Bourdieu 2005 - Die en Mechanism En Der Macht. Ausschnitte

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Schriften zu Politik &Kultur 1

Pierre Bourdieu (1930-2002) war Professor fiir Soziologie

am College de France in Paris.

Seine wichtigsten Arbeiten: »Die feinen Unterschiede«

(Frankfurt a.M. 1982), »Homo academicus« (Frankfurt

a.M. 1988), »Das Elend der Welt« (Konstanz 1997), »Die

Regeln der Kunst« (Frankfurt a.M. 1999), »Der Staatsadel«

(Konstanz 2004).Im VSA-Verlag erschienen:

»Die Intellektuellen und die Macht« (herausgegeben von

Irene Dolling, Hamburg 1991), -Der Tote packt den Le-

benden« (Schriften zu Politik & Kultur 2,Hamburg 1997),

»Der Einzige und sein Eigenheim« (Schriften zu Politik &

Kultur 3, Erweiterte Neuausgabe, Hamburg 2002), »Wie

die Kultur zum Bauern kommt« (Schriften zu Politik &

Kultur 4, Hamburg 2001), »Interventionen 1961-2001«

(Band 1-4, Hamburg 2003-2004).

Pierre Bourdieu

Die verborgenen Mechanismen

der Macht

Herausgegeben von Margareta Sreinriicke

Aus dem Franzosischen von jiirgen Bolder

unter Mitarbeit von Ulrike Nordmann u.a.

Margareta Steinriicke, geb. 1953, ist Referentin fur Frauen-forschung der Arbeitnehmerkammer Bremen und Sozio-

login mit den Schwerpunkten Soziologie der Geschlechter-

verhaltnisse, der sozialen Ungleichheit und der betriebli-

chen und gewerkschaftlichen Interessenvertretung. Zusam-

men mit Petra Frerichs fiihrte sieeine theoretisch und me-

thodisch an Pierre Bourdieus Untersuchungen zu den »Fei-

nen Unterschieden« und zur mannlichen Herrschaft ori-

entierte empirische Untersuchung zum Verhaltnis von

Klasse und Geschlecht durch (P. Frerichs/M. Steinriicke:

Klasse und Geschlecht, in dies. [Hrsg.]: Klasse, Geschlecht,

Kultur, Berichte des ISO 54, Koln 1997). Sie ist Heraus-geberin der »Schriften zu Politik & Kultur« von Pierre

Bourdieu bei VSA sowie des Bandes »Pierre Bourdieu.

Politisches Forschen, Denken und Eingreifen« (Hamburg

2004).

VSA -Verlag Hamburg

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www.vsa-verlag.deInhalt

Vorwort 7

von Margareta Steinriiclee

Politik, Bildung und Sprache 13

Die feinen Unterschiede 31

Okonomisches Kapital - Kulturelles Kapital -

Soziales Kapital 49

Die verborgenen Mechanismen

der Macht enthullen . . 81

Die Konige sind nackt 87

Therapie fur traumatisierte Akademiker 103

Vorschlage des College de France

fur das Bildungswesen der Zukunft 111

Brief an die Oberschiiler von Mureaux 123

Was anfangen mit der Soziologie? 127

Keine wirkliche Demokratie

ohne wahre kritische Gegenmacht 149

Im Osten erwacht die Geschichte 161

Die gesunde Wut eines Soziologen 165

Text-Nachweise . 175© VSA-Verlag 2005 (Unveranderter Nachdruck der Erstauflage von 1992),St. Georgs Kirchhof 6, 20099 HamburgAile Rechte vorbehalten

Druck- und Buchbindearbeiten: Idee, Satz&Druck, HamburgISBN 3-87975-605-8

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r

Die feinen U nterschiede

In Ihrem Buch »Diefeinen Unterschiede« zeigen Sie aneiner Fidle empirischer Daten, wie sehr das Leben des

einzelnen von seiner Klassenzugehorigleeit bestimmt

wird. Ob erJohann Strauss oderJohann Sebastian Bach

mag, aber auch wieviel Unterhosen erhat, ob erSchlafan-zug und Morgenmantel besitzt: das alles wird auf seine

soziale Zugehorigkeit zuriickgefiihrt. Ergibt sich dann

aus der Fidle solcher Einzelheiten wirklich ein einheitli-

ches Bild, ein »Systern der Lebensstile«?

Nun, ich meine, daB es bei diesem Unternehmen nicht

bloB darum geht, unterschiedliche Formen der Lebens-

fiihrung mit der Zugehorigkeit zu dieser oder jener

gesellschaftlichen Klasse zu verkniipfen. Im Grunde geht

es mir in diesem Buch viel eher darum, die herkommliche

Vorstellung von »Klasse« auiser Kraft zu setzen, als sie

zu starken, Mein Versuch geht dahin zu zeigen, daB zwi-

schen der Position, die der einzelne innerhaTh eines.. -.".----._-_._ .•.._ . _ . _ . _ .._----._--_ ..- ... _ ... - ... __ ..._-.-.__ ...

gesellschaftlicnen Raumes einnimmt, und seinem

.~ebensstiL_e..~!l_~~~~l!l~_e~~<l:EK,.~~~!~~!:,_Aber- die-s~Zusammenhang ist kein mechanischer, diese Beziehung

ist nicht direkt in dem Sinne, daf derjenige, der weili,wo ein anderer steht, auch bereits des sen Geschmack

kennt. Als Vermittlungsglied zwischen der Position oder

Stellung innerhalb des sozialen Raumes und spe,z~~~en

Praktiken, Vorli~ben~ usw. fung~ert das, was ic~bi- ,h

~:i~~~-~i~~~5~~~d~t~\W~1~~n~1¥~~~~il-~;~c~:~ * ' ~ ~.~.!.ellungna4~efl-T~ht=!:-E-;-g~btrli~tanderenW~r;:t -

sachlich - und das ist meiner Meinung nach iiberraschend

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genug - einen Zusammenhang zwischen hochst dispara-

ten Dingen: wie einer spricht, tanzt, lacht, liest, was er

liest, was er mag, welche Bekannte und Freunde er hat

usw. - all das ist eng miteinander verkniipft. Und das

haben, glaube ich, in dieser Klarheit vor mir nur wenige

formulier t - unter anderen die Schriftsteller. Fur Balzac

etwa war es eine ausgemachte Sache, dafs er, wenn er dasHaus schilderte, in dem seine Helden wohnten, zugleich

diese selbst beschrieb - und daB bei der Schilderung der

Helden auch von deren Hausern die Rede war. Bei Flau-

bert ist das noch deutlicher: In der »Erziehung des Her-

zens« zeichnet er nach, wie die verschiedenen sozialen

Kreise essen - und in der Beschreibung des Essens liefert

er die Beschreibung des Milieus. Es handelt sich folglich

urn etwas, was wir intuitiv immer schon wissen, was die

Schriftsteller anschaulich machen, aber was von den

Sozialwissenschaften nicht verfolgt wird. Dafiir gibt es

mannigfache Griinde, zunachst einmal technische: Wenn

z.B. die Sozialpsychologie ein solches Thema angeht,

wird eine Reihe isolierter Experimente und Untersu-

chungen gestartet - iiber asthetischen Geschmack, iiber

Wahrnehmung, usw. -, und man kann sicher sein, daB

es nicht derselbe Wissenschaftler ist, der iiber beides

forscht.

Eine der Schwierigkeiten meiner Untersuchung lag

darin, mit einem einzigen Fragebogen so viele unter-

schiedliche Aspekte einer Person wie nur irgend moglich

zu erfassen - nach dem Lieblingsessen genauso zu fragen

wie nach den Literatur- und Musikvorlieben, ja wenn

moglich auch nach den Vorlieben im Zusammenhang mit

dem sexuellen Partner, wobei immer davon auszugehen

war, daB hier eine Einheit besteht. Ich bin tatsachlich

der Meinung, daB unser Nervensystem auf einheitliche

Weise funktioniert - wir vereinheitlichen, machen koha-

rent, und in diesem Sinne ist unser Geschmack kein blo-

Be s Produkt mechanischer Bestimmungsfaktoren des

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Milieus, sondern Resultat emer Art Alchimie, emes

Umwandlungsprozesses.

Wenn die Klassenzugeborigkeit das Leben des einzelnen

dermafien priigt - Essen, Wohnung, Sport, Kunst, aber

auch Liebe und Religion, alles ist abhiingig von der Klas-

senzugehorigkeit - gibt es da uberhaupt noch Platz furSpontaneitiit und Individualitiit?

Der Begriff des »Habitus« besagt genau das. Er bezeich-

net im Grunde eine recht simple Sache: Wer den Habitus

einer Person kennt, der spurt oder weif intuitiv, welches

Verhalten dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Wor-

ten: Der Habitus ist ein System vo~ Gren_zen. ,Wer z.B.

iiber einen kleinbiirgerlichen Habitus verfiigt, der hat

eben auch, wie Marx einmal sagt, Grenzen seines Hirns,

die er nicht iiberschreiten kann. Deshalb sind fur ihn

bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmoglich; es gibt

Sachen, die ihn aufbringen oder schockieren. Aber inner-

halb dieser seiner Grenzen ist er durchaus erfinderisch,

sind seine Reaktionen keineswegs immer schon im voraus

bekannt. Die Entsprechung von Lebensstil und kiinstle-

rischem Stil gewinnt von hier aus ihren Sinn: Der Stil

einer Epoche ist genau das, namlich schopferische Kunst,

das heiiit , man weiB nie genau, was ein Kiinstler schaffen

wird; aber sobald er etwas geschaffen hat, entdeckt man,

daB auch er Grenzen hat, daB in der Romantik eben kein

gotischer Stil entstehen kann. Mit anderen Worten:Jeder

Kiinstler schopft aus Vorhandenem. Das Gleiche gilt fur

jeden von uns: Wir haben alle unsere Grenzen. Allerdings

gibt es die Moglichkeit, sich dessen bewuiit zu werden.

Ein wichtiger Teil Ihres Buches befafit sich mit der Veriin-

derung im Bildungswesen, mit der »Bildungsexpansion«,

die fur Frankreich genauso gilt wie fur die Bundesrepu-

blik. Mehr Kinder mittlerer und unterer sozialer Schich-

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ten alsfriiher absolvieren heute die Gymnasien und Uni-

uersitdten. Sie sprechen von der »Bildungsinflation« als

dem Ergebnis dieser Entwicklung: Je mehr Absolventen

einen akademischen Titel erwerben, um so weniger wert

ist der Titel. Die H offnung vieler Jugendlicher auf gesell-

schaftlichen Aufstieg durch mehr Bildung erfiillt sich

nicht. In welch em Zusammenhang steht dieser Komplexmit Ihrem eigentlichen Thema?

Zunachst einmal denke ich, daB die Inflation und die

daraus folgende Entwertung der Bildungspradikate sehr

allgemeine Auswirkungen gehabt haben. Bestimmte

Aspekte der Jugendrevolte, der okologischen und femini-

stischen Bewegung, aber auch tiefgreifende Veranderun-

gen im polit is chen Bereich, das Auftreten des Linksradi-

kalismus usw. lassen sich meiner Meinung nach auf die

Wandlungsprozesse im Bildungswesen zuriickfiihren.

Und natiirlich bleibt auch der Geschmack von diesenEinfli issen nicht verschont. Wenn demnach eine der zen-

tralen Thesen meines Buches stimmt, daB zwischen dem

Raum der sozialen Positionen und dem der Lebensstile

Lebensweisen und Geschmacksrichtungen eine Korre~

spondenz besteht, dann muB sich zwangslaufig jede Ver-

anderung im Bereich der sozialen Positionen auf die eine

oder andere Weise innerhalb des Bereichs von

Geschmack und Lebensstil niederschlagen. Um eine

Reihe neuer Phanomene zu erklaren, insbesondere das

Auftreten eines »jugendlichen« Geschmacks, den ich aus-

fiihrlich in meinem Buch beschreibe, oder auch die Wert-

schatzung, die bestimmte moderne Sportarten wie das

Surfen genieBen, war ich gezwungen, die tiefgreifenden

gesellschaftlichen Wandlungsprozesse in Verbindung mit

den Veranderungen innerhalb des Bildungswesens zu

analysieren. Zum anderen erscheinen mir diese Verande-

rungen auch wichtig fiir die Erklarung jener Phanomene,

die gewohnlich unter dem Begriff der sozialen Mobili tat

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abgehandelt werden: Was sich in der jiingstvergangenen

Periode in den USA, in Frankreich, aber wohl auch in

der Bundesrepublik vollzogen hat, das ist ein tiefgreifen-

der Wandel im Verhaltnis der verschiedenen sozialen

Gruppen zum Bildungssystem. Dieser Wandel hat sich

ebenfalls auf die Lebensweisen ausgewirkt; nicht zuletzt

die Studentenbewegung hat in diesem Zusammenhangeine Art symbolische Fiihrerschaft i ibernommen, d.h. sie

hat neue Formen des politischen Ausdrucks erfunden,

neue Formen, Sexualitat auszudriicken und zu leben usw.

Drei grofle Klassen kann man, grob gesagt, in Ihrem

Buch unterscheiden: die herrschende Klasse, die den Ton

angibt - die mittlere Klasse, die aufsteigen will- und die

untere Klasse, die Volksklasse, die in gewisser Weise den

Abfall der anderen erbiilt. Man hat bei der Lektiire Ihres

Buches manchmal den Eindruck, Ihr Gesellschaftsbild sei

recht statisch.

Nein, mein Gesellschaftsbild ist keineswegs statisch. Was

ich zu zeigen versuche, is t vie1mehr: Statt wie so haufig

in Begriffen von sozialen Klassen zu denken, d.h. von

sauberlich geschiedenen, neb en- oder iibereinander ste-

henden gesellschaftl ichen Gruppen, sollte man eher von

einem sozialen Raum ausgehen. Dieser soziale Raum

besitz t, wie der geographische, eine Struktur - es gibt so

etwas wie eine gesellschaftliche Topologie: Einige Men-

schen stehen »oben«, andere »unten«, noch andere »in

der Mitte«, Bei der Beschreibung des sozialen Raums

verfahre ich wie ein Geograph, der etwa Deutschland in

einen Norden und einen Siiden einteilt. Der Norden ist

eher protestantisch, der Siiden eher katholisch. Der

Siiden kann nun noch weiter eingeteilt werden in Baden-

Wiirttemberg, Bayern usw., und jede dieser Regionen

laBt sich mit Bezug auf die iibrigen Regionen naher dar-

stell en. Wer »oben« beheimatet ist, diirfte wohl nur in

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den seltesten Fallen jemanden von »unten« heiraten.

Zunachst einmal sind die Aussichten generell gering, daB

sie sich iiberhaupt treffen. Sollee das einmal geschehen,

dann wahrscheinlich nur so en pass ant, kurz, auf einem

Bahnhof oder in einem Zugabteil. Von einem wirklichen

Zusammentreffen laBt sich da schwerlich reden. Und

sollten sie tatsachlich einmal ins Gesprach kommen, wer-den sie sich wohl nicht wirklich verstehen, kaum sich

eine richtige Vorstellung voneinander mach en konnen.

Mit anderen Worten: Es gibt so etwas wie einen Raum,

der sehr starke Zwange ausiibt . Andererseits stehen Men-

schen, die raumlich nahe beieinander sind, in einem -

wie esin der Topologie heif t - N achbarschaftsverhaltnis:

Sie sehen sich ofter, treten miteinander in Kontakt,

zuweilen auch in Konflikt, aber auch der stellt ja noch

eine Beziehung dar. Was ich analytisch beschreibe, ist

mit anderen Worten die Logik einer raumlichen Vertei-

lung. Diese Logik kann Annaherungen begiinstigen: Sichpersonlich naher zu kommen wird dann urn so leichter

sein, je naher man sich raumlich ist . Andererseits: Einmal

angenommen, ich ware ein polit ischer Fuhrer und wollte

eine groBe Massenpartei aufbauen, die sowohl Unterneh-

mer wie Arbeiter anspricht, dann diirfte das letztlich

kaum gelingen. Selbst wenn die potentiellen Anhanger

sich geographisch nahe sein sollten, sind sie auf der sozia-

len Ebene durch Welten getrennt. In bestimmten histori-

schen Konstellationen, in Zeiten einer nationalen Krise

mag es auf der Grundlage von N ationalismus zu einer

Annaherung kommen. Aber die ware letzten Endes doch

fiktiv.

