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  • 8/10/2019 BRUHN WTC I en II

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    J. S. BachsWohltemperiertes Klavier

    Analyse und Gestaltung

    Siglind Bruhn

    E ITION ORZFachverlag frG eisteswissenschaften

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    Bruhn, Siglind.J. S. Bachs Wohltemperiertes Klavier. Analyse und GestaltungWaldkirch: Edition Gorz,12006, [email protected] http://edition-gorz.de

    ISBN 978-3-938095-05-8

    Siglind Bruhn 2013. Alle Rechte vorbehalten

    Das Werk einschlielich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschtzt.Jede Verwertung auerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzesist ohne Zustimmung des Verlages unzulssig und strafbar. Das gilt insbe-sondere fr Vervielfltigungen und bersetzungen. Die Autorin erklrtrechtskrftig, dass es sich bei allen im Text nicht anders ausgewiesenenGedanken um ihr geistiges Eigentum handelt und dass der vorliegendeText in derselben Sprache nicht anderswo verffentlicht ist. Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die DeutscheBibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbiblio-grafie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar ber http://dnb.ddb.de.

    Printed in Germany by rombach digitale manufaktur, Freiburg

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    Inhalt

    Vorbemerkung 9Einleitung 11 Fragen beim Studium eines Prludiums 21Fragen beim Studium einer Fuge 23Zusatzinformationen fr die Analyse und Gestaltung von Prludien 27Zusatzinformationen fr die Analyse und Gestaltung von Fugen 41Wort- und Abkrzungsverzeichnis 54 Beispiel-Antworten fr die Werke in Band I (BWV 846-869)

    I/1 Prludium in C-Dur 57Fuge in C-Dur 61

    I/2 Prludium in c-Moll 69Fuge in c-Moll 75

    I/3 Prludium in Cis-Dur 81Fuge in Cis-Dur 85

    I/4 Prludium in cis-Moll 95Fuge in cis-Moll 99

    I/5 Prludium in D-Dur 109Fuge in D-Dur 113

    I/6 Prludium in d-Moll 121Fuge in d-Moll 124

    I/7 Prludium in Es-Dur 131Fuge in Es-Dur 137

    I/8 Prludium in es-Moll 141Fuge in dis-Moll 146

    I/9 Prludium in E-Dur 153Fuge in E-Dur 157

    I/10 Prludium in e-Moll 163Fuge in e-Moll 168I/11 Prludium in F-Dur 173

    Fuge in F-Dur 176I/12 Prludium in f-Moll 181

    Fuge in f-Moll 186

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    6 Inhalt

    I/13 Prludium in Fis-Dur 193Fuge in Fis-Dur 197

    I/14 Prludium in fis-Moll 205Fuge in fis-Moll 208

    I/15 Prludium in G-Dur 215Fuge in G-Dur 218

    I/16 Prludium in g-Moll 225Fuge in g-Moll 228

    I/17 Prludium in As-Dur 235Fuge in As-Dur 238I/18 Prludium in gis-Moll 245

    Fuge in gis-Moll 248I/19 Prludium in A-Dur 255

    Fuge in A-Dur 259I/20 Prludium in a-Moll 269

    Fuge in a-Moll 272I/21 Prludium in B-Dur 281

    Fuge in B-Dur 284I/22 Prludium in b-Moll 289

    Fuge in b-Moll 293I/23 Prludium in H-Dur 301

    Fuge in H-Dur 304I/24 Prludium in h-Moll 311

    Fuge in h-Moll 315

    Beispiel-Antworten fr die Werke in Band II (BWV 870-893)II/1 Prludium in C-Dur 327

    Fuge in C-Dur 330II/2 Prludium in c-Moll 337

    Fuge in c-Moll 341II/3 Prludium in Cis-Dur 349

    Fuge in Cis-Dur 354II/4 Prludium in cis-Moll 359Fuge in cis-Moll 365

    II/5 Prludium in D-Dur 373Fuge in D-Dur 377

    II/6 Prludium in d-Moll 383Fuge in d-Moll 387

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    Inhalt 7

    II/7 Prludium in Es-Dur 395Fuge in Es-Dur 399

    II/8 Prludium in dis-Moll 405Fuge in dis-Moll 410

    II/9 Prludium in E-Dur 415Fuge in E-Dur 419

    II/10 Prludium in e-Moll 425Fuge in e-Moll 429

    II/11 Prludium in F-Dur 437Fuge in F-Dur 441II/12 Prludium in f-Moll 447

    Fuge in f-Moll 451II/13 Prludium in Fis-Dur 457

    Fuge in Fis-Dur 462II/14 Prludium in fis-Moll 469

    Fuge in fis-Moll 472II/15 Prludium in G-Dur 479

    Fuge in G-Dur 482II/16 Prludium in g-Moll 487

    Fuge in g-Moll 491II/17 Prludium in As-Dur 497

    Fuge in As-Dur 501II/18 Prludium in gis-Moll 509

    Fuge in gis-Moll 513II/19 Prludium in A-Dur 521

    Fuge in A-Dur 524II/20 Prludium in a-Moll 529

    Fuge in a-Moll 533II/21 Prludium in B-Dur 539

    Fuge in B-Dur 543II/22 Prludium in b-Moll 549

    Fuge in b-Moll 552II/23 Prludium in H-Dur 559Fuge in H-Dur 562

    II/24 Prludium in h-Moll 569Fuge in h-Moll 573

    Weiterfhrende Lektre 579

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    Titelblatt der Handschrift des ersten Bandes (1722)

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    Vorbemerkung

    Dieses Buch ist nicht dazu gedacht, von einem Buchdeckel zum anderendurchgelesen zu werden. Vielmehr hat es den Anspruch, einerseits Hinter-grundwissen zu den Werkgattungen zu vermitteln oder auffrischen zuhelfen, andererseits konkrete, grndliche und in sich stehende Erarbei-tungshilfen fr das den einzelnen Leser jeweils interessierende Werkpaar zur Verfgung zu stellen. Das Ziel ist es, interessierte Klavierspieler undLiebhaber bachscher Musik auf interaktive Weise beim Analysieren undInterpretieren desWohltemperierten Klaviers zu untersttzen und zu einemkreativen Verstndnis des thematischen Materials, der Struktur und der Gestaltungsmglichkeiten in bachschen Prludien und Fugen anzuleiten.

    Im Anschluss an eine kurze historische Einfhrung in das Clavier undseine wohltemperierte Stimmung finden sich drei Teile von ganz ver-schiedener Lnge und unterschiedlichem Schwerpunkt:

    I zwei Kompendien didaktischer Fragen zur Erarbeitungeines Prludiums bzw. einer Fuge,

    II Zusatzinformationen, die bei der Beantwortung derFragen behilflich sein knnen,

    III eine bersicht mglicher Antworten auf die Fragenim Hinblick auf jedes der 48 Werkpaare aus Prludiumund Fuge.

    Um den grtmglichen Gewinn aus diesem Buch zu erzielen, empfiehltes sich daher, zunchst die beiden Fragenkataloge durchzusehen, sichsodann die Zusatzinformationen zu denjenigen Fragen, deren Tragweitenicht sofort berschaubar scheint, anzueignen, und schlielich ein bestimm-tes Werkpaar auszuwhlen. Der Notentext sollte unbedingt eine Urtext-ausgabe sein, also ein Nachdruck des Manuskripts oder der Erstausgabeohne Zustze eines Herausgebers. Der wichtigste Schritt besteht nun darin,

    anhand des Notentextes die Fragen zu beantworten am besten mit einem Notizblock bei der Hand, denn die Menge der Beobachtungen, die sich beieiner sorgfltigen Bercksichtigung aller Punkte ergibt, ist oft sehr gro.Einige Erkenntnisse kann man natrlich gleich in den eigenen Notentexteintragen, doch braucht man fr jedes Werk zustzliche Bgen Papier fr schematische Zeichnungen.

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    10 Vorbemerkung

    Im Zweifelsfall schon whrend dieses Prozesses, sonst erst nach der Beantwortung aller Fragen schlgt man das entsprechende Kapitel imHauptteil dieses Buches auf und vergleicht die dort ausgefhrten Erklrun-gen mit den eigenen Lsungen. Im Interesse der Lesbarkeit wird auf den bibliografischen Nachweis der einzelnen Erluterungen im Text verzichtet;stattdessen finden interessierte Leser am Ende des Buches Hinweise auf weiterfhrende Literatur.

    Es ist entscheidend zu verstehen, dass es fr manche Fragen mehrere

    Antworten gibt, die den Auffhrungsgewohnheiten des frhen 18. Jahrhun-derts gleichermaen gerecht werden. Dieses Buch versucht, mglichst allewichtigen analytischen und interpretatorischen Ansatzmglichkeiten einzu- beziehen. Dies ist vor allem deshalb wichtig, weil es viele Flle gibt, indenen zwei auf einer frhen Entscheidungsebene gleichermaen vertretbareAuffassungen je ganz verschiedene Folgen nach sich ziehen. Allerdings hatauch ein umfangreiches Buch seine Grenzen, und es ist aus praktischenGrnden nicht immer sinnvoll, jede noch so kleine Alternative weiterzu-verfolgen. Doch werden Leser, deren Urteilsvermgen durch die Arbeit mitdiesem praktischen Fhrer gestrkt wurde, zustzliche Verzweigungengegebenenfalls ohne Schwierigkeiten selbstndig verfolgen knnen.

    Sollten Leser bei der Erarbeitung des dritten oder vierten Werkes fest-

    stellen, dass sie unabhngige Analytiker und Interpreten geworden sind, d.h.dass sie sich die Fragen zu eigen gemacht haben, die Zusatzinformationenberspringen knnen und die Antwortmodelle nur noch kurz zur Bestti-gung ihrer Lsungen und zur Vertiefung ihrer Begrndungen zu Rateziehen, so hat dieses Buch seinen Zweck erfllt.

    Ein Vorlufer dieses Buches ist 1993 in englischer Sprache erschienen

    ( J. S. Bachs Well-tempered Clavier: In-depth Analysis and Interpretation ,Hong Kong: Mainer International); diese Ausgabe ist jedoch lngst vergrif-fen. Das hier vorgelegte Buch stellt eine fr den deutschen Interessentenkreisvollstndig berarbeitete Neufassung dar.

    Sommer 2006, Siglind Bruhn

    Die Fortschritte in der Drucktechnik, die es heute erlauben, auch farbigeAbbildungen und Diagramme in ein Buch zu bernehmen, ohne es uner-schwinglich zu verteuern, gaben den Anlass fr diese auch textlich korrigierte Neuauflage.

    Herbst 2013 Siglind Bruhn

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    Einleitung

    Das Wohltemperirte Clavier nannte Johann Sebastian Bach seine 1722komponierte Sammlung von 24 Prludien und Fugen; 1744 griff er den-selben Titel fr sein zweites, analog aufgebautes Kompendium wieder auf.Beide Anthologien blieben ungedruckt, erfuhren aber durch Abschrifteneine solche Verbreitung, dass sie zum Inbegriff des ganzen Genres wurden.

    Der Ausdruck wohltemperiert vermittelte in Bachs Zeit ein Gefhlvon Freude und Triumph. Heute wirkt der Titel fr manche Musiker undZuhrer eher technisch, ein wenig phantasielos oder sogar pedantisch. Diestrifft umso mehr auf den langen Untertitel des Werkes zu: Prludia, und

    Fugen durch alle Tone und Semitonia,So wohl tertiam majorem oder Ut Re Mi anlangend,als auch tertiam minorem oder Re Mi Fa betreffend.

    Zum Nutzen und Gebrauch der Lehr-begierigenMusicalischen Jugend, als auch derer in

    diesem studio schon habil seyenden

    besonderem ZeitVertreibauffgesetzet und verfertigetvon Johann Sebastian Bach. p.t: HochFrstlich Anhalt-

    Cthenischen Capel-Meistern und

    Directore derer CammerMusiquen.

    Anno1722.

    Der Schlsselbegriff ist das Adjektiv wohltemperiert. Das lateinischeVerb temperare bedeutet richtig mischen oder ordnen. Bei der wohltem- perierten Stimmung eines Instrumentes erklingen die Intervalle gegenber ihrer natrlichen Gre leicht verndert; sie stellen quasi eine Mischung zuverschiedenen Tonarten gehrender Alternativen dar. Um zu verstehen,wozu dieser Eingriff in die natrlich erzeugten Obertne ntig war, muss mansich kurz in Erinnerung rufen, was ein natrliches Intervall ist.

