtigte «Eingabe der 200» ent-hielt das obige Zitat und forderte, «denUrhebern von andauernden Vergiftun-gen unserer Beziehungen zu Nachbarvöl-kern in kürzerster Frist das Handwerk zulegen.» General Guisan schrieb an den Vorste-her des Eidgenössischen Militärdepar-tementes, Rudolf Minger: «Eine öffentli-che Desavouierung dieses erbärmlichenElaborates ist von allergrösster Wichtig-keit.» Bundesrat Minger aber wollte voneinem solchen «Bückling» vor Deutsch-land nichts wissen.Die Geschichte hat Robert Grimm undRudolf Minger Recht gegeben.

(Aus: 100 Jahre SP Kanton Bern, S. 114 ff)

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

Der 1.-Mai-Aufruf der SPS von 1934 töntesimpel und radikal: «Der Kapitalismus hatsich als unfähig erwiesen, ein Wirtschafts-system zu schaffen, das allen MenschenBrot und Arbeit sichert. Unter seinem Re-gime hat sich der technische Fortschrittstatt zum Segen zum Fluche für alle Völkergewandelt.»

Sowohl Gewerkschaftsbund wie die So-zialdemokratische Partei folgten demamerikanischen Ökonomen John MaynardKeynes und forderten Arbeitsbeschaf-fungsprogramme, aktive Ausgabenpolitikdes Staates, Lohn- und Preisvorschriftenund Sicherung von Minimaleinkommen.Eine entsprechende Kriseninitiative wurdeaber 1935 bei 84.4% (!) Stimmbeteiligungmit 57% Nein-Stimmen abgelehnt.Im Vorfeld des Zweiten Weltkrieges kam es– im Gegensatz zur Zeit vor dem Ers-ten Weltkrieg – zu einer Annäherung zwi-schen weiterhin dominierendem Bürger-tum und der Arbeiterschaft,welche an Ge-wicht und Einfluss ständig zunahm. Das

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Friedensabkommen in der Metall- undMaschinenindustrie vom 19. Juli 1937 lei-tete eine Ära der Sozialpartnerschaft ein,ganz im Kontrast zur Stimmung im ErstenWeltkrieg, welche zum Generalstreik ge-führt hatte. Der SPS-Parteitag von 1937anerkannte mit überwältigendem Mehrdie militärische Landesverteidigung.

Ernst Nobs (1886 – 1957), erster SP-Bun-desrat, hatte 1910 in Ostermundigen alsLehrer gewirkt, war bei der SP-Sektions-gründung vor 100 Jahren mit dabei,wurde Schüler und enger Vertrauter vonRobert Grimm. In den dramatischen Ta-gen des Generalstreiks vom Novemberkam es allerdings zu einer scharfen öf-fentlichen Auseinandersetzung zwi-schen den beiden wohl bekanntestenArbeiterführern. Ernst Nobs schrieb imZürcher «Volksrecht»: «Es ist zum Heu-len! Niemals ist schmählicher ein Streikzusammengebrochen. Nicht unter denSchlägen des Gegners, nicht an der Mut-losigkeit der eigenen Truppen,sondern an

der feigen, treulosen Haltung der Streik-leitung.» Grimm reagierte in der Berner«Tagwacht» scharf und bissig. Der«Nebelspalter» zeigte einen schwarzenSchnauzer mit den GesichtszügenGrimms und eine Nobs nachempfun-dene Buldogge. Darunter stand:«Die Tagwacht leidet an Nobsophobie!Darauf beide Köter sich zerbläuten,woran sich dann die andern freuten.»Ernst Nobs sass – gemäss Militär-Ge-richtsentscheides zum Generalstreikvom März 1919 – vier Wochen, RobertGrimm sechs Monate im Gefängnis.(Aus:Tobias Kästli,Ernst Nobs:Vom Bürgerschreck zumBundesrat. Ein politisches Leben. Zürich 1995.)

Ernst Nobs als Bundespräsident im Nationalrat

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Geschichtliches

Die Schweiz ging unvergleichlich bessergerüstet in die Zeit des Zweiten Weltkrie-ges. Von heute aus gesehen muten ver-schiedene Massnahmen wie Planwirt-schaft an: Verordnete Vorratshaltung, Ra-tionierungen, «Anbauschlacht» (als Vor-hut quasi zum Landwirtschaftsgesetz von1952, welches der Landwirtschaft einestaatliche Existenzgarantie gab). Gemässkriegswirtschaftlichen Plänen sollte Voll-beschäftigung garantiert werden. Aller-dings schloss dieses enge staatswirt-schaftliche Massnahmenpaket betrügeri-sche private Bereicherungen und Korrup-tion nicht aus.Bis 1943 wurden 65'000 Ver-gehen gegen das Kriegswirtschaftsgesetzaufgedeckt.In den Wahlen von 1943 wurde die SPS zurstärksten Partei, und Ernst Nobs zum er-sten sozialdemokratischen Bundesrat.

Die 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts*

Auf Seite 46 findet sich ein für den dama-ligen Fortschrittsglauben der Sozialdemo-kraten typisches Zitat von Ernst Nobs ausdem Jahr 1943. Zum Abschluss dieses hi-storischen Teils unserer Festschrift zum100-jährigen Bestehen der SP Bolligen sollder Wandel dieses Fortschrittsglaubensbis zum heutigen Tag in ganz geraffterWeise dargestellt werden.Mehr als die Hälfte der Schweizer waren imWinter 1985 (vor dem Atomgau von Tscher-nobyl im April 1986 und dem Chemiegauim November 1986 in der «Schweizerhal-le», auch «Tschernobâle» genannt) derMeinung, der technische Fortschritt sei so

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* Siehe Solidarität, Widerspruch, Bewegung. 100 Jahre Sozialdemokratische Partei der Schweiz. Zürich 1988, insbeson-dere S.325 ff Felix Müller, Jakob Tanner, «...im hoffnungsvollen Licht einer besseren Zukunft». Zur Geschichte der Fort-schrittsidee in der schweizerischen Arbeiterbewegung.

gefährlich geworden, dass er die Mensch-heit mehr bedrohe,als dass er ihr nütze.Die heutige Sozialdemokratie steht –wenn sie ihre eigene Geschichte ernstnimmt – vor der Frage, ob moderne und al-ternative Technologien einen «anderenFortschritt» bringen können, welcher zwi-schen den widerstreitenden Erfordernis-sen von Ökonomie und Ökologie , von Frei-heit und Gerechtigkeit, von Individuumund Gesellschaft vermitteln.Zunächst ist daran zu erinnern, dass nach1945 der Glaube an Machbarkeit, an Plan-barkeit ganz allgemein erschüttert wurde.Staatliche Planwirtschaft als Antwort aufkapitalistische Krise und Krieg scheitertenicht nur an der desillusionierenden Erfah-rung faschistischer Staatsverherrlichungund stalinistischer Parteidiktatur. Es warder unerwartete und entgegen aller Kri-senprophezeiung anhaltende, gewaltigeAufschwung des Kapitalismus, der die Si-tuation für die Arbeiterbewegung gründ-lich veränderte. Eingedenk der unter-schiedlichen Erfahrungen im Ersten undZweiten Weltkrieg waren nun auch diebürgerlichen Parteien für soziale Zuge-ständnisse bereit. 1947 wurde der über 20Jahre alte Verfassungsauftrag zur Schaf-fung der AHV unter Federführung des SP-Bundesrates Tschudi endlich realisiert. So-ziale Anliegen fanden sich nun auch in bür-gerlichen Parteiprogrammen, der Grund-gedanke des Sozialstaates wurde zum All-gemeingut.Das pragmatische SP-Parteiprogramm von1959 verzichtete darauf, eine Überwin-dung der bestehenden Gesellschaftsformeinzufordern.

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

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Die Frage der friedlichen Nutzung derNukleartechnologie zeigte am deutlichs-ten das Dilemma der SPS zwischen Fort-schrittsglauben und Technologieskepsis.Das atemberaubende Entwicklungstem-po der Technik, die Dynamik des indus-triellen Wandels, die Automation und dieChancen und Risiken der Atomtechnolo-gie verunsicherten und faszinierten dieArbeiterbewegung zugleich. Einprägsa-mes Beispiel für dieses Dilemma, aberauch für diesen persönlichen Gesin-nungswandel war Bundesrat Willy Rit-schard, erst kantonaler Atomminister,dann skeptischer Zeitgenosse: «Ein Fort-schritt, von dem man manchmal wirklichfortschreiten möchte.»Die Schweizer Wirtschaft veränderte sich.Der Dienstleistungssektor wuchs, dieLandwirtschaft schrumpfte. Angestellteüberholten bald in Zahl und gesellschaft-licher Bedeutung die traditionellen Fabrik-arbeiter.Wohlstand und Wachstum verän-derten das Lebensgefühl in der Arbeits-welt. Im Wettrennen um Besitz möglichstvieler Konsumgüter gerieten alte Idealeunter die Räder. Aus dem Proletarier vongestern wurde der Staatsbürger, dem Ex-perimente ein Gräuel und Sicherheit allesbedeutete. Materialismus minderte Soli-darität und förderte Egoismus.In den Sechzigerjahren wuchs eine Gegen-bewegung heran. Die glitzernde Fassadeder «Überflussgesellschaft» rief bei der re-bellierenden Jugend ein Unbehagen überbestehende Verhältnisse, über das «Esta-blishment» hervor. Die «neue Linke» warvielgestaltig: Radikale Frauenbewegun-gen, Drittwelt-Bewegung, aber auch eineEintrittswelle von Jungen in die SP, als Ge-genbewegung zum pragmatischen Refor-mismus, der die Partei beherrschte.

Noch gründlicher und zugleich fokussier-ter wurde der Gesinnungswandel überUmweltfragen. Im Nachwort zur erwähn-ten Jubiläumsschrift der SP Schweizschrieb der damalige Parteipräsident Hel-mut Hubacher 1988:«Die SPS steht im Jubiläumsjahr, das zu ver-heimlichen wäre unehrlich, geschwächt da.Sie ist in den eidgenössischen Wahlen vomHerbst 1987 hart zurückgeworfen worden.Sie hat sich gewandelt. Sie ist von der einsti-gen Arbeiterpartei zur linken Volkspartei ge-worden, sie hat in den beiden letzten Jahr-zehnten mitgliedermässig ein völlig neuesGesichterhalten.Und sie hatumlernen müs-sen. Die jahrzehntelange ‹Komplizenschaft›mit den Arbeitgebern, das seit Ende desZweiten Weltkrieges praktizierte Wirt-schaftswachstum ist an seine Grenzen ge-stossen. Der technische Fortschritt schreitetdavon. Die Luft ist vergiftet, die Gewässersind verschmutzt, der Boden ist verseuchtund die Wälder sind krank geworden. DieWachstumspolitik um jeden ökologischenPreis hat zur Gefahr geführt,dass Natur undUmwelt zerstört werden können.»Dieser Wandel, der weltweit im Jahre 1992an der UNO-Konferenz über Umwelt undEntwicklung in Rio de Janeiro im Zentrumstand, prägt auch heute noch das politi-sche Klima, sowohl in Gemeinden, Kanto-nen, Bund, Europa und der Welt. Im Jahr2012 wird weltweit Bilanz gezogen an derUNO-Konferenz Rio+20 und der Fragenachgegangen, ob wir in den letzten20 Jahren einer nachhaltigen Entwicklungnäher gekommen sind, ob unsere Kinderund deren Kinder die gleichen Chancen ha-ben werden wie wir, oder ob die Welt ineine Richtung fortschreitet, welche denPlaneten Erde in lebensgefährliche Risiko-zonen führt. Adrian Hadorn

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«Gemeindeteilet» 1983

Das OK 100 Jahre SP Bolli-gen lud neun prominenteVertreter der SP Bolligen,die die Gemeindeteilet sei-nerzeit hautnah miterlebthatten, zu einer Tableronde ein. Sie schilderten,wie sie diese heftige Zeit

erlebt haben und wie sie heute dazu ste-hen. Der Anlass wurde moderiert vonAdrian Hadorn, Hansjörg Meyer fungierteals Chronist.

* * *

ProtokollTeilnehmer des Podiums:Max Baltensberger, Urs Graf, Heidi Jaberg-Hostettler, Res Jenzer, Ruedi Lauterburg,Gerhard Schmutz, Hans Tempelmann,Ernst Widmer, Margret Kiener Nellen Moderation: Adrian Hadorn Chronist: Hansjörg MeyerGäste: Jörg Oetterli, Willy Portmann,Helmut Baurecker

Kernfragen:1. Bewegt die Gemeindeteilet von 1983 dieGemüter heute noch?2. Warum ist die SP damals nicht ge-schlossen aufgetreten? Waren es vor allemsachliche oder doch auch persönlicheGründe? Wie hat die SP die Niederlageverkraftet?3. Welches waren die Folgen der Ge-meindeteilet:– für die Gemeinde?– für die SP Bolligen?Was war positiv und Chance für die Zu-kunft?

Was war negativ, welches Risiko, welcheNachteile für die Zukunft?Lehren nach 30 Jahren für heute und mor-gen: War der Entscheid von 1983 richtigoder falsch?4. Wenn morgen die Abstimmung «Einge-meindung in Bern» oder «BIO (Bolligen-Ittigen-Ostermundigen)-Zentralisierung»stattfinden würde:Was würde die SP emp-fehlen, wie würde ich stimmen?

