Buchstabenkomponenten und ihre Grammatik - IDSL...

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In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.) 2006. Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten). Buchstabenkomponenten und ihre Grammatik Beatrice Primus, Universität zu Köln Peter Eisenberg zum 65. Geburtstag 1. Einleitung Bei der Erforschung unserer Alphabetschrift im Allgemeinen und der Graphematik des Deutschen im Besonderen dominiert die Auffassung, dass der Buchstabe die kleinste linguistisch relevante Beschreibungseinheit darstellt. Das Kernstück einer Graphematik bilden Laut-Buchstaben-Zuordnungen, die im strengen Sinne keine Regeln sind. Regeln, die Grammatikkomponenten wie die Phonologie, Graphematik oder Syntax definieren, gelten für Klassen von Einheiten und sind keine Einzelfallbestimmungen. Regeln müssen nur einmal erworben werden und sind dann immer wieder auf eine Menge von Einheiten anwendbar. Die uns bekannten Laut-Buchstaben-Zuordnungen sind jedoch auf einzelne Buchstaben und einzelne Laute beschränkt. Listen von Einzelfällen sind schwer lernbar und im Lexikon, dem Ort für einzelfallbezogene Informationen, gespeichert. 1 Die Entwicklung zu einer regel- bezogenen Graphematik kann nur gelingen, wenn Buchstaben mit Hilfe ihrer Merkmale zu Klassen zusammengefasst werden. Dieses Ziel verfolgt dieser Beitrag, der sich darin von bisherigen merkmalsbasierten Buchstabenanalysen wesentlich unterscheidet. In bisherigen merkmalsbasierten Buchstabenanalysen geht es um automatische Buch- stabenerkennung (z. B. Eden / Halle 1961, Coueignoux 1981, Govindan / Shivaprasad 1990), kognitive Buchstabenverarbeitung bzw. -produktion (z. B. Gibson et al. 1963, Johnson 1981, McClelland / Rumelhart 1981, Kolers 1983, Van Galen 1991, Schomaker / Segers 1999, Thomassen 2003) oder um die Form der Buchstaben sui generis, sei es bei ihrem Erwerb (z. B. Gibson / Levin 1975, McCarthy 1977, Berkemeyer 1997, 1998, 2003) oder im Allgemeinen (z. B. Althaus 1980, Feigs 1986, Scharnhorst 1988). Eine besondere Erwähnung verdienen die Arbeiten von William Watt und Herbert Brekle, die eine systematische merkmalsbasierte Formanalyse der Buchstaben unseres Alphabets liefern und deren wichtigste Ergebnisse weiter unten erwähnt werden. Eine systematische merkmalsbezogene funktionale Analyse unserer Alphabetschrift, die Buchstabenmerkmalen Lautmerkmale zuordnet und somit funktionale Generalisierungen aufstellt, gibt es meines Wissens bisher nicht, wenn man von weiter unten erwähnten verstreuten Einzelbeobachtungen absieht. Stellvertretend für viele merkmalsbasierte Buchstabenanalysen (u. a. Eden / Halle 1961, Gibson / Levin 1975, Feigs 1986, Scharnhorst 1988, Berkemeier 1998, 1997, 2003) soll der Beitrag von Althaus (1980) kurz vorgestellt werden. Er reduziert alle 59 Buchstabenfiguren unseres Alphabets auf folgende 12 Grundelemente (1980: 138): (1) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12 / \ O C כ . .. 1 Im Lexikon sind nicht nur Wörter gespeichert, wie der alltagssprachliche an der lexikographischen Praxis orientierte Begriff 'Wörterbuch' suggeriert.

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In: Bredel, Ursula / Günther, Hartmut (Hgg.) 2006. Orthographietheorie und Rechtschreibunterricht. Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten).