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    12 Einleitung

    Die wohltemperierte Stimmung

    Natrliche Intervalle entstehen durch einfache Multiplikation einer Grundfrequenz. Dies kann auf zwei Arten geschehen:

    Auf einem Streichinstrument wird die Zahl der Schwingungen proSekunde dadurch verdoppelt, dass man einen Finger leicht auf denmittleren Punkt der gespannten Saite legt und dadurch jede Hlftefr sich schwingen lsst. Entsprechend wird die Grundfrequenzverdreifacht oder vervierfacht, wenn man ein Drittel bzw. ein Viertelder Saite in selbstndige Schwingung versetzt.

    Bei einem Blasinstrument ist der Vorgang grundstzlich vergleichbar:Whrend hier die Lnge des schwingenden Krpers der Luftsule unverndert bleibt, wird die Frequenz durch Verstrkung des Luft-drucks multipliziert.

    Die so entstehenden hheren Schwingungszahlen zeigen ein einfachesZahlenverhltnis nicht nur zur Grundfrequenz der leeren Saite, sondern auchuntereinander. Die Konsonanz der verwandten Tne ist umso grer, jeeinfacher das Zahlenverhltnis ist. So steht 1:2 fr das Intervall, dessenhherer Ton doppelt so schnell schwingt wie der Grundton: die Oktave.Verdreifacht man die Schwingung des Grundtones, so erreicht man dasnchstgrere natrliche Intervall, die Duodezime (das ist die Quint ber der Oktave). Die Proportion einer reinen Quint, des Intervalls zwischen der Oktave (1:2) und der Duodezime (1:3), ist also 2:3. Entsprechend steht 3:4fr die reine Quart (das Intervall zwischen Duodezime und Doppeloktave),4:5 fr die groe Terz und 5:6 fr die kleine Terz.

    Man kann dies leicht verstehen, wenn man die Vielfachen eines Tonesc bestimmt, der hier der Einfachheit halber mit einer Frequenz von 64 Hertzangenommen werden soll. Durch Multiplikation ergeben sich dann diefolgenden verwandten Tne (auch Obertne genannt):

    1 = c 2 = c 3 = g 4 = c 5 = e 6 = g 8 = c 9 = d 10 = e 12 = g 15 = h ... 1:2 2:3 3:4 4:5 5:6 1:4 8:9 6:10 8:15

    64 128 192 256 320 384 512 576 640 768 960 N.B.: Die Intervalle innerhalb einer Oktave haben folgende Obertonpro- portionen: kleine Sekunde = 15:16, groe Sekunde = 8:9, kleine Terz = 5:6,groe Terz = 4:5, Quart = 3:4, Quint = 2:3, kleine Sext = 5:8, groe Sext = 3:5,kleine Sept =5:9, groe Sept =8:15. Die natrlichen Frequenzen der Stufender C-Dur-Tonleiter berc = 64 sind somit:c = 64, d = 72 (9:8),e = 80 (5:4),

    f = 85,3 (4:3),g = 96 (3:2),a = 106,7 (5:3),h = 120 (15:8).

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    Einleitung 13

    1Wer sich fr die Stimmung der Tasteninstrumente auf der Basis reiner Quinten interessiertund durch ein bisschen Mathematik nicht abschrecken lsst, mag die folgende Tabellentzlich finden. Sie zeigt die wieder aus dem Grundtonc = 64 Hz abgeleiteten natrlichenIntervalle. In der obersten Zeile steht die auf der Obertonreihe fuende C-Dur-Tonleiter, dievertikalen Spalten unter jedem Ton zeigen einen Auszug aus der aus diesem Ton abgeleitetenQuintenschichtung. (Im Interesse der Vergleichbarkeit wurden alle hheren Quinten durchwiederholtes Halbieren bis zur Ausgangsoktave zurcktransponiert.)

    c = 64 d = 72 e = 80 f = 85,3 g = 96 a = 106,66 h = 120g = 96 a = 108 h = 120 c = 128 d = 72 e = 80 fis = 90d = 72 e = 81 fis = 90 g = 96 a = 108 h = 120a = 108 h = 121,5 cis = 67,5 d = 72 e = 81 fis = 90e = 81 fis = 91,1 gis = 101,2 a = 108 h = 121,5h = 121,5 ... e = 81... ... h = 121,5his = 129,74 his = 128,14

    Die Probleme einer solchen natrlichen Stimmung zeigen sich beim Vergleich; siehe z. B.c als Oktave ber c = 128,00 h als Leitton zuc sowiehis als 8.Quint ber e = 128,14 als Quint bera, e = 120,00his als 12. Quint berc = 129,74 h als Quint berc, d, g, f = 121,50

    Alle Tonleitern und Modi der klassischen Musik sowie der Volksmusik leiten sich von diesen natrlichen Intervallen ab. Schwierigkeiten entstehendabei allerdings insofern, als jeder Ton vielseitige Beziehungen zu anderenunterhlt: So isth nicht nur die siebte Stufe der C-Dur-Tonleiter, sondernauch die Doppeldominante (die Quinte der Quinte) bera , die Quinte unter

    fis etc. Jahrhundertelang wurde der Stimmung vieler Instrumente die ber-einanderschichtung der Quinte zugrunde gelegt; sie ist das einfachste Inter-vall (nach der Oktave, die ja den Grundton nicht wirklich verlsst). Die

    Saiten moderner Streichinstrumente klingen nach wie vor im Quintabstand,und auch die Saiten von Tasteninstrumenten wurden anfangs so gestimmt.Doch ist eine Stimmung nach der Methode der Quintenschichtung nicht

    problemlos: Sie setzt voraus, dass fis = ges ist (oder auch nurh = h), was jenach Grundtonart nicht ganz zutrifft. Whrend Streicher ihr Gehr darauf trainieren, solche Unterschiede auf dem Griffbrett auszugleichen, und selbstviele Blser einen gewissen Intonationsspielraum kennen, mussten dieStimmer von Tasteninstrumenten sich jeweils auf eine Frequenz und damiteinen Tonstammbaum festlegen. Eine so gestimmte Saite klang dannkonsonant im Verhltnis zu einer relativ kleinen Anzahl von Grundtnen, inanderen tonalen Zusammenhngen jedoch leicht verstimmt.1 Die Not-wendigkeit, schon beim Stimmen des Instruments eine Entscheidung zugun-

    sten einer Tonartenfamilie zu treffen, ist wohl der wichtigste Grund, warumdie meisten vor 1720 komponierten Werke fr Tasteninstrumente in engverwandten, meist um C-Dur und G-Dur gruppierten Tonarten standen.

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    14 Einleitung

    Ein Ausweg aus diesem Dilemma fand sich erst im spten 17. Jahrhun-dert, als der Organist und Orgelbauer Andreas Werckmeister begann, die bisdahin bei der Stimmung von Tasteninstrumenten als Grundintervall nie inFrage gestellte reine Quint zu opfern zugunsten einer Teilung der Oktave inzwlf genau gleiche Halbtne. Dieser Kompromiss brachte es mit sich, dassman alle Intervalle auer der Oktave temperieren, d. h. knstlich vern-dern musste. Doch hatte die neue Methode den groen Vorteil, dass sie stetsgleiche, fr den normalen Hrer vollkommen konsonant klingende Inter-

    valle in allen, auch den von C-Dur weit entfernten Tonarten erzielte.Erst die wohltemperierte Stimmung eines Tasteninstrumentes machtees also mglich, Stcke in Es-Dur und G-Dur nacheinander zu spielen, ohnemitten im Konzert das ganze Instrument umstimmen zu mssen. Diesegeniale Erweiterung des Tonartenspektrums inspirierte Bach zur Kompo-sition seines (spter mit einem zweiten Band ergnzten) Werkes durch alleTone und Semitonia.

    Das Clavier Eine hufig aufgeworfene Frage ist die der Instrumentenwahl. WennBach vonClavier sprach, so meinte er zunchst nichts anderes als Tasten-instrument. (Die Franzosen benutzen das Wortclavier noch heute fr jedeArt Tastatur einschlielich der des Computers; dasselbe gilt fr das eng-lische Wort keyboard , auf dem der eine Texte schreibt, die andere aber musiziert.) Die enge Verwandtschaft des von Bach verwendeten Wortes mitdem modernen deutschen WortKlavier ist hier also am wenigsten relevant.Tatschlich konnteClavier alles bezeichnen, was Tasten hatte: von der Orgel ber das Portativ, das Spinett, das Cembalo und das Clavichord bishin zum Fortepiano, das erst spter zum modernen Klavier und Flgelweiterentwickelt werden sollte.

    Die unspezifische Instrumentenbestimmung verweist auf einen ganzwesentlichen Aspekt des Werkes: Es handelt sich hier in erster Linie umabsolute Musik. Das bedeutet, dass das Interesse des Komponisten auf dieVermittlung der durch Material und Form bestimmten knstlerischen Ideedes jeweiligen Stckes gerichtet war, nicht aber auf die technischen Detailsder Auffhrung. Mit anderen Worten, man nahm das (meist einzige) Instru-ment, das an einem bestimmten Ort gerade zur Verfgung stand. Sofern eineAlternative bestand, whlten die mit der Auffhrung Betrauten das Instru-ment, das ihnen am besten geeignet schien, den Charakter und Geist desausgesuchten Werkes zum Ausdruck zu bringen.

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    Einleitung 15

    Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass Mozart, ohne Zweifelgeleitet durch seine auergewhnliche musikalische Intuition, verschiedeneFugen des Wohltemperierten Klaviers fr Streichquartett arrangiert hat.Andere Komponisten sind seinem Beispiel gefolgt. Weit davon entfernt, denWert eines Werkes absoluter Musik zu schmlern, erffnet jede derartigeTranskription neue Verstndnishorizonte.

    Doch gewinnt die Frage nach der Wahl des Instrumentes in den letztenJahrzehnten erneut an Bedeutung. Historische Tasteninstrumente aus der

    ersten Hlfte des 18. Jahrhunderts sind heute wieder leichter zugnglich sei es als restaurierte Originale oder als liebevoll nachgebaute Kopien.Jedoch ist das Trio von Clavichord, Spinett und Cembalo vielen Musikern,die Bachs Werke lieben, ohne sich ihnen ausschlielich widmen zu wollen,nicht ausreichend vertraut, als dass sie eine Auffhrung bestreiten knnten,in der sie fr jedes Stck das dem Charakter adquate historische Instrumentwhlen. Vielmehr lassen sich in dieser Frage bei heutigen Musikern vier verschiedene Grundanstze beobachten:

    1. Eine erste Gruppe pldiert dafr, dass, unabhngig von einer Unter-scheidung zwischen absoluten und instrumentenspezifischen Werken,alle Musik ausschlielich auf Instrumenten aufgefhrt werden sollte,die dem Komponisten zu seiner Zeit schon zur Verfgung standen

    und auf denen er sie vermutlich selbst gespielt oder gehrt hat. DieseHaltung verdient Respekt, solange sie nicht zwei wichtige berle-gungen auer Acht lsst: Da ist zunchst die Unterscheidung zwischen technischem Mittel

    und technischer Fhigkeit. Barocke Instrumente wie Clavichord,Spinett und Cembalo mssen ebenso sorgfltig erlernt werdenwie das moderne Klavier und knnen daher von Pianisten ohne besondere Zusatzausbildung nicht einfach fr bestimmte Stckegewhlt werden.

    Manche Pianisten unserer Zeit sind bereit, zustzliche Jahre zuinvestieren, um neben dem Konzertflgel auch das Cembalo zumeistern. Das Problem ist allerdings, dass Bach selbst, wannimmer er die Wahl zwischen den zu seinen Lebzeiten verfgbarenInstrumenten hatte, offenbar meist das leisere aber nuancenrei-chere Clavichord vorzog. Johann Nikolaus Forkel (1749-1818),einer der frhesten Bach-Biografen, erwhnt, dass Bach wenigglcklich war, wenn er seine polyphonen Werke auf dem Cembalospielen musste. So ist also das zustzliche Erlernen nur dieseseinen historischen Tasteninstrumentes auch nicht ausreichend.