Margret Kiener Nellen begrüsst die Anwe-senden.

Rückblicke aus persönlicher Sicht

Res Jenzer: Ich war nie Bolliger, sondernOstermundiger. Was damals geschah, be-wegt uns, die damaligen Zeitzeugen,heute noch, die Jungen aber wohl nichtmehr. Die SP trat damals nicht geschlos-sen auf, man stritt teilweise gegeneinan-der. Junge und Linke waren tendenzielleher für Beibehaltung des Status quo, äl-tere eher für Teilung. Die einzelnen Ge-meinden erhielten nach der Teilung weni-ger Gewicht in der Region. Die SP wurdegeschwächt. Wir lagen einfach nicht imTrend. Heute geht der Trend Richtung Fu-sion. Der damalige Entscheid war ganzklar falsch.Ruedi Lauterburg: Der «Privatkrieg» zwi-schen Theo Lehmann und Jakob Knöpfelstand im Vordergrund. Folgen der Teilung:Die Befürworter propagierten zwar weni-ger Verwaltung, aber das Gegenteil tratein: alle neuen Gemeinden hatten dannihre eigene Verwaltung – Parkinson tratauf. Was positiv war: Ich war seit 12 Jahrenin der Sekundarschulkommission, eine

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Table ronde «Gemeindeteilet 1983»vom 25. Juni 2011 im Restaurant «Sternen», Bolligen

Hansjörg Meyer

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

Riesenkommission,das wurde besser nachder Aufteilung, überschaubarer.Eine Erinnerung an die persönlichen Ani-mositäten: Mit dem feurigen Elias fuhrenwir im Grossen Gemeinderat einmaldurchs Worblental. Dann, bei der Besichti-gung der Lok, pfiff man mich zurück in denWagen, weil auch einige SVP-Kollegen aufder Lok waren.Urs Graf: Für mich ist die Sache längst ab-geschlossen. Die Auseinandersetzungenin Ostermundigen wurden hier wenigerbeachtet. Die Steuerfolgen waren wesent-lich in der Diskussion. Es war eine Auf-bruchsstimmung in der SP Bolligen unab-

hängig von der Gemeindeteilung, es kametwas in Bewegung. Die Teilung zog sichsehr lang hin und wurde am Schluss sehrformalistisch, ich zog mich zurück aus derGemeinde-Politik. Massgebend für diesenEntscheid waren die gehässige Stimmungin der Gemeinde zwischen den Bürgerli-chen und der SP mit persönlichen Ausein-andersetzungen, sowie meine beruflicheWeiterbildung. Die SP gewann nach derGemeindeteilung Stimmen in Bolligen,fürdie SVP ging der Schuss hinten raus.Lehren für heute: Seriöse und sachlicheSP-Politik wurde honoriert, Margret späterdann auch zur Gemeindepräsidentin

gewählt. Ich würde den Entscheid nichtrückgängig machen, obwohl er falsch war.Heute sollte ein Zusammenschluss imWorblental diskutiert werden.Max Baltensberger: Ich fühle mich wie einpolitisches Urgestein. Ich war überrascht,dass die Teilung erst 1983 realisiert wurde,offenbar wurde während 10 Jahren darumgestritten. Aber heute berührt das wohlniemanden mehr in Bolligen. Die Ausein-andersetzung damals war vor allem per-sönlicher Art. Theo Lehmann und JakobKnöpfel waren beide ehrgeizig, bei Knöp-fel spielte wohl auch der «Napoleon-Ef-fekt». Nach der Teilung gab es aber einenriesigen Aufschwung der SP in Bolligen,das überraschte auch die bürgerlichen Par-teien. Gegenwärtig würde ich am institu-tionellen Rahmen nichts mehr ändern.Heidi Jaberg: Bei mir spielte sich alles aufemotionaler Ebene ab.Ich arbeitete auf derViertelsgemeinde und kriegte diese Turbu-lenzen mit. Auch das Personal war unzu-frieden, weil es unter den neuen Verwal-tungen aufgeteilt werden sollte. Die Aus-einandersetzung war sogar in persönli-chen Geschäftsbeziehungen spürbar, dieabgebrochen werden mussten. Je nachParteizugehörigkeit grüsste man einandernicht mehr. Ich würde aber den heutigenZustand beibehalten,wir hatten stets guteSP-Gemeinderäte in Bolligen. Auch derKampf ums Frauenstimmrecht war hart,man warf uns Befürworterinnen vor, wirseien ja Rote. Heute kann man sich freieräussern.Gerhard Schmutz: Ich war bis 1963 in Oster-mundigen, ab 1970 in Bolligen. Heute be-wegt diese Zeit die Gemüter nicht mehr.Warum trat die SP nicht geschlossen auf?Es war ein trauriges Kapitel, es ging stetsum Macht. Wer ein Ämtli in der alten Ge-

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Ruedi Lauterburg, Gerhard Schmutz

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«Gemeindeteilet» 1983

meinde hatte, war fürden Status quo, wer einÄmtli in einer Viertelsge-meinde hatte,war für Tei-lung.Macht korrumpiert.Auch die HauptfigurenLehmann und Knöpfelstritten trotz allen sachli-chen Argumentationenvor allem um ihre Macht.Die Partei blieb dabei aufder Strecke. Wenn mansieht, wie heute die poli-tischen Geschäfte in derGemeinde Bolligen mitmangelnder Professio-nalität besorgt werden, dann kommt manzum Schluss, dass der Entscheid zur Tei-lung falsch war. Ziel sollte ein GrossraumBern sein. Auch Fusionen im Worblentalwären nur ein Zwischenschritt. Interes-sant ist die Entwicklung der Gemeinde-finanzen: zur Zeit von Margret waren siepositiv, heute sind sie Anlass zu Besorgnis.Das wäre in einem grösseren Gemeinwe-sen besser steuerbar.Res Jenzer: Dass die SP Bolligen stark ge-worden ist, ist wesentlich Margret – und

den andern SP-Gemeinderäten – zu ver-danken.Ernst Widmer: Heute ist niemand mehr er-regt,viele Protagonisten leben heute nichtmehr. Die Partei erklärte sich mündlich da-mit einverstanden, dass ich mich öffent-lich für die Verselbständigung einsetzenkonnte.Zweites mündliches Zugeständniswar, dass ich an den Gemeindeversamm-lungen Züritüütsch reden durfte. Wir hat-ten ein gutes Verhältnis im Gemeinderat.Es ist weitgehend Hans Sterchi zu verdan-

ken, dass das Verhältnisim neuen Gemeinderatim Allgemeinen gut war.Ich bereue den Entscheidder Verselbständigung inkeiner Weise.Hans Tempelmann: Lei-der konnte man damalsnicht über eine Zentrali-sierung abstimmen –wie im Jahr 1930, als dieBürgerlichen einen ent-sprechenden Volksent-scheid erfolgreich ange-

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Adrian Hadorn, Urs Graf, Max Baltensperger

Jörg Oetterli, Ernst Widmer, Hans Tempelmann

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fochten hatten. Von 1964–1973 hatte ichals Vizepräsident und Finanzvorstehereine tolle Zeit im Gemeinderat der Vier-telsgemeinde Bolligen. Mit Anton Amonnals zuständigem Gemeinderat des Res-sorts Planung konnte die SP Bolligen ih-ren Einfluss bei zwei Schlüsselressortseinbringen. Ich wurde bei meinen Plänenbezüglich der Finanzen stets von HansSterchi unterstützt. Die ViertelsgemeindeBolligen war damals schuldenfrei! Seitherhaben sich die Bolliger Finanzen eigent-lich nur noch verschlechtert. Die Verselb-ständigung war insgesamt kein schlech-ter Entscheid. Weder SP noch Gemeindehaben einen Schaden durch die Verselb-ständigung erlitten.Margret Kiener Nellen:Die Viertelsgemein-de Bolligen wurde mit dem Teilungsvertragüber den Tisch gezogen, z. B. bezüglich derBewertung der Liegenschaften, das hatteeinen hohen Schuldenstand zur Folge.Stimmt dieser Eindruck? Und die Steuer-anlage: Bis heute hat sich einiges verän-

dert. Wenn das Steuer-substrat nicht verbessertwird, dann wird Bolligentendenziell einmal einehöhere Steueranlage alsOstermundigen haben!Wie wurde diese Steuer-diskussion damals ge-führt in der SP?Hans Tempelmann: Beimdamaligen Bauboom (Lu-tertal, Lindenmatt, Hüh-nerbühl, Bodenacker)konnten dank der mitden Bauherrschaftenausgehandelten Mehr-wertabschöpfungen undeiner konstant unverän-

derten Steueranlage die Infrastrukturinve-stitionen für die Erschliessung der grossenNeubaugebiete,die Erstellung von Kinder-gärten, aber auch die finanziellen Ver-pflichtungen gegenüber der im Aufbaubefindlichen ARA und KEWU der RegionWorblental aus Eigenmitteln finanziertwerden. Anfangs der 70-Jahre musste fürdas Bauprojekt der Schulanlage im Luter-tal erstmals Fremdkapital aufgenommenwerden.Jörg Oetterli: Als wir 1972 nach Bolligen ka-men, fühlten wir uns wie in einer kleine-ren, ländlichen Gemeinde, der «MolochEinwohnergemeinde» war für uns im Bol-liger Alltag nicht so präsent.Neben Diskus-sionen pro und kontra Verselbständigungging es auch um andere Alternativen desStatus quo – z. B. um einen Anschluss vonOstermundigen an Bern oder die Auf-hebung der Viertelsgemeinden. MeineHaltung bei der Abstimmung war zu-nächst relativ gespalten.Ich stimmte dannaber für die Beibehaltung des Status quo,

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Hansjörg Meyer, Heidi Jaberg, Res Jenzer

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«Gemeindeteilet» 1983

weil einzelne für mich wichtige Sachfra-gen, z. B. Gymnasium oder Sportzentrum,von den Vorkämpfern für die Verselbstän-digung dem politischen Kampf geopfertworden sind, was mich im Hinblick auf diekünftigen Entwicklungschancen von Bolli-gen störte. Insgesamt finde ich aber heute,dass die Verselbständigung für Bolligennicht schlecht war.

* * *

Margret Kiener Nellen greifteinige Punkte aus der Diskussion auf:Zu Frage 2: Die SP Bolligen wurde gestärkt,insbesondere durch eine bedürfnisorien-tierte Politik, es war auch eine tolle Clique.Andererseits fiel dasWort «Krieg», man warfroh, als alles vorbei war.Wie war es nun?Ernst Widmer: Es gab keinZerfleischen in der Partei-basis, der Streit fand zwi-schen Knöpfel und Leh-mann statt.Ruedi Lauterburg: DieGrosswetterlage warnicht für SP, die Bürger-lichen fanden, in Bolligenhabe es nach der Verselb-ständigung ja dann keineArbeiter mehr. Es gingaber nicht nur um die Par-teigrössen Knöpfel und Lehmann,sondernauch um Auseinandersetzungen zwi-schen der SP und den bürgerlichen Par-teien.Res Jenzer: In Ostermundigen gab es einenGraben durch die SP. Es war ein heftigerKampf. Meine Familie wurde angefeindet,bis hin zu aufgeschlitzten Pneus, Belästi-

gungen in der Schule und via Telefon! Des-halb zogen sich nach der Abstimmungdann auch viele Leute aus der Politik zu-rück. Ittigen ist kaum vergleichbar, da essich um eine räumlich kleine Gemeindehandelt, die mit der Swisscom als Steuer-zahlerin finanziell sehr gut gestellt ist.Gerhard Schmutz: Wir erlebten auch stän-dig Belästigungen, als wir in Ostermundi-gen lebten, auch in der Schule kam es zuschlimmen Szenen, zwischen Lehrern undeinzelnen Eltern und ihren Kindern.Adrian Hadorn: Wie war es nun? Es gabeinerseits Emotionen, andererseits aberauch sachliche Diskussionen.Ruedi Lauterburg: Bolligen hatte einige«Sargnägel»: Linde Habstetten, Bantiger

Hubel, Schulhäuser, Gemeindehaus. DerStart als selbständige Gemeinde warmühsam, weil Bolligen diese Liegenschaf-ten übernehmen musste.Ernst Widmer: Offiziell steht allerdings inden Unterlagen, dass die Übernahme die-ser Liegenschaften für die beteiligten Ge-meinden tragbar sei.

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Margret Kiener Nellen

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

Zu Frage 3: Was waren nun die Folgen derGemeindeteilet für die SP Bolligen?Res Jenzer: Wir hatten aber auch Einigkeitim Grossen Gemeinderat in bestimmtenGeschäften, so beispielsweise im Zusam-menhang mit einer heiklen Einbürgerung,die mit einem einstimmigen Beschlussendete. Und dies während der Auseinan-dersetzung um die Gemeindeteilet.Zu Frage 4: Beim Blick in die Zukunft erfolg-ten sehr unterschiedliche Vorschläge: VonStatus quo bis hin zu Zentralisierung mitBern. Wie geht es weiter?Gerhard Schmutz: Bei der heutigen Mobi-lität und Vernetzung ist eine Zentralisie-rung, ein weiterer Blick über die Gemein-degrenzen hinaus notwendig, eine Visionin den Grossraum Bern.