Buchstabenkomponenten und ihre Grammatik

Beatrice Primus, Universität zu Köln

Peter Eisenberg zum 65. Geburtstag 1. Einleitung Bei der Erforschung unserer Alphabetschrift im Allgemeinen und der Graphematik des Deutschen im Besonderen dominiert die Auffassung, dass der Buchstabe die kleinste linguistisch relevante Beschreibungseinheit darstellt. Das Kernstück einer Graphematik bilden Laut-Buchstaben-Zuordnungen, die im strengen Sinne keine Regeln sind. Regeln, die Grammatikkomponenten wie die Phonologie, Graphematik oder Syntax definieren, gelten für Klassen von Einheiten und sind keine Einzelfallbestimmungen. Regeln müssen nur einmal erworben werden und sind dann immer wieder auf eine Menge von Einheiten anwendbar. Die uns bekannten Laut-Buchstaben-Zuordnungen sind jedoch auf einzelne Buchstaben und einzelne Laute beschränkt. Listen von Einzelfällen sind schwer lernbar und im Lexikon, dem Ort für einzelfallbezogene Informationen, gespeichert.1 Die Entwicklung zu einer regel-bezogenen Graphematik kann nur gelingen, wenn Buchstaben mit Hilfe ihrer Merkmale zu Klassen zusammengefasst werden. Dieses Ziel verfolgt dieser Beitrag, der sich darin von bisherigen merkmalsbasierten Buchstabenanalysen wesentlich unterscheidet. In bisherigen merkmalsbasierten Buchstabenanalysen geht es um automatische Buch-stabenerkennung (z. B. Eden / Halle 1961, Coueignoux 1981, Govindan / Shivaprasad 1990), kognitive Buchstabenverarbeitung bzw. -produktion (z. B. Gibson et al. 1963, Johnson 1981, McClelland / Rumelhart 1981, Kolers 1983, Van Galen 1991, Schomaker / Segers 1999, Thomassen 2003) oder um die Form der Buchstaben sui generis, sei es bei ihrem Erwerb (z. B. Gibson / Levin 1975, McCarthy 1977, Berkemeyer 1997, 1998, 2003) oder im Allgemeinen (z. B. Althaus 1980, Feigs 1986, Scharnhorst 1988). Eine besondere Erwähnung verdienen die Arbeiten von William Watt und Herbert Brekle, die eine systematische merkmalsbasierte Formanalyse der Buchstaben unseres Alphabets liefern und deren wichtigste Ergebnisse weiter unten erwähnt werden. Eine systematische merkmalsbezogene funktionale Analyse unserer Alphabetschrift, die Buchstabenmerkmalen Lautmerkmale zuordnet und somit funktionale Generalisierungen aufstellt, gibt es meines Wissens bisher nicht, wenn man von weiter unten erwähnten verstreuten Einzelbeobachtungen absieht.

Stellvertretend für viele merkmalsbasierte Buchstabenanalysen (u. a. Eden / Halle 1961, Gibson / Levin 1975, Feigs 1986, Scharnhorst 1988, Berkemeier 1998, 1997, 2003) soll der Beitrag von Althaus (1980) kurz vorgestellt werden. Er reduziert alle 59 Buchstabenfiguren unseres Alphabets auf folgende 12 Grundelemente (1980: 138): (1) 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 12

/ \ ─ O C כ � � ∩∩∩∩ . .. 1 Im Lexikon sind nicht nur Wörter gespeichert, wie der alltagssprachliche an der lexikographischen Praxis orientierte Begriff 'Wörterbuch' suggeriert.

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Die Erstreckung und Verkettung dieser Grundelemente zu typographisch wohlgeformten Buchstaben erfolgt auf der Grundlage von fünf übereinander liegenden virtuellen Linien, die vier vertikale Spatien bzw. Bänder bestimmen. Vgl. die Darstellung in (2): (2) Die Erstreckung und Verkettung der Grundelemente für die Majuskel A 4 3 2 1

Althaus beschreibt jeden Buchstaben als algebraische Formel, die die Grundelemente eines Buchstabens und die Art ihrer Verknüpfung angibt. Der Großbuchstabe A ist eine rechts-gerichtete Verknüpfung der Elemente 2, 4 und 3, wobei sich die Elemente 2 und 3 über die Bänder 2-4 erstrecken und das Element 4 an der dritten Linie platziert ist, als Formel 22-4→43→32-4.