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    16 Einleitung

    Fr die Mehrzahl der Werke aus demWohltemperierten Klavier bedeutet die Entscheidung fr originale Instrumente also nicht nur einen bedeutenden Aufwand an zustzlichem Training auf zumindestCembalo und Clavichord, sondern darber hinaus auch die Bereit-schaft, ausschlielich in kleinen Kammermusikrumen zu spielen, indenen der nur wenige Meter weit tragende Ton eine Clavichords inseiner vollen Schnheit gehrt werden kann. Unter diesen idealenBedingungen allerdings kann die Auffhrung von Stcken aus dem

    Wohltemperierten Klavier zu einem wirklichen Erlebnis werden.2. Eine zweite Gruppe von Interpreten, die besonders im spten 20.Jahrhundert zahlreich war, scheint einen Kompromiss zu whlen: IhreVertreter spielen auf einem modernen Konzertflgel, behandeln ihn jedoch so, dass sein Klang dem eines Cembalos mglichst nahekommt. Abgesehen von der bereits erwhnten Tatsache, dass dasCembalo fr viele dieser Stcke gerade nicht das vom Komponisten bevorzugte Instrument darstellte, bringt eine solche Haltung zudemdie Gefahr mit sich, dass Zuhrer daran gehindert werden, Aussageund Struktur der Musik wahrzunehmen, da ihre Aufmerksamkeit oftganz und gar gefangen ist von der ungewhnlichen Art,wie der Pianist sein Instrument behandelt. Das aber drfte weder dem Werk

    noch dem Anspruch seines Schpfers genge tun.3. Eine dritte Gruppe von Interpreten unterscheidet zwischen instrumen-tenspezifischer und absoluter Musik. Whrend ihre Vertreter beiClavier -Werken von Couperin und Rameau zgern wrden, einer Klavierwiedergabe zuzustimmen, glauben sie wie Mozart, dass Bachsmusikalische Sprache nicht auf einen bestimmten Klangkrper zuge-schnitten ist wie es ja auch die Alternativbesetzungen in bachschenKonzerten sowie das Fehlen jeglicher Instrumentierungsangabe in der Kunst der Fuge nahelegen. Pianisten mit dieser Haltung gestaltendaher ihr Klavierspiel ausschlielich nach Magabe der in einemWerk enthaltenen musikalischen Aussage. In Fragen der Auffhrungs- praxis orientieren sie sich daran, wie die Spieler anderer (nicht-Tasten-)Instrumente der Bach-Zeit eine Melodielinie artikuliert oder eine dynamische Entwicklung gestaltet htten, und bertragen diesenStil mit mglichst reicher Nuancierung auf das moderne Instrument.

    4. Eine vierte Gruppe schlielich, begeistert vom Klangvermgen desmodernen Flgels, greift auch fr Interpretationen bachscher Werkeauf das ganze Arsenal der im Kontext der romantischen Empfindungentwickelten dynamischen und agogischen Ausdrucksweisen zurck.

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    Einleitung 17

    Zur Begrndung wird dabei hufig angefhrt, dass nur auf dieseWeise die emotionalen Bedrfnisse des heutigen Publikums befriedigtwerden knnten. Sicher gibt es Hrer, die eine Musik, die ohne dievertrauten romantischen Attribute auskommt, weniger schtzen. Dochsteht insbesondere die monodische, an der fhrenden Rolle der Oberstimme orientierte Prgung des romantischen Interpretationsstilseinem Verstndnis polyphoner Formen wie der bachschen Fugen,Inventionen und vieler in Anlehnung an diese konzipierter Prludien

    eher im Weg.Wie aus dem Vorhergehenden erkenntlich, wendet sich dieses Buch inerster Linie an Vertreter der dritten und der ersten Gruppe, d. h. an Musik-liebhaber und Interpreten, die BachsWohltemperiertes Klavier vornehmlichals ein Werk absoluter Musik verstehen, sowie an Freunde historischer Instrumente, die nicht nur das Cembalo kennen.

    Die Prludien in Bachs Wohltemperiertem Klavier

    Bachs Prludien gehren zu den Werken, deren Genrebezeichnunghinsichtlich Inhalt und Form unbestimmt ist. Whrend Titel wie Fuge oder Invention eine bestimmte polyphone Form und/oder Textur erwarten lassenund Satzbezeichnungen wie Allemande, Sarabande, Gigue, Bourre etc.sowohl ein bekanntes Metrum als auch einen tnzerischen Grundcharakter andeuten, verrt das Wort Prludium nichts auer der etymologischenImplikation, dass es einem anderen, meist gewichtigeren, als Vorspiel dient.(Auch dieser Aspekt sollte spter verlorengehen, wie die Prludien-Zyklenvon Chopin, Skrjabin und anderen zeigen.)

    Whrend der Komponist eines Prludiums also Form, Satz und themati-sches Material frei whlen konnte, war ihm der Rahmen fr die Auffhrungvorgegeben. Es scheint daher relevant, sich kurz in Erinnerung zu rufen, anwelchem Ort und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen Instrumen-talmusik gehrt wurde. Solo- oder Kammermusikwerke wurden zur ZeitBachs nicht in fr diesen Zweck bereit gestellten Slen dargeboten, wo-mglich vor einem Publikum, von dem ein Minimum an Respekt vor der Musik einerseits, dem Knstler andererseits erwartet werden konnte. Viel-mehr war es der Musiker, der sich ins Haus eines Gnners begab, wo ihmfr kurze Zeit die Ehre zuteil wurde, angehrt zu werden.

    Man muss sich die Umstnde vermutlich etwa so vorstellen: Wenn der Musiker in so einem Salon ankam, musste er zunchst Sorge tragen, dass er mit den Eigenheiten des vorhandenen Instrumentes vertraut wrde, dass

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    18 Einleitung

    seine Hnde geschmeidig genug wurden fr den Vortrag und dass die an-wesenden Gastgeber und Gste (die in vielen Fllen nicht unbedingt darauf brannten, neueste Musik anzuhren) ihre Unterhaltungen unterbrachen undihm fr kurze Zeit ihre Aufmerksamkeit widmeten. Um dies zu erreichen,war es geschickt, einige brillant oder meditativ arpeggierte Akkordketten zuspielen, vielleicht sogar ber ein kleines, leicht zu erfassendes Motiv zuimprovisieren und auf diese Weise sowohl sich selbst als auch das Publikumauf die eigentliche, gewichtigere Komposition vorzubereiten.

    Dies zu erzielen war jahrzehntelang die Aufgabe und der Zweck einesPrludiums. Mit der Zeit jedoch nderte sich die Erwartungshaltung, so dassdie Gattung allmhlich ber ihre ursprngliche Funktion hinauswuchs. Nachdem man das Vorspiel lange als einen eher amorphen musikalischenOrganismus betrachtet hatte, der improvisiert wurde und meist keiner Niederschrift bedurfte, wurde das Prludium im frhen 18. Jahrhundertimmer mehr zu einem integralen Bestandteil eines Werkpaares, besonders inKombinationen wie Prludium und Fuge oder Prludium und Toccata.Die Prludien in BachsWohltemperiertem Klavier haben alle bereits diesenStatus, doch erkennt man in ihnen noch die verschiedenen Grade der Los-lsung von der Tradition.

    Neben dem sozialgeschichtlichen Hintergrund der ganzen Gattung gilt

    es, besonders hinsichtlich der im ersten Band enthaltenen Prludien, nocheinen anderen Aspekt zu bercksichtigen. In etlichen Fllen entpuppt sichdas in die Sammlung aufgenommene Prludium als eine Neufassung oder Weiterentwicklung eines der Stcke, die Bach Jahre zuvor fr den Clavier-Unterricht seines Sohnes Wilhelm Friedemann komponiert hatte. Viele Pr-ludien dieser Kategorie haben hnliche Merkmale: Mit ihren gebrochenenAkkorden in gleichmigen Notenwerten eignen sie sich gut fr die Ent-wicklung erster instrumentaltechnischer Fertigkeiten. Als Bach beschloss,einige dieser Stcke in seinWohltemperiertes Klavier aufzunehmen, erwei-terte er deren Umfang oft entscheidend, doch lsst sich die ursprnglicheForm immer unschwer erkennen. (Beispiele sind die Prludien in C-Dur,c-Moll, D-Dur und e-Moll aus Band I.)

    Neben Kompositionen, diead hoc -Improvisationen nachempfunden sind,und solchen, die auf pdagogischen bungsstcken basieren, enthlt dasWohltemperierte Klavier noch eine dritte Gruppe von Prludien. Dies sindanspruchsvolle Werke, die den Fugen, denen sie als Vorspiel dienen, imHinblick auf kompositionstechnische Differenziertheit und knstlerischenWert durchaus ebenbrtig sind.

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    Einleitung 19

    2 Das Wort fuga ist bereits im 14. Jahrhundert anzutreffen, galt damals jedoch als eineBezeichnung fr jeden zeitlich verschobenen Verlauf gleichgestalteter Melodielinien, also inerster Linie fr den Kanon. Generell zielte der Ausdruck ursprnglich eher auf den Vorgangdes Imitierens als auf dessen Ergebnis im Sinne einer imitatorisch gesetzten Komposition.

    Die Fugen in Bachs Wohltemperiertem Klavier

    Als etymologische Quelle fr den Begriff Fuge gilt das lateinischeWort fuga , das Flucht bedeutet und damit nach allgemeinem Konsens denimitatorischen Prozess volkstmlich umdeutet, in dem die zuerst einsetzendeStimme vor den ihr folgenden in gleichbleibendem Abstand davonzulaufenscheint. (Schon die ltere italienische Satzbezeichnungcaccia = Jagd bezeichnet eine mittelalterliche Form der Polyphonie und verwendet damiteinen dem Terminus fuga = Flucht verwandten Begriff fr ein ganz hnli-ches Bild.)2 Auch die deutschen Worte Fuge und fgen, die beschreiben,wie Bausteine in sauber zusammenpassender, exakt miteinander abschlie-ender Form zu einem stabilen Ganzen zusammengesetzt werden, passen indiesen Kontext, auch wenn sie nicht Pate gestanden haben sollten.

    In der Musik ist eine Fuge eine streng kontrapunktische Kompositionfr eine bestimmte Anzahl von Stimmen. Die Gattung geht auf zweiVorlufer zurck: das Ricercar eine im 16. bis 18. Jahrhundert beliebtekontrapunktische Instrumentalkomposition in streng imitatorischem Stil und die mittelalterliche Motette eine Vokalkomposition ber eine vorgege- bene Melodie mit dazugehrigem Text, der verschiedene weitere Stimmen(mit unterschiedlichen Texten, zuweilen sogar in verschiedenen Sprachen)

    nach den Regeln des Kontrapunktes gegenbergestellt wurden. Diese hochdifferenzierten polyphonen Gattungen waren Produkte der Renaissance,Ausdruck der philosophischen und religisen Grundhaltung ihrer Zeit.

    Zu Beginn der Epoche, die heute meist pauschal als Barockzeitalter bezeichnet wird, wurden unter dem Einfluss der Gegenreformation die allzuanspruchsvollen polyphonen Formen zunehmend durch musikalische Gat-tungen ersetzt, die der Sinnenfreude entgegenkamen. So entstanden dieMonodie (die begleitete Solostimme), die barocke Oper, die Kantate und inder Instrumentalmusik das Concerto grosso, um nur die typischen Vertreter zu nennen. Doch hatte die Gegenreformation bekanntlich in Nordeuropakeinen Erfolg; dort blieben die Frsten und ihre Untertanen evangelisch.Infolgedessen hatten die Komponisten im mittleren und nrdlichen Deutsch-land weniger Veranlassung als ihre franzsischen und italienischen Zeitge-nossen, ihre komplexen Werke radikal zugunsten dessen, was damals alsAusdruck der geflligeren Muse galt, aufzugeben.

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    20 Einleitung

    Den religisen berzeugungen eines zutiefst frommen, pietistisch orien-tierten Mannes wie Bach entsprachen zudem gerade jene Kunstgattungen, indenen jedem Detail ein ihm genau entsprechender Platz zukommt, auch undoft gerade dann, wenn das daraus resultierende Ganze nur aus der gttlichenPerspektive vollkommen erfasst werden kann. Viele polyphone Werkewurden komponiertad majorem Dei gloriam , zur greren Ehre Gottes, undkeineswegs in erster Linie fr die irdischen Zuhrer. Diese waren vielmehr sekundre Teilhaber einer Erfahrung, die ihnen, sofern sie sich um ein

    adquates Verstndnis bemhten, Erleuchtung, Belehrung und Erquickungzu bieten versprach in dieser Reihenfolge.Dies ist die knstlerische Haltung, der die Welt die Meisterwerke der

    Gattung Fuge verdankt.

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    Fragen zum Studium eines Prludiums

    Die folgenden zwei Fragenkataloge mchten die Leser dieses Buches zur eigenen Erschlieung des jeweils gewhlten bachschen Werkes anregen.Alle ein Prludium betreffenden Fragen beginnen mit der Grundziffer 1, diezur Fuge mit einer 2. Die innerhalb jedes Kataloges durchnummeriertenPunkte entsprechen denen im Kapitel Zusatzinformationen. Da die Fragenihren vollen Nutzen erst in der engagierten Auseinandersetzung mit einem

    bestimmten Werk entfalten, empfiehlt es sich, sie in der praktischen Anwen-dung auf einen konkreten Notentext zu erproben.