Wenn Sie gestatten, mochte ich das Schema einmal in

groben Ziigen nachzeichnen: Stell en Sie sich eine Art

Achsenkreuz vor - die vertikale Achse hat ein »oben«

und ein »unten«, die horizontale einen intellektuellen

und einen okonomischen Pol. Dieses Feld sozialer Posi-

tionen driickt sich nun in der Art der Lebensstile aus.

Das Ganze laBt sich so veranschaulichen, daB Sie auf ein

unteres Blatt (mit den sozialen Positionen) ein Transpa-

rentpapier legen, auf dem bestimmte Praferenzen, Prakti-

ken usw. eingetragen sind. Schau en Sie sich jetzt einmal

die Position »Intellektueller« an, sehen Sie sofort: ah ja ,

der liest die und die - eher linke - Zeitung, fahrt eine

»Ente« uSW. Andererseits kann man - ich komme aufIhre Frage zuriick - diese Vorstellung wohl auch als

statisch bezeichnen: nur sind die Menschen aber auch in

diesem Raum, ausgehend von ihrer Stellung in ihm, in

einen Iortwahrenden Kampf untereinander verwickelt -

urn die Veranderung dieses Raums. Da liegt der groBe

Unterschied zwischen gesellschaftlichem und geographi-

schem Raum. Der gesellschaftliche Raum ist - wie der

geographische - im hochstem MaBe determinierend;

wenn ich sozial aufsteigen mochte, habe ich eine enorme

Steigung vor mir, die ich nur mit auBerstem Kraftauf-

wand erklettern kann; einmal oben, wird mir die Plak-kerei auch anzusehen sein, und angesichts meiner Ver-

krampftheit wird es dann heiisen: »Der ist doch nicht

wirklich distinguiert!« Das Bild laBt sich zwanglos fort-

setzen. Dieser soziale Raum ist also von einer penetranten

Realitat und wir kampfen unablassig gegen ihn an, z.B.

bestimmte Menschen konnen wir nicht treffen, andere,

denen wir lieber aus dem Weg gehen wiirden, treffen

wir. Allerdings ist dieser Raum veranderbar.

Sie zdblen in Ihrem Buch auch die Intellektuellen zur

herrschenden Klasse, die doch keine okonomische oder

politische Macht besitzen. Wie kommen Sie dazu? Zumin-

dest die Linksintellektuellen betrachten sich doch als Geg-

ner der herrschenden Klasse, die sie bekampfen wollen,

die sie vielleicht gar durch eine Revolution stiirzen wol-

len. Sie auflern sich einmal sogar spot t iscb iiber die» Tbeo-

retiker der Reuolution«.

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Ich meine, urn das Problem der Revolution wirklich zu

begreifen, darf man nicht iibersehen, daB innerhalb dieses

Raumes forrwahrende Bewegungen im Gange sind (die

Menschen zirkulieren in ihm entsprechend den ihm eige-

nen Zwangen), Urn zu verdeutlichen, was ich meine,

bietet sich noch ein anderes Bild an - das eines Spiels.

Der Raum, das sind hier die Spielregeln, denen sich jederSpieler beugen rnufs. Vor sich haben die Spieler verschie-

denfarbige Chips aufgestapelt, Ausbeute der vorangegan-

genen Runden. Die unterschiedlich gefarbten Chips stel-

len unterschiedliche Arten von Kapital dar: Es gibt Spie-

ler mit viel okonomischem Kapital, wenig kulturellem

und wenig sozialem Kapital. Die sind in meinem Raum-

schema rechts angesiedelt, auf der herrschenden, okono-

misch herrschenden Seite. Am anderen Ende sitzen wel-

che mit einem hohen Stapel kulturellem Kapital, einem

kleinen oder mittleren Stapel okonomischem Kapital und

geringem sozialen Kapital: das sind die Intellektuellen.

Und jeder spielt entsprechend der Hohe seiner Chips.

Wer einen grofsen Stapel hat, kann bluffen, kann gewagter

spielen, risikoreicher. Mit anderen Worten: Die Spielsi-

tuation andert sich [ortwahrend, aber das Spiel bleibt

bestehen, wie auch die Spielregeln. Die Frage ist nun:

Gibt es Leute, die daran Interesse haben, den Tisch

umzuwerfen und damit dem Spiel ein Ende zu machen?

Das kommt wohl sehr selten vor. Ich frage mich, ob das

iiberhaupt jemals der Fall war. Was stattfindet, das sind

Auseinandersetzungen darum, ob ein Chip »okonomi-

sches Kapital« wirklich drei Chips »kulturelles Kapital«

wert ist.

In meinen Augen sind viele Revolutionen ausschlieii-

lich Revolutionen innerhalb der herrschenden Klasse,

d.h. in jenen Kreisen, die Chips besitzen und die auch

mal auf die Barrikaden steigen, damit ihre Chips an Wert

gewmnen.

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Im Gegensatz zu vielen 1ntellektuellen, vor allem Links-

intellektuellen, die die Kultur der Arbeiterklasse durchaus

positiv schildern, beschreiben Sie die Kultur der unteren

Klasse fast ausschliefilich negativ, fast ausschliefilich als

das, was sie »nicbt« ist. Gibt es keine positive, also keine

authentische Kultur der unteren Klasse, der Volksklasse,

wie Sie es nennen?

In meiner Beschreibung steckt tatsachlich etwas wie

Abwehr gegen ein~,,:~l~s!_iil!l:~It:t~k_J~~_~~~!~!ung_4~r-unteren Klas~Letzere ist, meiner Meinung nach, Pro-

dukt des schlechten Gewissens der Intellektuellen, und

gibt eher die Intellektuellen wieder als das, wovon diese

sprechen. Anders gesagt: _ W _ ~ _ ~die Intellektuellen von

den unteren Klassen oder der Arbeiterklass~echen,

-dalln spreche~_9~-~i~ih_~I~~iY<:>E~£~~_~~~~~~~~d~!ass~,

,£ie siClnCIer Reg4_12ich~k~ml~.!.~:_peshalb habe ich sol-

chen Nachdruck auf die Tatsache gelegt, daB das, was

Kultur oder Bildung heiiit, d.h. legitime Kultur, jene, die

in den Gymnasien oder Oberschulen gelehrt wird und

beim Partygeplauder so hoch im Kurs ist, den unteren

Klassen komplett fehlt - und das nicht ohne Grund: denn

diese Kultur und Bildung ist im allgemeinen gegen sie

gerichtet. Was »Distinktion« ist, was »Unterschied« ist,

laBt sich, so meine Ansicht, immer nur relativ sagen, in

Beziehung zu anderem. Im Grunde heilit »distinguiert«

sein: »nicht popular« sein - und sonst nichts. Per Defini-

tion sind die unteren Klassen nicht distinguiert; sobaldsie etwas ihr eigen nennen, verliert es auch schon diesen

Charakter. Die herrschende Kultur zeichnet sich immer

durch einen Abstand aus. Nehmen wir ein einfaches Bei-

spiel: Skifahren war friiher ein eher aristokratisches Ver-

gniigen. Kaum war es popular geworden, kam Skifahren

auBerhalb der eingefahrenen Pis ten auf. Kultur, das ist

im Grunde auch immer etwas »aufserhalb der Piste«.

Kaum bevolkern die breiten Massen die Meeresstrande,

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flieht die Bourgeoisie aufs Land. Das ist ein simpler

Mechanismus, aber er ist wichtig, will man verstehen,

~ 1 ¥ r 1 tg ~ t [ { 1 ~ C , ~ ! ~ b ! r :: ~ f ; t ~ ~ y ! ~ r ;V ~ ~ t ~ ~ : l ! f ~ ~daB die unteren Klassen nichts hatten. Sie haben etwas

und sie sind etwas, sie haben ihren Geschmack und ihre

Vorlieben - nur laBt sich das haufig nicht zum Ausdruckbringen, und wenn doch einmal, dann wird es sofort

objektiv entwertet. Auf dem Bildungsmarkt springt das

ins Auge. Sobald die Vertreter der unteren Klassen dort

ihre Sprache anbieten, bekommen sie schlechte Noten·

da fehlt ihnen die richtige Aussprache, die richtige Syntax

usw. Es gibt mithin eine populare Kultur im ethnologi-

schen Sinn, aber diese Kultur ist als »Bildung« wertlos.

Miiflte man nicht auch im Bereich der Intellektuellen

Unterscheidungen treffen, etwa zwischen Intellektuellen

von Ansehen und Einflufl wie den Hochschullehrern und

Intellektuellen ohne Ansehen und Einflufl wie den

arbeitslosen Kiinstlern? Und doch haben beide gleicher-

maflen kulturelles Kapital!

Das Universum der Intellektuellen ist natiirlich nicht in

sich homogen, sondern stellt ebenfalls einen Raum dar.

In den »feinen Unterschieden« arbeite ich mit einem

grolien MaBstab, und auf meiner Karte des sozialen

Raums machen die Intellektuellen nur einen Punkt aus,

aber auch dieser Punkt stellt in sich ein Universum dar.Gegenwartig arbeite ich iiber das intellektuelle Feld und

da bietet sich an, wie bei einer Geographie-Karte vorzu-

gehen: man nimmt Berlin und erstellt eine Vergrolserung.

Im Augenblick bin ich an einer vergrofserten Darstellung

der Welt der Intellektuellen; auch diese Welt hat natiirlich

ihre raumliche Ausdehnung, hat ihre Herrschenden und

Beherrschten: Da sind die biirgerlichen Kiinstler, wie es

im 19.J ahrhundert hieB, da sind die Vertreter des L' a rt

40

pour l' a rt, und da sind die Anhanger gesellschaftlicher

Kunst. In diesem intellektuellen Mikrokosmos findet

sich der gesamte soziale Raum wieder. Zwischen den

einzelnen Gruppen gibt es Kampfe, die an Klassen-

kampfe erinnern. Sehr oft werden die Kampfe innerhalb

dieses Mikrokosmos von den Intellektuellen mit den

Kampfen auf der gesamtgesellschaftlichen Ebene ver-wechselt, wird der Glaube genahrt, als stiinden die Aus-

einandersetzungen zwischen intellektuellen Auliensei-

tern und biirgerlichen Intellektuellen zwangslaufig in

engstem Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen

zwischen Proletariat und Bourgeoisie. Nicht selten

nimmt man das den Intellektuellen auch abo Sie selbst

jedenfalls glauben es immer.

Siesprecbenvon der »Illusion derfreien Intellektuellen«,

und Jean Paul Sartre, der auch bei uns in Deutschland

starken Einflufl hatte, nennen Sie den »Ldeologen derIntellektuellen«. Was verstehen Sie darunter?

Sartre ist die Inkarnation dieses Typs und zugleich

jemand, den man im hochsten MaBe bewundern kann.

Denn schlieBlich hat er den Mythos vom freien Intellek-

tuellen, vorn Intellektuellen als dem Widersacher jedwe-

der Macht entwickelt - ein sehr niitzlicher Mythos, da

er sich ja durchaus auch zum Kampf gegen die Macht,

als soziale Waffe einsetzten laBt. Freilich sollte man sich

dabei im klaren sein, daBes sich urn einen Mythos handelt

und daB der Intellektuelle mitnichten frei oder »Irei-

schwebend« ist. Auch der Intellektuelle hat seinen Ort

im sozialen Gefiige und ist tatsachlich nur in dem MaBe

frei, wie er sich seiner sozialen Stellung bewulit ist. Mit

anderen Worten: Mit dies em Schema, das ich hier fort-

wahrend zu veranschaulichen suche, beabsichtige ich kei-

neswegs, nun den Intellektuellen wie einen toten Schmet-

terling gleichsam aufzuspielien, ihn ein fiir allemal an

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einer Stelle festzunageln; vielmehr sage ich: Nur wenn

du, IntellektuelIer, dir bewulst bist, daB du da stehst bis t

du ein biBchen frei. Sobald du aber meinst, nirgendwo

zu stehen, hast du deine Freiheit schon verloren, bist du

entfre:ndet, und deine besondere Entfremdung beruht

dann Indem Glauben, nirgendwo zu stehen.

Ihre Auffasung von Soziologie scheint jede Art von »So-

zialphilosophie«,jede Art von weitgehender theoretischer

Reflexion der C!~sellschaf~uszuschalten. Aber Ihre Auf-fassung von Krztzk- »Kri t i le dergesellschaftlichenUrteils-

kraft« heiflt Ihr Buch im Untertitel- erinnert dochwiederan die »kritische Sozialphilosophie«, wenn Sie auch die

Art von Sozialphilosophie, wie sie etwa die FrankfurterSchule vertreten hat, ablehnen.

J a, das .. liegt ganz auf ~er Linie dessen, was ich gerade

ausgefuhr~ habe. E.s.st immt, ich stehe augenscheinlichauf der Seite der kritischen Philosophie. Wissenschaftli-

ch~.Praxis an sich impliziert meiner Meinung nach eine

~ntische Haltung; nur bin ich der Ansicht, daB die tradi-

tlOne!le S~zialphi~osophie, das, was ich etwas abschatzig

»~ozlalphrlosophle« nenne, ihren krit ischen Anspruch

nicht voll und ganz einlosen kann, und zwar deshalb

weiIie auf die entsprechenden Hilfen verzichtet dabei

tiber alles und nichts redet, und das mit scheinbar radika-

len,.in Wir~lic?keit aber formalen und leeren Begriffen.

Zu ihrer wirklichen Starke gelangt Kritik meiner Uber-

zeugung nach nicht durch eine »Kritik der Waffen« son-

dern durch die »Waffen der Kritik« - wie Marx formu-

l iert-, d.h. durch entsprechend ausgenistete Kritik. Neh-

~en wir die ~riti.k der Familie: Da kann die Soziologie,

~Ie Ethn?~ogle, die Verwandtschaftsanalyse ein umfang-

liches krit isches Instrumentarium bereitstellen. Wo das

fehlt, reicht es allenfalls zu einer scheinbaren Radikalitar:

Mit ein biBchen Freud, ein biBchen Reich, ein bifschen

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Marx, das alles »neu interpretiert«, lassen sich zwar Bana-

litaten formulieren, eine wirklich radikale Kritik aber

laBt sich nur leisten, indem man Verwandtschaftsstruktu-

ren analysiert , indem man der Frage nachgeht, wie Fami-

lienbesitz von einer Generation zur anderen weitergege-

ben wird, welche Krafteverhaltnisse zwischen den Gene-

rationen herrschen, d.h. indem man auf alle Errungen-

schaften der modernen Sozialwissenschaft zuriickgreift.

Ihr Buch beeindruckt nicht zuletzt durch die tuu« des

empirischenMaterials, aus dem Sie Ihre Thesen ableiten.

Nun wird mancher, gerade wenn er von der Frankfurter

Schule beeinfluflt ist, rasch den Vorwurf »Positioist«bereit haben. Wie sehen Sie das Verhaltnis von Empirieund Theorie in den Sozialwissenschaften?