Ernst Widmer: In der Raumplanung ist diesoffensichtlich. Dieser Trend zu Grossräu-men – hier zum Hauptstadtraum Bern – istda.Jörg Oetterli: Ich habe dazu eine Studiemit einem Kollegen gemacht. Überschau-barkeit, Bürgernähe, Teilhabe am politi-schen Leben waren wichtige Erkennt-nisse. Daher ist die Schaffung von grossenGebilden nicht nur vorteilhaft. Bei derRaumplanung ist ein grösserer Zusam-menhang hingegen offensichtlich nötig,allerdings müsste die Kompetenzvertei-lung anders geregelt werden, der Bundhat heute zu wenige Kompetenzen. Ichbin bezüglich der Zentralisierung dahergespalten.

Für das Protokoll: Hansjörg Meyer

Die Aufspaltung oder Verselbständi-gung von «BIO» (Bolligen–Ittigen–Os-termundigen) ab 1983 hatte eine langeund komplizierte Vorgeschichte. Vonheute aus gesehen könnte man fastmeinen, die damaligen Generationenhätten ihre ganze politische Energie indiese Frage gesteckt und Generalstreik,Weltwirtschaftskrise, Weltkrieg undNachkriegsaufschwung verdrängt. Daswäre aber gewiss ein historisches Fehl-urteil.Das bernische Gemeindegesetz von 1917brachte wenig Fortschritt aus der «vie-lerorts bestehenden Kleinstaaterei aufdem Gebiet des Gemeindewesens»,vom «grossen Wirrwarr mit entspre-chender Rechtsunsicherheit». Die soge-nannten Unterabteilungen (BIO zählte

deren 13) seien «eine so eingelebte Sa-che, so tief eingewurzelt in den Köpfen,dass es vorläufig nicht denkbar ist, sieaufzuheben.»Die Zwanzigerjahre waren in der Agglo-meration Bern gekennzeichnet durchein heftiges Hin und Her zwischen Be-fürwortern der Eingemeindung undVorkämpfern einer «Zentralisierung»(z. B. einheitliche Verwaltung für ganz«BIO»). Der Einwohnergemeinderat vonBolligen/BIO schrieb im Bericht zur Zen-tralisationsvorlage von 1930, «dass eineFusion mit Bern, trotz allem Widerstre-ben, infolge der Entwicklung einmalkommen wird,wie dies Schritt für Schrittmit den Gemeinwesen an grossstädti-schen Peripherien allenthalben der Fallist. Als Vorstufe zur Eingemeindung ist

Aus der Geschichte der Gemeindeentwicklung

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«Gemeindeteilet» 1983

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nun aber ohne Zweifel die Zusammen-legung des gesamten Verwaltungswe-sens zu betrachten.» «Ohne Zweifel?»Das Hin und Her, ja auch gehässige Aus-einandersetzungen sollten noch 50Jahre länger dauern...1945 wurde dann mindestens erreicht,dass aus dem «Wirrwarr» von 13 Unter-abteilungen die Vereinfachung in dreiViertelsgemeinden unter dem Dach derEinwohnergemeinde möglich wurde. Esfolgten jahrelange Auseinandersetzun-gen um die Aufgabenteilung zwischenEinwohnergemeinde und Viertelge-meinden: Schul-, Verkehrs- und Fürsor-gewesen, Finanzverwaltung und Be-schäftigungsgrad des Gemeindepräsi-denten waren die häufigsten Streit-punkte.Im Jahre 1964 tobte dann ein hitziger Ab-stimmungskampf zur Frage der Verselb-ständigung der 3 BIO-Gemeinden. DieBantiger Post wurde dicker und dicker.Das Volksbegehren wurde deutlich ab-gelehnt. Angenommen wurde 8 Jahrespäter eine «Motion der Sozialdemokra-tischen Fraktion zur Überprüfung derVerwaltungsreform» durch den GrossenGemeinderat. Der darin geforderte Be-richt erschien im März 1974. Dieser «Be-richt Guggenheim» hatte «unaufhörli-che Diskussionen in einer vergifteten At-mosphäre» zur Folge. Im November 1978wurde definitiv abgestimmt:Die Zentra-lisationsvariante wurde deutlich abge-lehnt, die Verselbständigung knapp an-genommen (4104 für Verselbständi-gung, 3805 für Beibehaltung des statusquo). Am 3. Dezember 1980 wurde imBernischen Grossen Rat das «Dekret

über die Umwandlung der Viertelsge-meinden Bolligen, Ittigen und Oster-mundigen in selbständige Einwohner-gemeinden» deutlich verabschiedet. Estrat am 1. Januar 1983 in Kraft.Wahrlich, das war ein komplizierter Pro-zess. Viel Tinte floss, viele Gutachtenwurden erstellt, unzählige Sitzungenund Parlamentsdebatten drehten sichum das Thema.Man könnte fast meinen,das sei direktdemokratischer Leerlauf.«Überdruss» findet sich öfters in denZeitungen und den Sitzungsprotokol-len. Und wohl auch an Stammtischen.Aber es sei doch auch deutlich gesagt:Es ging um vitale Fragen zur wirtschaft-lichen,politischen und sozialen Lage un-serer Gemeinden. Finanz- und Steuer-fragen, Beziehung Stadt – Land,Verhält-nis Landwirtschaft (das obere Bolligen)zu Arbeiterschaft (Ostermundigen undIttigen), Bewährtes bewahren versusmoderne, effiziente Verwaltung ein-führen.Wir haben in dieser Festschrift die Visiondes Bernischen Stadtpräsidenten Alex-ander Tschäppät für die Entwicklung derRegion einfügen können (siehe Seite 38).Sein Vater hatte 1971 zurückgeblickt undim Verwaltungsbericht der Einwohner-gemeinde Bolligen geschrieben: «DerGemeinderat der Stadt Bern ist auchheute noch der Auffassung,dass der sei-nerzeitige Verzicht auf die Eingemein-dung der umliegenden ‹Dörfer› ein klu-ger Entscheid war.»

(Zusammengefasst u. a. aus: Einwohnergemeinde Bolligen, Erinnerungsschrift 1982.Karl Ludwig Schmalz, Bolligen. Geschichte, Gemeinde-entwicklung, Heimatkunde. Bern, 1982, S. 107–189.)

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und die Weitsicht zu genügend radikalenForderungen gewinnen» – das war der An-satz von Rosmarie Kurz.Nicht nur rationaleAnalysen, sondern auch leidenschaftlicheGefühle waren bestimmend für ihren jahr-zehntelangen Einsatz. Heute herrscht inmanchen Teilen der Welt, vor allem in Zen-tralasien und im Nahen Osten, Konjunkturfür Hardliner, Scharfmacher und Kriegs-treiber. Auch die Innenpolitik in Europa istdavor nicht gefeit. Mit Imponiergehabeund «terribles simplifications» gewinnensie Wahlen und Stimmungstests. Frauenwie Rosmarie Kunz wären heute mehrdenn je nötig.Auch in ihrem privaten Leben war sie radi-kal, liebevoll und unbeeindruckt von Kon-ventionen, wie in der Politik. Ihr Haus inHabstetten wurde für viele Freunde aus al-ler Welt zu einer zweiten Heimat, weil siewie wenige die Gabe besass, ihr Gegen-über wichtig zu nehmen. Humor gehörteebenso zu ihr wie ihre Fähigkeit,Menschendas Richtige zu fragen.(Zusammengetragen aus verschiedenen Publikationen zuRosmarie Kurz.)

* * *

Ernst WidmerSP-Gemeinderat1972–1986Ernst Widmer, mittler-weile seit über 40 Jahrenin Bolligen wohnhaft, warauch in seiner aktiven Zeit

das, was bis heute einen grossen Teil derBevölkerung ausmacht: Pendler (nachBern),von auswärts zugezogen,begeistert

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Rosmarie Kurz1926–2002In Habstetten hat einezentrale Figur der schwei-zerischen Friedensbewe-gung ihren Lebensabendverbracht. Rosmarie Kurz

war bis zu ihrem Tod am 15. November2002 eine hellhörige, leidenschaftlicheZeitgenossin.Sie hatte ein weites Netz vonMitkämpferinnen in der Schweiz, aberauch in vielen Konfliktregionen dieserWelt. Auch im engeren Kreis von Bolligenhat sie sich engagiert und an unzähligenVeranstaltungen der SP-Bolligen kreativmitgewirkt.Ihr politischer Einsatz hatte seine Wurzelnin der Auseinandersetzung mit dem Holo-caust. Die Schwiegermutter, Gertrud Kurz(die weitherum bekannte «Flüchtlings-mutter» des Zweiten Weltkrieges), hattesie darin stark geprägt. Rosmarie Kurzübernahm die Öffentlichkeitsarbeit desChristlichen Friedensdienstes/cfd.Die Em-pörung über den Krieg in Vietnam, die An-teilnahme an den Befreiungskämpfen ge-gen die Apartheids-Regimes in Rhodesien,Mosambik und Südafrika führten sie zurÜberzeugung,dass Befreiung und Gerech-tigkeit Grundlage einer umfassenden Frie-densarbeit sein müssen.«Wir nehmen Par-tei» war die Losung des cfd. Parteinahmefür die Flüchtlinge in der Schweiz, für of-fene Grenzen, gegen die «Nachrüstung»und immer mehr für den Frieden im Na-hen Osten.«Nur aus dem visionären, sogar utopi-schen Denken heraus lassen sich die Kraft

Porträts prominenter Bolliger SP-Mitglieder

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Porträts prominenter Bolliger SP-Mitglieder

vom Naherholungsgebiet und doch stadt-orientiert. Er ist bis heute ein Zürcher ge-blieben, auch in der Sprache, aber mit ei-ner grossen Liebe zu seinem Wohnort. DieIntegration erfolgte in seinem Fall durchdie Mitgliedschaft in der SP,und auf der SP-Liste rutschte er auch, kaum hier sesshaftgeworden, 1972 in den Gemeinderat.14 Jahre lang war Ernst Widmer für denHochbau in Bolligen zuständig. Von denheftigen Auseinandersetzungen um Zen-tralisierung oder Verselbständigung dersogenannten «Viertelsgemeinden», Bolli-gen, Ittigen, Ostermundigen sei sein Res-sort nicht betroffen gewesen, sagt er, dajede Gemeinde den Hochbau in eigenerRegie regelte. Aber die Spannungen jenerJahre,gerade und besonders auch in der SP,rufen noch heute Sorgenfalten auf seineStirne: Während 10 Jahren war dieser um-strittene Prozess auf jeder Traktandenlistedes Gemeinderates von Bolligen. ErnstWidmer behält die Einstimmigkeit des Ge-meinderats in dieser Frage unter der Füh-rung durch den SVP-Präsidenten HansSterchi in guter Erinnerung. Als «sachlichund vernünftig» bezeichnet er noch heutedie damalige Gemeindepolitik.*Auf die Frage,was bleibe aus seiner Zeit alsVorsteher des Ressorts Hochbau, sagtErnst Widmer lakonisch:«nüt».Er meint esbuchstäblich, denn er sieht es auch rück-blickend als Verdienst, dass in dieseneuphorischen Bauboom-Jahren dank sorg-fältiger Planung von Bauzonen (Einschlag,Hühnerbühl,Lutertal) in Bolligen nicht wieandernorts wahllos Grossüberbauungenauf die grüne Wiese gestellt wurden. Ersagt es andererseits auch aus Bescheiden-heit und der Überzeugung, dass in der Ge-

meinde, wie überhaupt im politischen Le-ben, nur etwas zu Stande gebracht werde,wenn man gemeinsam und über Partei-grenzen hinweg zusammenarbeite. Sosieht er auch die «bleibenden Werke», u. a.das Schulhaus Lutertal,den Dorfmärit undseine Passerelle, die Unterführung bei derRBS-Station oder das Trottoir nach Flug-brunnen,als Leistungen des Gemeinderatsals Kollegium.

* * *

Heidi Jaberg-HostettlerWer zahlt,der befiehlt,dochnicht jeder, der befiehlt, be-zahlt.In der Politik ist der rechteWeg gar oft der linke.Auch bei demjenigen, der

das Herz auf dem rechten Fleck hat, schlägtes immer links!(Aus Heidi Jaberg, Zeit-Zeichen, 1999)

Heidi Jaberg wuchs in einer Arbeiterfami-lie auf, ihr Vater war Schweisser, aktiverGewerkschafter und SP-Mitglied. Für ihnwar es selbstverständlich, dass seine bei-den Töchter gleich viel Aufmerksamkeiterhielten und die gleichen Rechte hatten,wie wenn es Söhne gewesen wären. ZumBeispiel das Recht auf eine gute Ausbil-dung. Zwar absolvierte Heidi ganz tradi-tionell ein Welschlandjahr nach derSchule, und sie stellte sich vor, dass sieeine Lehre als Verkäuferin in einemSchuhgeschäft machen würde. Dort roches so gut nach Leder, und der Umgang mitschönen Dingen machte ihr Freude. Aberder Vater setzte durch, dass sie eine gutqualifizierende Lehre machte, und so ab-

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* In unserer Festschrift wird dem umstrittenen Geschäft ein besonderes Kapitel gewidmet. Die damaligen Akteurekommen aus heutiger Sicht zu Wort.