Der Vorteil einer Zerlegung der Buchstaben in einfachere Grundelemente besteht darin, dass das Inventar der einzeln zu lernenden Grundelemente drastisch reduziert wird, bei Althaus von 59 auf 12. Ein weiterer Vorteil ist, dass man dadurch Verschreiber, die auf der Vertauschung von Buchstabenkomponenten beruhen, erklären kann (vgl. Berkemeier 1997, 1998, 2003; Thomassen 2003). Dennoch ist gegen eine solche Herangehensweise Kritik angebracht.

Einige der Elemente, so zum Beispiel Nr. 5 und 12, sind offensichtlich weiter zerlegbar, also nicht elementar. Außerdem sind mehrere Elemente durch vertikale oder horizontale Drehung ableitbar. Als direkte Folgeerscheinung enthält sein Inventar mehr Grundelemente als notwendig. Die euklidische Geometrie legt uns nahe, mit den Grundelementen Punkt und Gerade auszukommen (vgl. unseren Vorschlag in (5) weiter unten).

Die Grundelemente werden bei Althaus nicht anhand von Merkmalen wie [bogen] vs. [gerade] klassifiziert, wodurch eine Klassenbildung, eine wichtige Voraussetzung für Regelbildung, nicht möglich ist.

Es werden keine Beschränkungen über die Verkettung solcher Grundelemente formuliert, die es beispielsweise erlauben, das System der Buchstaben von dem der Ziffern zu unter-scheiden. Wichtige Erkenntnisse in diese Richtung, die weiter unten referiert werden, steuern Watt (op. cit.) und Brekle (1994, 1995, 1999) bei.

Der Ansatz von Althaus ist an der oberflächlichen Form der Buchstaben orientiert. Linguistisch relevante Aspekte werden nicht herausgearbeitet, um so zu einer abstrakteren Form zu gelangen, die mehreren Buchstabenvarianten zugrunde liegt. Erste Schritte zu einer abstrakteren Repräsentation findet man bei Watt (op. cit.).

Den einzelnen Grundelementen wird bei Althaus und auch in den anderen Arbeiten, die Buchstabenmerkmale untersuchen, keine eigenständige phonologische Funktion zuge-schrieben.

Erst die Beseitigung dieser Kritikpunkte führt zu einer Grammatik der Buchstaben und zu einer Analyse, die dem Kompositionalitätsprinzip Rechnung trägt. Dieses besonders in der Semantik vielbeachtete und auf andere Bereiche übertragbare Prinzip besagt, dass die Funktion einer komplexen Einheit – z. B. die lautliche Funktion eines Buchstabens oder die Buchstabenfunktion einer zweidimensionalen geometrischen Figur – von der Funktion seiner elementaren Teile und der Art ihrer Verknüpfung ableitbar ist.

Strukturelle, d. h. innergraphematische, und funktional-phonologische Beschränkungen liefern wichtige Entscheidungskriterien, wenn ein Buchstabe, was meistens der Fall ist, mehrere Zerlegungsmöglichkeiten erlaubt. Der Buchstabe <o> beispielsweise kann auf das Grundelement Kreis bzw. Oval – das z. B. im Grundinventar von Althaus (1980) vorgesehen

A

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ist – zurückgeführt werden. Er kann jedoch auch in zwei Halbkreise zerlegt werden, wobei als weitere Option horizontale oder vertikale Halbkreise in Frage kommen. Welche Analyse ist angemessener? Antworten auf diese Fragen und zuverlässige heuristische Kriterien für die Zerlegung der Buchstaben kann nur eine ausformulierte Buchstabengrammatik liefern.