---.,Ich bin tiber diese Frage sehr erfreut, denn tatsachlich ;

bestand mein erstes Projekt zu Beginn meiner Laufbahn I, - . : . . ' 7

als Sozi~lwissenschaf~ler genau d~r~n,mit diesem Gegen- 'tj \ ,5 'satz zwischen Theone und Empirie zu brechen, auch er o J : :

ist noch Ausdruck der Struktur des sozialen Raums, die ~;:"i

ich vorhin beschrieben habe. Die Theorie steht selbstre- ,~ti

dend oben. Das -theorein-, das ist das Schauen, das ist / N '{die Gesamtschau. Ich ziti ere in diesem Zusammenhang ~

gerne einen Satz von Virginia Woolf: ~e generellen

Ideen sind Generalsideen«. Der General steht oben, auf

einem Htiger,er1iata-en-Uberblick, er sieht alles - das

ist der Philosoph, der Sozialphilosoph; er denkt sich

Schlachten aus, beschreibt den Klassenkampf und taucht

naturlich nicht in Waterloo auf. Meine Perspektive ist

dagegen die von Fabrizius, dem Helden Stendhals aus

der »Kartause von Parma«, der nichts sieht, nicht ver-

steht, dem die Kugeln nur so urn die Ohren fliegen. Selbst

Marx ist noch General, das ist offensichtlich, man muB

nur einmal sehen, wie er sich tiber Proudhon auBert, das

ist der Generalsblick, er verachtete Proudhon. In der Tat

43

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genugt es, sich einmal an 4i~~?rders~Q"_Lil!ien zu bege~

--ben, damit der Blick auf di~seHschaftliche-Werterr;_

grulldlegend andere~-wird. -Natiirlich ist die Sicht de~

,..-Generalenutif1C11;1deal~;e es, kCmnte man beides ver-

Ibind en: den Uberblick des Generals und die einz~f~e

'!~~~h~d~~~g;~~i~~;;--S~d~t~~---i~--G~tii"~~~t\_Theorie und Empirie ist nicllts anderes! Me{~e o;{"gIneH-

sten theoretischen Gedanken - wenn ich iiberhaupt theo-

retische Gedanken habe - sind mir in der Praxis gekom-

men, beim Codieren eines Fragebogens etwa. Die Kritik

der sozialen Klassen, an der ich gegenwartig arbeite, ist

z.B. daraus entstanden, aus der Einsicht in die virtuelle

Beliebtheit, Willkur sozialer KIassifikationen. Harte ich

mich mit allgemeinen Aussagen iiber gesellschaftl iche

Klassen begniigt, ware nichts weiter herausgekommen

als ein neuerlicher AufguB von Marx, Weber and so on

- vage und geschwatzige Allgemeinheiten.

Sie bekennen sich zu Vorbildern, die Ihre eigenen Arbei-

ten beeinfluflt haben. Drei Namen fallen immer wieder:

Karl Marx, Emil Durkheim und Max Weber. Wie sehen

Sie ihr Verhaltnis zu dieser »Trinitdtei

Dabei handelt essich urn eine eher prophylaktische Trini-

tat; dahinter steckt der Wunsch, mit den Grenzscharrniit-

zeln zwischen Marxisten, Durkheimianern usw. in Frie-

den gelassen zu werden. Die meisten sogenannten theore-

tischen Auseinandersetzungen sind ja doch eher totemi-

stische Spielereien, Klankampfe: mein Totem ist Marx,

deins ist Weber. Dem wollte ich auf aIle Falle aus dem

Wege gehen. In meiner Arbeit stellen Marx, Weber,

Durkheim wesentliche Errungenschaften der Sozialwis-

senschaft dar. Jeder lebende Soziologe hat irgendwie

Marx und Weber im Hinterkopf. Manchmal gibt Weber

mehr her als Marx. Die ganze Religionssoziologie von

Weber harte eigentlich Marx mach en miissen, Weber

44

steht keineswegs in einem unaufloslischen Gegensatz zu

Marx: Er steht fur das, was eigentlich Marx hatte machen

miissen, ware er nicht in seiner vereinfachenden Wider-

spiegelungstheorie gefangen geblieben. Und Durkheim,

der wie Weber gegen Marx dachte, hat Unverzichtbares

zum Verstandnis der magis chen Phanornene beigetragen,

der Glaubensphanomene, wo Marx, mit Ausnahme sei-

ner Texte zum Fetischcharakter der Ware, sehr schwach

ist. In gewisser Weise konnte man sagen: Die Theorie

der Magie von Marcel Mauss, das ist Marx' korrigierte

Theorie des Fetischismus. Das Umgekehrte laBt sich

nicht minder sagen; ich habe Marx als Bezugspunkt

gewahlt, weil das die herrschende Sicht ist; man konnte

genausogut auf Webersche Projekte verweisen, die Marx

in der oder jener Anmerkung in der »Deutschen Ideolo-

gie« glanzend eingelost hat. Es handelt sich dabei keines-

wegs urn Eklektizismus, vielmehr urn wissenschaftlichen

Realismus, in Analogie zum polit is chen Realismus. ~a~

muE die Autoren auf eine bestimmteFragestellung h~!l >-Iesen, urrllhnen-aas-b-este-abzuTordern, das sie eben kon - \

'"--,----,----"-----"--'"--'""-"----'""'-~--"--"-~--"-,- -'

nen.'-

Sie wurden Ende letzten Jahres an das College de France

berufen, an das renommierteste Institut Ihres Landes.

Das muflte man doch nach Ihrer Auffassung als eine

gesellschaftliche »Konseleration«, als eine Anerkennung,

ja Weihe Ihrer Lehre betrachten. Sie sind einer der scharf-

sten Kritiker dieses gesellschaftlichen Mechanismus, dem

Sie selbst unterliegen. Wie sehen Sie Ihre weitere Arbeit

in dieser neuen Position?

Wissen Sie, es war kein Zufall , daf der Zeitpunkt meiner

Berufung ans College de France zusammenfiel mit einer

umfassenden Arbeit iiber das, was ich Konsekrationsef-

fekt nenne. AuBerdem habe ich eine Reihe von Texten

iiber die von mir so bezeichneten Riten der Einsetzung,

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rtiber gesellschaftliche Anerkennung, kulturelle Weihe

usw. veroffentlicht, Warum? Durch die Reflexion auf

das, was da auf mich zukommt, wollte ich diesem gegen-

tiber wieder eine bestimmte Freiheit gewinnen. Dieser

Punkt ist wichtig. Denn allzuoft werden meine Arbeiten

auf eine Weise interpretiert, die rnir milifallt, namlich als

deterministisch, wenn nicht gar als fatalistisch. Ich gebeallerdings zu, diese Fehlinterpretation - auch hier urteile

ich natiirlich von meinem Standpunkt aus, wenn Sie wol-

len von Vorurteilen aus, die mich ins bessere Licht riicken

- selbst zu provozieren: Je mehr gesellschaftliche Mecha-

nismen man aufdeckt, urn so mehr N otwendigkeiten

riickt man ins Licht. Weil meine Soziologie, so scheint

mir, realitatsnaher, praziser ist als andere, stoBt sie

zwangslaufig auf mehr Bedingungsfaktoren. Und weil

die Soziologie der Intellektuellen von Intellektuellen

gemacht wird, ist sie auch so schwach entwickelt und

Tummelplatz der Berufsideologie der Intellektuellen wieMannheim u.a. Eine wirkliche Soziologie der Intellek-

tuellen ist eine, die die Determinanten aufdeckt, denen

diese unterliegen, aber gegen deren Erkenntnis sie sich

- bewulit oder unbewulit - strauben. In dem Maile, wie

ich meine Arbeit auf diese meine Welt, auf mich selbst

richte, erwecke ich den Eindruck von Fatalismus. Dabei

denke ich allen Ernstes, daB die Intention der Aufdek-

kung gesellschaftlicher Zwange emanzipatorisch ist. Das

heiiit nichts anderes, als daBman - getreu der alten Regel

- auf die Welt nur einzuwirken vermag, wenn man sie

kennt: Jeder neueJ~(!stimmungsfaktor, ~_~~~E~,<l~I.11!-~~i!:<i ,

r e r o f f i i C t e I : ! i e } 1 ; - e i _ ! ~ ! : i E = E : ~ e l l i e l t s s ~ l e I r ~ _ . I ! e ~ n mir

\ vorgeworfen wird, deterministlSCh Ocfer fatalistisch zu

I sein, weil ich den Mechanismus der kulturellen Repro-

! duktion nachzeichne, dann erscheint mir das ein wenig,

( wie wenn man Galilei vorhalten wollte, das Gesetz der

.i Schwerkraft entdeckt zu haben. Nur weil Galilei das

i Gesetz der Schwerkraft entdeckt hat, sind wir imstande .\__ ..._ . ---_--~

46

zu fliegen. A.hnliches gilt meiner Dberzeugung nach auch

IUrClieGesetze des intellektuellen Feldes: Eine Soziologie

des College de France zu erarbeiten, sich unter soziologi-

schen Gesichtspunkten zu fragen, was es bedeutet, am

College de France eine Antrittsvorlesung zu halten,

bedeutet in meinen Augen: in dem Augenblick, in de!ll

man den Zwangen unterli~g!,_.<!~._4_~_¥.2g1i~4_~~~!_,,:_~n.Freiheit zu verweise1!:__,

47

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rOkonomisches Kapital- Kultu-relles Kapital - Soziales Kapital

Die gesellschaftliche Welt ist akkumulierte Geschichte.

Sie darf deshalb nicht auf eine Aneinanderreihung von

kurzlebigen und mechanischen Gleichgewichtszustan-

den reduziert werden, in denen die Menschen die Rolle

von austauschbaren Teilchen spielen. Urn einer derarti-

gen Reduktion zu entgehen, ist eswichtig, den Kapitalbe-

griff wieder einzufiihren, und mit ihm das Konzept der

Kapitalakkumulation mit allen seinen Implikationen.

Kapital ist akkumulierte Arbeit, entweder in Form von

Material oder in verinnerlichter, »inkorporierter« Form.

Wird Kapital von einzelnen Aktoren oder Gruppen pri-

vat und exklusiv angeeignet, so wird dadurch auch die

Aneigung sozialer Energie in Form von verdinglichter

oder lebendiger Arbeit moglich. Als vis insita ist Kapital

eine Kraft, die den objektiven und subjektiven Strukturen

innewohnt; gleichzeitig is t das Kapital - als lex insita -

auch grundlegendes Prinzip der inneren Regelmaliigkei-

ten der sozialen Welt. Auf das Kapital ist eszuruckzufiih-

ren, daB die Wechselspiele des gesellschaftlichen Lebens,

insbesondere des Wirtschaftslebens, nicht wie einfache

Gliickspiele verlaufen, in denen jederzeit eine Uberra-

schung moglich ist: Beim Roulette z.B. kann in kiirzester

Zeit ein ganzes Verrnogen gewonnen und damit gewisser-

maisen in einem einzigen Augenblick ein neuer sozialer

Status erlangt werden; im nachsten Augenblick kann die-

ser Gewinn aber bereits wieder auf Spiel gesetzt und

vernichtet werden. Das Roulette entspricht ziemlich

genau dem Bild eines Universums vollkommener Kon-

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kU.rrenz und Chancengleichheit, einer Welt ohne Trag-

heit, ohne Akkumulation und ohne Vererbung von

erworbenen Besitztumern und Eigenschaften. Jeder

Augenblick ware dort vollkommen unabhangig von allen

vorausgegangenen, jeder Soldat triige dort den Mar-

schallstab im Tornister und jeder konnte dort unverziig-

lic~ jedes Ziel verwirklichen, so dag jedermann zu jederZeIt alles werden konnte, Aber die Akkumulation von

Kapital, ob nun in objektivierter oder verinnerlichter

Form, braucht Zeit. Dem Kapital wohnt eine Uberle-

benstendenz inne; es kann ebenso Profite produzieren

wie sich selbst reproduzieren oder auch wachs en. Das

Kapital ist eine der Objektivitat der Dinge innewohnende

Kraft , die dafiir sorgt, daB nicht alles gleich moglich oder

gleich unmoglich ist.' Die zu einem bestimmten Zeit-

punkt gegebene Verteilungsstruktur verschiedener Arten

und Unterarten von Kapital entspricht der immanent en

Struktur der gesellschaftlichen Welt, d.h. der Gesamtheitder ihr innewohnenden Zwange, durch die das dauer-

hafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit

bestimmt und iiber die Erfolgschancen der Praxis/ ent-

schieden wird.

Es ist nur moglich, der Struktur und dem Funktionie-

ren der gesellschaftl ichen Welt gerecht zu werden, wenn

man den Begriff desKapitals in allen seinen Erscheinungs-

formen einliihrt, nicht nur in der aus der Wirtschaftstheo-

rie bekannten Form. Die Wirtschaftstheorie hat sich

namlich ihren Kapitalbegriff von einer okonomischen

Praxis aufzwingen lassen, die eine historische Erfindung

des Kapitalismus ist. Dieser wirtschaftswissenschaftliche

Kapitalbegriff reduziert die Gesamtheit der gesellschaft-

lichen Austauschverhaltnisse auf den blofsen Warenaus-

tausch, der objektiv und subjektiv auf Profitmaximierung

~usgerichtet und vorn (okonomischen) Eigennutz geleitet

ist, Damit erklart die Wirtschaftstheorie implizit alle

anderen Formen sozialen Austausches zu nicht-okono-

50

mischen, uneigenniitzigen Beziehungen. Denn wer den

Begriff des Eigennutzes im engen wirtschaftswissen-

schaftlichen Sinne gebraucht, ist auch zur Verwendung

des Komplementarbegriffs der Uneigenniitzigkeit ge-

zwungen: Man kann nicht die Welt des »Bourgeois« mit

seiner doppelten Buchfuhrung erfinden, ohne gleichzei-

tig die Vorstellung vom reinen und vollkommenen Uni-versum des Kiinstlers und Intellektuellen mitzuschaffen,

wo das »L'art pour l'art« und die reine Theorie uneigen-

niitzig regieren. Mit anderen Worten, die Wirtschaftswis-

senschaft ist zu einer Wissenschaft von den Marktbezie-

hungen geworden, die in dem Mage, wie sie von den

Grundlagen ihres eigenen Gegenstandsbereichs - dem

Privateigentum, dem Profit, der Lohnarbeit usw. -

abstrahiert, nicht einmal das Gesamtgebiet der okonomi-

schen Produktion abdeckt, Mit ~~~rii~un_g~iner

derartig engen Wirtschaftswissenschaft wurde zuglei~b-

das Entstehen eine~_allgemeinen Wissenschaft von derOkonomie der Praxis verhindert, die den Warenaus-

~~gJl£h31~:~i~~I~lT~~"~~lIEgEi£m~h£ere;;~2g1!-chen Formen von sozialem Austausch behandelt.

Es ist bemerkenswert, daB gerade diejenigen InteIlek-

tuellen und kiinstlerischen Praktiken und Giiter dem

»kalten Hauch« des egois tischen Kalkiils (und der Wis-

senschaft) entzogen wurden, die ein Quasi-Monopol der

Angehorigen der herrschenden Klasse sind. Man konnte

sagen, daB der Okonomismus nur deshalb nicht alles auf

die Okonornie reduzieren konnte, weil dieser Wissen-

schaft selbst immer schon eine Reduktion zugrunde liegt:

Sie verschont aIle die Bereiche, die als sakrosankt gelten

sollen. Wenn namlich der Wirtschaft nur die am unmit-

telbar okonomischen Nutzenkalkiil ausgerichteten Prak-

tiken und die direkt und unmittelbar in Geld umsetzba-

ren (und damit »quantifizierbaren«) Giiter zugerechnet

werden, dann erscheint in der Tat die Gesamtheit der

biirgerlichen Produktion und Austauschbeziehungen als

51

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rvon der Wirtschaft ausgenommen; sie kann sich dann als

eine Sphare der Uneigenniitzigkeit begreifen und darstel-

len.

Wie aber jedermann weiB, haben auch scheinbar

unverkaufliche Dinge ihre Preis. Sie lassen sich nur des-

halb so schwer in Geld umsetzen, weil sie mit der Absicht

einer ausdriicklichen Verneinung des Okonomischen her-gestell t werden. Man sieht also, eine wirklich allgemeine

Wissenschaft von der okonomischen Praxis muB in der

Lage sein, auch alle die Praxisforrnen miteinzubeziehen,

die zwar objektiv okonomischen Charakter tragen, aber

als solche im gesellschaftl ichen Leben nicht erkannt wer-

den und auch nicht erkennbar sind. Sie verwirklichen

sich nur aufgrund eines erheblichen Aufwandes an Ver-

schleierung oder, besser, Euphemisierung. Eine allge-

meine okonomische Praxiswissenschaft muB sich deshalb

bemuhen, das Kapital und den Profit in allen ihren

Erscheinungsformen zu erfassen und die Gesetze zubestimmen, nach den en die verschiedenen Arten von

Kapital (oder, was auf dasselbe herauskommt, die ver-

schiedenen Arten von Macht) gegenseitig ineinander

transformiert werden.