    1.1 Lsst sich das Prludium in eine der folgenden Kategorien einordnen? harmonisch bestimmt rhythmisch bestimmt metrisch bestimmt motivisch bestimmt den Strukturen von Invention oder Fuge nachempfunden

    1.2 Wie stellt sich die Gesamtstruktur des Prludiums dar?

    Wo endet die erste harmonische Phrase oder Entwicklung? Hat Bach diese Kadenz als strukturelle Zsur angelegt, oder

    setzt sich der Fluss des Stckes ununterbrochen fort? Wo findet sich die nchste harmonische Schlusswendung?

    Bezeichnet diese vielleicht das Ende eines Abschnittes? Wie viele harmonisch geschlossene Abschnitte enthlt das Stck? Finden sich strukturelle Entsprechungen?

    Wird irgendein Abschnitt wiederholt, notengetreu oder variiert?Wird irgendein Abschnitt transponiert?Gibt es einen Abschnitt, der zwar nicht oberflchlich, aberdoch in struktureller Hinsicht an einen frheren erinnert?

    1.3 Praktische Erwgungen fr die Auffhrung: Was ist der Grundcharakter dieses Prludiums und welche

    Kombination von Tempo und Artikulation entspricht diesemGrundcharakter am besten?

    Falls der Notentext Verzierungen enthlt, wie mssen dieseausgefhrt werden?

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    22 Fragen zum Studium eines Prludiums

    1.4 (Hier muss nur die Fragengruppe beantwortet werden, die der jeweilszutreffenden Prludiumkategorie entspricht; vgl. Frage 1.1 oben) Welche Vorgnge lassen sich in diesem harmonisch bestimmten

    Prludium beobachten?Welche dynamische Entwicklung entspricht der harmonischen?Gibt es sekundre Merkmale, die zu bercksichtigen sind?Wie ist deren Beziehung zur Harmoniefolge?

    Welche Vorgnge lassen sich in diesem rhythmisch bestimmten

    Prludium beobachten?Welches sind die bestimmenden rhythmischen Muster?Sind einige davon untereinander verwandt?In welchen melodischen Verpuppungen zeigen sich die rhyth-mischen Motive?Welche Mittel motivischer Verarbeitung setzt Bach beim Spielmit diesen Mustern ein?Lassen sich in der einzelnen Stimme oder im Ganzen dynamischeSteigerungen oder Entspannungen ausmachen?

    Welche Vorgnge lassen sich in diesem metrisch bestimmten

    Prludium beobachten?Welcher Notenwert fungiert als vorherrschender Puls?Gibt es sekundre Merkmale, die zu bercksichtigen sind?Lassen sich dynamische Steigerungen oder Entspannungenausmachen?Wenn ja, wodurch werden sie erzeugt?

    Welche Vorgnge lassen sich in diesem motivisch bestimmtenPrludium beobachten?Welches sind die relevanten Motive?Welches ist ihr Grundcharakter und ihre dynamische Gestalt?Wie werden sie verarbeitet?

    Was drckt sich in der Art ihrer Entwicklung aus?Was ist die dynamische Gesamtgestalt des Prludiums?

    Welche Vorgnge lassen sich in diesem nach dem Vorbild vonInvention oder Fuge komponierten Prludium beobachten?Was ist das thematische Material dieser Komposition?Wie stellt sich die Gesamtstruktur dar?

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    Fragen zum Studium einer Fuge

    Aufgrund der Tatsache, dass die Genrebezeichnung Prludium hin-sichtlich Inhalt und Form unbestimmt ist, gehen die Fragen, die sich beimVerstehen und Erarbeiten eines Prludiums nahe legen, vom Allgemeinenzum Besonderen und vom Ganzen zu seinen Teilen vor.

    In Fugen, in denen die Textur klar vorgegeben ist und das thematischeMaterial als Zelle dient, aus der der ganze Krper erwchst, ist ein umge-kehrtes Vorgehen sinnvoll. Hier beginnt der Weg mit einer sehr genauenBeobachtung des Themas, fhrt als nchstes zu dessen Kontrasubjekten,sodann zu den themafreien Passagen und endet mit der Gesamtstruktur. 2.1 Wie stellt sich das Thema dieser Fuge dar?

    Wie lang ist es? Beginnt es auftaktig oder volltaktig?Wo genau endet es?

    Besteht das Fugenthema aus einer unteilbaren Phrase oder enthlt es mehrere Teilphrasen?

    Wie lsst sich die melodische Kontur beschreiben? Besteht sievor allem aus kleinen Intervallen oder vielmehr aus zahlreichenSprngen? Gibt es ungewhnliche Intervalle, die die Spannungverstrken?

    Wie stellt sich der Rhythmus innerhalb des Themas dar? Findetman viele verschiedene Notenwerte? Gibt es punktierte Noten,bergebundene Werte, Synkopen? Zeigt die ganze Fuge dieselbenrhythmischen Merkmale, oder beschrnken sie sich aufs Thema?

    Was ist der harmonische Verlauf des Themas? Auf welche Note fllt, in Anbetracht des harmonischen Verlaufs,

    der melodischen Kontur und der rhythmischen Merkmale, der Hhepunkt des Themas? Wie verluft die Spannungskurve?

    2.2 Welche Bedeutung kommt dem Thema in dieser Fuge zu? Wie viele Themeneinstze enthlt die Komposition? In welcher Stimme treten sie auf und welche Takte umfasst jeder Einsatz?

    Bleibt das Thema im Verlauf der Fuge grundlegend unverndertoder erfhrt es Vernderungen in Detail, Kontur oder Lnge?

    Erklingt das Thema jemals in Engfhrung oder Parallele?

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    24 Fragen zum Studium einer Fuge

    2.3 Wie viele Kontrasubjekte fhrt Bach in dieser Fuge ein? Wie lang ist jedes Kontrasubjekt?

    Wie stellt sich jeweils die Phrasenstruktur dar? Auf welche Note fllt, in Anbetracht der melodischen Kontur

    und der rhythmischen Merkmale, der Hhepunkt jedes Kontra-subjektes? Wie verluft die dynamische Entwicklung?

    Wie sieht das Notenbeispiel aus, das eine typische Gegenber-berstellung von Thema und Kontrasubjekt(en) zeigt mit den

    unterschiedlichen Phrasenstrukturen und Spannungsverlufen? 2.4 Was passiert in den Zwischenspielen dieser Fuge?

    Wie viele themenfreie Passagen gibt es? Wo genau? Welches Material wird hier benutzt? Gibt es Zwischenspiele,

    deren Material aus dem Fugenthema abgeleitet ist? Hat Bachfr diese Fuge besonders kennzeichnende Zwischenspielmotiveentworfen? Wie lassen sich diese beschreiben? Was ist ihrCharakter und ihr Spannungsverlauf? Gibt es Zwischenspiele,die kaum mehr sind als Kadenzen?

    In welcher Beziehung stehen die Zwischenspiele zueinander?Ist irgendeines die variierte, transponierte oder erweiterte

    Wiederaufnahme eines frheren? Welche Rolle spielt das jeweilige Zwischenspiel im Gesamt-verlauf der Komposition?

    2.5 Welche Aspekte der Auffhrungspraxis mssen in dieser Fuge

    bercksichtigt werden? Welcher Grundcharakter drckt sich im Material dieser Fuge

    aus? Sollte man die Komposition, in Anbetracht der in Thema,Kontrasubjekt(en) und eventuellen Zwischenspielmotiven

    beobachteten Merkmale, als eher ruhig oder als eher lebhafteinstufen?

    Welches Tempo und welche Artikulationsnuancen entsprechen

    dem Material dieser Fuge am besten? Was wre eine berzeugende Tempoproportion zwischenPrludium und Fuge?

    Falls die Komposition Verzierungen enthlt, wie sind dieseauszufhren? Sollte eine von ihnen auf im Notentext nichtornamentierte, aber entsprechende Noten bertragen werden?

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    Fragen zum Studium einer Fuge 25

    2.6 Wie stellt sich die Fuge in ihrer Gesamtstruktur dar? Gibt es Anhaltspunkte, die den Bauplan verraten?

    Legt die Folge der Themeneinstze eine Gruppierung nahe?Erklingt einer der Themeneinstze in reduzierter Stimmdichte?Gibt es Zwischenspiele, die einen Abschnitt zu beschlieenscheinen?Enthlt die Fuge eventuell lngere analoge Passagen?

    Welchen harmonischen Gesamtverlauf beschreibt die Fuge?

    In welcher Tonartenfolge erklingen die Themeneinstze?Welche Themeneinstze gehren harmonisch zusammen?Enthlt die Fuge auffllige Kadenzen in Gestalt konventionellerSchlussformeln?

    Wie muss eine Skizze aussehen, die alle Themeneinstze, alleEinstze der Kontrasubjekte, alle Zwischenspiele, alle lngerenPausen einer Stimme sowie alle Kadenzen aufzeigt?(In den Modellantworten werden fr die Bezeichnung der Materialbestandteile folgende Abkrzungen benutzt:

    Th fr das Fugenthema,KS fr die Kontrasubjekte (KS1, KS2 etc.)Z fr die Zwischenspiele (Z 1, Z 2 etc.)

    sowie Orgelpunkt und Kadenz. Im beschreibenden Text kommt zudem M als Abkrzung fr

    mehrfach auftretende, charakteristische Zwischenspielmotivevor: M1, M2 etc. Vom Thema oder einem der Kontrasubjekteabgeleitete Motive werden entsprechend als M-th bzw. M-ks1abgekrzt.)

    2.7 Wie stellt sich der dynamische Verlauf der Komposition dar?

    Welche Spannungsentwicklung lsst sich in jedem der iden-tifizierten Abschnitte feststellen?

    Wie verhalten sich die Abschnitte zueinander in Bezug aufihre Intensitt?

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    Zusatzinformationenfr die Analyse und Gestaltung von

    PRLUDIEN

    1.1 PrludientypenDie Bestimmung der Kategorie, in die ein Prludium fllt, beginnt mit

    allgemeinen Beobachtungen. Diese sollten mglichst vollstndig die dreiDimensionen abdecken, die jede Musik kennzeichnen: die horizontale (dasAuf und Ab der Konturen), die vertikale (die Besonderheiten des Zusam-menklingens von Einzeltnen oder Stimmen) und die zeitliche (die Frage der ganz unterschiedlichen, regelmigen oder unregelmigen Abstnde zwi-schen den Tonanfngen). Jede Dimension verdient genau beschrieben zuwerden:

    Auf horizontaler Ebene unterscheidet man melodische Figuren,Motive und Phrasen einerseits, strukturelle Abschnitte andererseits.Daran orientiert sich die Formanalyse.

    Auf vertikaler Ebene unterscheidet man verschiedene Arten, wie

    gleichzeitig erklingende Stimmen sich zueinander verhalten; diesfhrt zur Bestimmung der Textur (des Gewebes). Die wichtigstensind Imitation und Kontrapunkt einerseits (polyphone Texturen),Choralsatz und Monodie andererseits (homophone Texturen).

    Auf zeitlicher Ebene ist die potentielle Vielfalt der Notenwerte inTakten von (zu Bachs Zeit) stets gleicher Lnge bersichtlich unter-gebracht. Dabei unterliegen die Taktschlge einer Rangordnung, sodass eine gewisse Vorentscheidung fr das Gewicht einer Notegetroffen ist, die allerdings durch rhythmische Eigenheiten auer Kraft gesetzt werden kann. Bestimmend auf dieser Ebene ist alsosowohl die allgemeine metrische Organisation als auch der imeinzelnen Augenblick vorherrschende Rhythmus.

    Obwohl jedes Musikstck natrlich alle diese Komponenten aufweist,stehen in einzelnen Kompositionen meist bestimmte Merkmale im Vorder-grund, whrend andere allenfalls eine untergeordnete Rolle spielen. Eineerste Entscheidung lautet daher: Gehrt das Prludium einer bekanntenGattung an ist es eine Invention, ein bestimmter barocker Tanz etc. oder ist es einer spontanen Improvisation nachempfunden?