Die vorliegende Analyse setzt sich als Ziel, eine merkmalsbasierte strukturell-innergraphematische wie funktional-phonologische Grammatik der Buchstaben zu formulieren. Die empirische Grundlage bildet das moderne römische Alphabet und das Schriftsystem des Deutschen. Der theoretische Rahmen ist der Optimalitätstheorie (OT) verpflichtet, die uns für den vorliegenden Untersuchungsgegenstand besonders geeignet erscheint. In der OT sind Beschränkungen (Regeln) verletzbar und durch eine Rangordnung gewichtet. Die OT ist ein Wettbewerbsmodell: Was ein wohlgeformter Buchstabe und eine mögliche Funktion für diesen Buchstaben ist, wird in Relation zu anderen konkurrierenden Formen und Funktionen aufgrund einer Beschränkungshierarchie bestimmt. So kann sich auch ein Kandidat durchsetzen, der eine oder mehrere Beschränkungen verletzt, wenn andere Kandidaten höhere oder gleichrangige Beschränkungen öfter verletzen. Für die Lektüre dieses Beitrags sind Vorkenntnisse in der OT nicht unbedingt erforderlich, weil der theoretische Apparat auf ein Minimum reduziert wird. Die Merkmalstheorie, die wir heranziehen, bedient sich privativer Merkmale und merkmalsarmer, weitgehend unterspezifizierter Lexikon-einträge und orientiert sich an den neuesten Erkenntnissen in der Phonologie (vgl. Steriade 1995, Lahiri / Reetz 2002), weil die Phonologie hinsichtlich der Konzeption von Merkmalen eine Vorreiterrolle spielt. Die wichtigsten Annahmen und Vorteile dieser Merkmalstheorie werden im nächsten Kapitel vorgestellt.

Der folgende Beitrag gliedert sich wie folgt. Der nächste Abschnitt trifft einige allgemeine Vorüberlegungen und stellt das Zeichen- und Merkmalsinventar unserer Alphabetschrift vor. Im dritten Abschnitt steigen wir in die Buchstabengrammatik ein und besprechen merkmals-basierte innergraphematische Beschränkungen, mit deren Hilfe man ohne Rückgriff auf die phonologische Funktion der Buchstaben diese von den anderen Zeichen unseres Alphabets unterscheiden kann. Im darauf folgenden vierten Abschnitt werden merkmalsbasierte funktionale Beschränkungen formuliert, die die Grundlagen einer funktionalen Grammatik der Buchstaben bilden. Der fünfte Abschnitt widmet sich den Buchstabenvarianten und ihrer didaktischen Bewertung. Der letzte sechste Abschnitt fasst die wichtigsten Ergebnisse dieser Untersuchung zusammen und weist auf offen gebliebene Fragen hin. 2. Das Zeichen- und Merkmalsinventar des modernen römischen Alphabets Das Kerninventar der Buchstaben unseres Alphabets ist in (3) und (4) aufgelistet: (3) Majuskeln und Minuskeln in einer serifenlosen Druckschrift (Arial)

<A B C D E F G H I J K L M N O P Q R S T U V W X Y Z> <a b c d e f g h i j k l m n o p q r s t u v w x y z>

(4) Majuskeln und Minuskeln in der Vereinfachten Ausgangsschrift

<ABCDEFGHIJKLMNOPQRSTUVWXYZ>

<abcdefghijklmnopqrstuvwxyz>

Zu diesem Kerninventar gibt es sprachspezifische Ergänzungen wie z. B. den Buchstaben <ß> im Deutschen. Buchstaben mit Trema, zu denen wir auch <ä, ü, ö> rechnen, werden wir als