Das Kapital kann auf drei grundlegende Arten auftre-

ten. In welcher Gestalt es jeweils erscheint, hangt von

dem jeweiligen Anwendungsbereich sowie den mehr

oder weniger hohen Transformationskosten ab, die Vor-

aussetzung fur sein wirksames Auftreten sind: Das oko-

nomische Kapital is t unmittelbar und direkt in Geld kon-

vertierbar und eignet sich besonders zur Institutionalisie-

rung in der Form des Eigentumsrechts; das kulturelle

Kapital ist unter bestimmten Voraussetzungen in okono-

misches Kapital konvertierbar und eignet sich besonders

zur Insti tutionalisierung in Form von schulischen Titeln;

das soziale Kapital, das Kapital an sozialen Verpflichtun-

gen oder »Beziehungen«, ist unter bestimmten Voraus-

setzungen ebenfalls in okonomisches Kapital konvertier-

52

bar und eignet sich besonders zur Insti tutionalisierung

in Form von Adelstiteln.

1. Das kulturelle Kapital

Das kulturelle Kapital kann in drei Formen exis tieren:(1.) in verinnerlichtem, inkorporiertem Zustand, in Form

von dauerhaften Dispositionen des Organismus, (2.) in

objektiviertem Zustand, in Form von kulturellen Giitern,

Bildem, Biichem, Lexika, Instrumenten oder Maschinen,

in den en bestimmte Theorien und deren Kritiken, Pro-

blematiken usw. Spuren hinterlassen oder sich verwirk-

licht haben, und schlieBlich (3.) in institutionalisiertem

Zustand, einer Form von Objektivation, die deswegen

gesondert behandelt werden muf, weil sie - wie man

beim schulischen Titel sieht - dem kulturellen Kapital,

das sie ja garantieren solI, ganz einmalige Eigenschaftenverleiht.

Der etwas apodiktische Eindruck, den mein »Axiorna-

tisierungsversuch« machen konnte, solI nicht tauschen::'

Der Begriff des kulturellen Kapitals hat sich mir bei der

Forschungsarbeit als theoretische Hypothese angeboten,

die es gestattete, die Ungleichheit der schulischen Lei-

stungen von Kindem aus verschiedenen sozialen Klassen

zu begreifen. Dabei wurde der »Schulerfolg«, d.h. der

spezifische Profit, den die Kinder aus verschiedenen

sozialen Klassen und Klassenfraktionen auf dem schuli-

schen Markt erlangen konnen, auf die Verteilung des

kulturellen Kapitals zwischen den Klassen und Klassen-

fraktionen bezogen. Dieser Ausgangspunkt impliziert

einen Bruch mit den Pramissen, die sowohl der landlaufi-

gen Betrachtungsweise, derzufolge schulischer Erfolg

oder MiBerfolg auf die Wirkung natiirl icher »Fahigkei-

ten« zuriickgefuhrt wird, als auch den Theorien vom

»Humankapital« zugrundeliegen.

53

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Den Okonomen der Hurnanleapual-Scbule" kommt

das scheinbare Verdienst zu, explizit die Frage aufgewor-

fen zu haben, in welch em Verhaltnis die durch Erzie-

hungsinvestition und durch okonomische Investition

generierten Profitraten zueinander stehen und wie dieses

Verhaltnis sich entwickelt. Allerdings bezieht das von

ihnen benutze MaB fur den Ertrag schulischer Investitionnur solche Investitionen und Profite ein, die sich in Geld

ausdriicken oder direkt konvertieren lassen, wie die Stu-

dienkosten oder das finanzielle Aquivalent fur die zum

Studium verwendete Zeit. AuBerdem konnen sie die rela-

tive Bedeutung nicht verstandlich machen, die die unter-

schiedlichen Aktoren und Klassen der okonomischen

und der kulturellen Investition jeweils beimessen; denn

sie stellen die Struktur der unterschiedlichen Profitchan-

cen nicht systematisch in Rechnung, die die verschiede-

nen Markte aufgrund der GroBe und Struktur ihres

jeweiligen Einzugsbereiches zu bieten haben. Des weite-

ren stellen siedie schulischen Investitionsstrategien nicht

in einen Gesamtzusammenhang mit den anderen Erzie-

hungsstrategien und dem System der Reproduktionsstra-

tegien. Daraus ergibt sich das unausweichliche Para-

doxon, daf die Humankapital- Theoretiker sich selbst

dazu verdammen, die am besten verborgene und sozial

wirksamste Erziehungsinvestition unberiicksichtigt zu

lassen, namlich die Transmission kulturellen Kapitals in

der Familie. Ihre Fragen nach dem Zusammenhang zwi-

schen Bildungs- »Fahigkeit« und Bildungsinvestition zei-

gen, daB sie die Tatsache iibersehen, daB »Fahigkeit«

oder »Begabung« auch das Produkt einer Investition von

Zeit und kulturellem Kapital ist.5Und da es darum geht,

die Profite der schulischen Investition zu ermitteln, so

versteht man, daB sie nur nach der Rentabilitat der Erzie-

hungsausgaben fur die »Gesellschaft« als Canze" oder

dem Beitrag der Erziehung zur »nationalen Produktivi-

tat«7 fragen konnen, Diese typisch funktionalistische

54

Definition der Erziehungsfunktionen ignoriert den Bei-

trag, den das Erziehungssystem zur Reproduktion der

Sozialstruktur leistet, indem esdieVererbung von kultu-

rellem Kapital sanktioniert. Eine derartige Definition von

»Humankapital« kann, trotz ihrer »humanistischen«

Konnotationen, dem Okonomismus nicht entkommen.

Sie iibersieht u.a., daB der schulische Ertrag schulischen

Handelns vom kulturellen Kapital abhangt, das die Fami-

lie zuvor investiert hat, und daB der okonomische und

soziale Ertrag des schulischen Titels von dem ebenfalls

ererbten sozialen Kapital abhangt, das zu seiner Unter-

stiitzung zum Einsatz gebracht werden kann.

a) Inkorporiertes Kulturkapital

Die meisten Eigenschaften des kulturellen Kapitals lassen

sich aus der Tatsache herleiten, daB es grundsatzlich

korpergebunden ist und Verinnerlichung (incorporation)

voraussetzt. Die Akkumulation von Kultur in korporier-

tern Zustand - also in der Form, die man auf franzosisch

»culture«, auf deutsch »Bildung«, auf englisch »cultiva-

tion« nennt - setzt einen Verinnerlichungsprozefl voraus,

der in dem MaBe,wie erUnterrichts- und Lernzeit erfor-

dert, Zeit kostet. Die Zeit muB vom Investor personlich

investiert werden: Genau wie wenn man sich eine sicht-

bare Muskulatur oder eine gebraunte Haut zulegt, so

laBt sich auch die Inkorporation von Bildungskapital

nicht durch eine fremde Person vollziehen. Das Delega-

tionsprinzip ist hier ausgeschlossen.

Wer am Erwerb von Bildung arbeitet, arbeitet an sich

selbst, er »bildet sich«. Das setzt voraus, daB man »mit

seiner Person bezahlt«, wie man im Franzosischen sagt.

D.h., man investiert vor allen Dingen Zeit, aber auch

eine Form von sozial konstituierter Libido, die libido

sciendi, die aIle moglichen Entbehrungen, Versagungen

und Opfer mit sich bringen kann. Daraus folgt, daB vor

allen Malien fur kulturelles Kapital diejenigen amwenig-

55

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rsten ungenau sind, die die Dauer des Bildungserwerbs

zurn Mafistab nehmen - selbsrverstandlich unter der Vor-

aussetzung, daB dabei keine Reduktion auf die blolie

Dauer des Schulbesuches vorgenommen wird, Auch die

Primarerziehung in der Familie muf in Rechnung gestellt

werden, und zwar je nach dem Abstand zu den Erforder-

nissen des schulischen Marktes entweder als positiverWert, als gewonnene Zeitund Vorsprung, oder als negati-

ver Faktor, als doppelt verlorene Zeit, weil zur Korrektur

der negativen Folgen nochmals Zeit eingesetzt werden

mu:B.8

Inkorporiertes Kapital ist ein Besitz tum, das zu einem

festen Bestandteil der »Person«, zum Habitus geworden

ist; aus »Haben« ist »Sein« geworden. Inkorporiertes und

damit verinnerlichtes Kapital kann deshalb (im Unter-

schied zu Geld, Besitz- oder sogar Adelstiteln) nicht

durch Schenkung, Vererbung, Kauf oder Tausch kurzJri-

stig weitergegeben werden. Daraus folgt, daB die Nut-zung oder Ausbeutung kulturellen Kapitals sich fur die

Eigner okonomischen oder sozialen Kapitals als beson-

ders problematisch erweist. Ob es sich nun um private

Mazene handelt oder, im Gegenteil, um Unternehmer,

die ein »Kaderpersonal« mit spezifischen kulturellen

Kompetenzen beschaftigen (von den neuen Staatsmaze-

nen ganz zu schweigen), immer stell t sich folgendes Pro-

blem: Wie laBt sich diese so eng an die Person gebundene

Kapitalform kaufen, ohne die Person selbst zu kaufen -

denn das wiirde zum Verlust des Legitimationseffekts

fiihren, der auf der Verschleierung von Abhangigkeiten

beruht? Wie ist die fur bestimmte Unternehmen erfor-

derliche Konzentration von kulturellem Kapital zu

bewerkstelligen, ohne zugleich eine Konzentration der

Trager dieses Kapitals herbeizufiihren, was vielerlei uner-

wiinschte Folgen haben konnte?

Die Inkorporierung von kulturellem Kapital kann sich

- je nach Epoche, Gesellschaft und sozialer Klasse in

56

unterschiedlich starkem MaBe - ohne ausdriicklich

geplante ErziehungsmaBnahmen, also vollig unbewuilt

vollziehen. Verkorpertes Kulturkapital bleibt immer von

den Umstanden seiner ersten Aneignung gepragt. Siehin-

terlassen mehr oder weniger sichtbare Spur en, z.B. die

typische Sprechweise einer Klasse oder Region. Dadurch

wird auch der jeweilige Wert eines kulturellen Kapitalsmitbestimmt, denn iiber die Aufnahmefahigkeit eines

einze1nen Aktors hinaus kann es ja nicht akkumuliert

werden. Es vergeht und stirbt, wie sein Trager stirbt und

sein Gedachtnis, seine biologischen Fahigkeiten usw. ver-

liert . D.h., das kulturelle Kapital ist auf vielfalt ige Weise

mit der Person in ihrer biologischen Einzigartigkeit ver-

bunden und wird auf dem Wege der sozialen Vererbung

weitergegeben, was Freilich immer im Verborgenen

geschieht und haufig ganz unsichtbar bleibt. Weil die

sozialen Bedingungen der Weitergabe und des Erwerbs

von kulturellem Kapital vie1 verborgener sind, als dies

beim okonomischen Kapital der Fall ist, wird es leicht

als blolies symbolisches Kapital aufgefaBt; d.h. seine

wahre Natur als Kapital wird verkannt, und es wird

stattdessen als legitime Fahigkeit oder Autoritat aner-

kannt, die auf allen den Markten (z.B. dem Heiratsmarkt)

zum Tragen kommt, wo das okonomische Kapital keine

volle Anerkennung findet. Des weiteren ergibt sich aus

dieser wahrhaft »symbolischen Logik«, daf der Besitz

eines grofsen kulturellen Kapitals als »etwas besonderes«

aufgefaBt wird und deshalb zur Basis fur weitere mate-

rielle und symbolische Profite wird: Wer iiber eine

bestimmte Kulturkompetenz verfiigt, z.B. iiber die

Fahigkeit des Lesens in einer We1t von Analphabeten,

gewinnt aufgrund seiner Position in der Verteilungs-

struktur des kulturellen Kapitals einen Seltenheitswert,

aus dem sich Extraprofite ziehen lassen. D.h. , derjenige

T eil des Profits, der in unserer Gesellschaft aus dem

Seltenheitswert bestimmter Formen von kulturellem

57

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Kapital erwachst, ist letzten Endes darauf zuruckzufuh-

ren, dag nicht aIle Individuen iiber die okonomischen

und k~ltu~ellen ~itte l v:erfugen, die es ihnen errnogii-

chen, die BIldung ihrer Kmder iiber das Minimum hinaus

zu verlang~rn, das zu einem gegebenen Zeitpunkt fur die

ReproduktlOn der Arbeitskraft mit dem geringsten

Marktw~rt erford~rlich ist.? Die ungleiche Verteilungvon Kapita], also die Struktur des gesarnten Feldes bildet

som~t die Grundlage fur die spezifischen Wirkun;en von

Kapltal, namlich die Fahigkeit zur Aneigung von Profiten

und zur :£?urchsetzung v_onSpielregeln, die fur das Kapi-

tal u?d s.~meReproduktion so giinstig wie moglich sind.

?le starkste Grundlage fur die symbolische Wirksam-

kelt von kulturellem Kapital ergibt sich aber zweifellos

aus der Logik seiner Ubertragung. Einerseits ist der Pro-

zeg der Ane.ignung von objektiviertem kulturellem Kapi-

tal (also: die dafiir erforderliche Zeit) bekanntlich in

erster Linie von dem. in der gesamten Familie verkorper-ten kulturellen Kapital abhangig; andererseits ist aber

auch beka~nt, daf d.ieAk.kumulation kulturellen Kapi-

tals von fruhester Kindheit an - die Voraussetzung zur

s~~~llen un.? :nu~elosen Aneignung jeglicher Art von

nutzhche.n Fahl~~elten - ohne Verzogerung und Zeitver-

lust nur m Familien stattfindet, die uber ein so starkes

K~lturkapital verfugen, dag die gesamte Zeit der Soziali-

sation zugleich eine Zeit der Akkumulation ist. Daraus

f~lgt, dag die Dbertragung von Kulturkapital zweifellos

die am b~ste~ verschleierte Form erblicher Dbertragung

von Kapital 1St.Desh~lb gewinnt sie in dem System derReproduktlOnsstrateglen von Kapital urn so mehr an

Gew:~cht, je mehr die direkten und sichtbaren Formen

der Ubertragung sozial migbilligt und kontrolliert wer-den.

Es ist unmittelbar ersichtlich, dag die zum Erwerb

erforderliche Zeit das Bindeglied zwischen okonomi-

schem und kulturellem Kapital darstell t. Unterschiedli-

58

ches Kulturkapital in der Familie fiihrt zunachst zu

Unterschieden beim Zeitpunkt des Beginns des Ubertra-

gungs- und Akkumulationsprozesses, sodann zu Unter-

schieden in der Fahigkeit , den im eigentlichen Sinne kul-

turellen Anforderungen eines langandauernden Aneig-

nungsprozesses gerecht zu werden. In engem Zusam-

menhang damit steht aulierdem die Tatsache, dag einIndividuum die Zeit fur die Akkumulation von kulturel-

lem Kapital nur so lange ausdehnen kann, wie ihm seine

Familie freie, von okonomischen Zwangen befreite Zeit

garantieren kann.

b) Objektiviertes KulturkapitalDas objektivierte Kulturkapital hat eine Reihe von Eigen-

schaften, die sich nur durch seine Beziehung zum inkor-

porierten, verinnerlichten Kulturkapital bestimmen las-

sen. Kulturelles Kapital ist materiell iibertragbar, auf dem

Wege iiber seine materiellen Trager (z.B. Schriften,Gemalde, Denkmaler, Instrumente usw.). Eine Gemalde-

sammlung etwa lagt s ich ebensogut iibertragen wie oko-

nomisches Kapital - wenn nicht sogar besser, weil sie

sich leichter verb ergen lagt. Ubertragbar ist allerdings

nur das juristische Eigentum. Dagegen ist dasjenige

Merkmal, das die eigentliche Aneignung erst ermoglicht,

nicht (oder nicht notwendigerweise) iibertragbar: nam-

lich die Verfiigung iiber kulturelle Fahigkeiten, die den

Genuli eines Gemaldes oder den Gebrauch einer

Maschine erst ermoglichen; diese kulturellen Fahigkeiten

sind nichts anderes als inkorporiertes Kulturkapital, fur

das die zuvor dargestellten Dbertragungsregeln gelten.