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    Tanzformen zeichnen sich durch metrische und rhythmische Merkmaleaus, ein Kanon verlangt Imitation auf demselben Ton, eine Sonatensatzformwird durch die Abfolge des Materials und der Tonarten erkenntlich etc. Der Eindruck von Improvisation entsteht, wenn eine musikalische Dimension die melodische, harmonische oder rhythmische im Vordergrund steht unddas ganze Stck vor allem durch deren spielerische Verarbeitung gestaltetist. In einem Prludium einem Stck, dessen Titel nichts ber Inhalt, Formoder Ausdrucksgehalt verrt ist eine mglichst genaue Bestimmung der

    Kategorie von entscheidender Bedeutung.Wo Melodie und Rhythmus wenig auffallend erscheinen, ist meist dieHarmonie der bestimmende Faktor. Der Rhythmus kann neutral wirken,wenn alle Noten dieselbe Dauer haben oder mehrere Stimmen so zusammenklingen, dass der Eindruck gleichmiger Anschlge entsteht. (Man sprichtdann von einemkomplementren Rhythmus). hnliches gilt fr die Melodie. Natrlich enthlt jedes Musikstck Abfolgen verschiedener Tonhhen, doch bilden diese nicht immer wirkliche Melodien. Eine Akkordbrechung, ob voneiner Stimme allein oder durch das Zusammenspiel komplementrer Stim-men gebildet, ist selten melodisch. (Sie kann sich als Teil einer melodischenKontur erweisen, wenn sie, wie es in Themen der Wiener Klassik hufig der Fall ist, bald in eine eher lyrische Weiterfhrung mndet. Wird die Akkord-

    brechung jedoch durch viele Takte fortgefhrt, so darf man von einer Abwesenheit melodischer Eigenschaften sprechen.)Wenn melodische Aspekte im Vordergrund stehen, handelt es sich meist

    um ein motivisch bestimmtes Prludium. Als Motiv bezeichnet man einekleine melodische Einheit, die individuell genug ist, um bei ihrer Wieder-kehr sofort erkannt zu werden. (Immer dann, wenn eine melodische Einheitnicht singbar ist, d. h. wenn entweder ihr Rhythmus so schnell ist oder dieTonfolge so stark ausschlgt, dass man zwar die Einheit wiedererkennt, nichtaber jedes Detail emotional verfolgen kann, ist der neutrale AusdruckFigur vorzuziehen.) Von motivischer Verarbeitung spricht man, wenn eine solchemelodische Einheit unter verschiedenen Umstnden aufgegriffen wird unddabei mglicherweise einige ihrer Eigenschaften den vernderten Bedin-gungen anpasst. Eine Komposition wird als motivisch bestimmt bezeichnet,wenn ihr Material vorherrschend aus einigen wenigen Motiven besteht undsich ein entscheidender Anteil des Stckes von diesen Motiven ableitet.

    Als nchstes gilt es zu unterscheiden zwischen dem allgemeinen Merk-mal der motivischen Verarbeitung und spezifischen Strukturmodellen. Zudiesen gehren Invention und Fuge, zwei konventionell in vielen Aspektenfestgeschriebene Formen, die vom Komponisten meist eindeutig durch die

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    Zusatzinformationen 29

    entsprechende berschrift identifiziert werden. Jedoch kann in Ausnahme-fllen auch ein Prludium diesen Konventionen gehorchen.

    Ist ein Prludium in streng kontrapunktischer Satztechnik, d. h. in einer Textur von zwei oder mehr melodisch und rhythmisch selbstndigen Stim-men entworfen und das Material durch die imitatorische Verarbeitung eineszentralen musikalischen Gedankens bestimmt, so handelt es sich wahrschein-lich um eine undeklarierte Invention oder Fuge. Zwischen diesen beidenModellen zu unterscheiden ist nicht allzu schwer. Zwar kann das Thema in

    beiden Formen von einem polyphonen Gegenspieler begleitet werden und,whrend es vorbergehend pausiert, durch andere Motive ersetzt werden.Doch gibt es einige deutliche Unterschiede.

    Um welche der beiden Formen es sich handelt, erkennt man zuerst anStimme und Tonart der Folgeeinstze: Wenn die thematische Komponentealle Stimmen nacheinander durchluft und diese Einstze abwechselnd auf der Tonika und der Dominante erfolgen, handelt es sich um eine Fuge. DieseBeobachtung wird meist durch Kontrasubjekte besttigt, die ebenfalls durchalle Stimmen wandern. (Ein Prludium im Stil einer Fuge unterscheidetsich von einer echten Fuge allerdings hufig in den Anfangstakten: Anstatteinstimmig unbegleitet wie in einer Fuge stellt ein Prludium sein Themamanchmal mit Begleitung durch einige die Harmonie andeutende Tne oder

    Akkorde vor, bevor es zur strengen Polyphonie bergeht.) Wenn dagegendie Stimmfolge der Themeneinstze beliebig scheint und die Imitation der thematischen Komponente vorherrschend auf demselben Ton bleibt, sospricht man von einer Invention. Dies gilt besonders, wenn die thematischeKomponente nicht nur imitiert, sondern auch sequenziert wird. (Sequenz=Wiederholung durch dieselbe Stimme auf einer anderen Tonstufe)

    Es gibt Prludien, die von kleinen Motiven oder Figuren durchzogensind, deren Intervallstruktur sich so hufig ndert, dass nur der Rhythmusals unvernderlich wahrgenommen wird. Hier werden Zuhrer ermutigt,ihre Aufmerksamkeit auf ein meist kleines Repertoire rhythmischer Modellezu lenken. Im Gegensatz dazu erzeugen Prludien, die vor allem durch ihremetrischen Eigenschaften bestimmt scheinen, hufig eine meditative Atmo-sphre. In ihnen geht es also nicht um ein Spiel mit Strukturen oder thema-tischem Material; vielmehr dominiert der Eindruck eines gleichmigenPulsierens. Eine solche Musik vermittelt Zuhrern den Eindruck innerer Ruhe und einer das rationelle Denken in den Hintergrund drngendenHaltung. Bei Bach geht ein meditatives Prludium oft einem besonderskomplexen Hauptwerk voraus, fr das eine besondere emotionale Einstim-mung hilfreich ist.

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    1.2 Der Bauplan eines Prludiums

    Musikwerke sind in ihrem horizontalen Verlauf normalerweise aus ver-schiedenen Abschnitten zusammengesetzt, die harmonisch jeweils mit einer Kadenz oder Schlussklausel enden. Einfache Formen knnen in nur zweiAbschnitte gegliedert sein, die einander noch dazu in vieler Hinsicht ent-sprechen: Man spricht dann vonbinren Strukturen; sie finden sich beson-ders in Tanz- und Liedformen. In anderen Formen kehrt ein erster Abschnitt

    (A) nach einem kontrastierenden Abschnitt (B) gleich oder leicht verndertwieder; diese nennt manternre, ABA- oder Da-Capo -Formen. Prludienknnen darber hinaus auch als Phrasenketten komponiert sein. Die Lngeder Phrasen ist charakteristischerweise unregelmiger als bei Tanz- undLiedformen, in denen geradzahlige Taktmuster vorherrschen.

    Bei der Suche nach der ersten strukturell relevanten Kadenz geht esdarum, eine Harmoniefolge von Dominante Tonika (oder VI) zu identi-fizieren. Meist geht dieser Harmoniefolge eine subdominantische Funktion(eine Harmonie der IV. oder II. Stufe) voraus. Die Dominante wird gern mitErweiterungen in ihrer zur Auflsung drngenden Tendenz verstrkt. Be-liebt sind zustzliche Terzschichtungen, die dem Dreiklang die Septime oder None aufsetzen. Die Tonika dagegen ist wenig vernderlich: Sie erklingt zuBachs Zeiten praktisch nie unter Beimischung dreiklangsfremder Tne.Wenn allerdings der erste harmonische Schluss mit dem Ende der erstenmelodischen Einheit zusammenfllt, und wenn diese melodische Einheitzudem in den folgenden Takten eine Antwort erfhrt, so muss nach der nchst greren Einheit gesucht werden, denn in melodisch bestimmtenKompositionen unterscheidet man zwischen Phrasen und Formabschnitten:Ein Abschnitt (eine strukturelle Einheit) besteht dabei stets aus mehrerenPhrasen (melodischen Einheiten). Wenn dagegen Melodielinien entweder fehlen oder nebenschlich erscheinen, so beschliet die erste Kadenz denersten Abschnitt. (Es gibt jedoch eine Ausnahme: Wenn Oberstimme oder Bass an der erffnenden harmonischen Entwicklung unbeteiligt sind, weilein Orgelpunkt ihre melodische Aktivitt hinauszgert, so schliet der ersteAbschnitt ebenfalls erst mit der nchsten Kadenz.)

    Die zweite harmonische Entwicklung eines Werkes wendet sich in der Regel von der Grundtonart ab und moduliert in eine andere Tonart, die nunihrerseits mit einer Kadenz besttigt wird. Die modulierende Entwicklungist fast immer lnger als die ursprngliche Harmoniefolge. Die Anzahl der in einem Prludium mglichen Strukturabschnitte ist theoretisch unbegrenzt,doch findet man selten mehr als sechs.

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    1.3 Praktische Erwgungen fr die Auffhrung

    Der Grundcharakter einer Komposition aus Bachs Zeit wird stets durchdas musikalische Material selbst angezeigt. Die Bestimmung mag anfangsschwierig scheinen, da Bach und seine Zeitgenossen Angaben zu Dynamik,Anschlagsart, Artikulation oder Tempo nur in Ausnahmefllen in den No-tentext schreiben. ImWohltemperierten Klavier sind Keile oder Bgen, wiesie z. B. im Thema der d-Moll-Fuge aus Band I erscheinen, uerst selten;

    auch finden sich nur drei Tempoangaben: Die h-Moll-Fuge aus Band I unddas g-Moll-Prludium aus Band II sind mit dem Wort Largo berschrieben,das h-Moll-Prludium aus Band II ist als Allegro gekennzeichnet.

    In Anbetracht des weitgehenden Fehlens klrender Begriffe und Zeichenmuss davon ausgegangen werden, dass Musiker der Bach-Zeit darin gebtwaren, den Grundcharakter aus den rhythmischen und melodischen Eigen-heiten einer Komposition abzuleiten. Als heutige Interpreten mssen wir daher fragen: Welche Art Rhythmus und welche Intervallstruktur warentypisch fr ein Stck, dessen Charakter man in die Kategorie eher ruhigeinordnen wrde, und welche Merkmale fnden sich in einem Werk voneher lebhaftem Grundcharakter?

    Die erste Unterscheidung ist relativ einfach. Das Vorkommen mehrfa-cher, vor allem gereihter Intervallsprnge gilt als Anzeichen von Lebhaftig-keit, schrittweise Bewegung dagegen als Ausdruck von Ruhe und, wenn eszustzlich ein einzelnes emotionales Intervall gibt (ein kleine Sexte oder Septime, eine verminderte oder bermige Quarte), von Intensitt. Fr denRhythmus gilt, dass ein komplexes Muster mit vielen verschiedenen Noten-werten Zeit braucht, ein einfacher Rhythmus dagegen zur Virtuositt einldtund in langsamem Tempo vielleicht sogar langweilig wirken wrde.

    Die Faustregel fr die Bestimmung des Grundcharakters lautet daher: Schrittweise Melodiebildung und komplexer Rhythmus zeigen einen

    eher ruhigen Grundcharakter an, hufige Sprnge bei schlichtem Rhythmus dagegen weisen auf einen

    eher lebhaften Grundcharakter hin.Hat man erst einmal den Grundcharakter bestimmt, so gilt es allerdings,

    dieses relativ allgemeine Konzept in auffhrungspraktische Entscheidungenzu bersetzen. Folgende Hinweise knnen helfen, aufgrund des jeweiligenGrundcharakters Entscheidungen fr Tempo und Artikulation zu treffen:

    Legt das Material einen eher ruhigen Charakter nahe, so ist dasTempo mig bewegt bis sehr langsam und die Standardartikulationlegato . Ausnahmen gelten fr Reihungen grerer Intervalle sowie

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    3 Nur im Falle von Verlngerungen durch Punktierung oder Haltebogen sind genauere ber-legungen ntig. Hier richtet sich die Artikulation der Anschluss zur darauffolgenden Note nach dem Wert der Verlngerung und nicht nach dem der Gesamtnote. Gehrt der Wert der Punktierung oder berbindung selbst zu den im gegebenen Stck lngeren Noten, so schlietdie Folgenote innon legato an; entspricht die Verlngerung den krzeren Notenwerten desWerkes, so giltquasi legato . Beispiel: In einem Stck, dessen Grundmuster ausnon-legato-Vierteln undquasi-legato -Achteln besteht, wird eine berbindung um eine Viertel abgesetzt;nach einer Verlngerung um einen Achtelwert dagegen geht esquasi legato weiter.

    fr kadenzierende Bassgnge (die in vielen Schlussformeln anzutref-fende Fortschreitung der tiefsten Stimme von einem Akkordgrundtonzum nchsten).