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komplexe Grapheme behandeln und nicht als einfache Buchstaben (vgl. u. a. Gallmann 1985). Generell werden wir Diakritika – Punkte und Striche, die unter oder über Buchstaben vorkommen – nicht als Teil des Buchstabens behandeln, sondern als Zeichen, die eigen-ständigen Beschränkungen unterliegen (vgl. Primus (2003, 2004) zum Trema). Das erste große Problem, das bei einer Merkmalsanalyse auftaucht, ist die Buchstaben-variation. Es gibt Minuskeln versus Majuskeln und desweiteren sehr viele verschiedene Druck- und Handschriftvarianten dieser Varianten. Das Variationsproblem veranlasste Schriftsystemforscher (z. B. Kohrt 1985: 441f.) eine Merkmalsanalyse unseres Alphabets von vornherein zu verwerfen. Dieser Schluss erscheint uns mit Blick auf die Phonologie voreilig. Denn auch Laute variieren erheblich in Abhängigkeit von benachbarten Lauten, vom Sprecher und vom Sprechtempo, um nur einige Faktoren zu nennen. Eine tragfähige Lösung des Variationsproblems wurde in der Phonologie mit der Unterscheidung zwischen Phon bzw. Allophon und Phonem sowie in neueren Merkmals- und Lexikontheorien entwickelt (vgl. u. a. Steriade 1995, Lahiri / Reetz 2002). So liefern Lahiri / Reetz (2002) phonologische und psycholinguistische Evidenz für die Annahme eines merkmalsarmen, unterspezifizierten Lexikons. Um die Aussprachevarianten einer lexikalischen Einheit zu erfassen (z. B. die assimilationsbedingte Variation zwischen [n] und [m] in Bahndamm [n] vs. Bahnbus [m]), werden im mentalen Lexikon nicht möglichst viele Varianten und deren Merkmale gespeichert, sondern im Gegenteil möglichst wenige Merkmale und nur eine abstrakte Variante. Das heißt, dass Einheiten möglichst unterspezifiziert repräsentiert sind. Vereinfacht formuliert, wird der kleinste gemeinsame Nenner aller Varianten gespeichert. Bei der sprachlichen Rezeption einer Variante werden deren Merkmale mit den Merkmalen möglicher Lexikoneinträge verglichen. Bei diesem Vergleich wird überprüft, ob ein wahrgenommenes Merkmal in der Merkmalsstruktur eines potenziellen Lexikoneintrags vorhanden oder mit dieser verträglich oder unverträglich ist, wobei auch grammatisches Wissen eine wichtige Rolle spielt. Durch eine solche Vergleichsprozedur wird der Lexikoneintrag für eine tatsächlich wahrgenommene Form ermittelt.

In Einklang mit diesen Ergebnissen betrachten wir Buchstaben als abstrakte, im mentalen Lexikon unterspezifizierte Einheiten, die in verschiedenen Buchstabenvarianten auftreten können. Damit legen wir desweiteren fest, dass wir unsere Merkmalsanalyse auf die graphe-matisch distinktiven Merkmale der Buchstaben beschränken. Ferner interessieren uns in Einklang mit der eingangs formulierten Zielsetzung in erster Linie regelrelevante Merkmale, die Buchstaben zu graphematisch relevanten Klassen zusammenfügen.

Wir behandeln die Minuskeln als Grundvarianten und "Prototyp" (vgl. auch Brekle 1994, 1999, Günther 1988, Nunberg / Briscoe 2002). Dies ist distributionell damit zu begründen, dass Minuskeln im Normalfall und Majuskeln nur unter besonderen Bedingungen gebraucht werden. Aus diesem Grund ist es ratsam, die Merkmalsanalyse auf die Minuskeln auszu-richten und sie erst in einem weiteren Schritt auf Majuskeln zu übertragen.2 Dies leisten wir im Abschnitt 5, wo sich herausstellen wird, dass in Einklang mit der distributionell gewon-nenen Einsicht über den Sonderstatus der Majuskeln, diese im Vergleich zu Minuskeln auch phonologisch weniger transparent sind. Da Serifen in der Grammatik der Buchstaben keine klassenbildende Relevanz besitzen, werden wir in Zweifelsfällen eine serifenlose Druckschrift wie Arial heranziehen. Wenn wir ein Merkmal oder eine Einheit, z. B. Serifen, als nicht distinktiv einstufen, beziehen wir uns auf die Relevanz solcher Einheiten für die Buchstaben-grammatik. Dies besagt nicht, dass ein solches Merkmal oder Element in jeder Hinsicht funktionslos ist (vgl. Wiebelt (2003, 2004) zur Funktion von Serifen).