Kulturelle Giiter konnen somit entweder zum Gegen-

stand materieller Aneignung werden; dies setzt okonomi-

sches Kapital voraus. Oder sie konnen symbolisch ange-

eignet werden, was inkorporiertes Kulturkapital voraus-

setzt. Daraus foIgt, dag der Eigentiimer von Produk-

tionsmitteln einen Weg finden mug, entweder selbst das

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fur deren spezifische Aneignung und Nutzung erforder-

liche inkorporierte Kulturkapital zu erwerben oder sich

die Dienste der Inhaber dieses kulturellen Kapitals ver-

fugbar zu machen. Mit anderen Worten, urn Maschinen

zu besitzen, genugt okonomisches Kapital; das ihnen

anhaftende wissenschaftl ich-technische Kulturkapital

bestimmt jedoch ihre spezifische Zwecksetzung; sie kon-nen deshalb nur angeeignet und angemessen genutzt wer-

den, wenn der Produktionsmittelbesitzer entweder selbst

i iber das erforderlich verinnerlichte Kapital verfiigt oder

es sich dienstbar zu machen vermag. Zweifellos ist dies

die Grundlage fur den ambivalenten Status der sog. »Ka-

derkrafte«: Aus der Tatsache, daB sie in streng okonomi-

schem Sinne nicht die Eigentiimer der Produktionsmittel

sind, die sie beniitzen, und daB sie von ihrem inkorporier-

ten Kulturkapital nur profitieren konnen, indem sie es

- in Gestalt von Dienstleistungen oder Produkten - an

die Produktionsmineleigemnme- verkaufen, ergibt sicheinerseits, daB sie der Gruppe der Beherrschten zuzu-

rechnen sind; hebt man andererseits die Tatsache hervor,

daB sie ihre Profite aus der Anwendung einer spezifischen

Form von Kapital ziehen, so muB man sie zur Gruppe

der Herrschenden zahlen, Alles scheint somit darauf hin-

zudeuten, daB die kollektive Macht der Inhaber von Kul-

turkapital - und damit auch die fur seine Beherrschung

erforderliche Qualifikationszeit - zunimmt. Dem steht

allerdings entgegen, daB die Inhaber von okonomischem

Kapital (als der dominierenden Kapitalform) die Inhaber

von kulturellem Kapital in eine Konkurrenzsituation

bringen konnen; das fallt umso leichter, a ls le tztere auf-

grund der von ihnen erfahrenen Aus bildungs- und Ausle-

sebedingungen (und insbesondere der Wettbewerbslogik

in der Schule und bei Priifungen) ohnehin zum Konkur-

renzverhalten neigen.

Die Erscheinungsform von kulturellem Kapital in

objektiviertem Zustand ist die eines autonornen und

60

koharenten Ganzen, das - obwohl esdas Produkt histori-

schen Handelns ist - seinen eigenen Gesetzen gehorcht,

die dem individuellen Willen entzogen sind. Es laBt sich

deshalb, wie etwa das Beispiel der Sprache zeigt, nicht

auf das inkorporierte Kulturkapital der einzelnen Han-

delnden - oder auch der Gesamtheit aller Handelnden -

reduzieren. Dabei darf freilich nicht vergessen werden,daB das objektivierte Kulturkapital als materiell und sym-

bolisch aktives und handelndes Kapital nur fortbesteht,

sofern es von Handelnden angeeignet und in Auseinan-

dersetzungen als Waffe und als Einsatz verwendet wird.

Ort dieser Auseinandersetzung ist das Feld der kulturel-

len Produktion (Kunst, Wissenschaft usw.) und, dariiber

hinaus, das Feld der sozialen Klassen. Dort setzen die

Handelnden ihre Krafte ein und erhalten Profite, die dem

Grad ihrer Fahigkeiten zur Beherrschung objektivierten

Kulturkapitals (also: ihrem inkorporierten Kulturkapi-

tal) entsprechen.'"

c) Institutionalisiertes KulturkapitalInkorporiertes Kulturkapital is t den gleichen biologi-

schen Grenzen unterworfen wie seine jeweiligen Inhaber.

Die Objektivierung von inkorporiertem Kulturkapital in

Form von Titeln ist ein Verfahren, mit dem dieser Mangel

ausgeglichen wird: Titel schaffen einen Unterschied zwi-

schen dem kulturellen Kapital des Autodidakten, das

standig unter Beweiszwang steht, und dem kulturellen

Kapital, das durch Titel schulisch sanktioniert und recht-

lich garantiert ist, die (formell) unabhangig von der Per-

son ihres Tragers gelten. Der schulische Titel ist ein Zeug-

nis fur kulturelle Kompetenz, das seinem Inhaber einen

dauerhaften und rechtlich garantierten konventionellen

Wert iibertragt. Die Alchimie des gesellschaftlichen

Lebens hat daraus eine Form von kulturellem Kapital

geschaffen, dessen Geltung nicht nur relativ unabhangig

von der Person seines Tragers ist, sondern auch von dem

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kulturellen Kapital, das dieser tatsachlich zu einem gege-

benen Zeitpunkt besitzt: Durch kollektive Magie wird

das kulturelle Kapital ebenso institutionalisiert wie, nach

Merleau-Ponty, die Lebenden ihre Toten mit Hilfe von

Trauerriten »institutionalisieren«. Man denke nur an die

Priifungsform des »concours-.l! die aus einem Konti-

nuum von minimalen Leistungsunterschieden dauer-hafte, brutale Diskontinuitaten produziert. Nach dem

Alles-oder-Nichts-Prinzip wird zwischen dem letzten

erfolgreichen und dem ersten durchgefallenen Priifling

ein wesensmaiiiger Unterschied institutionalisiert, der

die offiziell anerkannte und garantierte Kompetenz vom

einfachen Kulturkapital scheidet, das unter standigern

Beweiszwang steht. In diesem Fall sieht man deutlich,

welche schopferische Magie sich mit dieser institutionali-

sierten Macht verbindet, der Macht, Menschen zu veran-

lassen, etwas zu sehen und zu glauben oder mit einem

Wort, etwas anzuerkennen.Durch den schulischen oder akademischen Titel wird

dem von einer bestimmten Person besessenen Kulturka-

pital insti tutionelle Anerkennung verliehen. Damit wird

es u.a. moglich, die Besitzer derartiger Titel zu verglei-

chen und sogar auszutauschen, indem sie fureinander die

Nachfolge antreten. Durch die Bestimung des Geldwer-

tes, der fur den Erwerb eines bestimmten schulischen

Titels erforderlich ist , laBt sich sogar ein »Wechselkurs«

ermitte ln, der die Konoertibilitdt zwischen kulturellem

und okonomischem Kapital garantiert . Weil der Titel das

Produkt einer Umwandlung von okonomischem in kul-

turelles Kapital ist, is t die Bestimmung des kulturellen

Wertes eines Titelinhabers im Vergleich zu anderen

unaufloslich mit dem Geldwert verbunden, fur den er

auf dem Arbeitsmarkt getauscht werden kann; denn die

Bildungsinvesti tion hat nur Sinn, wenn die Umkehrbar-

keit der urspriinglichen Umwandlung von okonomi-

schem in kulturelles Kapital zumindest teilweise objektiv

62

garantiert ist . Da aber die materiellen und symbolischen

Profite, die der schulische Titel garantiert, auch von des-

sen Seltenheitswert abhangen, kann es vorkommen, daB

die Investi tionen an Zeit und Anstrengung sich als weni-

ger rentabel herausstellen, als bei ihrer urspriinglichen

Verausgabung erwartet werden konnte. In diesem Falle

hat sich der Wechselkurs zwischen kulturellem und oko-nomischem Kapital de facto verandert. Die Riickum-

wandlungsstrategien von okonomischem in kulturelles

Kapital gehoren zu den veranderlichen Faktoren, die die

Bildungsexplosion und die Titelinflation beeinfluBt

haben. Sie werden von der Struktur der Profitchancen

bestimmt, die fur die unterschiedlichen Kapitalformen

jeweils gilt.

2. Das soziale Kapital

Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und

potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauer-

haften Netzes von mehr oder weniger insti tutionalisier-

ten Beziehungen gegenseitigen Kennens oder Anerken-

nens verbunden sind; oder, anders ausgedriickt, es han-

delt sich dabei urn Ressourcen, die auf der Zugeborigleeit

zu einer Gruppe beruhen.V Das Gesamt-Kapital, das die

einzelnen Gruppenmitglieder besitzen, dient ihnen allen

gemeinsam als Sicherheit und verleiht ihnen - im weite-

sten Sinne des Wortes - Kreditwiirdigkeit. Sozialkapital-

beziehungen konnen nur in der Praxis auf der Grundlage

von materiellen und/oder symbolischen Tauschbezie-

hungen existieren, zu deren Aufrechterhaltung sie beitra-

gen. Sie konnen auch gesellschaftlich institutiona~.isiert

und garantiert werden, und zwar sowohl durch die Uber-

nahme eines gemeinsamen Namens, der die Zugehorig-

keit zu einer Familie, einer Klasse, einem Stamm oder

auch einer Schule, einer Partei usw. kennzeichnet, als

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auch durch eine Vielzahl anderer Institutionalisierungs-

akte, die die davon Betroffenen gleichzeitig pragen und

iiber das Vorliegen eines Sozialkapitalverhaltnisses infor-

mieren. Dieses nimmt dadurch eine quasi-reale Existenz

an, die durch Austauschbeziehungen am Leben erhalten

und verstarkt wird. Bei den Austauschbeziehungen, auf

denen das Sozialkapital beruht, sind materielle und sym-bolische Aspekte untrennbar verkniipft, Sie konnen nur

in Gang gebracht und aufrechterhalten werden, wenn

diese Verkniipfung erkennbar bleibt. Deshalb lassen sie

sich niemals ganz auf Beziehungen objektiver physischer

(geographischer) oder auch okonomischer und sozialer

Nahe reduzieren.P

Der Umfang des Sozialkapitals, das der einzelne

besitzt, hangt demnach sowohl von der Ausdehnung des

Netzes von Beziehungen ab, die er tatsachlich mobilisie-

ren kann, als auch von dem Umfang des (okonomischen,

kulturellen oder symbolischen) Kapitals, das diejenigenbesitzen, mit denen er in Beziehung steht.!" Obwohl also

das Sozialkapital nicht unmittelbar auf das okonomische

und kulturelle Kapital eines bestimmten Individuums

oder auch der Gesamtheit derer, die mit ihm verbunden

sind, reduziert werden kann, ist es doch niemals vollig

unabhangig davon; denn die in den Tauschbeziehungen

institutionalisierte gegenseitige Anerkennung setzt das

Anerkennen eines Minimums von »objektiver« Homo-

genitat unter den Beteiligten voraus; auiserdem iibt das

Sozialkapital einen Multiplikatoreffekt auf das tatsach-

lich verfiigbare Kapital aus.

Die Profite, die sich aus der Zugehorigkeit zu einer

Gruppe ergeben, sind zugleich Grundlage fur die Solida-

ritat, die diese Profite ermoglicht.P Das bedeutet nicht,

daB sie bewuist angestrebt werden - nicht einmal in den

Fallen, wo bestimmte Gruppen, z.B. exklusive Clubs,

offen darauf ausgerichtet sind, Sozialkapital zu konzen-

trieren und dadurch den Multiplikatoreffekt voll auszu-

64

niitzen, der sich aus dieser Konzentration ergibt. Aus

der Zugehorigkeit zu einer derartigen Gruppe ergeben

sich materielle Profite, wie etwa die vielfaltigen mit niitz-

lichen Beziehungen verbundenen »Gefalligkeiten« und

symbolische Profite, die z.B. aus der Mitgliedschaft in

einer erlesenen und angesehenen Gruppe entstehen.

Die Existenz eines Beziehungsnetzes ist weder einenatiirliche noch eine soziale »Gegebenheit«, die aufgrund

eines ursprunglichen Institutionalisierungsaktes ein fur

allemal fortbesteht - man denke etwa im Falle der Familie

an die genealogische Definition von Verwandtschaftsbe-

ziehungen. Sie ist vielmehr das Produkt einer fortlaufen-

den Institutionalisierungsarbeit. I nstitutionalisierungsri-

ten - die oft falschlicherweise als »Initiationsriten«

beschrieben werden - kennzeichnen dabei die wesentli-

chen Momente. Diese Institutionalisierungsarbeit ist not-

wendig fur die Produktion und Reproduktion der dauer-

haften und niitzlichen Verbindungen, die Zugang zumateriellen oder symbolischen Profiten verschaffen.l"

Anders ausgedriickt, das Beziehungsnetz ist das Produkt

individueller oder kollektiver Investitionsstrategien, die

bewuiit oder unbewuist auf die Schaffung und Erhaltung

von Sozialbeziehungen gerichtet sind, die friiher oder

spater einen unmittelbaren Nutzen versprechen. Dabei

werden Zufallsbeziehungen, z.B. in der Nachbarschaft,

bei der Arbeit oder sogar unter Verwandten, in besonders

ausgewahlte und notwendige Beziehungen umgewan-

delt, die dauerhafte Verpflichtungen nach sich ziehen.

Diese Verpflichtungen konnen auf subjektiven Gefuhlen

(Anerkennung, Respekt, Freundschaft usw.) oder insti-

tutionellen Garantien (Rechtsanspruchen) beruhen. Dies

ist darauf zuruckzufiihren, daB bestimmte soziale Insti-

tutionen, die einen zum Verwandten (Bruder, Schwester,

Cousin), zum Adeligen, zum Erben, zum Altesten usw.

stempeln, eine symbolische Wirklichkeit schaffen, die

den Zauber des Geweihten in sich tragt. Diese weihevolle

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Atmosphare wird durch standigen Austausch (von Wor-

ten, Geschenken, Frauen usw.) reproduziert. Gegenseiti-

ges Kennen und Anerkennen ist zugleich Voraussetzung

und Ergebnis dieses Austausches. Der Austausch macht

die ausgetauschten Dinge zu Zeichen der Anerkennung.

~it der gegenseitigen Anerkennung und der damit impli-

z~erten Anerkennung der Gruppenzugehorigkeit wird sodie Gruppe reproduziert; gleichzeitig werden ihre Gren-

zen bestatigr, d.h. die Grenzen, jenseits derer die fur die

Gruppe konstitutiven Austauschbeziehungen (Handel,

Kommensalirar, Heirat) nicht stattfinden konnen. Jedes

Gruppenmitglied wird so zum Wachter iiber die Grup-

pengrenzen: Jeder Neuzugang zu der Gruppe kann die

~efinit ion der Zugangskriterien in Gefahr bringen, denn

jede Form der Mesalliance kann die Gruppe verandern,

indem sie die Grenzen des als legitim geltenden Austau-

sches verandert, Deshalb ist es ganz logisch, daB in den

meisten Gesellschaften die Vorbereitung und Durchfiih-rung von Heiraten eine Angelegenheit der betroffenen

Gruppe als ganzer ist und nicht nur der unmittelbar

beteiligten Individuen; denn mit der Einfuhrung neuer

Mitglieder in eine Familie, einen Clan oder einen Club

wird die Definition der ganzen Gruppe mit ihren Gren-

zen und ihrer Identitat aufs Spiel gesetzt und von Neude-

finitionen, Veranderungen und Verfalschungen bedroht.

Wenn, wie das in unseren Gesellschaften der Fall ist, die

Familie ihr Monopol fur die Einleitung aller der Kontakte

verliert, die zu dauerhaften Bindungen fiihren - seien sie

nun sozial sanktioniert, wie die Ehe, oder nicht -, sokann sie dennoch weiterhin Kontrolle iiber diese Kon-

takte ausiiben. In vollem Einklang mit der Logik des

laisser faire kann sie sich aller der Institutionen bedienen

~ie auf die Forderung legitimer und den Ausschluf illegi~

timer Kontakte abzielen. Diese Institutionen liefern

Anlasse (Rallyes, Kreuzfahrten, Jagden, Balle, Empfange

usw.), Orte (vornehme Wohngegenden, exklusive Schu-

66

len, Clubs usw.) oder Praktiken (vornehme Sportarten,

Gesellschaftsspiele, kulturelle Zeremonien usw.). Auf

scheinbar zufallige Weise ermoglichen sie so das Zusam-

mentreffen von Individuen, die im Hinblick auf alle fur

das Leben und Uberleben der Gruppe wichtigen

Gesichtspunkte so homogen wie moglich sind.