    Legt das Material dagegen den Grundcharakter eher lebhaft nahe,so bewegt sich das Tempo zwischen mig und sehr schnell. Diedazugehrige Standardartikulation besteht aus sehr durchsichtigemlegato (auch quasi legato genannt) fr die krzeren undnon legatofr die lngeren Notenwerte.3 Auch hier gibt es einige Ausnahmen.

    Die wichtigste betrifft die Paarbildung eines Vorhaltes mit seiner melodischen Auflsung, die immer durch gebundenes Spiel ausge-drckt wird. Dasselbe gilt fr die sogenanntedoti-do -Floskel diehufig synkopiert beginnende Abfolge Grundton-Leitton-Grundton,die ebenfalls stetslegato gespielt wird.

    Bei Verzierungen in Prludien gilt es zu unterscheiden, ob es sich umeine auf thematischer Imitation basierende Komposition handelt oder nicht.Verzierungen in polyphonen Werken Bachs und seiner in vergleichbaremStil schreibenden Zeitgenossen sind meist wesentlicher Bestandteil einer thematischen Komponente. Eine berzeugende Ausfhrung verlangt einenmelodisch und charakterlich integrierten Beginn, eine zum Tempo passendeBewegung und einen angemessenen Abschluss.

    Die gebruchlichste Verzierung in Bachs Fugen ist der lange Triller, der durch unterschiedliche Symbole angezeigt werden kann: die Abkrzung tr oder (seltener) t , das Praller-Zeichen oder eines der Krzel fr zusammen-gesetzte Ornamente. Man unterscheidet in der Musik des 18. Jahrhundertszwischen melodischen und nicht-melodischen Trillern. Melodische Triller dienen unter anderem dazu, den verzierten Ton durch wiederholte Vorhalt- bildung interessant klingen zu lassen; daher gilt als regelmig ein Beginnvon der oberen Nebennote; wo dies im melodischen Kontext zu uner-wnschten Sprngen oder Tonwiederholungen fhrt, wird die erste Noteverlngert, so dass zumindest alle spteren Schlge vorhalt-artig klingen.Fr die Ausfhrung von melodischen Trillern gilt insgesamt:

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    4 Bachs Sohn Carl Philipp Emanuel vertritt in seinemVersuch ber die wahre Art dasClavier zu spielen von 1753 die Auffassung, das Verhltnis von Vorhalt zu Auflsung in punktierten Noten solle zugunsten des harmonisch wichtigeren Vorhalts in 2 : 1 umgekehrtwerden. Dieser Vorschlag darf jedoch nicht anachronistisch auf die Musik des Vatersangewandt werden, zu dessen Zeit die Proportion 1 : 2 Vorrang hatte.

    Der Regel nach beginnt ein Triller von der oberen Nebennote. Dochgibt es einesehr hufige Ausnahme: Wenn der verzierte Ton Teil der melodischen Linie ist und stufenweise von der oberen oder unteren Nebennote aus erreicht wird, beginnt der Triller mit der Hauptnote.

    Die Schnelligkeit der Trillerbewegung richtet sich nach dem Grund-tempo des Stckes: Trillernoten sind doppelt so kurz wie die krze-sten ausgeschriebenen nicht-ornamentalen Werte.

    Whrend Triller, die mit der oberen Nebennote beginnen, eine ganz

    regelmige Bewegung haben, trifft dies fr alle, die von der Haupt-note ausgehen und daher eine ungerade Anzahl von Tnen haben,nicht zu. Diese verdoppeln die Dauer der ersten Note, so dass auchhier spter jeweils die obere Nebennote auf betonte Taktteile fllt.

    Alle Triller, denen ein Auflsungston auf starkem Taktteil folgt,enden mit einem Nachschlag aus unterer Nebennote und Hauptnote.Ein Nachschlag istnicht angebracht, wenn die Folgenote auf einemschwachen Taktteil (zu frh oder zu spt) eintritt oder ganz fehlt:Bei allen Trillernoten, die zum ersten Notenwert eines neuen Taktesbergebunden sind, bei allen punktierten Noten und immer dann,wenn der Triller mit einer Pause abbricht, endet die Bewegung auf der letzten Hauptnote vor Ende eines ganzen Schlages.

    Die Aufgabe von nicht-melodischen Trillern ist nicht die Vorhaltbildungsondern vielmehr die Intensittserhaltung eines lngeren Tones, der sonstverebben wrde. Hier ist also die Hauptnote selbst das Entscheidende, unddiese sollte daher auf alle regelmigen Werte der Gegenstimme treffen. Zudieser Kategorie gehren auch Triller, die (wie im g-Moll-Prludium ausBand I) auf die erste Note einer Phrase fallen.

    Neben Trillern kommt die klein gestochene Einzelnote hufig vor. Gehrtdiese nicht derselben Harmonie wie die Hauptnote an, so handelt es sich umeinen Vorhalt; dieser hat meist Sekundabstand. Fr die Lnge des Vorhaltesgibt es Regeln und harmonische Voraussetzungen. Regulr beansprucht einVorhalt die Hlfte eines einfachen bzw. ein Drittel eines punktierten Noten-wertes.4 Allerdings kann die harmonische Bewegung der anderen Stimmeneine frhere Auflsung erzwingen, da diese stets noch in die zunchstmelodisch vorenthaltene Harmonie fallen muss.

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    Dass Verzierungen integraler Bestandteil der thematischen Komponentesind, trifft besonders fr Thema und Kontrasubjekt einer Fuge zu. Unabhn-gig davon, ob der Komponist das Symbol in jedem Einsatz neu schreibt,sollten Interpreten nach Magabe ihrer technischen Fhigkeiten versuchen,die Verzierung durchgngig beizubehalten vorausgesetzt natrlich, diethematische Komponente erklingt nicht in einer modifizierten Form, in der sich die Verzierung aus stilistischen Grnde verbietet.

    Ganz anders sind die Voraussetzungen fr Verzierungen in ariosen Wer-

    ken, wo sie zu Bachs Zeiten oft spontan ausgefhrt und hinzugefgt wurden.Diese Praxis hat ihren Ursprung in Stcken, deren Melodielinien Teil einesberschaubaren Satzes waren, so dass selbst dann wenig Gefahr fr Unver-trglichkeiten bestand, wenn mehrere Musiker beteiligt waren. Meistenslegte in jedem gegebenen Moment hchstens eine der Stimmen berhauptdas Verzieren nahe. Besonders in Kompositionen fr Tasteninstrumente, indenen nicht nur die Verteilung auf mehrere Ausfhrende wegfllt, sondernder Interpret sogar oft mit dem Komponisten identisch oder zumindestdessen Schler war, wurde die Ornamentik hufig nur angedeutet. Infolge-dessen enthalten die verschiedenen Abschriften, die Bachs Schler vonseinen Clavier -Stcken machten, eine groe Variationsbreite bzgl. der Platzierung und Dichte der Verzierungen in ein und demselben Werk eine

    Tatsache, die einerseits zeigt, dass in vielen Fllen mehr als nur eine Lsungfr angemessen galt, und andererseits, dass Bach bei seinen Anregungenmglicherweise auf die unterschiedliche (emotionale und technische)Veranlagung jedes Schlers Rcksicht nahm.

    Vermutlich ist dies der Grund, warum der Komponist, der von Inter- preten imitativer Werke erwartete, dass sie Verzierungen auch dann getreubernahmen, wenn dies einige Fingerakrobatik erforderte, in Werken dessanfteren arioso-Charakters umso grozgiger war. Hier vermeidet er oft dieschwieriger zu spielenden Mittelstimmen-Ornamente und ersetzt sie statt-dessen durch eine beliebige Verzierung in einer Auenstimme. HeutigeInterpreten, deren Fingertechnik an ganz anderen Aufgaben gebt ist, habenin solchen Fllen die Wahl, ob sie den ausgeschriebenen Kompromissenoder einer polyphon logischeren Lsung Folge leisten wollen.

    1.4a Harmonisch bestimmte Prludien Auf der Suche nach Interpretationsanstzen bei harmonisch bestimmtenWerken gilt es zunchst, die jeder Harmonie innewohnende Spannung zuverstehen sowie das Anwachsen und Abschwellen der Spannung zwischen

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    aufeinander folgenden Akkorden und in lngeren Progressionen zu erspren.Schon mit einer einfachen Regel kommt man recht weit: Die Spannung steigtmit jedem aktiven Schritt, d. h. mit zunehmender Entfernung von der glti-gen Tonika; mit jedem passiven Schritt, d. h. mit zunehmender Wiederann-herung an die Tonika, nimmt die Spannung ab. In einer einfachen Akkord-folge mit Ganzschluss (DT bzw. VI) gipfelt die Spannungskurve in der Subdominante oder ihrem Stellvertreter (in Dur: IV oder ii). Dem folgen dieDominante mit ihrem inhrenten Streben nach Auflsung und schlielich die

    Tonika als Endpunkt der Entspannung. Diese natrliche dynamische Ent-wicklung (Lautstrken- oder Intensittskurve) kann verstrkt werden durchdie Erweiterung einer Harmonie; ein Subdominant-Septakkord (IV7) wirktaktiver als eine einfache Subdominantharmonie, ein Dominant-Septakkorddrngt noch strker nach Auflsung und erscheint damit spannungsrmer. Inallen erweiterten Kadenzen steht der Grad des Spannungsanstiegs in direk-tem Verhltnis zur Khnheit des harmonischen Schrittes.

    Allerdings weisen harmonisch bestimmte Kompositionen oft sekundreMerkmale auf, die die oben genannten Regeln auer Kraft setzen, allenvoran Sequenz und Orgelpunkt. Eine Sequenz ist, wie schon erwhnt, dieWiederholung eines Modells einer melodischen Einheit oder einer Harmo-niefolge auf einer anderen Tonstufe. Dabei wird die dynamische Gestalt

    stets im Modell entschieden und in der Sequenz ohne Rcksicht auf vern-derte harmonische Umstnde imitiert. Ein Orgelpunkt meist ein Basstonauf der Dominante oder Tonika, der entweder lange ausgehalten oder ingleichmigen Abstnden neu angeschlagen wird, whrend die brigenStimmen verschiedene Harmonien durchlaufen ist nicht nur ein reales,sondern zugleich ein psychologisches Phnomen. Whrend ein auf einer barocken Kirchenorgel ausgehaltener Tonobjektiv dieselbe Lautstrke bei- behlt, drngt er sich aufgrund seiner Insistenzsubjektiv je lnger desto tiefer ins Bewusstsein der Hrer. Ein auf einem verklingenden Instrument wieder-holt angeschlagener Orgelpunktton sollte dieser Tatsache Rechnung tragenund, zusammen mit der darber liegenden Harmoniefolge, allmhlich aber stetig an Intensitt zunehmen.

    Zuletzt gibt es noch ein Drittes, das sich ber die harmonische Ordnunghinwegsetzen kann: Melodische Aussagen sind emotional strker als har-monische. In einem sonst harmonisch bestimmten Werk berschreibt jedesechte melodische Ereignis momentan die Vorherrschaft der Akkordfolgen.Wenn eine melodische Einheit, sei sie auch noch so klein, gengend Cha-rakter hat, so kann ihr Bedeutung zukommen, die sich ganz unabhngigvon den im Hintergrund fortgesetzten harmonischen Prozessen entfaltet.

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    1.4b Rhythmisch bestimmte Prludien

    Wann immer eine Notenwert-Folge charakteristisch genug ist, um leichtwiedererkannt zu werden, und zudem wiederholt aufgegriffen wird, kannman sie als rhythmische Einheit bezeichnen. Wenn sie zudem in Verbin-dung mit verschiedenen Konturen auftritt, muss man davon ausgehen, dasssie als rhythmische Figur fr das Werk bestimmend ist. Wenn auer der rhythmischen jedoch auch die melodische Gestalt beibehalten wird, handeltes sich um ein Motiv und es trifft das unter Punkt 1.4d Ausgefhrte zu.

    Die Folge der Notenwerte, die zusammen eine rhythmische Figur bil-den, ist durch zwei Faktoren charakterisiert: ihre Lnge und ihre metrischePosition. So kann eine rhythmische Figur stets mit Taktbeginn einsetzenoder stets von einem schwachen Taktteil zu einem starken fhren, etc. Zweirhythmische Figuren, die bezglich Lnge und metrischer Position identischsind, sich jedoch in den Details (der Verteilung der Notenwerte) unterschei-den, gelten als verwandt. Im Verlauf eines Stckes kann eine rhythmischeFigur verarbeitet werden durch Variation, Verkrzung, Erweiterung, Ver-grerung (Augmentation) oder Verkleinerung (Diminution). Im Zusam-menspiel zweier Stimmen kommen Eng- und Parallelfhrungen vor.