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solvierte sie die Berufsschule für Verwal-tungsangestellte.1955 heiratete Heidi und bald kamen Kin-der, drei Mädchen. Dank ihrer Ausbildungfiel es ihr leicht, eine Teilzeitstelle zu fin-den, die ihr ermöglichte, ihren Pflichtenals Familienfrau nachzukommen und zu-gleich zum Haushalteinkommen beizu-steuern. Am Anfang arbeitete sie in einemnahe gelegenen Architekturbüro mit flexi-bler Arbeitszeit, so dass sie Mittagessenkochen konnte. Mehr als zehn Jahre arbei-tete Heidi als Sekretärin bei der Gemein-deverwaltung. Als sogenannte «Springe-rin» konnte sie überall, in jedem Ressorteingesetzt werden und lernte dabei,wie soein Gemeindebetrieb auf den verschiede-nen Ebenen funktioniert.Ihr Lohn habe anfangs vor allem dazu ge-dient, ihren Töchtern privaten Musikunter-richt zu finanzieren. Denn Musik ist in Hei-dis Leben ganz wichtig, Musik und Poesie.Sie schreibt Gedichte und Aphorismen, oftmitWitz und sprachspielerisch,manchmaleher nachdenklich und melancholisch. Sietextet und komponiert auch Lieder, die sie– auf der Gitarre oder dem Örgeli von ihrerTochter Esther begleitet – bei verschiede-nen Gelegenheiten vorträgt, von Alters-nachmittagen bis zu SP-Anlässen. CDs mitMundartliedern sind von ihr erhältlich, einKinderbuch und mehrere Lyrikbändchenwie «Gedichte Gedanken Schmetterlinge»oder «Zeit-Zeichen».1967 trat Heidi in die SP Bolligen ein, vierJahre bevor die Frauen überhaupt einStimm- und Wahlrecht auf nationaler oderkantonal-bernischer Ebene hatten. Es wardie Zeit des Kampfs ums Frauenstimm-recht, und Heidi erinnert sich an heftigeund unschöne Auseinandersetzungenauch unter den Frauen selbst, unter den

Befürworterinnen und den Gegnerinnen.Das Stimm- und Wahlrecht ab 1971 hiessdann auch nicht, dass Frauen tatsächlichgewählt wurden. Erst ganz vereinzelt er-oberten sie Sitze in Parlamenten und Be-hörden. 1974 wurden zum Beispiel geradeeinmal zehn Frauen in den Grossen Rat ge-wählt, darunter Marie Böhlen und RuthHamm von der SP.Wie viele andere Frauen leistete Heidi vorallem Hintergrund- und Unterstützungs-arbeit für ihre Parteisektion. Lange Jahrewar sie Sekretärin und als solche automa-tisch im Vorstand, dazu amtete sie als Ge-schworene beim Bezirksgericht und alsDelegierte in der Coop-Genossenschaft.Im Stimmausschuss machte sie eine Er-fahrung, die sie aus andern Bereichenkannte: Frauen wurden damals oft nichtfür voll genommen. Wenn Fehler passier-ten, habe man immer zuerst bei ihnen,den Frauen gesucht. An Partei- oder Ge-meindeversammlungen hätten haupt-sächlich die Männer geredet und dieFrauen geschwiegen. Eine Ausnahme seiMascha Oettli, die langjährige Zentral-sekretärin der SP Schweiz gewesen. Ma-scha habe oft sehr engagiert das Wort er-griffen.Sie sei halt eine Studierte gewesen,meint Heidi.Und stellt dabei wie so oft daseigene Licht unter den Scheffel,verfügt sie doch selbst übergrosse Sprachkompe-tenz und weisssehr wohl einespitze Feder zuführen.

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Porträts prominenter Bolliger SP-Mitglieder

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Gerhard SchmutzParteipräsidentSP Bolligen 1980–1984

Gerhard Schmutz ist ineinem typischen «Sozi»-Milieu in Ostermundigen

aufgewachsen. Der Urgrossvater warBauer, der Grossvater Handwerksmeister,der Vater Lokführer mit Arbeitslosenerfah-rung nach der Weltwirtschaftskrise 1929.Der junge Gerhard war der erste in der Fa-milie,der studieren konnte.Von der Sekun-darschule Bolligen kam er ins GymnasiumBern und an die ETH Zürich, wo er als Bau-ingenieur abschloss.Aus dieser Tradition heraus versteht erauch die Grundwerte der Sozialdemokra-tie. Der Mensch und nicht Geld steht fürihn im Zentrum, das Recht auf ein Lebenin Würde. Sozialer Ausgleich ist nötig,wichtigster Pfeiler ist Bildung. Seine eige-nen Kinder hat er in die damals neueSteiner-Schule in Ittigen geschickt, dortwo der pädagogische Ausgleich zwischenKopf, Herz und Hand nicht nur theore-tisch existiert, sondern tagtäglich ge-pflegt wird.Die Nähe zur Steiner-Schule war 1977 auchder Hauptgrund für die Wahl des Wohnsit-zes Bolligen. 3 Jahre später übernahm Ger-hard Schmutz das Präsidium der SP Bolli-gen von Rudolf Lauterburg.In seine Präsidialzeit 1980–1984 fiel dieAufteilung der Gesamt- und Einwohner-gemeinde Bolligen in die drei GemeindenBolligen, Ittigen und Ostermundigen. Indiesem für die lokale Sozialdemokratieschmerzlichen Prozess sei es ihm zum er-sten Mal richtig bewusst geworden, dasses in der Politik wie anderswo oft mehrum Macht als um die Sache geht. (Mehr

zur Teilung im Kapitel Geschichtliches,S. 15 ff.)In die gleiche Zeit fiel auch eine Krise in derSP Schweiz: Markante Wahlverluste, dieDebatte um den Austritt aus dem Bundes-rat nach der Nichtwahl von Liliane Uchten-hagen. Im Rückblick schrieb Rudolf H.Strahm «Vom Wechseln der Räder am fah-renden Zug». Er widmete es den Sektions-präsidenten: «An ihnen liegt die Zukunftder Sozialdemokratie in der Schweiz». Dasentsprach auch der Lokal- und Weltsichtvon Gerhard Schmutz. Wenn er auf Um-weltfragen damals und heute angespro-chen wird, dann gilt für ihn in erster Liniedie Herausforderung für lokale Lösungen:Wirtschaftswachstum und Arbeitsbe-schaffung durch kleinräumige Energie-gewinnung zum Beispiel. Grosskonzerneseien kaum fähig,umzudenken.Allerdingssieht er die Schweiz nicht als isolierte In-sel: Als vielfältig mit der Welt verknüpftesLand sollte sie nicht abseits stehen, son-dern lernen, sich auf eine bessere Art zuintegrieren.Im Rückblick ist für Gerhard die Wahl vonBolligen als Lebensort eine glückliche. DasEngagement in der lokalen Politik hatihm geholfen, viele Leute schneller ken-nenzulernen, ein Gespür für die Problemeund für gemeinschaftliche Lösungen zuentwickeln.In einer Art Bilanz zu seiner SP meint Ger-hard, sie sei heute auf allen Stufen, Ge-meinde, Kanton und Bund eine arrivierteRegierungspartei. Sie hat das 20. Jahrhun-dert nachhaltig und in einem für die Men-schen in diesem Land äusserst positivenSinn geprägt.Tatsache ist aber, dass ihr dieArbeiterInnen als WählerInnen weitge-hend abhanden gekommen sind. Einer-seits weil es immer weniger gibt und an-

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

derseits weil sie andere Parteien wählenoder kein Wahlrecht besitzen.Wenn wir ihn zum Abschluss kurz in dieZukunft blicken lassen,meint er sorgfältig:«Damit die SP auch im 21. Jahrhundertmassgebend wirken kann, muss sie nichtideologischer werden, sondern lernen,genau hinzuhören worunter die Men-schen in diesem Lande leiden und was siebeschäftigt. In diesen Bereichen sind trag-fähige und sozial verantwortbare Lösun-gen zu erarbeiten.»

* * *

Esther SteineggerGemeinderätin 1997–2009

In die Bündner Wiege vonEsther Steinegger war we-der Bolligen noch die SPeingezeichnet. Der Gross-

vater gehörte zu den Bündner Demokra-ten,der späteren SVP,die Mutter aber – mitmarkantem und weitervererbtem Gerech-tigkeitssinn – trat noch über 60-jährig derSP bei. Nach Bolligen/Habstetten kamEsther Steinegger durch oder dank ihremEhemann. In den 80er-Jahren kamen diezwei Söhne und die Tochter zur Welt.Bald musste die Sport- und Gymnastik-lehrerin feststellen, dass die Doppelbelas-tung Mutter und Beruf zuviel wurde. Diegeeignete externe Kinderbetreuung fehl-te damals in Bolligen, daher gab sie die Be-rufstätigkeit auf und widmete sich der Fa-milie. Durch Frauen, die den 3.-Welt-StandBolligen gegründet hatten, wurde sie auf-gefordert, dort mitzuhelfen. Ganz zufälligkam eine Anfrage für einen ersten öffent-lichen Auftritt: Sie wurde gebeten, am Kir-chensonntag im Februar 1985, zusammenmit weiteren Personen aus Bolligen die

Sonntagspredigt mitzugestalten. Ein Ge-bet des brasilianischen Befreiungstheolo-gen, Dom Helder Camara, durfte sie aufAnraten der Veranstalter allerdings nichtvortragen.Durch den kirchlichen Auftritt wurde sieim Dorf bekannt und bald darauf auch vomdamaligen SP-Präsidenten Schaufelbergerin einem damals noch von Hand geschrie-benen, langen Brief angefragt ob sie nichtin die SP eintreten wolle.Zögernd und nachlangem Überlegen sagte sie zu, aber mitder Bemerkung, sie wolle dann ihr Bild niein den Briefkästen sehen. In der Zwischen-zeit gründete sie zusammen mit vier wei-teren Frauen die Kindertagesstätte «But-zus», die heute noch besteht und den Ta-geselternverein Bolligen.Die Frauen zogendas Projekt trotz vielen Hindernissen er-folgreich bis zur Gemeindeversammlungdurch. Später wurde sie in die Kindergar-tenkommission gewählt. 1991 landete ihrBild dann doch in den Briefkästen. Alserste Frau in Bolligen, wurde sie für die SPin die Geschäftsprüfungskommission ge-wählt und eroberte damit prompt einenzweiten Sitz für die Partei. Das empfindetsie im Rückblick als kleine Genugtuung fürihren langjährigen Einsatz für die Gleich-stellung und Rechte der Frau in Politik undGesellschaft.Die Arbeit in der GPK wurde zur eigentli-chen Lehrzeit und liess sie hinter die Kulis-sen der Gemeindepolitik schauen. Sie pro-fitierte von der reichen Erfahrung ihres SP-GPK-Kollegen Ernst Widmer und besuchteWeiterbildungskurse zum Neuen Rech-nungsmodell und zu Fragen der Gemein-definanzen.1997 wurde sie in den Gemein-derat gewählt. Für vier Jahre leitete sie dasRessort öffentliche Sicherheit und wäh-rend acht Jahren war sie verantwortlich für

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loslassen,für sie hat sich der Kreis ihrer po-litischen Arbeit geschlossen: sie hat mitder Kindergartenkommission angefangenund sitzt heute im Vorstand der Genossen-schaft Lutertalpark und hilft den Bau vonAlterswohnungen mitzuorganisieren. Siefühlt sich befreit von den Sorgen der SPBolligen und der Gemeinde. Das hindertsie aber nicht daran, sich zu ärgern, etwaüber die faulen Kompromisse der Politikerund Politikerinnen zum Atom-Ausstieg.Sie findet,die Politik nehme die Verantwor-tung für Umwelt und Mitmenschen oft zuwenig ernst. Sorgen macht sich Esther deshalb auch über die Zukunft der Kinderund Kindeskinder und fragt sich, ob dieseauch nur annähernd die gleichen Chancenhaben werden wie unsere privilegierte Ge-neration der heute über 60-Jährigen.