Fur die Reproduktion von Sozialkapital ist eine unauf-horliche Beziehungsarbeit in Form von standigen Aus-

tauschakten erforderlich, durch die sich die gegenseitige

Anerkennung immer wieder neu bestatigt . Bei der Bezie-

hungsarbeit wird Zeit und Geld und damit, direkt oder

indirekt, auch okonomisches Kapital verausgabt. Ein sol-

cher Einsatz ist nur rentabel, ja er ist iiberhaupt nur

denkbar, wenn eine besondere Kompetenz - namlich die

Kenntnis genealogischer Zusammenhange und reeller

Beziehungen sowie die Kunst, sie zu nutzen - in sie

investiert wird. Sie ist ebenso fester Bestandteil des

Sozialkapitals, wie die (erworbene) Bereitschaft, sichdiese Kompetenz anzueignen und zu bewahrenY Das

ist einer der Griinde, weshalb der Ertrag der fur die

Akkumulation und Unterhaltung von Sozialkapital

erforderlichen Arbeit umso groBer ist, je groBer dieses

Kapital seIber ist . Deshalb sind die Trager eines beriihm-

ten Familiennamens, der auf ein ererbtes Sozialkapital

deutet, in der Lage, aIle ihre Gelegenheitsbekanntschaf-

ten in dauernde Beziehungen umzuwandeln: Wegen ihres

Sozialkapitals sind sie besonders gefragt. Weil sie bekannt

sind, lohnt es sich, sie zu kennen. Sie haben es nicht

notig, sich allen ihren »Bekannten« selbst bekanntzuma-

chen, denn es gibt mehr Leute, denen sie bekannt sind,

als s ie seIber kennen. Wenn sie uberhaupt einmal Bezie-

hungsarbeit leisten, so ist deren Ertrag deshalb sehr hoch.

In allen Gruppen gibt es mehr oder weniger insti tutio-

nalisierte Formen der Delegation. Dadurch wird es mog-

lich, das gesamte Sozialkapital, auf Grund dessen die

Gruppe (Familie, Nation, oder auch Verb and oder Partei)

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existiert, in den Handen eines Einzelnen oder einiger

Weniger zu konzentrieren. Der mit der »plena potestas

agendi et loquendi« ausgestattete Bevollmachtigte wird

beauftragt, die Gruppe zu vertreten, in ihrem Namen zu

handeln und zu sprechen, und so, aufgrund des allen

gehorenden Kapitals, eine Macht auszuiiben, die in kei-

nem Verhaltnis zu seinem personlichen Gewicht steht.Auf der elementarsten Institutionalisierungsebene z.B.

ist das Familienoberhaupt stillschweigend als die einzige

Person anerkannt, die bei allen offiziellen Anlassen im

Namen der Familiengruppe spricht. In diesem Falle einer

difJusen Delegation sind die »Groiien« gezwungen, sich

personlich fiir die Verteilung der Ehre auch von ganz

unbedeutenden Gruppenmitgliedern einzusetzen, urn die

Bedrohung der Gruppenehre abzuwehren. Die Konzen-

tration von sozialem Kapital durch institutionalisierte

Delegation erlaubt es dagegen, die Folgen individueller

Verfehlungen zu begrenzen, indem Verantwortungsbe-

reiche explizit abgegrenzt und die anerkannten Mandats-

trager ermachtigt werden, die Gesamtgruppe vor Unehre

zu schiitzen, indem sie kompromittierende Individuen

ausschlielien oder exkommunizieren.

Urn zu verhindern, daB der interne Wettbewerb urn

das Monopol der legitimen Gruppenreprasentation die

Erhaltung und weitere Akkumulation des gruppenkon-

stituierenden Kapitals bedroht, miissen die Gruppenmit-

glieder einerseits regeln, wie man Gruppenmitglied wird,

andererseits aber vor allem auch, wie man zum Reprasen-

tanten (Delegierten, Beauftragten, Bevollmachtigten

usw.) der gesamten Gruppe wird und damit zugleich

iiber ihr Sozialkapital verfiigt. Das Delegationsprinzip

hat die paradoxe Eigenschaft, daB der jeweilige Mandats-

trager die im Namen einer Gruppe angesammelte Macht

auch iiber, und bis zu einem gewissen Grade gegen diese

Gruppe ausiiben kann.l" Die Mechanismen der Delega-

tion und der Reprasentation (sowohl im theatralischen,

68

wie im rechtlichen Sinne) tragen somit das Prinzip der

ZweckentJremdung des mit ihrer Hilfe geschaffenen

Sozialkapitals bereits in sich. Denn je groBer die Gruppe

und je machtloser ihre Mitglieder, desto mehr werden

Delegation und Reprasentation zur Vorausseztung fur

die Konzentration von Sozialkapital - unter anderem

deshalb, weil es auf diese Weise fur eine Vielzahl vonunterschiedlichen und verstreuten Individuen moglich

wird, »wie ein Mann zu handeln«, und weil sich so auch

die Folgen der Endlichkeit des menschlichen Lebens und

der korperlichen Gebundenheit an Raum und Zeit tiber-

winden lassen.

Die Moglichkeit der Zweckentfremdung von Sozialka-

pital beruht auf der Tatsache, daB eine Gruppe in ihrer

Gesamtheit von einer klar abgegrenzten und jedermann

deutlich sichtbaren, von allen gekannten und anerkann-

ten Teil-Gemeinschaft repriisentiert werden kann, und

zwar in jedem Sinne dieses Wortes: von den Nobiles,

den »bekannten Leuten«, den Beriihmten, die imNamen

der Gesamtheit sprechen konnen, die Gesamtheit repra-

sentieren und in ihrem Namen auch Herrschaft ausiiben.

Der Modellfall fur diese Art der Reprasentation ist der

Adel. Der Adelige ist die zum Individuum gewordene

Gruppe. Er tragt den Namen der Gruppe, sie den sei-

nen.'? Der Name des adeligen Herrn, und die in ihm

zum Ausdruck kommende Differenz, ist gleichzeitig der

Name der Mitglieder seiner Gruppe, seiner Leibeigenen,

aber auch seiner Lander und Schlosser. Potentiell gilt die

Logik der Repriisentation auch fur solche Phanomene

wie den »Personenkult« oder die Identifikation von Par-

teien, Gewerkschaften oder sozialen Bewegungen mit

ihrem Fuhrer. Sie lauft darauf hinaus, daf das Zeichen

sich an die Stelle des Bezeichneten, der Reprasentant sich

an die Stelle der von ihm Reprasentierten setzt. Dies ist

zum einen deshalb der Fall, weil sein Hervorragen, seine

illustre Person, seine Sichtbarkeit etwas Wesentliches,

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wenn nicht das Wesentliche seiner Macht ausmachen,

einer vollkommen symbolischen Macht, die sich ganz in

der Logik des Kennens und Anerkennens bewegt; zum

anderen liegt es aber auch daran, daB Reprasentanten -

ebenso wie Abzeichen oder Wappen - selbst die ganze

Realitat von Gruppen sein und erschaffen konnen, deren

wirksame soziale Existenz allein in und durch die Repra-sentation besteht.i?

3. Die Kapitalumwandlungen

Die anderen Kapitalarten konnen mit Hilfe von okono-

mischem Kapital erworben werden, aber nur urn den

Preis eines mehr oder weniger groBen Aufwandes an

Transformationsarbeit, die notwendig ist, urn die in dem

jeweiligen Bereich wirksame Form der Macht zu produ-

zieren. So gibt es z.B. bestimmte Giiter und Dienstlei-

stungen, die mit Hilfe von okonomischem Kapital ohne

Verzogerung und sekundare Kosten erworben werden

konnen. Es gibt aber auch solche, die nur aufgrund eines

sozialen Beziehungs- oder Verpflichtungskapitals erwor-

ben werden konnen, Derartige Beziehungen oder Ver-

pflichtungen konnen nur dann kurzfristig, zum richtigen

Zeitpunkt, eingesetzt werden, wenn sie bereits seit lan-

gem etabliert und lebendig gehalten worden sind, als

seien sie ein Selbstzweck. Dies muf auiserhalb der Zeit

ihrer Nutzung geschehen sein, also urn den Preis einer

Investition von Beziehungsarbeit, die notwendigerweise

langfristig angelegt sein muli; denn die Dauer der verflos-

senen Zeit ist selbst einer der Faktoren, die dafur sorgen,

daBeine einfache und direkte Schuld sich in ein allgemei-

nes Schuldanerkenntnis »ohne Titel und Vertrag«

umwandelt - also in Anerkennungr"

Manmuf somit von der doppelten Annahme ausgehen,

daB das okonomische Kapital einerseits allen anderen

70

Kapitalarten zugrundeliegt, daB aber andererseits die

transformierten und travestierten Erscheinungsformen

des okonomischen Kapitals niemals ganz auf dieses

zuruckzufuhren sind, weil sie ihre spezifischsten Wir-

kungen iiberhaupt nur in dem MaBe hervorbringen kon-

nen, wie sie verbergen (und zwar zu allererst vor ihrem

eigenen Inhaber), daB das okonomische Kapital ihnen

zugrundeliegt und insofern, wenn auch nur in letzter

Instanz, ihre Wirkungen bestimmt. Es ist nur moglich,

das Funktionieren des Kapitals in seiner Logik, die Kapi-

talumwandlungen und das sie bestimmende Gesetz der

Kapitalerhaltung zu verstehen, wenn man zwei einseitige

und einander entgegengesetzte Betrachtungsweisen

bekampft: Die eine ist der »Oleonomismus«, der alle

Kapitalformen fur letztlich auf okonomisches Kapital

reduzierbar halt und deshalb die spezifische Wirksamkeit

der anderen Kapitalarten ignoriert; die andere ist der

»Semiologismus«, der heute durch den Strukturalismus,

den symbolischen Interaktionismus und die Ethnome-

thodologie vertreten wird, Er reduziert die sozialen Aus-

tauschbeziehungen auf Kornmunikationsphanomene

und ignoriert die brutale Tatsache der universellen Redu-

zierbarkeit auf die Okonomie.F

Entsprechend dem Satz von der Erhaltung der Energie

gilt das Prinzip, daB Gewinne auf einem Gebiet norwen-

digerweise mit Kosten auf einem anderen Gebiet bezahlt

werden; in einer »allgemeinen Wissenschaft von der

Okonomie der Praxis« wird deshalb ein Begriff wie Ver-

schwendung iiberflussig,

Die universelle Wertgrundlage, das MaB aller Aquiva-

lenzen, ist dabei nichts anderes als die Arbeitszeit im

weitesten Sinne des Wortes. Das durch aIle Kapitalum-

wandlungen hindurch wirkende Prinzip der Erhaltung

sozialer Energie laBtsichverifizieren, wenn man fur jeden

gegebenen Fall sowohl die in Form von Kapital akkumu-

lierte Arbeit als auch die Arbeit in Rechnung stellt, die

71

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fur die Umwandlung von einer Kapitalart in eine andere

notwendig ist.

Wir haben bereits gesehen, daB beispielsweise die

Umwandlung von okonomischem in soziales Kapital

eine spezifische Arbeit voraussetzt. Dabei handelt es sich

urn eine scheinbar kostenlose Verausgabung von Zeit,

Aufmerksamkeit, Sorge und Miihe. Die Austauschbezie-hung verliert dadurch ihre rein monetare Bedeutung, was

sich z.B. an dem Bemuhen urn die »personliche« Gestal-

tung eines Geschenkes zeigen laBt. Gleichzeitig wird

dadurch der Sinn der Austauschbeziehung selbst veran-

dert, die aus einem engen »okonomischen« Blickwinkel

als reine Verschwendung erscheinen muii, wahrend sie

im Rahmen der umfassenden Logik des sozialen Austau-

sches eine sichere Investition darstellt, deren Profite iiber

kurz oder lang in monetarer oder anderer Gestalt wahr-

genommen werden konnen. Gleiches gilt bei der

Umwandlung von okonomischem in kulturelles Kapital.Das beste MaB fur kulturelles Kapital ist zweifellos die

Dauer der fur seinen Erwerb aufgewendeten Zeit. D.h.

die Umwandlung von okonomischem in kulturelles

Kapital setzt einen Aufwand an Zeit voraus, der durch

die Verfiigung uber okonomisches Kapital ermoglicht

wird. Oder, genauer gesagt, das kulturelle Kapital, das

in Wirklichkeit ja in der Familie weitergegeben wird,

hangt nicht nur von der Bedeutung des in der hauslichen

Gemeinschaft verfiigbaren kulturellen Kapitals ab, das

nur urn den Preis der Verausgabung von Zeit akkumuliert

werden konnte, es hangt vielmehr auch davon ab, wieviel

nutzbare Zeit (vor allem in Form von Freier Zeit der

Mutter) in der Familie zur Verfiigung steht, urn die Wei-

tergabe des Kulturkapitals zu ermoglichen und einen ver-

zogerten Eintritt in den Arbeitsmarkt zu gestatten. Das

in der Familie verfiigbare okonornische Kapital spielt

dabei eine entscheidende Rolle. Der so ermoglichte spa-

tere Eintritt in den Arbeitsmarkt gestattet den Erwerb

72

von schulischer Bildung und Ausbildung - ein Kredit,

dessen Ertrag nicht, oder jedenfalls nur auf lange Frist

garantiert ist.23

Die Tatsache der gegenseitigen Konvertierbarkeit der

verschiedenen Kapitalarten ist der Ausgangspunkt fur

Strategien, die die Reproduktion des Kapitals (und der

Position im sozialen Raum) mit Hilfe moglichst geringerKapitalumwandlungskosten (Umwandlungsarbeit und

inharente Umwandlungsverluste) erreichen mochten.

Die unterschiedlichen Kapitalarten unterscheiden sich

nach ihrer Reproduzierbarkeit, also danach, wie leicht

sie sich iibertragen lassen. Dabei geht es zum einen urn

das Ausmaf der bei der Kapitaliibertragung auftretenden

Schwundquote, zum anderen darum, in welchem Mafse

sich die Kapitaliibertragung verschleiern laBt; das

Schwundrisiko und die Verschleierungskosten haben die

Tendenz, mit entgegengesetzten Vorzeichen zu variieren.