    Das An- und Abschwellen der Intensitt in einem rhythmisch bestimm-

    ten Stck wird selten vom Rhythmus allein entschieden; vielmehr ergebensich die dynamischen Entwicklungen meist aus den (hier eigentlich sekun-dren) melodischen, harmonischen und satztechnischen Gegebenheiten wiesteigenden und fallenden Sequenzen, zu- oder abnehmender Stimmdichtesowie aus spannungssteigernden oder -lsenden harmonischen Schritten.

    1.4c Metrisch bestimmte Prludien

    Abgesehen vom schnellsten in einem Stck vorkommenden Notenwertkann jeder Wert die Funktion des Pulsschlages erfllen. Oft zeigt der Kom- ponist den hinter der rhythmischen Oberflche durchscheinenden Puls durchzustzliche Notenhlse an. Wenn in einer Folge von Sechzehntelgruppen die jeweils erste Note einen zweiten (Viertel-)Notenhals aufweist, der eine ver-steckte Stimme andeutet, so entsteht durch die diesen Noten zukommendeEmphase der Eindruck eines regelmigen Viertelpulses. Setzt sich diesber viele Takte hinweg fort, so muss man fragen, ob dieses Merkmal nichtvielleicht das berhaupt entscheidende der Komposition ist.

    In ihren Sekundrmerkmalen gleichen sich metrisch und rhythmisch bestimmte Stcke weitgehend. In beiden gibt es melodische Linien oder

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    Figuren, die kein konstantes thematisches Material bilden, sowie harmonischeEntwicklungen und satztechnische Eigenheiten. Diese sekundren Eigen-schaften bestimmen auch in metrischen Stcken die dynamische Entwick-lung. Allerdings sind spannungsvolle Hhepunkte eher selten und werdenallmhlicher vorbereitet, da der Charakter solcher Stcke hufig meditativist. Insbesondere in Texturen wie der oben beschriebenen, mit einem Viertel- puls hinter einer Oberflchengestaltung aus Sechzehnteln, empfiehlt sich oftein sanftes Flieen ohne groe nderungen in der Klangintensitt.

    1.4d Motivisch bestimmte Prludien

    Motive zu identifizieren ist meist relativ einfach. Dabei sollte allerdingsdie Ausdehnung der Tongruppe sorgfltig notiert werden, um Fehler bei der Phrasierung zu vermeiden. Motivanfnge kehren oft leicht verndert wieder;ebenso kann die Schlussnote Varianten zulassen. ber die Frage der tonge-treuen Wiederkehr hinaus gilt es also, die Logik der Einheit zu verstehen.

    Der Grundcharakter eines Motivs lsst sich nach den oben aufgezhlten,fr alle polyphonen Kompositionen geltenden Anhaltspunkten bestimmen:eher ruhig sind Kompositionen mit komplexen Rhythmen und Konturen auskleinen Schritten (die eventuell von einem der emotionalen Intervalle un-terbrochen sind), eher lebhaft sind Stcke mit einfachen Rhythmen undzahlreichen Sprngen oder Akkordbrechungen. Die Intensitt innerhalbeines Motivs erhht sich durch einen aktiven harmonischen Schritt, einenVorhalt, einen Leitton, ein emotionales Intervall, eine Synkope oder eineauffallende rhythmische Verlngerung.

    Zur Verarbeitung des Motivs bedient sich der Komponist vor allem der Sequenzierung (bei der das Motiv unmittelbar, in derselben Stimme aber auf einer anderen Tonstufe, wiederholt wird), der Imitation (bei der das Motivin einer anderen Stimme nachgeahmt wird) und der Umkehrung (bei der dasMotiv auf den Kopf gestellt erklingt). Alle drei Prozesse knnen zudemverkrzt, verlngert oder variiert werden.

    Imitationen, Variationen und Umkehrungen haben in sich keinen Ein-fluss auf den Gesamtverlauf der inneren Spannung. Steigende Sequenzen jedoch gehen fast immer mit einer Zunahme und fallende Sequenzen miteiner Abnahme der Intensitt einher, und eine Steigerung ergibt sich auch inden eher selten auftretenden und dadurch umso aufflligeren Parallelfhrun-gen eines Motivs sowie in Engfhrungen. (Engfhrungen sind teleskopartigzusammengeschobene Imitationen, bei denen der zweite Einsatz das Endedes ersten nicht abwartet, sondern mit ihm berlappt).

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    5 Frher bezeichnete man die ein Fugenthema regelmig begleitende thematische Einheitauch alsKontrapunkt , doch ist es ein wenig verwirrend, wenn das Wort, das die Satztechnik an sich bezeichnet, zugleich fr eine einzelne Komponente verwendet wird.

    Die dynamische Gesamtanlage eines motivisch bestimmten Prludiumsrichtet sich nach ganz hnlichen Kriterien wie die einer Fuge. Die Intensitteines Abschnitts ergibt sich in erster Linie aus der Dichte des thematischenMaterials. Diese Dichte kann horizontal oder vertikal erzielt werden (mehr hierzu unter Punkt 2.7). Andere Faktoren sind ein Wechsel des Tonge-schlechts Moll statt Dur oder umgekehrt sowie eine sich aus der Umkeh-rung ergebende Charakternderung einer thematischen Komponente.

    1.4e Prludien im Stil einer Invention oder Fuge

    Fr Prludien, die im Stil einer Fuge komponiert sind, gilt das spter indiesem Kapitel fr echte Fugen Ausgefhrte; sie werden hier daher nichtweiter errtert. Vieles davon trifft zudem auch auf Inventionen und damitgleichermaen auf Prludien im Stil einer Invention zu. Daher sollen hier vor allem die Unterschiede zwischen Fuge und Invention in der Termino-logie einerseits, der Struktur andererseits behandelt werden.

    Obwohl es Fugen gibt, die aus einer einfachen und kurzen thematischenGrundkomponente entwickelt sind, und Inventionen, deren Hauptidee ver-gleichsweise komplex wirkt, unterscheidet man bei der Bezeichnung der

    Hauptkomponente des thematischen Materials konventionell zwischen demThema (oder Subjekt ) einer Fuge und dem zentralen Motiv einer Invention.Schwieriger wird es bei den jeweiligen kontrapunktischen Begleitern: Wh-rendKontrasubjekt der gngige Begriff in Fugen ist5, hat sich ein sprachlichanaloger Begriff selbst im Falle von streng polyphon entworfenen Begleit-komponenten in Inventionen nicht etabliert. Allerdings sind solche Kontra-motive eher die Ausnahme; hufiger wird das zentrale Motiv von Tnenoder Akkorden begleitet, die wenig mehr als ein harmonisches Gerst lie-fern und bei jedem Einsatz unterschiedlich sein knnen.

    Auch gelten fr Inventionen nicht die Regeln, die die Einsatzfolge undGruppierung von Themeneinstzen in einer Fuge bestimmen. Dem zentralenMotiv knnen, nachdem es (mit oder ohne Begleitstimme) eingefhrt wor-

    den ist, Imitationen und Sequenzen in beliebiger Anzahl und Anordnungfolgen. Es kann dabei verkrzt werden oder neue Kombinationen seiner Bestandteile eingehen. Manchmal gibt es im Lauf des Stckes einem sekund-ren Motiv Raum. Dagegen ist die im Zuge des Verarbeitungsprozesses

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    erfolgende Modulation, die mit einer Kadenz besttigt wird, notwendigesStrukturmerkmal einer Invention. Die Modulation fhrt zur Dominante oder, bei manchen in Moll stehenden Inventionen, zur parallelen Durtonart.

    Der Folgeabschnitt der Invention beginnt in der so erreichten Tonart,hufig mit einer neuen Aufstellung der zu Beginn des Stckes gehrtenKomponenten in vertauschten Stimmen. Danach ist, wenn man Bachs eigenefnfzehn Inventionen als Mastab nimmt, nahezu jede Art der Fortsetzungdenkbar sofern sie am Ende zur Grundtonart zurckfhrt.

    1.5 Die Darstellung der dynamischen Entwicklung

    Fr die Einzeichnung der Spannungsablufe in den Notentext empfehlensich Gabeln im Zusammenhang mit den Abkrzungen fr die italienischenBegriffe, die das jeweils grundstzliche Energieniveau bezeichnen.

    Wchst die Intensitt inner-halb einer Phrase oder Teilphrasean, so wird das durch eine am lei-sesten Punkt spitz beginnende, amlautesten Punkt offene Gabel be-

    zeichnet; die sich verengende Ga- bel zeigt abnehmende Intensittan. Das Notenbeispiel zeigt einetypische Gegenberstellung unter-schiedlicher Spannungskurven:

    Bei ausgedehnten Verlufen, wie sie in Prludien hufig vorkommen, istes einfacher, das Energieniveau relativ zu seiner Umgebung zu bestimmen.Dafr werden die Grundlautstrken piano und forte zunchst nach beidenSeiten hin differenziert: ff und pp bezeichnen die zu Bachs Zeit extremenWerte, mezzoforte ( mf , mittel-laut) liegt etwa in der Mitte des Lautstrken-spektrums;meno piano ( mp , weniger leise) empfiehlt sich fr die Nuancezwischen p und mf , poco forte (ein wenig laut; meist poco f abgekrzt,

    hier aus Platzgrnden pf ) fr den Mittelwert zwischen mf und f . Einlngerescrescendo von piano bis forte liee sich demnach so darstellen: T. 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

    p p + mp mp mp + mf mf mf + pf pf pf + f

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    Zusatzinformationenfr die Analyse und Gestaltung von

    FUGEN 2.1 Das Thema (oder Subjekt)

    Als Thema einer Fuge bezeichnet man die melodische Phrase, die dasganze Stck beherrscht. Das Thema wird zuerst unbegleitet vorgestellt. ImVerlauf der Fuge kehrt es immer wieder, wobei es in der Regel von einer Stimme zur anderen wandert; man spricht von Themen- Einstzen .

    Vergleicht man die musikalische Sprache mit der gesprochenen, so gilt,dass die melodischen Details keinerlei Regeln unterworfen sind (wie ja auchdie in einem Satz vorkommenden Worte nicht vorgeschrieben werden), dass jedoch die harmonischen Funktionen, die diesen melodischen Schrittenunterliegen, einer gewissen Ordnung folgen, die sich mit der Syntax einesSatzes vergleichen lsst. Das Gegenstck zum Punkt am Ende eines voll-stndigen Satzes unserer Sprachen ist der Ganzschluss, auch authentischeKadenz genannt (Dominante Tonika oder V I).

    In metrischer Hinsicht ist der Beginn des Fugenthemas nicht festgelegt;er kann auf jeden beliebigen Taktschlag oder dessen Bruchteil fallen. Aller-dings lohnt es, sich die Position des metrischen Beginns genau anzusehen,da sie hufig den Charakter des Themas und damit den der ganzen Kompo-sition beeinflusst. Der Themenschluss dagegen fllt in der Mehrzahl der Flle auf einen der betonten Taktschlge; sehr hufig endet die thematischePhrase zu Beginn eines neuen Taktes.

    Zur Bestimmung des Themenschlusses ist es blich, den ersten Einsatzmit spteren zu vergleichen. Doch ist diese Methode nicht ganz zuverlssig:Einerseits kann das Endglied in spteren Einstzen variiert sein, ohne dassdie unterschiedlichen Versionen deswegen harmonisch verzichtbar wren;anderseits knnen dem Themenschluss auch Tne folgen, die, obwohl sie sichwiederholt in derselben Stellung wiederfinden, nicht eigentlich zum Themagehren.

    Genau wie eine gesprochene Aussage oft aus Hauptsatz und Nebensatz besteht, kommen auch innerhalb einer musikalischen Phrase Unterteilungenvor. Solche Teilphrasen lassen sich anhand von Sequenzen, pltzlichen

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    Brchen in der melodischen Kontur oder pltzlichen nderungen im rhyth-mischen Muster fast immer zweifelsfrei identifizieren. Ein zustzlichesHilfsmittel bei der Bestimmung der Phrasierung ist die Vorstellung, ob (undwenn, wo) ein Blser oder Snger atmen wrde.