Porträts prominenter Bolliger SP-Mitglieder

das Ressort Bildung undKultur.Als Lichtblicke ihres ge-meindepolitischen En-gagements betrachtetEsther Steinegger dieGründung der Tages-schule, die Einführungvon TABO «Talent Bolli-gen» zur Förderung mu-sisch, sportlich und intel-lektuell besonders be-gabter Kinder.Doch auchder Erhalt der Aussen-schulen Ferenberg undGeristein mit ihren Spe-zialangeboten lagen ihrsehr am Herzen. Kultur-politische Höhepunktewaren die Feier zum 100.Geburtstag von WernerWitschi und die Kulturtage 2003 oder dieGründung und Verleihung des Botti-Prei-ses an besonders verdienstvolle Bolligerin-nen und Bolliger.In ihrer eigenen Wahrnehmung hatteEsther Steinegger auch mit Anders-denkenden, das heisst mit Personen ausandern Parteien, keine Berührungsängsteund kam mit allen aus, hat aber dennochgerne gestritten, war aber nie nachtra-gend. Spannungen und Unruhen in derLehrerschaft wegen dauernder System-wechsel und des Imageverlustes vonSchule und Lehrer und Lehrerinnen such-te sie durch politischen Sukkurs zu be-gegnen und setzte sich im Gemeinderatmeist erfolgreich für das Bildungsbudgetein.Im Rückblick waren die 20 Jahre Einsatz fürdie Gemeinde Bolligen eine gute Zeit, einereiche Erfahrung.Aber Esther konnte leicht

Die Parteipräsidenten der Sektion Bolligen von 1950 bis 2011

1950 – 1961 Fritz Hostettler1962 – 1964 Albert Andrist1965 Hans Tempelmann1966 – 1970 Ernst Bolz1971 – 1972 Max Baltensberger1973 – 1974 Hans Kaufmann1975 – 1979 Ruedi Lauterburg

1980 – 1983 Gerhard Schmutz1984 – 1988 Hans Jürg Schaufelberger1989 – 1992 Niklaus Wahli1993 – 1998 Jon Duri Tratschin1999 – 2004 Stefan Vögeli2005 – 2006 Barbara Wirz2007 – 2008 Beatrice Graber/Christian Kunz2008 – Thomas Zysset

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Die SP hat 1978 unter ihrem Präsidenten Ruedi Lau-terburg weit vorausgesehen, was ab Mitte 2010passiert ...Protokoll der SP-Versammlung vom 2. November1978:«Im weiteren verdrängt der Finanzplatz den Werk-platz Schweiz. Ausländische Devisen fliessen in dieSchweiz, was eine Überbewertung des SchweizerFrankens zur Folge hat. Der Export wird erschwert.Ihrerseits müssen die inländischen Industrien dieProduktion ins Ausland verlegen. Die Arbeitsplätzeverschwinden. Zur Rettung des WerkplatzesSchweiz sollten Massnahmen ergriffen werden,wieinsbesondere die Förderung der Forschung.»

Ruedi Lauterburgs Bantigerturm aus der Werbungfür die Gemeindewahlen 1991

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Kurz-Porträts prominenter Bolliger SP-Mitglieder

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Ruedi Lauterburg, geb. 1924. SP-Präsident1975–1979. 12 Jahre Mitglied Sekundar-schulkommission. 8 Jahre Gemeinderat,Ressort Polizei. Langjähriger Hofgrafikerder SP Bolligen (siehe Beispiel Bantiger-turm) bei Wahlen und Abstimmungen.

Barbara Wirz, Dr. med. vet., Kleintierpraxisim Dorfmärit.Präsidentin 2005–2006.Ausihrer langjährigen Vorstandsmitgliedzeitbleiben ihr die verschiedenen Massnah-men zur Verkehrsberuhigung und derWahlerfolg 2004 in Erinnerung: Trotz Re-duktion von 9 auf 7 Gemeinderäte blieb dieSP mit 3 Gemeinderatsmitgliedern erfolg-reich.

Graber-Widmer Beatrice, geb. 1949, Kauf-frau, dienstältestes Vorstandsmitglied ca.seit 1996, SP-Co-Präsidentin 2007–2009,GPK-Mitglied seit 2006, zuvor Liegen-schaftskommission; Kampagnenchramp-ferin, Ober-Unterschriftensammlerin.Grossratskandidatin zusammen mit Mar-gret Kiener Nellen 2002 (1. Ersatz) und2006. Hobby:Sortenbetreuerin Pro SpecieRara.

Stefan Vögeli, Oberrealschullehrer, SP-Prä-sident 1999 – 2004. Zu seiner Präsidialzeithervorragende Organisation der Gemein-deratswahlen, mit dem Ergebnis der ers-ten SP-Frau als Gemeindepräsidentin.Sorgfältige Erarbeitung der SP-Legislatur-ziele 2001–2004. Mitglied der Kultur- undSportkommission, begabter Chorsänger.Mitorganisator der Bolliger Kulturtage.

Hans Jürg Schaufelberger, Dr. phil., Präsi-dent SP Bolligen 1984–1988. Unter seinerÄgide Neupositionierung der SP nach derTeilung der Gemeinden. Leidenschaftli-cher Debattierer, Pfeifenraucher.

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Wenn wir 100 Jahre zu-rückblicken, hat sich dieViertelsgemeinde Bolligendie ersten 40 Jahre nur we-nig verändert. Die Bevölke-rung nahm bloss um etwa250 auf 1959 Einwohner

zu. Ab 1960 gab es einen eigentlichen Bau-boom. Zwischen 1950 und 1980 verdrei-fachte sich die Einwohnerzahl auf 5843.Es begann im Westen angrenzend an Itti-gen: Es entstanden Reihen-Einfamilien-häuser an der Sonnhalde,der Burgerstrasseund dem Sonnenrain.Die Häuser waren fürdamalige Verhältnisse modern im Produk-tionsverfahren (serielle Vorfertigung nor-mierter Bauteile) und sehr kostengünstig.Das Architekturbüro Eduard Helfer leistetePionierarbeit. Während die einen vom«Schandfleck in Bolligen» sprachen (undschrieben!), schätzten die vielen Neuzu-

züger die nahe gelegenen Erholungs-gebiete und profitierten von der Nähe zurStadt, zum Arbeitsplatz, besonders aberauch von günstigen Mieten oder vom tie-fen Kaufpreis. Eduard Helfer, ein Sozial-demokrat mit Zukunftsoptimismus, hatunsere Gemeinde durch seine Bautätig-keit nachhaltig geprägt. Er unterstütztedie Sozialdemokratie tatkräftig.Der Bauboom ab 1960 ging in vielen Ge-meindequartieren weiter: Es folgten dieÜberbauungen Lindenmatt, Einschlag, Lu-tertal-Nord, Hühnerbühlrain, Eisengasse,und Bodenacker, weitere Einfamilienhäu-ser in der Reckholtern, im Schüracher, ander Brunnenhofstrasse, am Rüttelerweg,der Lindenmattstrasse und am Strass-acker. Neue Dorfteile entstanden wie Lu-tertal-Süd, Eggweg, Herrenwäldlirain, Flu-racker, Tieracker und der Dorfmärit.

Bauliche Entwicklung Bolligens 1911–2011

Bolligen, Mitte der Siebzigerjahre

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Bauliche Entwicklung Bolligens 1911–2011

Diese Bautätigkeit dauert bis 1987, danachflachte der Boom ab. Die Bevölkerungnahm von 1987 bis 2001 sogar von 6460auf 5916 Einwohner ab, ging also um 8,4%zurück. In den Jahren 1990 bis 1999 kamdas Wachstum in Bolligen zum Erliegen.

Zeitweilig war nur eine einzige Wohnein-heit pro Jahr im Bau. Ab 2001 – nun unterder sozialdemokratischen Gemeindeprä-sidentin Margret Kiener-Nellen – entstan-den wieder neue Siedlungen wie Chrotte-gässli-Nord, Sternenmatte und Domaine.Damit konnte die Bevölkerung wieder überdie Marke von 6000 Einwohner gebrachtwerden.Mit der Ablehnung der Ortsplanungsrevi-sion vom August und Dezember 2008 sindgrössere Bauprojekte oder Überbauungen

für die nächsten Jahrewohl kein Thema. Diekleinen Flächen, diedurch die Gemeindever-sammlung für das Be-bauen freigestellt wur-den, reichen nicht aus,um eine nachhaltige undmassvolle Entwicklungvon Bolligen zu sichern.Es könnte durchaus sein,dass die Einwohner mitSteuererhöhungen odermit dem Abbau von Infra-

strukturen und Dienstleistungen rechnenmüssen, zum Beispiel punkto Schulen,Strassenunterhalt oder öffentlichem Ver-kehr! Die SP Bolligen hat sich für eine massvolle,nachhaltige Gemeindeentwicklung starkengagiert. Für uns gilt der Einsatz nichtwildem Wachstum bis an die Grenzen.We-der Stettlen noch Ittigen sind unsere Vor-bilder. Schon eher Bremgarten mit seinemGleichgewicht zwischen verdichtetemBauen und herrlichen Erholungs- und Aus-sichts-Landschaften. Uns liegt der langfri-stige Wert unserer Gemeinde für Erho-lungs dank Natur sehr am Herzen. Der Zu-kunft gehört der Ausgleich zwischenWachstum, welches soziale, finanzielleund wirtschaftliche Stabilität sichert aufder einen Seite, und der Erhaltung der Le-bensgrundlagen auf der anderen.

Christian Kunz

Protokoll der SP-Versammlung vom 13.Oktober 1964im «Sternen»:«Da wir unbedingt einen Architekten oder Bau-fachmann portieren sollten, wird beschlossen, dassentweder Edi Helfer oder Toni Ammon in den Apfelbeissen sollten.»

Hühnerbühlstrasse, Bau Ende der Sechzigerjahre

Burgerstrasse, Bau Ende der Fünfzigerjahre, renoviert 2010

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Weder Deine Vorfahren noch das bürger-lich-bäuerliche Umfeld in Habstetten, dasDeine Kindheit geprägt hat, sind mit einemtypischen Sozi-Milieu vereinbar.MKN: Ja, mein Vater war SVP-Grossrat undGemeindepräsident, stammte aus einertraditionellen Bauernfamilie von Habstet-ten. Der Grossvater mütterlicherseits warbis 1958 «dr Arzt» in Bolligen,seine Ehefrauhatte Vorfahren aus Estland und Frank-reich, die Winckler’s führten das «Hôtel deFrance» in Bern. Ich erinnere mich, dass ich5-jährig meiner Mutter zuschaute, wie sieauf einer alten Hermes Sekretariatsarbei-ten für das bürgerliche Komitee gegen dieEinführung des Frauenstimmrechts erle-digte. Mein Milieu war sehr bürgerlich-bäuerlich geprägt. Es gab aber auch Arbei-ter in Habstetten, die Montag bis Samstagin die Papierfabrik oder ins Zeughaus pen-delten. Und es gab die Campagne Man-dach-de Watteville. An Kindergeburts-tagen hatten wir Zugang zu dieser noblenWelt. Ich hatte keinen Streit mit meinen El-tern, war brav, durfte dafür auch je älter jeausgiebiger in den Ausgang. Allerdingsmachte ich mir schon meine Gedanken,z. B. warum die italienischen Arbeiter we-niger Lohn verdienten als die Schweizer.

Hast Du in Deiner Jugendzeit auch über dieDorfgrenzen hinausgesehen?Das weltbewegende 1968 erlebte ich imGymer Neufeld, ich war im Schülerrat undmachte meine ersten politischen Erfah-rungen. Zwei Jahre später ging ich im Stu-dentenaustausch nach Wisconsin/USA. Eswar die Zeit des Vietnamkrieges. Mehr als

einmal waren wir Schüleraufgeboten, mit der übri-gen Bevölkerung am Flug-hafen die Särge der gefal-lenen amerikanischen Sol-daten zu empfangen. Icherlebte Demos der Be-

freiungsbewegungen der Schwarzen undder Frauen. Nach dem Gymer arbeitete ichein Jahr in Neuseeland. Ja, ich habe inten-siv Gegenwelten zum behäbigen Habstet-ten erlebt.

Und wie ging’s nach der Matura in Bernweiter?Ich habe in Genf ein Diplom als Übersetze-rin gemacht. Das war für uns Jugendlicheeine sehr aktive Zeit mit Solidaritätskomi-tees, mit Debatten über Mao und Nicara-gua. 1973 lernte ich Chinesisch und lernteChina auf einer Studienreise kennen. Ander Diplomfeier für die ÜbersetzerInnenkam es dann zum einzigen richtigen Krachmit meinem Vater. Ich teilte den Eltern mit,dass ich in St. Gallen Jus studieren werde.«Iz schpinnsch!» meinte mein Vater wü-tend. Ich wurde gegen den Willen des Va-ters Akademikerin.1981 schloss ich das Stu-dium mit dem Lizenziat ab und kehrte fürdas Anwaltspraktikum nach Genf zurück.In linken Juristenkreisen wurde ich sofortheimisch, arbeitete eng mit ChristianeBrunner, der nachmaligen Bundesrats-kandidatin,zusammen,z. B. im «Comité du14 juin» für den GleichstellungsartikelMann-Frau in der Bundesverfassung, der1981 angenommen wurde. (BV 1999:«Mann und Frau sind gleichberechtigt.

Interview mit Margret Kiener Nellen

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Interview mit Margret Kiener Nellen

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Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche undtatsächliche Gleichstellung, vor allem inFamilie, Ausbildung und Arbeit. Mann undFrau haben Anspruch auf gleichen Lohn fürgleichwertige Arbeit.»). Ich arbeitete ineiner Genfer Anwaltskanzlei und trat 1982der SP Genf bei. Micheline Calmy-Rey wardort Kantonalpräsidentin.1982 heiratete ich den Schulschatz ausHabstetten-Zeiten, dipl. Maschineninge-nieur ETH Alfred Nellen. Wir hatten beidedas Verlangen, in der weiten Welt Erfah-rungen zu sammeln. 1982–1984 wander-ten wir in die Philippinen aus, mein Mannarbeitete in seinem Beruf und ich als Be-richterstatterin der Internationalen Juris-tenkommission für Menschenrechtsver-letzungen in Südostasien und freie Mit-arbeiterin der Schweizerischen Depe-schenagentur.