Alles, was zur Verschleierung des Okonomischen bei-tragt, tragt auch zur Erhohung des Schwundrisikos bei,

insbesondere bei der Kapitaliibertragung zwischen den

Generationen. Die auf den ersten Blick gegebene schein-

bare Unvereinbarkeit der verschiedenen Kapitalarten

tragt deshalb ein betrachtliches MaB an Unsicherheit in

alle Transaktionen zwischen Inhabern unterschiedlicher

Kapitalarten hinein. Ebenso verhalt es sich auch bei dem

Sozialkapital, bei dem es sich ja urn ein Kapital von lang-

fristig niitzlichen Verpflichtungen handelt, das durch

gegenseitige Geschenke, Gefalligkeiten, Besuche, u.a.

produziert und reproduziert wird - durch Tauschbezie-hung en also, die Kalkiile und Garantien explizit aus-

schlieBen und damit das Risiko der »Undankbarkeit«

heraufbeschworen; denn es besteht immer die Gefahr,

daB die Anerkennung einer Schuldverpflichtung, die

angeblich aus einer derartigen vertragslosen Austausch-

beziehung entstanden ist, verweigert wird. Ebenso steht

auch dem fur die Transmission von Kulturkapital charak-

73

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r

:eris tischen hohen MaB an Verschleierung nicht nur das

inharente Schwundris iko gegeniiber, sondern auch die

Tatsache, daB der s c hu li sc he T it el die institutionalisierte

Form ~on Bildungs~apital darstellt. Er ist nicht iibertrag-

bar (wie der Adelstire l) und nicht kauflich (wie der Bor-

sentitel). Genauer gesagt, die Dbertragung von kulturel-

lem Kapital vollzieht s ich in groBter Heimlichkeit aber

auch mit groBerem Risiko als die des okonomisehen

Kapita~s; d~nn die standige diffuse Dbertragung von Kul-

rurkapiral m der Familie entziehr sich dem Bewufstsein

ebenso wie aller Kontrolle.I" Urn seine volle Wirksam-

k~it, zumindest auf dem Arbeitsmarkt, ausspielen zu

konnen, bedarf das kulturelle Kapital deshalb in zuneh-

mendem Malie der Bestatigung durch das Unterrichtssy-

stem, also der Umwandlung in schulische Titel: In dem

Malie namlich, wie der schu1ische Titel - versehen mit

der eigennimlichen Wirksamkeit des »OJJ iz ie ll en « - zur

Vorbedingung fur den legitimen Zugang zu einer immergroBeren Zahl von Positionen, insbesondere herrschen-

den Positionen wird, tendiert das Unterrichtssystem

~~zu; d~r hauslichen Gruppe immer mehr das Monopo1

fur die Ubertragung von Macht und Privi1egien zu entzie-hen.25

Der arbitrdre Charakter der Aneignung zeigt sich nir-

gends deutli~her als bei der Dbertragung von Kapital,

vor allern bel der Sukzession, einem kritischen Moment

fur jede Macht. Jede Reproduktionsstrategie ist desha1b

unausw~ichlich auch eine Legitimationsstrategie, die dar-

~uf abzielt, so,:oh1 die exklusive Aneignung wie auchihre Reproduktion sakrosant zu machen. Die subversive

Kritik sucht deshalb die herrschende Klasse zu treffen

in~em sie d~s Prinzip ihrer Perpetuierung kritisiert. Si~

bnngt ans LIcht, daB die Adelstitel selbst ebenso arbitrar

s ind. wi~ i~re U:b~rtragung. Wenn aber aufgedeckt is t,

daf institutionalisierrs Mechanismen wie z.B. die Erbfol-

gegesetze darauf abzielen, die offizielle und direkte Dber-

tragung von Macht und Privilegien zu regeln, so wachst

das Interesse der Inhaber von Kapital, sich solcher

Reproduktionsstrategien zu bedienen, die eine bessere

Verschleierung der Kapitaltransmission gewahrleisten.

Da dabei von der Konvertibilitat der Kapitalarten

Gebrauch gemacht werden muf], ist der Preis ~~fiir ein

groBerer Kapitalschwund. Je mehr die offizielle Ubertra-gung von okonomischem Kapital verhindert oder

gebremst wird, desto starker bestimmt deshalb die

geheime Zirkulation von Kapital in Gestalt der verschie-

denen Formen des Kulturkapitals die Reproduktion der

gesellschaftl ichen Struktur. Das Unterrichtssystem - ein

Reproduktionsinstrument mit besonderer Fahigkeit zur

Verschleierung der eigenen Funktion - gewinnt dabei an

Bedeutung, und der Markt fur soziale Titel, die zum

Eintritt in begehrte Positionen berechtigt, vereinheitlicht

sich.

Anmerkungen

1 Dieses Beharrungsverrnogen der Kapi talst rukturen hangt zum

einen damit zusammen, daB sie sich in der Regel im Rahmen von

Institutionen und Dispositionen reproduzieren, die ihrerseits Produkte

von Kapitals trukturen s ind und deshalb auch auf sie abges timmt s ind;

selbstverstandlich wird es aber durch gezieltes politisch-konservatives

Handeln noch verstarkt , namlich durch eine Poli tik der Demobil isie-

rung und Depolit isierung, die darauf abzielt , die Behe~rsch~e~ in einem

blof praktischen Gruppenzustand zu halten, so daB sie lediglich durch

das Zusammenspiel von Anordnungen miteinander inVerbindung tre-ten und dazu ve rurte ilt sind, wie ein Aggregat zu funktionieren und

auf die immer gleichen isolie rten und additiven Praktiken (wie die

Entscheidung des Marktes oder des W~hlens) beschrank~ zu bleibe~.

2 Zum Begriff der Praxis vgl. Bourdieu , P. : Entwurf.emer Theone

der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabyli schen Gesell -

schaft, Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976 (franz. Orginal: Genf 1972).

3 Spricht man, wie hier, uber Begriffe um ihrer selbst willen, statt

s ie anzuwenden, so muB man immer schemati sch und formal sein, also

»theoreti sch« im ubl ichen - aber auch im ublicherweise akzeptierten

- Sinne dieses Wortes.

7475

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r4 Vgl. insbesondere Becker, G.S.: Human Capital, New York:

Columbia University Press 19645 Ebd., S. 63-66.

6 »Social rate of return- (ebd., S. 121) .

7 »Social gain of education as measured by it s effects on national

productivity- (ebd. , S. 155)

8 Diese Aussage impliziert keinerlei Anerkennung des Wertes schuli-

scher Leistungsbeurteilungen. Sie stellt lediglich fest, daB eine tatsachli-

che Beziehung zwischen einem bes timmten kul turel len Kapi tal undden Gesetzen des schulischen Marktes vorliegt: Verhaltensdispositio-

nen, die auf dem schul ischen Markt negativ bewertet werden, konnen

auf anderen Markten - in erster Linie sicherlich bei den sozialen Bezie-

hungen innerhalb der Schulklasse - einen sehr posit iven Wert haben.

9 In einer wenig differenzierten Gesellschaft, in der die Moglichkei-

ten des Zuganges zu den Instrumenten der Aneignung des kulturellen

Erbes sehr ungleich verteil t sind , fungiert die inkorporierte Kul tur

nicht als Kul turkapi tal, a lso als Inst rument zum Erwerb exklusiver

Vorteile.

10 Die dialektische Beziehung zwischen dem objektivierten Kultur-

kapi tal, dessen reinste Form die Schrif t i st , und dem inkorporierten

Kulturkapital i st allzu oft auf die exalt ierte These von der »Erniedr i-

gung des Geistes durch den Buchstaben«, des »Lebendigen« durch das

»Erstarrte«, des »Schopferischen« durch die »Rout ine«, »de la grace

par la pesanteur« reduziert worden.

11 Der »concours- is t eine franzos ische Prufungsform, bei der nur

eine im voraus fes tgelegte Zahl von Priifungen erfolgreich sein kann

(Anmerkung des Ubersetzers).

12 Auch der Begriff des Sozialkapitals ist nicht aus einer rein theoreti-

schen Arbeit entstanden, noch weniger als eine analoge Ausweitung

okonomischer Begriffe. Vielmehr hat er sich angeboten zur Benennung

des Prinzips der sozialen Wirkungen, von Wirkungen also , die zwar

auf der Ebene der individuell Handelnden - wo die stati st ischen Erhe-

bungen sich zwangslauftg bewegen - klar erfalsbar sind, ohne sich

jedoch auf die Summe von individuellen Eigenschaften best immter

Handelnder reduzieren zu lassen. Diese Wirkungen, die von der Spon-

tansoziologie gerne als das Wirken von »Beziehungen- ident if iz iert

werden, sind in all den Fallen besonders gut sichtbar, wo verschiedene

Individuen aus einem etwa gleichwertigen (okonomischen oder kultu-:ellen) Kapital sehr ungleiche Ertrage erzielen, und zwar je nachdem,

mwieweit sie in der Lage sind, das Kapital einer mehr oder weniger

institutionalisierten und kapitalkraftigen Gruppe (Familie, Ehemalige

einer »Elite--Schule, vornehmer Club, Adel usw.) stellvertretend fur

sich zu mobilisieren.

13 Bekanntlich kann es vorkommen, daB Nachbarschaftsbeziehun-

gen eine elementare Form der Insti tutionalisierung erfahren. In Beam

oder im Baskenland z.B. t ragen die Nachbarn aufgrund wei tgehend

kodifizierter Regeln bestimrnte Bezeichnungen und besondere Funk-

t ionen, d ie nach Rangen (»erster Nachbar«, »zweiter Nachbar- usw. )

76

differenziert sind und besonders bei den groBen zeremoniellen Anlas-

sen des gesellschaftlichen Lebens, wie Beerdigungen und Hochzeiten,zum Tragen kommen. Aber selbst in diesem Faile decken sich die

ratsachl ich s tatt findenden Beziehungen keineswegs immer mit den

sozial institutionalisierten Beziehungen.14 Auch die Manieren (Benehmen, Sprechweise usw.) lassen sich

zumindest insoweit dem Sozialkapital zurechnen, als sie auf eine

bestimmte Weise ihrer Aneignung hinweisen und damit die urspriingli-

che Zugehorigkeit zu einer mehr oder weniger angesehenen Gruppezu erkennen geben.

15 So kann man z.B. den nationalen Emanzipationsbewegungen und

nationalis ti schen Ideologien nicht voll ig gerecht werden, wenn man

nur die streng okonomischen Profite in Betracht zieht, d.h. nur die

antizipierten Profite aus der Umverteilung eines Teils des Reichtums

zum Nutzen der Einheimischen (Nationalisierung) und aus der Erobe-

rung von gutbezahlten Arbeitsplatzen beriicksichtigt (vgl. Breton, A.:

»The economics of Nationalism-s, in: Journal of Polit ical Economy 72

(1964), S. 367-386). Diese (diskontierten) Profite rein okonomischer

Natur wiirden nur den Nationalismus der privilegierten Klassen erkla-

ren; man muf zu ihnen die ganz realen und unmittelbaren Profite

hinzuzahlen, die sich aus der Tatsache der Zugehorigkeit (Sozialkapi-

tal) ergeben. Sie sind urn so groBer, je weiter unten man sich in der

sozialen Hierachie befindet (s-arme WeiBe«) oder - genauer - je mehr

man von wir tschaft li chem und sozialem Niedergang bedroht is t.16 Vgl. Bourdieu, P.: »Les rites d'insti tution«, in: Actes de la recher-

che en sciences sociales 43 (1982), S. 8-63.17 Man kann wohl annehmen, daf das Talent zum »Mondanen-

(oder, allgemeiner, das »Beziehungstalent«) zwischen den sozialen

Klassen - und, bei identi scher Klassenzugehorigkei t, auch zwischen

Individuen unterschiedlicher sozialer Herkunft - sehr ungleich verteil t

ist.18 Ohne Zweifel g ilt das in besonderem MaBe fur die Grenzfal le ,

wo die von einem Delegierten vertretene Gruppe von ihm selbst

geschaffen is t und nur durch ihn exis tier t.19 Die metaphorische Verbindung zwischen dem Adeligen und der

durch ihn reprasentierten Gruppe wird z.B. sichtbar, wenn Kleopatra

von Shakespeare a ls »Agypten- oder der Konig von Frankreich als

»Frankreich« ti tu lier t wird oder wenn Racine von »Epi rus- spr icht,wenn er Konig Pyrrhus meint .

20 Selbstverstandlich bewegt sich das Sozialkapital so ausschlieBlich

in der Logik des Kennens und Anerkennens, daB esimmer als symboli-

sches Kapital funktioniert,21 Urn einem wahrscheinlichen MifSverstiindnis entgegenzuwirken,

muf prazisiert werden, daB Investi tionen im hier erorterten ~inne nic~tnotwendigerweise auf einem bewufsten Kalkiil beruhen; vielrnehr ist

es sehr wahrscheinl ich, daB sie in der Logik affektiver Investitionenerlebt werden, d.h. als eine gleichzeitig notwendige und uneigennutzige

Verpflichtung (involvement). Damit wende ich mich gegen die Histori-

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ker , d ie (selbst wenn sie so sensibel fur symbol ische Effekte s ind wie

E.P . Thompson) zu der Vorstellung neigen, d ie symboli schen Praxen

- gepuderte Periicken und Prunkgewander - seien ausdriickliche Herr-

schaftsst rategien, d ie fur das Gesehenwerden (von unten) bestimmtund gemacht sind (intended to be seen). Aufse rdem ne igen sie dazu,

grofszugige oder wohltatige Verhaltensweisen als »kalkulierte Hand-

lungen zur Befriedung des Klassenkonfliktes« zu interpretieren. Diese

naiv-materialistische Auffassung laBtvergessen, daB gerade die ehrlich-

s ten und uneigenni itz igsten Handlungen dem objektiven Interesse am

meis ten konform sein konnen, Viele Handlungsbereiche, besonders

wenn dort das Leugnen von Eigennutz und jeder Art von Berechnung

grofse Bedeutung ha t, wie im Bereich de r kulturellen Produktion,

gewahren nur denjenigen volle Anerkennung - und damit die Weihe,

die den Erfolg definiert -, die sich durch den unmittelbaren Konformis-

mus ihrer Inves ti tionen hervortun und dami t ihre Aufrichtigkeit undihre Verbundenheit mi t den jeweil s gel tenden grundlegenden Prinzi -

pien unter Beweis s tellen. In der Tat ware esvol lig fal sch, d ie Sprache

der rat ionellen St rategie und des zynischen Kalkii ls von Kosten und

Profit zu verwenden, urn die »Wahl« des Habitus zu beschreiben, d ie

einen Arti sten , Schrif ts teller oder Forscher zu dem »ihm gemaBen«

Ort (bzw, Objekt, Material, Sti l, Genre usw.) fuhren. Dies gil t, obwohl

z.B . die Veranderung eines Genres, einer Schulenzugehorigkei t oder

eines Spezialgebietes - also Wandlungen, die man »rnit ganzer Seele«

vollzieht - immer als Ruckumwandlungen verstanden werden konnen,deren Orientierung und Triebkraf t (die haufig iiber ihren Erfolg ent-

scheidet), von einem Sinnfur Investitionen bestimmt sind. Die Chance,

daB dieser nicht als solcher erkennbar i st , is t urn so grofser , j e scharfer

er entwickelt ist. Die Unschuld ist das Privileg derer, die in ihrem

Bereich wie Fische im Wasser s ind . ..

22 Urn die Pragnanz dieser beiden antagonis ti schen Posi tionen ver-

s tehen zu konnen.d ie sich gegenseit ig als Alibi d ienen, mii iit e man die

unbewuflten Profite (prof its inconscients) und die Profite der Unbe-wufltheit (profits d'inconscience) analysieren, die sie den Intellektuel-

len verschaffen. Wahrend die einen im 0 konomismus ein Mittel finden,

s ich selbst fur unbetei ligt zu erklaren, indem sie das kulturelle Kapital

und aIle die spez if ischen Profite verschwinden lassen, die sie an die

Sei te der Herrschenden s tellen, bewegen die anderen s ich nur im Reich

der Symbole und weichen dem - wahrhaft verabscheuungswiirdigen- Feld der Okonomie aus, wo alles sie daran erinnert, daB sie sich

letzt lich nach okonomischen Gesichtspunkten bewerten lassen. (Sie

tun damit n ichts anderes , als auf theoreti scher Ebene die S trategie zu

reproduzieren, mi t der die Intel lektuellen und die Art is ten ihre Werte

- das heilit: ihren Wert - durchzusetzen versuchen, indem sie das

Gesetz des Marktes umkehren, wo das, was man hat oder was man

verdient, vollkommen bestimmt, was man »wert« i st und was man ist .)

23 Einer der wertvollsten Vorteile aller Kapitalarten ist die Zunahme

der Menge von niitzlicher Zeit, die als Aneignung der Zei t anderer ( in

Form von Dienstleistungen) durch die verschiedensten Formen der

78

Stellvertre tung er rnoglicht wird. Sie kann entweder die Form der

Zunahme von freier Zeit annehmen, als Korrelat fiir die Beschrankung

des Zeitaufwandes f iir Tat igkeiten , d ie direkt auf die Produkt ion von

Mit teln zur Reprodukt ion der hausl ichen Gruppenexistenz abzielen;

oder sie f iihrt zu einer Intensivierung der Nutzung der Arbeitszeit

aufgrund der Nutzung von f remder Arbeit oder von Instrumenten

und Methoden, die nur urn den Preis e ine r Ausbildung, a lso von Zeit

zugangl ich s ind: Man »gewinnt Zeit« (z.B . mi t den schnellen Trans-

portmi tteln, mit Wohnungen moglichst nahe am Arbei tsplatz usw.) .

Umgekehrt werden die Ge lde rspa rnisse des Armen mit Zeitverlust

bezahlt - das Basteln, die Suche nach Sonderangeboten oder dem

giinst igen Preis lassen s ich nur auf Kosten langer Wege, Wartezei ten

usw. durchfiihren.