Der abstrakte Buchstabenbegriff, den wir hier anwenden, ist nicht identisch mit dem abstrakten Graphembegriff, der hier nicht zur Diskussion steht. Denn üblicherweise werden

2 Geschichtlich entwickelten sich die Minuskeln aus Majuskeln (vgl. Brekle 1994, 1995, 1999). Die diachrone Ableitungsrichtung entspricht somit nicht den synchronen Verhältnissen. Durch die Fokussierung auf Minuskeln unterscheiden sich unsere Ergebnisse deutlich von denen Watts (op. cit.), der sich auf Majuskeln konzentriert.

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auch bestimmte bei der Silbentrennung unzerlegbare und nur mit einem Laut korrespon-dierende Buchstabenverbindungen wie z. B. <sch> in mischen oder <ch> in lachen als eine Einheit, nämlich als Graphem, aufgefasst.3

Im Gegensatz zu Lauten, deren Merkmale gebündelt auftreten, sind Buchstaben syntag-matisch komplexe Gebilde, die aus vertikal oder horizontal angeordneten Komponenten bestehen. Syntagmatisch komplexe Gebilde zeichnen sich dadurch aus, dass ein Element den Kopf oder Kern der Konstruktion bildet, von dem – falls vorhanden – weitere Elemente, die wir für Buchstaben Kodas nennen, abhängen. Die Unterscheidung zwischen Kopf und Koda ist für die Grammatik der Buchstaben von zentraler Bedeutung. Die meisten Beschränkungen beziehen sich explizit entweder auf den Kopf oder die Koda der Konstruktion. Ein erstes wichtiges heuristisches Identifikationskriterium für Buchstabenköpfe folgt aus der allgemeinen Kopfbeschränkung, derzufolge der Kopf einer Konstruktion obligatorisch ist. M. a. W. hat jedes Syntagma im weiteren, auch Buchstaben umfassenden Sinn einen Kopf. Desweitern können Köpfe heuristisch durch die Beschränkungen, an denen nur sie oder nur Kodas partizipieren, identifiziert werden. So können Minuskelköpfe im Gegensatz zu Minuskelkodas lang sein (vgl. (16) weiter unten) und stehen in der Regel, aber nicht immer links von der Koda (vgl. (17) weiter unten).4 Schließlich müssen wir vorab klären, ob wir eine rezeptions- oder produktionsbasierte Merkmalsanalyse vornehmen sollen. In der Phonologie haben sich produktionsbasierte, artikulatorische Merkmalsanalysen durchgesetzt. Wir stützen unsere Entscheidung gegen eine produktionsbasierte und zugunsten einer rezeptionsorientierten, auf visuellen Merkmalen beruhenden Buchstabenanalyse auf den Überlegungen von Günther / Pompino-Marschall (1996: 910). Im Gegensatz zur Lautsprache werden im Schriftlichen unterschiedliche Werkzeuge (z. B. Feder, Kugelschreiber oder Drucker) und Medien (z. B. Papier, Holz oder Stein) bei der Produktion eingesetzt, deren Wahl und Handhabung sich nicht natürlicherweise ergeben. Dies lassen wir als Argument für das Primat rezeptionsbasierter, statisch-visueller Merkmale gelten, obwohl eine produktionsorientierte Analyse mittels kineto-graphetischer Schreibzüge prinzipiell möglich ist und vorhandene Analysen durchaus ertragreich sind (vgl. Watt 1980, Van Galen 1991, Thomassen 2003). Nachdem wir diese Vorüberlegungen getroffen haben, können wir nun die graphematisch relevanten Merkmale einführen, wobei – wie bereits erwähnt – klassenbildenden Merkmalen unsere besondere Aufmerksamkeit zukommt. Wir benützen die Merkmale außerdem dazu, aus den Grundelementen der Geometrie, dem Punkt und der Geraden, weitere Linienformen, die als Buchstabenkomponenten in Frage kommen, zu erzeugen. Vgl. (5): (5) a) Punkt . b) Gerade [vertikal] ׀ c) Gerade [horizontal] ─ verschiedene gebogene Linien: d) [vertikal] [bogen] [rechtsgerichtet] c e) [vertikal] [bogen] [linksgerichtet] כ f) [vertikal] [bogen] [rechtsgerichtet] [frei oben] � 3 Vgl. Primus (2004) für den Versuch, den Graphembegriff zugunsten einer suprasegmentalen Lösung zu eliminieren. 4 Wenn jemand unsere Vorgehensweise, Kopf von Koda zu unterscheiden, als zirkulär moniert, so weisen wir darauf hin, dass jede empirische Wissenschaft auf heuristischer Ebene zirkulär ist. Die fertige Buchstaben-grammatik ist nicht zirkulär: was Kopf und Koda ist, erscheint in den Merkmalsanalysen und Beschränkungen als postulierte Vorgabe. Unsere Unterscheidung in Kopf und Koda erinnert an die Unterscheidung zwischen Hasta und Koda bei Herbert Brekle und zwischen Vexillum und Augment bei William Watt, ist jedoch mit diesen Begriffspaaren nicht bedeutungsgleich. So hat für Brekle nicht jeder Buchstabe eine Hasta, weil er nur eine gerade Linie als Hasta gelten lässt.