Wie hast Du in den verschiedenen Lebens-phasen Familie, Beruf und Politik unter ei-nen Hut gebracht?Der grösste Stress war die Zeit nach derRückkehr aus den Philippinen. In der Ma-schinenindustrie war Krise. 1986 wohnteund arbeitete ich mit unserem erstenKleinkind wieder in Genf, während meinMann eine Stelle bei der Wander AG imKanton Bern gefunden hatte. Da gab’sschon Momente der Überforderung. Daswar mit ein Grund, dass wir beide ( jetztzu dritt) zurückkehrten nach Habstetten.Im April 1987 bestand ich – hochschwan-ger mit dem zweiten Kind – die Anwalts-prüfung in Genf und eröffnete sofort dasAdvokaturbüro Kiener Nellen in Habstet-ten. Das war eine Rückkehr aus der wei-ten Welt ins behäbige Habstetten, abereine grosse Erleichterung, unter anderemweil die beiden Grossmütter beim Kinder-

hüten tatkräftig mithalfen. Das gab auchLuft, in der Gemeinde politisch aktiv zuwerden, etwas zu gestalten und zu verän-dern, zunächst ab 1987 in der Polizeikom-mission und dann ab 1992 als erste SP-Frau im Bolliger Gemeinderat. Undschliesslich 2001–2008 als Gemeindeprä-sidentin. Die Arbeit für die Gemeinde Bol-ligen hat mich zeitweise Tag und Nachtbeschäftigt. Zur Verabschiedung in derGemeindeversammlung vom 16. Dezem-ber 2008 bezeichnete Walter Wiedmermeine Leistungen in der Gemeinde Bolli-gen nicht als «Triple AAA», aber als «TriplePPP»: Polizei, Planung, Präsidium. Sicher-heit für die Bevölkerung war mir stetswichtig, aber auch Planungssicherheit,damit Entscheidungen auf Grund vonFakten und Zahlen sorgfältig gefällt wer-den konnten. Zum Beispiel:• 2000 gab es auf Gemeindegebiet 51Verkehrsunfälle. Mit Massnahmen wie«Tempo 30» waren es 2008 noch 18.• Das grösste Projekt war die Knoten-sanierung beim Bahnübergang.• In meiner Amtszeit sind 7 Millionen CHFSchulden ab- und 3,2 Millionen CHF Eigen-kapital aufgebaut worden.Ein klares Programm, und damit gute Pla-nungssicherheit,aber auch Teamgeist undklare Personalführung waren mir ein gros-ses Anliegen.Ich habe auch öfters klar Neingesagt zu Privatinteressen, wenn sie imWiderspruch zum öffentlichen Interessestanden.Nach 13 Jahren im Bernischen Grossen Ratwurde ich 2003 (und wieder 2007) in denNationalrat gewählt, wo ich mich aufmeine Spezialgebiete Finanz- und Steuer-fragen konzentrierte. Zur Zeit präsidiereich die Finanzkommission des National-rates.

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

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Wie gehst Du als Politikerin mit Niederlagenum?Das Wahlergebnis im Oktober 2008 hatmich sofort zum Entscheid geführt, zumzweiten Wahlgang nicht anzutreten. ZweiMänner mit offensichtlich weit geringe-rem Leistungsausweis in der GemeindeBolligen hatten mehr Stimmen auf sichvereinigt.Das verletzte meine Ehre. Ich willdas nicht dramatisieren,ich bin ja auch glücklich,dass ich meine Energiefür andere Aufgaben ein-setzen kann. Ich will abernicht verheimlichen,dassmich ein Ereignis indiesem Zusammenhangschockierte: An einemMontag Abend im Januar2008 ging vor unseremHaus in Habstetten einSchuss durch, der unsereWohnung zwar verfehlte,aber haarscharf am Kopfunserer Nachbarin vorbeiflog und in dieWand in ihrem Wohnzimmer einschlug.Der Typ der Tatwaffe wurde identifiziert,nicht aber der Täter.Wenige Tage darauf er-hielt ich einen wüsten anonymen Droh-brief mit Poststempel Bolligen Dorf. Meh-rere Strafanzeigen hatten keine Folgen.Das hat meine Reaktion nach dem erstenWahlgang stark beeinflusst: Ich wolltenicht, dass meine politische Tätigkeitmeine Familie und Nachbarn gefährdete!Es gibt seither Nachrichten aus aller Welt,die mich beunruhigen: Die Tat eines Ex-tremisten in Norwegen, die sozialen Ex-plosionen in London, die Exzesse der TeaParty in den USA: All das macht das Span-nungsfeld zwischen sozialem Auseinan-derdriften und Sicherheit noch viel akuter.

Wie sieht Deine Bilanz nach bald 60 Jahrenin Familie, Beruf und Politik aus? Was sindDeine Leitmotive für die nächste Lebens-phase?Die Dramatisierung der Probleme welt-weit ruft nach radikalem Handeln in derPolitik. Wir leben mit zwei Gross-Risiken:• Die AKWs müssen weg. Die Klimakata-strophe fordert ganz neue Dimensionen

des weltweiten politischen und gesell-schaftlichen Handelns heraus. Wenn derMeeresspiegel steigt und die Gletscherverschwinden, dann wird die Menschheitvor gigantischen Sach- und Handlungs-zwängen stehen.• Die dramatisch auseinanderklaffendeEinkommensschere in der Schweiz und inder Welt und die Verantwortungslosigkeitdes Casino-Kapitalismus dürfen nicht denZusammenbruch des schweizerischenund weltweiten Wirtschafts-, Gesell-schafts- und Politiksystems bewirken. Esdarf nicht mehr heissen «Die Banken undihre Schweiz»,sondern «Die Schweiz in derweltweiten Mitverantwortung».

Margret Kiener Nellen anlässlich einer Bundeshausführung 2011

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Der wohl grösste Ein-schnitt der letzten 100Jahre in der Bolliger Ge-schichte war die Teilungder «alten» Einwohnerge-meinde im Jahre 1982.Heute wie damals war undist man sich in der SP nicht

einig, ob dies nun richtig oder falsch war.Fest steht, dass auch Bolligen in den letz-ten Jahren zu einem stetigen Ausbau derZusammenarbeit mit den Nachbarge-meinden oder der Region gezwungenwurde. Dies bringt die erwünschte Ratio-nalisierung und Professionalisierung,aberauch eine Vielzahl von Verträgen mit ver-schiedensten Körperschaften verbundenmit eingeschränkten Kompetenzen! Unterdiesen Umständen fragen wir uns, ob sichdie hoch gelobte Gemeindeautonomienicht allmählich von selbst auflöst.Gemeindefusionen sind heute schweiz-weit ein grosses Thema. So auch in der Re-gion Bern, wo der Verein «Bern neu grün-den» kürzlich die Diskussion über das po-litische Zusammenwachsen der Regionangestossen hat. Längerfristig ist ein Zu-sammenschluss der Agglomeration Bernaus unserer Sicht denkbar, ein Prozess, derz. B. in der Agglomeration Luzern bereitsheute eingesetzt hat.Vorläufig wird Bolligen aber als selbst-ständige Gemeinde bestehen dürfen odermüssen, je nachdem aus welchem Ge-sichtspunkt wir es betrachten. Der wich-tigste Hinderungsgrund für die Zusam-menlegung von Gemeinden ist bekannt-lich der Steuerwettbewerb. Dass Gemein-

den wie Ittigen oder Murimit ihren extrem tiefenSteuern kein Interesse anFusionen mit ihren Nach-bargemeinden haben, er-staunt niemanden!Wohin wird sich also dasautonome Bolligen bewe-gen? Werfen wir einen Blick auf den heu-tigen Zustand der Gemeinde. Welche Pro-bleme beschäftigen uns im Jahre 2011?Welche Ziele verfolgt der Gemeinderat inder Ortsplanung,wie will er Bolligen als at-traktiven Wohn- und Arbeitsort in der Re-gion positionieren, wie will er die ange-schlagenen Finanzen wieder auf eine ge-sunde Basis bringen?Trotz Bruchlandung der Ortsplanungs-revision an der legendären Gemeinde-versammlung vom August 2008 darf dieraumplanerische Entwicklung von Bolli-gen nicht still stehen. Die damals grösstevorgeschlagene Einzonung im Rörswilhätte den von der SP geforderten Bau vonMehrfamilienhäusern mit einem grossenAnteil Mietwohnungen ermöglicht. Dieseit Jahren anhaltende Abnahme der Be-völkerung und insbesondere der Kinder-zahlen wäre durch den Zuzug von jungenFamilien gestoppt worden.Die mässige Er-weiterung der Bauzone und damit die Vi-sionen des damaligen Gemeinderates fan-den kein Gehör. Die einzige Möglichkeit,neuen Wohnraum zu schaffen liegt heuteund in naher Zukunft in der Verdichtungder bestehenden Bauzone.Im Februar 2011 hat die Gemeindever-sammlung dem Ausbau der Schulanlage

Wohin bewegt sich Bolligen?

Jon Duri Tratschin Niklaus Wahli

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

Lutertal und der Zusammenlegung derPrimarschule Bolligen an diesem Stand-ort zugestimmt. Daraus ergeben sich aufdem heutigen Schulareal an der Flug-brunnenstrasse völlig neue Überbau-ungsmöglichkeiten. Und weil das Land imBesitze der Gemeinde ist, haben wir es inder Hand, die Nutzung festzulegen unddafür zu sorgen, dass wegweisendes, fa-milienfreundliches Wohnen realisiertwird. Der Gemeinderat will die Parzelle,auf der das sanierungsbedürftige Ge-bäude der Gemeindeverwaltung steht,ebenfalls für die geplante Wohnüber-bauung zur Verfügung stellen. Als neuenStandort für die Gemeindeverwaltung fa-vorisiert er einen Neubau bei der StationBolligen.Damit dieses Vorhaben gelingt, muss dieGesamtplanung des Areals bei der StationBolligen rasch in Angriff genommen wer-den. Wir stellen uns vor, dass ein grosszü-

gig gestaltetes kommerzielles Zentrumohne Gigantismus mit Gemeindeverwal-tung, Landi und weiteren Dienstleistungs-betrieben, durchmischt mit flexiblerWohnnutzung, zukünftig den Platz bei derStation Bolligen prägen wird! Von dortführt eine momentan noch visionäreHochbahn in wenigen Minuten nach Bern,löst viele Knotenprobleme, verknüpft Bol-ligen regional und verdeutlicht die Lebens-qualität des urbanen Wohnens in grünerUmgebung.Bevor es soweit ist, stehen eine Reihe vonanderen Weichenstellungen an. Diese be-treffen insbesondere die Liegenschaften,wovon die Gemeinde eine stattliche An-zahl besitzt,deren Nutzen aber hinterfragtwerden muss. Der Gemeinderat täte gutdaran, so schnell wie möglich eine Kosten-Nutzen Analyse vorzunehmen und – wie inseinen Legislaturzielen 2009–2012 festge-legt – vorzuschlagen, welche Liegenschaf-

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So könnte das Areal Flugbrunnenstrassse für eine Wohnüberbauung genutzt werden.

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Wohin bewegt sich Bolligen?

ten entweder verkauft oder im Baurechtabgegeben werden sollen.Massnahmen in diese Richtung sind drin-gend nötig,wenn wir uns die finanzielle Si-tuation der Gemeinde vor Augen führen.Die Gemeinderechnung weist in der lau-fenden Legislatur hohe Defizite aus, dieSchulden sind innerhalb von 2 Jahren um50%, von 12 auf 18 Millionen gestiegen!Und die Finanzplanung prognostiziert ei-nen weiteren Anstieg in den nächsten Jah-ren auf über 30 Millionen! Dass der Ge-meinderat es fertig bringt, ausschliesslichdurch Sparmassnahmendie Finanzen wieder aufeine gesunde Basis zustellen, glauben wirnicht. Jedenfalls liegtkein konkretes Konzeptvor, wie dies erreicht wer-den könnte.Unter diesen Umstän-den wäre es völlig un-verständlich, sollte derGemeinderat darauf ver-zichten, auf der Ein-nahmenseite namhafteKorrekturen anzubrin-gen. Handlungsbedarfbesteht z. B. bei der Lie-genschaftssteuer: nur 5 der 390 Gemein-den des Kantons Bern haben einen nied-rigeren oder gleich tiefen Liegenschafts-steuersatz! Der durchschnittliche Steuer-satz aller Berner Gemeinden ist mehr als50% höher als in Bolligen. Eine Anhebungder Liegenschaftssteuer auf dieses Ni-veau brächte jährlich rund 500 000 Fran-ken Mehreinnahmen. Bolligen leistet sichauch den Luxus, keine Parkgebühren fürDauerparkierende auf öffentlichen Stras-sen und Plätzen zu erheben. Solche Ge-

bühren sind in praktisch allen Gemeindender Region bereits seit Jahren gang undgäbe!Aus Sicht der SP ist die gegenwärtige Fi-nanzpolitik des Gemeinderates unverant-wortlich, weil sie gezwungenermassen zuLasten der künftigen Generationen geht.In den letzten Jahren wurden die Kantons-steuern und in der Folge automatisch auchdie Gemeindesteuern mehrfach gesenkt.Dessen ungeachtet verlangen die bürger-lichen Parteien auf allen Ebenen weitereSteuersenkungen (Motorfahrzeugsteuer,

Handänderungssteuer,Unternehmensge-winnsteuer, Mehrwertsteuer usw.). DieFolgen sind offensichtlich: das Vermögender Privaten in den Händen einer immerkleiner werdenden Minderheit wächstkontinuierlich, während die öffentlicheHand sich verschuldet und ein zunehmen-der Teil der Bevölkerung verarmt.Dies ist inakzeptabel – dagegen setzen wiruns zur Wehr – auch in Bolligen!