24 Deshalb entsteht der Ansche in, als be ruhe die Auf te ilung der

verschiedenen Titel, d ie das Unterrichtssystem zuerkennt, alle in auf

der Verteilung naturlicher Eigenschaften.

25 Im Rahmen einer globalen Strategie der Diversifizierung des Besit-

zes und der Inves ti tionen, wodurch ein Hochstmaf an Sicherheit und

Rentabi li ta t gewahrlei stet b leiben solI , t endieren die herrschenden

Frakt ionen dazu, der Erziehungsinves ti tion immer mehr Raum zuzu-

bil ligen. Selbstvers tandlich haben s ie dabei v ielerlei Mit tel, urn den

schuli schen Urtei len zu entgehen: Abgesehen davon, daf die direkte

Ubert ragung von okonomischem Kapi tal immer eines der Hauptin-

s trumente der Reproduktion bleib t, laBt s ich der Effekt schuli scherSanktionen durch die Wirkung von Sozialkapita l (»Protektion«,

»Druck«, »Beziehungen« usw.) kor rigier en. Die schulischen Titel

funktionieren niema ls vollkommen wie Geld; weil sie niemals ganz

von ihrem jeweil igen Besitzer abgelost werden konnen, haben s ie urn

so mehr Wert>je mehr Mit tel ihr Inhaber bes itzt, urn s ie zu verwerten .

Das gi lt besonders in den an wenigsten regiden Sektoren der sozialen

Struktur.

79

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Die verborgenen Mechanismen

der Macht enthiillen

Was mich an Ihrem Bucb' iiberrascht hat, ist, daft eswirklich von Anfang bis Ende von der Frage der Machtund der H errschaft durchzogen ist.

!~!~i~;a~Ji:%~~;;ad:i~:S:;~;.~;i~;;~;t~:~:;~~~~::~~;schetl undsozialenKompetenz (ineins die Eihigkeit zu

spr~c§en~n4~dieJ?aJligkeit:-auf-elne-~5estlmmie;sozlar

_~~~~~k~~ristisc~~_~~~~~~_~s.p~~~E~ijrund~elnes---xrar k t e s ,d.h. des Systems der »Regeln« zur Bildung der Preise,

die dazu beitragen, die sprachliche Produktion zu steu-

ern. Das gilt fur den Plausch unter Freunden, fur die bei

offiziellen Anlassen gehaltenen Reden oder fur diephilo-sophische Schreibe, wie ich es anhand von Heidegger zu

zeigen versucht habe. Folglich sind alle diese Kommuni-

kationsbeziehungen auch Machtbeziehungen und es hat

auf dem sprachlichen Markt immer Monopole gegeben,

ob es sich nun urn sakrale oder einer Kaste vorbehaltene

Sprachen oder Geheimsprachen wie u.a. die Wissen-

schaftssprache handelt.

Noch weitergehend hat man den Eindruck, daft sich in

diesem Buch auf filigrane Weise eine allgemeine TheoriederMacht und sogardes Politischenabzeichnet, insbeson-

dere vermittelt iiber den Begriff der »symbolischen

Macbt«.

,> »Ce que par ler veut d ire«, Par is 1982, Fayard; deutsch: »Was heifi t

sprecheni«, Wien 1990, Braumi ill er (Anm. d . Hrsg.).

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~~mbolische Mac~t eine Macht, die in dem MaBe

existiert, wie es ihr gelingt, sich anerkennen zu lassen,

sich Anerkennung zu verschaffen; d.h. eine (okonomi-

sche, politische, kulturelle oder andere) Macht, die die

Macht hat, sich in ihrer Wahrheit als Macht, als Gewalt,

als Willkiir verkennen zu lassen. Di~i_g_~~g~he __ : i . ! : ~ -

samkeit dieser Macht entfaltet sich nicht auf der Ebene-physische~K:;:aft ,sonde~n-aurder Ebene von Sinn und

<E~enile~"Z~B:rstd~:;:-Ed~T~~n~~'d~-rateinisch;;;~bilis

"sagt es, ein Edler, ein »bekannter«, »anerkannter« Mann.

Das bedeutet allerdings, daf, sobald man sich dem Physi-

kalismus der Krafteverhaltnisse entzieht, urn die symbo-

lischen Beziehungen des Erkennens wieder einzufiihren,

man aufgrund der Logik der erzwungenen Alternativen

alle Chancen hat, wieder der Tradition der Subjektphilo-

sophie, der Bewufstseinsphilosophie zu verfallen und sich

diese Akte der Anerkennung wie freie Akte der Unter-

werfung und der Komplizenschaft vorzustellen. Nunimplizieren aber Sinn und Erkennen keineswegs Bewuiit-

heit; man muf in einer vollig entgegengesetzten Richtung

suchen, wie sie zuletzt Heidegger und Merleau-Ponty

aufgewiesen haben: Die sozialen Akteure und auch die- . . . ~"._~"_..._.__

[Beherrschten selbst s ind in der sozialen Welt (selbst der

I jlbstOBelldS_!~rt._~!l~_~~P~!_~!l~~t~~I~~~~E~j~~.~~I~h~gg/__~~g~!l<:>Il1~~!l~r~<:>1!lplj?-.~rt~~h<1f~_'\I'_~rbunc!.~~4i~__~-:

bvirksj..~~._Q~~~i_mmte .~~~kte dieser Welt stets jenseits

L~~~E~_~~S_~~!~r~~C:~~E!.rtf~a.:g~~!.~ll~rtg.~~~~~!l,:.ermit-telt iiber diese verborgene Beziehung quasi-korperlichen

Verwachsenseins iibt die symbolische Macht ihre Wir-kungen aus. Die politische Unterwerfung ist in die Hal-

tung, die Falten des Korpers und die Automatismen des

Gehirns eingegraben. Das Vokabular der Herrschaft ist

voll von Korpermetaphern: einen Biickling machen, zu

Kreuze kriechen, sich aalglatt zeigen, sich beugen, etc.

Und natiirlich auch voll von sexuellen Metaphern. Die

Worte bringen die politische Gymnastik der Herrschaft

82

bzw. der Unterwerfung nur deshalb so gut zum Aus-

druck, weil sie, zusammen mit dem Korper, die Stiitze

der tief vergrabenen Schaltungen sind, in denen sich eine

gesellschaftliche Ordnung dauerhaft verankert.

Sie gehen also davon aus, daft die Sprache im Zentrum

jeder Analyse der Politik stehen soUte?

Auch da muf man sich vor den gewohnlichen Alternati-

ven hiiten. Entweder spricht man von der Sprache so,

als harte sie keine andere Funktion als die der Kommuni-

kation; oder man macht sich daran, in den Worten das

;r~i!lzip d;;M~~ht'z~';~ch~n~dle:'ln~~itlmmten]?IrE~,

dur~b_~ o!:!~..<1.~~eiiJ?!_~.i.£4.ich denke z.B. an Befehle

oder Parolen). Tatsachlich iiben Worte eine typisch magi-

sche Macht aus: sie machen sehen, s ie machen glauben,

sie machen handeln. Aber wie im Fall der Magie muf

man sich fragen, worin das Prinzip dieses Vorgangsbesteht; oder genauer welche die sozialen Bedingungen

sind, die die magische Wirksamkeit der Worte moglich

machen. Di~M<1chtder\X'or~ewirkt nur auf 9:i.~j~!lig~!l'

die~i3'oniertsi!l~' ~iezuverstehenundaursle zu horen,

kurz- ihn~nGlallb~n-~u-~llken:-:---Auf bearnisch~gt

man-{iiiiehorchen crede, was auch glauben heifst . Es ist

die ganze Primarerziehung - im weitesten Sinne des W or-

tes -, die in jedem einzelnen die Mechanismen verankert,

die die Worte (eine papstliche Bulle, e ine Parteiparole,

ein Deutungsvorschlag eines Psychoanalytikers etc.)

eines Tages werden auslosen konnen. Die Grundlage derMacht der Worte wird durch die Komplizenschaft gebil-

det, die mittels der Worte zwischen einem in einem biolo-

gischen Korper Fleisch gewordenen sozialen Korper,

dem des Wortfiihrers, und den biologischen Korpern

sich herstellt, die sozial zugerichtet sind, seine Anweisun-

gen anzuerkennen, aber auch seine Ermahnungen, seine

Anspielungen oder seine Befehle, und die die »gesproche-

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nen Subjekte« sind, die Getreuen, die Glaubigen. Es ist

all das, was, wenn man dariiber nachdenkt, der Begriff

des Korpsgeistes wachruft: soziologisch faszinierende

und erschreckende Formel.

Aber es gibt doch gleichwohl eigene Effekte und eine

eigene Wirksamkeit der Sprache?

Es ist wirklich erstaunlich, daB diejenigen, die unablassig

von der Sprache und dem (gesprochenen) Wort oder gar

von der »illokutionaren Kraft« des Wortes sprechen, nie-

mals die Frage nach dem Wort-Fuhrer gestellt haben.

Wenn die politische Arbeit im Wesentlichen eine Arbeit

vermittels Worten ist, heiiit das, daB die Worte dazu

beitragen, die soziale Welt zu erzeugen. Man muB nur

an die unzahligen Umschreibungen und Euphemismen

denken, die wahrend der ganzen Zeit des Algerienkriegs

erfunden worden sind, urn das Eingestandnis der Aner-kennung zu vermeiden, die darin impliziert ist, daB man

die Dinge bei ihrem Namen nennt, statt sie durch Euphe-

mismen zu verleugnen. In der Politik ist nichts realisti-

scher als der Streit urn Worte. Ein Wort an die Stelle

eines anderen setzen heilit, die Sicht der sozialen Welt

zu verandern und dadurch zu deren Veranderung beizu-

tragen.

Von Arbeiterklasse sprechen, die Arbeiterklasse zum

Sprechen bringen (indem man fur sie spricht), sie repra-

sentieren, bedeutet, dieser Gruppe, die von den Euphe-

mismen des gewahnlichen Unbewuiiten (die »kleinenLeute«, die »einfachen Menschen«, der »Mann auf der

Straise«, der »Durchschnittsfranzose« oder bei bestimm-

ten Soziologen »die einfachen Schichten«) zum Ver-

schwinden gebracht wird, zu einer anderen Existenz fur

sich selbst und fur die anderen zu verhelfen. Das Paradox

des Marxismus ist, daB er in seine Klassentheorie den

Theorieeffekt nicht einbegriffen hat, den die marxistische

84

Klassentheorie produziert hat und der dazu beigetragen

hat, daB heute Klassen existieren.

In Bezug auf die soziale Welt ist die neo-kantianische

Theorie, die der Sprache und allgemeiner den Reprasen-

tationen" eine eigene symbolische Wirksamkeit der Rea-

litatskonstruktion zuschreibt, vollkommen begriindet.

DieC;ruppen _un~insbesonderedie _sozialen Klassen)sindimmerzueinem Teil Artefakte: Sie sind das Produkt

-d e r - I~ g ~ r d ~ i R e p r i se n t a tl 0 n ;d i e e s ef n e m b i o l o g ls c h e nInd~~{du~-;;_oder-eine~kIeinen Zahl biologischer Indivi-

duen - Generalsekretar oder Zentralkomitee, Papst und

Bischofe etc. - erlaubt, im Namen der ganzen Gruppe

zu sprechen, die Gruppe wie »einen Mann« sprechen

und marschieren zu lassen, glauben zu machen - und

zuallererst die Gruppe, die sie reprasentieren -, .daf die

Gruppe existiert. Als Mensch gewordene Gruppe ver-

korpert der Wortfuhrer eine fiktive Person, diese Art

mystischen Korper, den eine Gruppe bildet; er entreiistdie Mitglieder der Gruppe dadurch dem Zustand der

blof en Ansammlung isolierter Individuen, daB er ihnen

ermoglicht, durch ihn mit einer Stimme zu handeln und

zu sprechen. Im Gegenzug erhalt er das Recht, im N amen

der Gruppe zu handeln und zu sprechen, sich fur die

Gruppe, die er verkorpert (Frankreich, das Volk. ..) zu

halten, sich mit der Funktion zu identifizieren, der er

sich mit Leib und Seele hingibt, wodurch er einem konsti-

tuierten Korper einen biologischen Korper verleiht. Die

Logik der Politik ist die der Mazie oder, wenn man das

_vor~i~ht:-die-d~s--F~tisch}-;~~~;~-O:_---------------------------

Betrachten Sie Ihre Arbeit als eine radikale Infragestel-

lung der Politik?

* Das [ranzosische representation bedeutet gleichzeitig Vorstellung,Darstellung und Stellvertretung. Aile drei Bedeutungen sind hiergemeint, weshalb es uniibersetzt bleibt (Anm. d. Ubers.).

85

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Die Soziologieahnelt der Komodie.xliedieverborgenen

-MechanismenaerAutorlt~i:~enthuni:. Durch dieVerklei-

--(fung (Toinette als Arzt), die Parodie (das miBgluckte

Latein des Diafoirus) oder die Ubertreibung demaskiert

Moliere die verborgene Maschinerie, die es errnoglicht,

die symbolischen Wirkungen der Beeindruckung oder

der Einschiichterung zu erzeugen, die Kniffe und Tricks,die die Machtigen und Wichtigen aller Zeiten ausmachen

- der Hermelin, der Talar, die Doktorhiite, das Latein,

die schulischen Titel, all das, was Pascal als erster analy-

siert hat.

Was ist schliefslich ein Papst, ein Prasident oder ein

Generalsekretar anderes als jemand, der sich fur einen

Papst oder einen Generalsekretar oder genauer: fur die

Kirche, den Staat, die Partei oder die Nation halt? Das

einzige, was ihn von der Figur in der Kornodie oder vom

GroBenwahnsinnigen unterscheidet, ist, daB man ihn im

allgemeinen ernst nimmt und ihm damit das Recht aufdiese Art von »Iegitimem Schwindel«, wie Austin sagt,

zuerkennt. Glauben Sie mir, die Welt so betrachtet, d.h.

so wie .sie.is~~lsE·~I~illIlch-koIi11sd1.Ab~er·m~anhatTaoft

~gesagt,daB dasKoITlis~he~~ndda~'T;agische sich beriih-

reno Man wiirde wieder bei Pascal, aufgefiihrt durch

Moliere, anlangen.

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Die Konige sind nackt

Pierre Bourdieu im »Nouvel Obseruateur«, das ist eineOberraschung. Man sagt ja, daft Sie die Presse und die

Presseleute nicht besonders mogen.

Es wird so viel geredet. Tatsachlich analysiere ich die

Effekte, die die Einfiihrung auBerlicher, von den Journa-

listen durchgesetzter Kriterien im intellektuellen Bereich

hervorruft - wie etwa das, im Fernsehen »gut anzukom-

men«, oder zum Kreis derer zu zahlen, die dazugehoren,

In der Tat erscheint es mir unerlalilich, die Mechanismen

zu kennen, mittels derer die Intellektuellen manipuliert

und ihrer Befugnis entkleidet werden, die eigene Prod uk-tion zu beurteilen.

Ich konnte zeigen, wie und inwiefern die Verwischung

der Grenze zwischen den Intellektuellen und den Journa-

listen und die Konfusion, die daraus entsteht, fur beide

Seiten, die Intellektuellen, aber auch und nicht minder

die Journalisten, von Schaden ist. Ich glaube, alles was

dazu beitragen kann, die Autonomie der intellektuellen

Welt zu vergroliern, muf verteidigt werden. Aus einer

Reihe von Griinden, die ich in meinem Buch erlautere,

ist diese Autonomie durch politische und journalistische

Einfliisse bedroht, was in mehr als einem Fall zur Folgehat, daB den Intellektuellen keine andere Wahl bleibt,

als sich aus dem Spiel zuriickzuziehen. Das hat man im

Verlauf der Debatte um »das Schweigen der I ntellektuel-

len« gesehen. Unzweifelhaft war die Neigung der Leute,

sich an der Debatte zu beteiligen, umso starker, je mehr

siedie journalistische Weihe notig hatten und umso weni-

ger sie folglich fahig waren, sich an die Rolle zu halten,

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