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g) [vertikal] [bogen] [rechtsgerichtet] [frei unten] ſ h) [vertikal] [bogen] [linksgerichtet] [frei oben] i) [vertikal] [bogen] [linksgerichtet] [frei unten] ך j) [horizonatl] [bogen] [frei oben] ∪∪∪∪ k) [horizonatl] [bogen] [frei unten] ∩∩∩∩ Die Verkettung dieser Figuren zu Buchstaben sowie alle anderen Eigenschaften der Grund-elemente und Buchstaben werden durch das System der innergraphematischen Beschrän-kungen determiniert. Nicht alle diese Elemente bilden Buchstabenkomponenten, was hinsichtlich des Punktes bereits erwähnt wurde. Die Buchstabenkomponenten, die aufgrund der Buchstabengrammatik des Deutschen ermittelt werden können, werden in (22) weiter unten illustriert.

Wir arbeiten mit privativen Merkmalen. Sie haben gegenüber den Merkmalen mit binären Werten (+ oder -) den Vorteil, dass sie Markiertheitsunterschieden und dem Prinzip des konstruktionellen Ikonismus besser gerecht werden. Was damit gemeint ist, können wir anhand der Analyse des Buchstabens <i> erläutern (Wir erinnern daran, dass der Punkt nicht als Teil des Buchstabens einzuordnen ist). <i> ist nicht nur formal der einfachste Buchstabe; er entspricht auch funktional einem Laut, der zu den am wenigsten markierten Lauten zählt (vgl. Hall 2000). Zu den etablierten Markiertheitskriterien (vgl. Greenberg 1996) zählt die Tatsache, dass dieser Laut in allen Vokalinventaren der bisher erfassten Sprachen anzutreffen ist. Dieses Kriterium geht auf das implikationale Universale zurück, demzufolge das Vorhandensein eines markierteren Elements einer Klasse das Vorhandensein aller weniger markierten Elemente dieser Klasse einseitig impliziert. Eine Merkmalsanalyse sollte daher nicht nur die graphematisch distinktiven Unterschiede zwischen <i> und allen anderen Buchstaben unseres Alphabets, sondern auch seinen Markiertheitsstatus erfassen. Auf dieses Ziel ist die Analyse in (6), die wir mit der Analyse des Buchstabens <c> kontrastieren, zugeschnitten: Kopf: [vertikal] :<׀> (6)

<c>: Kopf: [vertikal], [bogen], [rechtsgerichtet] Schwierigkeiten bei der Identifizierung des Bogenmerkmals ergeben sich durch geschwungene Verbindungslinien, die besonders bei handschriftlichen und kursiven