Jon Duri Tratschin und Niklaus WahliGemeinderäte SP Bolligen

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Vor der sanierungsbedürftigen Schulanlage Flugbrunnenstrasse:Niklaus Wahli, Jon Duri Tratschin mit Rudolf Burger (Gemeindepräsident)

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100 Jahre SP Bolligen 1911–2011

Gemeinsam wachsenWo die Sozialdemokratiemitregiert, findet immereine Entwicklung imDienste der gesamten Be-völkerung statt. Wir sindfür alle da – und nicht fürein paar wenige mit Son-

derinteressen.Dass sich diese Politik lohnt,zeigt sich auch in Bolligen: Die Gemeindehat sich nicht zuletzt dank des Engage-ments der SP zu einem attraktiven Wohn-

ort mit hoher Lebensqualität entwickelt.Gut also, dass es seit 100 Jahren die SP Bol-ligen gibt. Es wird sie noch mindestensweitere 100 Jahre brauchen.Als Stadtpräsident von Bern und als So-zialdemokrat freue ich mich über starkeNachbargemeinden. Wir sind als Regionnur zukunftsfähig, wenn wir gemeinsamwachsen und die Stadt wie auch die Agglo-meration ihre Attraktivität als Wohn- undWirtschaftsstandorte weiter ausbauen.Dies erlaubt es, Bern und die Region als dy-

Vision Bolligen 2050Im Rahmen dieser kleinen Festschriftschweifte der Blick angesichts des Jubilä-umsanlasses insbesondere in die Vergan-genheit unserer Gemeinde und der Rolle,die unsere Partei dabei einnehmen durfte.Aber dieser Blick wäre unvollständig,wenner sich nicht auch in die Zukunft richtenwürde.Wir haben daher verschiedene Per-sönlichkeiten um ihre Visionen zu Bolligenim Jahr 2050 gefragt – vor allem Bewohne-rinnen und Bewohner unserer Gemeindejeglichen Alters, zudem haben wir auchzwei aufmerksame Beobachter aus der Ag-glomeration um ihre Visionen gebeten,nämlich den Stadtpräsidenten von Bernund den Ortsplaner von Bolligen. Wirhaben unseren Gesprächspartnern und -partnerinnen einige Fragen gestellt,näm-lich was sie gut finden an Bolligen, was sieweniger gut finden,wie sie sich Bolligen imJahr 2050 wünschen und was die Bollige-rinnen und Bolliger in jenem Jahr beschäf-tigen wird. Zusammengekommen sindganz unterschiedliche Antworten, interes-

sante Meinungen und bedenkenswerteAnregungen. Wir haben sie nachfolgendunverändert zusammengestellt und sindnatürlich gespannt,wie sich diese Visionendereinst im Zieljahr 2050 präsentierenwerden. Hansjörg Meyer

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Vision Bolligen 2050

namisches urbanes Zentrum zu etablierenund unsere Stellung als Hauptstadtregionwirkungsvoll zur Geltung zu bringen.Dass jede Gemeinde rund um Bern ihreneigenen Charakter und ihre eigenen Stär-ken hat, ist durchaus ein Vorteil. Allerdingsändert dies nichts daran, dass die Agglo-meration auf Bern ausgerichtet ist.Ob Kul-tur, Verkehr, Infrastruktur, Bildung oderFreizeit: Was die Stadt entscheidet, tan-giert immer auch die Agglomeration,ohnedass sie mitreden kann. Das gilt für Bolli-gen wie für alle anderen Nachbargemein-den. Grund dafür sind überholte Struktu-ren, die nicht mehr die Autonomie der Ge-meinden schützen, sondern ein Demokra-tiedefizit verursachen.Das wird uns in den nächsten Jahrzehn-ten stark beschäftigen. Wenn wir uns alsurbanes Zentrum gegenüber anderenMetropolitanräumen behaupten wollen,

braucht es ein Zusammenwachsen derRegion. Wir müssen erkennen, dass wirauf enge regionale Kooperation angewie-sen sind, um der internationalen Konkur-renz begegnen zu können. Nur wenn unsdies gelingt, werden wir im Jahre 2050stolz vom Gurten hinunterblicken könnenauf einen modernen, lebenswerten urba-nen Raum mit gemeinsamer Identität.

Alexander TschäppätStadtpräsident Bern

* * *

Die Zukunft planen

Was finde ich gut an Bolligen?Hohe Lebensqualität, fantastische Land-schaft, weitläufige Naherholungsgebiete,Sonne und Aussicht, dörfliche Wurzeln,ländlich und doch stadtnah, mit dem ÖVrasch im Zentrum von Bern und in derNatur.

Was finde ich weniger gut an Bolligen?Rasch gewachsenes heterogenes Orts-bild, weder urban noch dörflich, weit-läufige Einfamilienhausbrachen, Wohn-und Schlafgemeinde, lähmende politi-sche Strukturen, dominanter Verkehr ...

Wie wird Bolligen im Jahr 2050aussehen bzw. sein?Naherholungspark Bantiger–Ferenberg,verdichtete Siedlungslandschaft Wank-dorf–Ittigen–Ostermundigen mit Grün-korridor vom Bärengraben zum Bantiger,Agglomerationsraum als attraktive neueurbane Qualität, hohe ÖV-Erschliessungs-qualität mit Solarbuxis und Schräglift zumBahnhof, Bolligen als wegweisende Ener-giegemeinde mit Solarprix CH, lebendiges

Wegmühle Bolligen

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Gemeinde- und Dienstleistungs- undWohnzentrum beim Bahnhof,mit preisge-kröntem umgenutztem Mühlewohnsiloals Wahrzeichen ....

Was wird die Bolligerinnen und Bolliger 2050 beschäftigen?Zunahme und Überalterung der Bevölke-rung, neue gesellschaftliche Strukturen,verändertes Rollenverständnis Mann–Frau, neues Verständnis von Arbeit undFreizeit, zeitgemässe überkommunale po-litische Körperschaften, rigider Land-schaftsschutz, energetische Sanierungund Umstrukturierung/Verdichtung derEinfamilienhausgebiete, neue verdichteteWohn- und Arbeitsgebiete in Bahnhof-nähe, markante Einschränkung des Privat-verkehrs zugunsten Langsamverkehr undöffentlichem Verkehr, ... und Bolligen als le-benswerter Ort mit hoher Identität.

Adrian Strauss, Ortsplaner Bolligen

* * *

Für Jung und Alt

Was finde ich gut an Bolligen?Die Nähe zur Stadt mit dem attraktivenAngebot des ÖV sowie die Nähe zum Erho-lungsgebiet.Der neu gestaltete Dorfplatz mit Kirche,Reberhaus; die Einkaufsmöglichkeiten imDorfmärit, der Wochenmarkt im Sommer-halbjahr.Das kulturelle Angebot sowohl für dieländliche wie urbane Bevölkerung.Das Engagement unserer Gemeinderäte,der Kirchgemeinde, der Vereine und dievielfältige Parteienlandschaft.Den guten Ruf der Bolliger Schulen; dasAngebot der Kita für berufstätige Eltern.

Die Identität als Dorf Bolligen, die über-blickbare Grösse.

Was finde ich nicht gut an Bolligen?Die Hauptstrasse, die mitten durch dasDorf führt; der vom Verkehr dominierteSternenplatz, die hohe Luxusmauer ent-lang der Krauchtalstrasse.Die Einfamilienhaus-Bevölkerung resp. diefehlenden Wohnungen für Leute mit klei-nem Portemonnaie.Die fehlende Metzgerei und Molkerei imDorfzentrum.

Wie wird Bolligen im Jahr 2050 aussehen?Eine gute Durchmischung von Wohnun-gen für unterschiedliches Einkommen.Vermehrt junge Familien, demzufolge einerweiterter Schulhausbau im Lutertal.Ein weiterer Ausbau des ÖV dank desneuen RBS-Bahnhofs in Bern (wegen des

Plastik von Heiner Bauer, Eisengasse 7

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Vision Bolligen 2050

hohen Benzinpreises fahren wenigerPendler mit dem Auto zur Arbeit).Altersgemischte Projekte im Dorf, z. B.Grosseltern hüten Kinder,Kiddys leisten Äl-tern Support im ICT-Bereich; Mittagstischfür Schulkinder und Alleinstehende usw.Vermehrte institutionalisierte Nachbars-hilfe (Einkäufe, Autofahrten, Kochen,kleine Reparaturen usw.)Online-Abstimmungen ersetzen die Ge-meindeversammlung.Bolligen bietet auch Arbeitsplätze an fürDienstleistungsunternehmen sowie einreges kulturelles Angebot als Alternativezur Stadt Bern.Bolligen pflegt seine Identität.

Sonja Graf-Müller, Coach,dipl. Supervisorin BSO mit eigener Praxis

* * *Lebenswerte GemeindeWas finde ich gut an Bolligen? Mit gefällt der schöne, grosse Platz in derDorfmitte mit Reberhaus, Kirche, Pfarr-haus,Dorfbeizli,und ausserdem der ,,Dorf-märit» mit den verschiedenen Läden,Bankund Post,Coiffeur,Bistro. Ich finde auch dieSüdhanglage von Bolligen gut,die Nähe zuStadt und Erholungsgebiet (Bantiger-Ge-gend), gute Verbindungen mit ÖV, dasschöne Dorfbild, die Sauberkeit, wenigLärm von Autobahn- und Flugverkehr, diegute Infrastruktur: Schulen, Kindergärten,Kirche, Spitex, Arzt- und Zahnarztpraxen,Einkaufsmöglichkeiten, Treffpunktmög-lichkeiten, Vereine für Sport, Kultur, Hob-bies für alle Altersklassen: Kinder, Jugend-liche und ältere Menschen.

Was finde ich nicht gut an Bolligen? Ich weiss nichts, was ich an Bolligen nichtgut finde.

Wie soll Bolligen im Jahr 2050 aussehen bzw. sein? Das Leben in Bolligen soll auch im Jahr2050 noch lebenswert sein. Ich hoffe, dasses bis dann in der Schweiz und weltweitkeine Atomkraftwerke mehr gibt. Es ist an-zunehmen, dass die Bevölkerungszahlweiter zunimmt, und das ist eine grosseHerausforderung.Was wird die Bolligerinnen und Bolliger imJahr 2050 beschäftigen?Sicher möchten alle Menschen gesundsein, Arbeitsplätze haben und in Friedenund Wohlstand leben.

Renate Gattiker, langjährige Bewohnerin von Bolligen

* * *

Pendel von Werner Witschi, Schulhaus Eisengasse

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Bolligen wächstWas mir persönlich momentan an Bolligensehr gut gefällt ist, dass es mit allem aus-gestattet ist, was ein solches Dorf in mei-nen Augen haben sollte. Es hat eine Pizze-ria, einen Coop, eine Bar, Coiffeur usw.Wasmir auch sehr gut gefällt ist, dass Bolligennicht zu weit von Bern entfernt ist. Mankann «kurz in die Stadt gehen». Es ist aberauch nicht zu nahe an der Stadt,wir habendrei Wälder in der Nähe, wo man grillen,joggen oder sonst die Natur geniessenkann.Ich stelle mir vor, dass Bolligen in 40 Jah-ren grösser sein wird als heute. Es wirdwohl viele Renovationen und Neubautengeben. Ich denke, es wird alles modernergebaut sein. Vielleicht ist das Flugbrun-nenschulhaus bis dann abgerissen unddas Lutertal vergrössert.Ich denke, was uns alle im Jahr 2050 be-schäftigen wird, ist die Frage nach alterna-tiven Energiequellen,wenn Uran und Erdölausgehen. Vielleicht wird es Abstimmun-gen über neuartige Kraftwerke oder der-gleichen geben. Und man wird sich viel-leicht auch Gedanken zur Vergrösserungvon Bolligen und seinen Grenzen machen,denn ich glaube, man kann so eine Ge-meinde nicht unendlich vergrössern.Michael Zysset, Gymnasiast

* * *

Schöne neue WeltWerde ich als Siebzigjährige immer nochin Bolligen wohnen? Meine Überlegungenzum Thema «Vision Bolligen 2050»schweifen immer wieder in die «weiteWelt», weil die Globalisierung und Vernet-zung in der Zukunft noch viel stärker aus-geprägt sein werden. Bekommen wir«heutige» Probleme wie z. B. Klimawandel

rechtzeitig in den Griff? Welchen bis jetztungeahnten Problemen werden wir in dennächsten 40 Jahren gegenüberstehen?Oder wird dank neusten Technologiendoch noch alles gut? Wie es wirklich sein wird, wissen wir spä-testens in 40 Jahren. Noch haben wir einbisschen Zeit, bevor wir die Welt (und uns)komplett zerstören.Gerade eben wurde ich pensioniert undgeniesse nun meine Freizeit.Dank Medizinund obligatorischen Präventionsmass-nahmen werden wir «jungen Alten» zurMenschengruppe mit der stärksten Kauf-kraft. Mit meinen Enkelkindern fahre ichmit der Hightech-U-Bahn in wenigen Se-kunden nach Bern in den Zoo.Dort bewun-dern wir längst ausgestorbene Tiere wieEisbären, Gorillas oder Wale. A propos Fi-sche: das letzte Mal Fisch gegessen habeich wegen Überfischung und Meeresver-schmutzung vor 10 Jahren… Die neuste At-traktion im Zoo ist ein geklontes Mammut.Dies gibt mir die Gelegenheit, meinen En-kelkindern von Gletschern und Schnee zuerzählen, da wir leider seit Jahren keinenWinter mehr gehabt haben. Um so ein-drücklicher sind dafür die Sommer, mitTemperaturen um 40 Grad von März bisNovember. Die Gewitter richten regelmäs-sig unglaublichen Schaden an. Auch Wir-belstürme sind bereits vereinzelt über dasMittelland gefegt. Und um noch weitervon «früher war alles besser» zu sprechen:In die Ferien reisen wir zwar mittlerweilemit emissionsfreien, solarbetriebenenFlugzeugen. Reiseziele wie die Maledivenoder auch Venedig gibt es aber leider nichtmehr, da diese bereits überflutet wordensind. Dafür sind Mondflüge der neusteHit …Um auf meine Einstiegsfrage zurückzu-