    Besteht ein Fugenthema aus einer einzigen, unteilbaren Phrase, so sollteauch die dynamische Wiedergabe die Form einer einzigen Spannungskurve,eines ungebrochenen Bogens von An- und Abschwellen anstreben. Gibt esdagegen mehrere Teilphrasen, so kommt die beabsichtigte Aussage des

    Themas im Spiel erst dann richtig zur Geltung, wenn auch Interpreten dieIntensittskurve entsprechend gliedern. Allerdings sollten die verschiedenenTeilphrasen nie gleich bedeutsam wirken oder miteinander um den Vorrangrivalisieren; die Gewichtung innerhalb des Themas ist wesentlicher Bestand-teil der Interpretation. Grundstzlich hat jedes Thema einen zentralen Hhe- punkt. Dieser kann in einem ungebrochenen Anschwellen der Spannungerreicht werden oder in mehreren gestaffelten Anlufen; entsprechend kanndie dynamische Entspannung geradlinig oder gestuft verlaufen. In einigenFllen besteht ein Thema aus einer Hauptaussage und einem Nebenge-danken nach Art einer zustzlichen Beobachtung, die man beim Schreibenvielleicht in Klammern setzen wrde. Auch dieses Verhltnis sollte seineEntsprechung finden in der ganz unterschiedlichen Intensitt, mit der diese

    Teilphrasen gespielt werden.Die melodischen Eigenheiten einer polyphonen Komposition der Bach-Zeit fallen normalerweise in eine der beiden Kategorien, die oben bereitsanlsslich der Bestimmung des Grundcharakters von motivisch bestimmtenPrludien erwhnt wurden. Bei Vertretern der ersten Kategorie finden sichgereihte Intervallsprnge oder gebrochene Akkorde sowie krzere Noten-werte, von denen viele wie ausgeschriebene Praller, Mordente oder Doppel-schlge klingen. In Vertretern der zweiten Kategorie wird das Bild vonSekundschritte beherrscht, die in besonders innigen Stcken oftmals eineinziges greres Intervall von besonderer Spannung z.B. eine kleineSexte, kleine Septime, verminderte oder bermige Quarte umgeben. Einden lebhaften Grundcharakter anzeigender Rhythmus besteht vorwiegendaus einfachen Notenwerten, whrend sich der ruhig wirkende komplexeRhythmus durch eine grere Bandbreite unterschiedlicher Tondauernauszeichnet und gern punktierte, bergebundene oder synkopische Werteeinbezieht.

    Bei der Analyse der dem Fugenthema zugrunde liegenden harmonischenProgression kann man, je nach Vorkenntnis und Interesse, entweder nur diewenigen entscheidenden Merkmale oder aber den harmonischen Ort jedes

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    einzelnen Schrittes bestimmen. Die erste Option ist schnell erledigt, denn esgeht im Wesentlichen um zwei entscheidende Fragen: Wo genau geschiehtder aktive Schritt von der Tonika zur Subdominante oder ihrem mglichenStellvertreter? (Die Suche nach einem prominent platzierten Melodieton der vierten oder sechsten Stufe also in einem C-Dur-Stck nach einem f oder a , das auf einen schweren Schlag oder eine Synkope fllt bringt oft bereitsdie Lsung.) Folgt auf den aktiven Schritt der passive, die Auflsung ber die Dominante zur Tonika, oder moduliert das Thema und schliet daher in

    einer anderen Tonart? (Ein erstes Anzeichen fr eine Modulation ist meistein Erhhungszeichen vor der Note der vierten Stufe ein zustzlichesKreuz oder, in einer -Tonart, ein Auflsungszeichen. Die Besttigung gibtder Schlusston des Themas, der im Falle einer Modulation als Terz oder Grundton nicht der ursprnglichen, sondern der neuen Tonika erklingt).

    Fr diejenigen, die die harmonische Struktur des Themas gern genauer bestimmen mchten, seien hier einige Hinweise gegeben. Bach hat einenGroteil seiner Fugenthemen ber einer der Grundvarianten der einfachenharmonischen Progression errichtet. Die hufigsten sind:

    T S D(7) T I IV V(7) IT Sp D T I ii V IT S T D T I IV I V IT D T S D T I V I IV V I

    In Molltonarten sind Tonika und Subdominante natrlich Mollakkorde,doch der Akkord der Dominante benutzt den (knstlich erhhten) Leitton.Dieses Erhhungszeichen ist also nicht, wie das oben beschriebene, einHinweis auf eine Modulation, sondern Teil des Tonvorrats in der harmoni-schen bzw. melodischen Molltonleiter.

    Bei der Bestimmung des in einem Thema manifestierten Spannungs-verlaufs spielen neben harmonischen Schritten (insbesondere dem aktivenzur Subdominant-Funktion) auch melodische und rhythmische Details einewichtige Rolle. Intensittsverstrkend wirken vor allem die schon mehrfacherwhnten emotionalen Intervalle sowie Vorhalte und betonte Leittne.Ein Vorhalt ein Ton, der den eigentlich erwarteten Harmonieton vorent-hlt ist im mehrstimmigen Satz bei weitem leichter zu erkennen als imunbegleitet erklingenden ersten Themeneinsatz; daher empfiehlt es sich, indieser Frage einen spteren Einsatz zu untersuchen. Als Faustregel gilt:Jedesmal, wenn die Noten im Thema einen Harmoniewechsel auf einemschwachen Taktteil nahezulegen scheinen, lohnt es, genauer hinzuschauen.Meist wird man feststellen, dass der Harmoniewechsel tatschlich bereits

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    auf dem starken Taktteil stattfindet und nur die Melodie den Schritt hinaus-zgert absichtlich, um auf diese Weise die Spannung zu erhhen.

    Leittne haben einen anderen Ursprung, aber einen hnlichen Effekt. Esgibt primre und sekundre Leittne; beide sind durchaus Teil der jewei-ligen Tonleiter. In Dur leitet die siebte Stufe aufwrts zur Oktave und dievierte Stufe abwrts zur Terz der Tonika, in Moll leitet die harmonischerhhte siebte Stufe zur Oktave und die Sexte abwrts zur Quinte. Danebengibt es knstliche Leittne, die nicht zur Tonleiter gehren und fr eine kurz-

    fristige, manchmal gleich wieder rckgngig gemachte Modulation stehen.Besonders hufig ist die knstlich erhhte vierte Stufe (in C-Dur: fis vor g).Im rhythmischen Bereich verstrken vor allem Synkopen die Spannung:

    Notenwerte, die durch ihre Lnge einen nachfolgenden strkeren Taktschlagin sich aufnehmen und sich dadurch dessen zustzliches Gewicht einver-leiben.

    2.2 Die Bedeutung des Themas innerhalb einer Fuge

    Man sagt oft, eine Fugehabe ein Thema; richtiger wre:dieses Themahat eine Fuge hervorgebracht (oder: aus diesem Thema hat der Komponisteine Fuge entwickelt). Am Anfang steht stets das Thema, alles andere folgtspter. Die Begleiter des Themas die Kontrasubjekte gebrden sich zwar polyphon unabhngig, sind aber in Wahrheit in hohem Mae vom Thema bestimmt: Wre das Thema in irgendeiner Weise anders, so wren auch sienicht, was sie nun sind. Das Thema ist entscheidend fr den Bauplan der Fuge und verantwortlich fr den Eindruck von Dichte und Entspannung inderen Verlauf. Pausiert es, so ist seine Abwesenheit deutlich sprbar.

    Obwohl das soeben Gesagte fr alle Fugen gilt, ist das Ausma der vomThema auf seine Umgebung ausgebten Herrschaft in jeder Fuge verschie-den. Drei Konstellationen lassen sich besonders hufig beobachten: Imersten Fall klingt das Thema in regelmiger Verteilung und mit nur kurzenUnterbrechungen durch die gesamte Fuge, tritt dabei immer in Begleitungcharakteristischer Kontrasubjekte auf und wirkt daher als eine Art demokra-tischer Teamleader. In einem zweiten Szenario zieht sich das Thema wieder-holt fr lngere Zeit zurck und berlsst anderen Komponenten seinenPlatz, fungiert also als eine Art leitender Angestellter mit regelmiger Urlaubsvertretung. Eine dritte Mglichkeit besteht darin, dass das Thema imLauf der Komposition deutlich an Einfluss zu- oder abnimmt. Eine Zunah-me geschieht hufig, indem das Thema zunchst zugelassene Kontra-

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    6 Dies vermeidet nicht zuletzt die unsinnigen Auseinandersetzungen frherer Analytiker, vondenen einer in einer fnfstimmigen Fuge mit raffiniert konstruierten Argumenten fr zweiAltstimmen eintritt, whrend sein Kollege behauptet, zwei Tenorstimmen zu hren.

    subjekte verdrngt, seine Einstze verstrkt, mit sich selbst in Engfhrungerklingt etc.; eine Abnahme beobachtet man vor allem in Fugen mit meh-reren Themen, wo zuweilen ein spter einsetzendes zweites Thema mehr Aufmerksamkeit auf sich zieht als das erste.

    Grundstzlich kann eine Fuge beliebig viele Themeneinstze haben; die24 Einstze der ersten Fuge desWohltemperierten Klaviers stellen keines-wegs die hchstmgliche Anzahl dar. Die Einstze werden nach der Stimme benannt, in der sie erklingen. Bei vierstimmigen Fugen folgt man den Be-

    zeichnungen fr Chorstimmen und spricht von Sopran-, Alt-, Tenor- undBass-Einstzen (abgekrzt als S A T B); bei dreistimmigen Fugen ist dieUnterscheidung von Ober-, Mittel- und Unterstimme (O M U) gebruchlich.Bei fnfstimmigen Fugen empfiehlt es sich, die Stimmen durchzuzhlen undvon V1, V2, V3, V4 und V5 zu sprechen (V steht frvox, Stimme).6

    Das Thema muss nicht unverndert bleiben. Im Wechsel von Einstzenauf dem Grundton ( Dux ) und der Quinte (Comes ) kommt es oft zu Intervall-anpassungen; so wird eine steigende Quinte in jedem zweiten Einsatz oft zur Quarte. Man spricht von einer tonalen Antwort im Gegensatz zur realenAntwort mit unvernderten Intervallen. Gngige Abwandlungen betreffenentweder das Tempo (in der Augmentation sind alle Notenwerte vergrert,meist vervielfacht, in der Diminution verkleinert) oder die Richtung (in der Umkehrung oder Inversion stehen alle Intervalle auf dem Kopf). Die aus der Kunst der Fuge bekannten rhythmischen Themenvarianten durch Punktie-rungen ursprnglich einfacher Werte oder Bereicherung mittels Durchgangs-noten finden sich imWohltemperierten Klavier nur in der dis-Moll-Fuge ausBand I,Krebsgang und Krebsumkehrung , d.h. der Rckwrtslauf bzw. dieKombination aus vertikaler und horizontaler Spiegelung, gar nicht.

    Bezglich der Reihenfolge der Themeneinstze gelten gewisse Konven-tionen. Diese sind zu Beginn der Komposition strenger als im spteren Ver-lauf, nicht zuletzt, um Hrern Gelegenheit zu geben, die Anzahl der Stim-men zu erkennen. So gilt fr den ersten Abschnitt der Fuge, auch Expositiongenannt, dass jede Stimme zu warten hat, bis die zuvor einsetzende dasThema vollstndig vorgetragen hat; erst dann darf die nchste Stimme Auf-merksamkeit auf sich ziehen. In spteren Abschnitten ( Durchfhrungen )knnen Engfhrungen zweier oder mehrerer Stimmen sowie in seltenenFllen sogar Thema-Parallelen vorkommen, auch unter Beteiligung vonaugmentierten oder diminuierten Versionen des Themas.

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    Ein Sonderfall des Gruppeneinsatzes ist die Themawiederholung, beider eine Stimme, die das Thema gerade vorgetragen hat, nicht wie es sonstin einer Fuge blich ist einer anderen Platz macht, sondern noch einmalvon vorn beginnt. Dies geschieht meist auf einer anderen Stufe oder in einer anderen der oben aufgezhlten Varianten, als gestehe diese Stimme ein, siehabe die erhoffte Intensitt der Darbietung beim ersten Versuch nicht ganzerreicht. Wie Eng- und Parallelfhrungen fhrt auch eine Themawieder-holung zu einer Steigerung der Spannung.

    2.3 Kontrasubjekte

    Ein Kontrasubjekt ist ein mehr oder weniger treuer Begleiter des Fugen-themas. Es kann dessen Charakter verstrken oder mit ihm rivalisieren. Zuseiner Definition als Begleiter gehrt, dass es essentiell auf die Anwesen-heit des Themas angewiesen ist und zusammen mit dem Thema pausiert.(Dies unterscheidet ein Kontrasubjekt von einem zweiten Thema, das ineiner Doppelfuge erst nach Ende einer oder mehrerer Durchfhrungen desHauptthemas eingefhrt wird un