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Vision Bolligen 2050

kommen: ich weiss es nicht, aber ich hoffees! Ausser Mühleberg fliegt uns vorher umdie Ohren … Jana Wahli, Bolligerin

* * *2050 – die dynamische Zukunft BolligensBolligen ist heute eine schöne und niedli-che kleine Gemeinde, welche zur Agglo-meration der Stadt Bern gehört. Ihre mit-telbare Nähe zur Hauptstadt und gleich-zeitig ihre ruhige und sonnige Lage ma-chen sie um so attraktiver. Doch wie wirdBolligen in kaum 40 Jahren, im Jahre 2050aussehen? Mit einem stetigen Bevölkerungswachs-tum werden wir vielleicht nicht mehr vonder Gemeinde Bolligen sprechen, sondernvon Bolligen b. Bern. Bolligen b. Bern wirdeines der schönen Quartiere von Bern sein,wo es trotz Wachstum immer noch blü-

hende Grünzonen haben wird.Der Arbeits-weg der Bolligerinnen und Bolliger wirdmit der neuen Metro nicht mehr zwölf son-dern vier Minuten dauern.Der Bantiger wird immer noch das Wahr-zeichen von Bolligen sein,doch wird er sich

den Platz mit dem modernsten Windradder 50er Jahre auf dem Mannenberg teilenmüssen.Dank der sonnigen Lage, wird Bolligen mitan der Spitze der Zufuhr von Sonnenener-gie des Kantons Bern sein. Dadurch wirdsich der Wohlstand der Gemeinde steigernund wir werden dank dieser erworbenenMittel in eine gute Infrastruktur und in einegute Bildung,die auf dem neusten pädago-gischen Stand sein wird, investieren.Somit wird Bolligen im Jahre 2050 einesder attraktivsten Gebiete von Bern sein.

Valériane Moser, Juso Stadt Bern* * *

Zwischen Stadt und Land

Was finden wir gutam heutigen Bolligen?J: Bolligen ist gut gelegen, nahe von Bern,schön sonnig, Natur in der Nähe.

C: Finde ich auch. Man kennt sich in Bolli-gen, es ist übersichtlich, nicht allzu gross.J: Die Schulen sind gut, z. B. mit der Mög-lichkeit der SpezSek als Vorbereitung fürden Gymer.C: Für Kinder ist es schön, hier aufwachsen

Holz versus Beton, Alt und Neu

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zu können. Jugendliche fühlen sich abereher in die Stadt hingezogen.J: Ja, für Jugendliche ist es nicht so cool.Aber in andern Gemeinden ist dies nichtbesser.

Was finden wir weniger gut an Bolligen?C: Es wird viel gebaut in Bolligen. So ver-schwindet viel Grünfläche, das ist schade.Man sollte mehr Felder und Wiesen lassenwie sie sind.J: Es ist nicht so gut,dass Bolligen langsamzu überaltern droht. Für junge Familiengibt es nicht viele zahlbare Wohnungen.Viele geeignete Häuser sind nur noch voneiner oder zwei Personen bewohnt.Kantonund Gemeinde sollten vermehrt daraufschauen, dass auch weniger begütertePersonen und junge Familien in Bolligen

Wohnraum erhalten können. Dass dieletzte Ortsplanungsrevision abgelehntwurde, ist schade. Offenbar sind viele Bol-ligerinnen und Bolliger etwas unflexibel.C: Ich finde, dass man auch im Ort selbsteinige Wiesen belassen können sollte. AmOrtsrand kann man schon auch Wohn-raum schaffen. Bolligen ist ja keine Stadt-gemeinde, sondern liegt auf dem Land.

Wie stellen wir uns Bolligen im Jahr 2050vor?C: Einen gewissen ländlichen Charakterwird Bolligen behalten. Man hat aber auchmehr getan für die Jugendlichen,mehr An-gebote bereitgestellt.J: Bolligen wird immer mehr mit Bern zu-sammenwachsen, vielleicht werden dieGemeinden der Agglomeration Bern sogarzusammengefügt. Es wird mehr Zugsver-bindungen nach Bern geben, durchge-hend alle 7 Minuten. Der ÖV wird generellmehr ausgebaut sein. Es wird mehr Fami-lien hier haben, weil mehr familienfreund-liche Wohnungen zur Verfügung stehen.C: Ja, die Familienfreundlichkeit ist einwichtiges Thema! J: … und die KITAG-Angebote werden vielzahlreicher und besser sein. Heute hatsdazu nur den Butzus. Und die Gemeindewird diese Angebote fördern und Tages-schulen einrichten. Als arbeitende Frausollte man solche Betreuungsangeboteauch am Wohnort haben, nicht nur am Ar-beitsort.

Was wird die Bolligerinnen und Bolliger imJahre 2050 vermehrt beschäftigen?C: Die Raumplanung wird Bolligen be-schäftigen.J: Ja,weil Bolligen mehr an Bern gebundenist, wird auch die Nachfrage nach Wohn-

«Schtägeschtäg» oder «die etwas andere Brücke»des Ateliers Lang/Baumann, Burgdorf

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Vision Bolligen 2050

raum gestiegen sein.Vielleicht hat es dannzu wenige Einkaufsmöglichkeiten für einegestiegene Bevölkerungszahl.C: Der Verkehr wird sich geändert haben.Es wird wahrscheinlich andere Autos ge-ben,sie haben weniger Abgase,andere An-triebsarten werden sich durchgesetzt ha-ben.J: Auch der ÖV muss sich anpassen. DieRBS wird Doppelstockwagen haben! DerStrassenverkehr muss neu organisiertwerden, vor allem bei den Dorfein- und -ausfahrten.Weil es mehr Zugsverbindun-gen hat, müsste der Bahnübergang neukonzipiert werden, vielleicht wird es eineUnterführung haben. Für den Moonlinerwerden keine Zuschläge mehr bezahlt, erwird häufiger fahren und billiger sein!C:Die Leute werden sich aber auch mit vie-len der heutigen Probleme beschäftigen.

Joy Meyer (J), Juristin, und Claudio Meyer (C), Gymnasiast

* * *

Vision: Umdenken!Manche sprechen von grünem Wandel,an-dere von notwendigen revolutionären Ver-änderungen, um den globalen Herausfor-derungen gerecht zu werden. Sicher ist: esbraucht einen nachhaltigen Sinneswan-del. Und der kann nur in den Menschenpassieren – auch in der Gemeinde Bolligen.Umdenken ist zum Beispiel beim ThemaWasser angebracht. Wasser zum Trinkenund Kochen, um uns zu waschen, für dieLandwirtschaft und die Energieproduk-tion – die wohl wichtigste Ressource ist be-gehrt und knapp. Zwar wird meine Gene-ration in der Schweiz keine bedrohlicheKnappheit erleben. Doch unser heutiger,globaler Konsumradius inklusive Tomatenaus Nordafrika, Kaffee und Kakao aus

Ghana oder Fleisch aus Südamerika sindnicht nur CO2-intensiv, sondern sie enthal-ten auch «virtuelles» Wasser. So steckenz. B. in einem einzigen Kaffee 140 LiterWasser. Und jeder Mensch in der Schweizkonsumiert täglich 6’000 Liter Wasser.DieGemeinde Bolligen könnte Dienstleisterund Zulieferer dazu anhalten, sich derProblematik anzunehmen. Konsumentenachten darauf, wofür sie Geld ausgeben.

Auch die Wassernutzung kann man opti-mieren! Man sollte sich z. B. mal fragen,wieso wir Trinkwasser für unsere WC-Spü-lungen verwenden. Regenwasser würdeda ausreichen, gerade bei grossen öffent-lichen Gebäuden eine zudem finanziell in-teressante Investition. Auch unsere Ab-wasser-Kanalisation basiert auf Wasser:Bolligen sollte im Zuge von Renovationeninnovativere Lösungen wie beispielsweise

Jet d’eau beim Reberhaus

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ein Vakuumsystem prüfen. Damit könnteder Wasserverbrauch massiv reduziertwerden.

Um den sozialen Frieden nicht zu gefähr-den,müssen wir die heilige Kuh des Wachs-tumsdogmas in unserem Wirtschafts- undSozialsystem schlachten.Wollen wir ernst-haft unser Verhalten so anpassen, dass dieLebensqualität unserer Nachfahren gleichgut sein kann wie unsere? Dann müssenwir an unserem Wachstumsglauben rüt-teln! Elementare Ressourcen sind endlich,Effizienzsteigerungen wie sie die «GreenEconomy» propagiert sind begrenzt. Doch«Décroissance» ist noch nicht viel mehr alsein Reizwort. Der Vorschlag zum bedin-gungslosen Grundeinkommen wäre einerster, wichtiger Schritt – Bolligen könnteder Idee pionierhaft im Rahmen ihrerSozialhilfekompetenz zu mehr Gehör ver-helfen. Risch Tratschin, 29, Bolligen

Und zum Schluss die Vision eines promi-nenten Sozialdemokraten von 1943:Rückblick auf 1843,Vorausblick auf 2043,ein Blick vom Uetliberg auf Zürich als er-staunliches Zeugnis vom unbändigenZukunftsglauben der Sozialdemokratenmitten im Krieg:«Die abergläubische Furcht unserer heu-tigen Fortschrittsangstmeier wird vonden Zürchern des Jahres 2043 belächeltwerden, wie wir die superklugen Tüf-teleien und Unheilsprophezeiungenmanch eines Biedermeiers aus der Zeitvor Beginn des Eisenbahnbaues (1847)nicht mehr verstehen ...Wie auch die Entfaltung unserer Stadtsein mag, dessen dürfen wir gewiss sein,dass sie eine Stadt der Arbeit, der Wissen-schaften, der Forschung, der technischenLeidenschaften, eine Stadt der schönenKünste, eine Stadt der Volksbildung sein

wird, die einen vornehmeren Zustand dersozialen Gerechtigkeit verwirklicht ha-ben wird, als wir heute zu erkennen ver-mögen ...Mehr als je zuvor werden Akte des unso-zialen Verhaltens, Akte der Brutalität, desskupellosen Gewinnstrebens (die Invest-mentbanker von 2011 lassen grüssen.Anm. d. R.), des Versuchs der Ausbeutungverpönt und durch die Institutionen derGesellschaft verunmöglicht sein.»Im Klappentext des Buches von ErnstNobs «Helvetische Erneuerung» (1943)ist zu lesen, was auch heute noch geltenmag:«... ein offenes, mutiges Aufdecken jenerkleinmütigen, selbstzufriedenen, egoisti-schen Gesinnung, die unser Eigenlebenoft stärker bedroht als äussere Feinde ...»

Ernst Nobs, erster sozialdemokratischerBundesrat (1943–1951)

«Twintowers» auf dem Bantiger 1996:Altes weicht dem Neuen

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SP

Bildnachweis:Hansjörg Meyer, Bolligen: S. 6, 38–46K. L. Schmalz, Bolligen, 1982: S. 8Sammlung Foto H. Suter, Bern: S. 9, 30100 Jahre SP Kanton Bern, 2005: S. 10Ringier Bildarchiv: S. 12Helmut Baurecker, Bolligen: S. 16–19, 31, 34,Titelseite mit Bantiger, Hühnerbühlstrasse, RBS Richtung StettlenChristoph Hoigné: 4. UmschlagseiteRuedi Lauterburg, Bolligen: S. 24, 28Bantiger Post, 6/2011: S. 36, 37

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FestprogrammSamstag, 15. Oktober 2011im Reberhaus, Bolligen 10

0 JA

HR

E

BOLLIGEN

Apéro 17.00

Begrüssung: Thomas Zysset, Parteipräsident 17.20

Kurze Grussbotschaften 17.30

Präsentation Programm: Margret Kiener Nellen, Nationalrätin 18.00

Ansprache Roland Näf, Präsident SP Kanton Bern 18.15

Abendessen 18.30

Ansprache Hans Stöckli,Nationalrat, SP-Kandidat Ständerat Kanton Bern nach Ansage

Ansprache Margret Kiener Nellen, Nationalrätin nach Ansage

Gusti Pollack (2 mal 40 Minuten) 20.30

Ausklang: Mehlsuppe, Wurst und Bier nach Ansage