Varianten gebraucht werden. In Zweifelsfällen wie <i> vs. <c> orientieren wir uns an

serifenlosen nicht-kursiven Schriftarten wie Arial <i> vs. <c>. Alle Merkmale außer [vertikal] sind für <i> nicht anwesend, wodurch wir die

graphematisch relevanten Unterschiede zu anderen Buchstaben, darunter auch <c>, erfassen. (Um die Absenz eines privativen Merkmals bei Bedarf explizit zu notieren, werden wir im weiteren Verlauf dieser Arbeit nicht das Minuszeichen, sondern das Negationszeichen "¬" verwenden). Bei binären Merkmalen hätte man alle Merkmale, gegebenenfalls mit negativen Werten, also auch [-bogen] für <i>, aufführen müssen. Mit Hilfe privativer Merkmale können wir die Merkmalsmatrix des einfachsten Buchstabens auf genau eine Merkmalsangabe und somit auf ein Minimum reduzieren. Die Einfachheit dieser Merkmalsstruktur entspricht somit der Einfachheit dieses Buchstabens. Dem Prinzip des konstruktionellen Ikonismus zufolge (vgl. Mayerthaler 1981, Wunderlich / Fabri 1995) entspricht einer einfachen, unmarkierten Form – in unserem Beispiel die Merkmalsmatrix von <i> – eine einfache, unmarkierte Funktion, in unserem Beispiel der unmarkierte Laut /i/.

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Als Begründung dafür, dass wir [vertikal] und [horizontal] als privative Merkmale einführen, kann man die Tatsache anführen, dass Punkte, denen die Merkmale [vertikal] und [horizontal] fehlen, visuell weniger auffällig sind und in unserer Alphabetschrift distribu-tionell auf Diakritika und Interpunktionszeichen beschränkt sind. Ein Interpunktionszeichen wiederum lässt sich unter anderem dadurch charakterisieren, dass es nicht ohne Buchstaben-sequenz vorkommt und nicht lesbar ist (vgl. Bredel 2004). Die Entscheidung für [bogen] und gegen [gerade] ließe sich dadurch rechtfertigen, dass gekrümmte Linien durch die Öffnungs-richtung ihres Bogens eine zusätzliche – graphematisch relevante – Orientierung aufweisen, die den Geraden fehlt. Bei fehlender Evidenz für eine Markiertheitsasymmetrie werden zwei Merkmale benötigt, zum Beispiel [vertikal] und [horizontal]. Von dieser Option machen wir auch bei den weiter unten näher besprochenen Orientierungsmerkmalen Gebrauch. Als Caveat muss vermerkt werden, dass es sich bei dieser Untersuchung um eine Pilotstudie handelt, so dass die Wahl zweier privativer Merkmale als Vorschläge zu verstehen sind. Die horizontale Orientierung wird in (7) näher bestimmt und bezieht sich nicht nur auf Bögen, sondern auch auf die Position der Koda relativ zum Kopf, womit der gesamte Buchstabe eine horizontale Orientierung erhält: (7) [linksgerichtet]: Der Bogen öffnet sich nach links oder die Koda ist auf der linken

Seite wie z. B. bei <j> und <d>. [rechtsgerichtet]: Der Bogen öffnet sich nach rechts oder die Koda ist auf der rechten Seite wie z. B. bei <ſ> und <b>.

Bögen und Buchstaben haben auch eine vertikale Orientierung, die in (8) definiert wird: (8) [frei unten]: Die Koda – und falls keine Koda vorhanden ist, die Krümmung des

Kopfes – schließt den Buchstaben oben ab, z. B. bei <ſ> und <p>. [frei oben]: Die Koda – und falls keine Koda vorhanden ist, die Krümmung des Kopfes – schließt den Buchstaben unten ab wie z. B. bei <j> und <b>.

Diesbezügliche Buchstaben-Minimalpaare sind <p, b>, <q, d> und <ſ, j>, während sich <n, u> auch in der horizontalen Orientierung voneinander unterscheiden.

Das nächste Merkmal erfasst einen vertikalen Kontrast zwischen – salopp formuliert – langen und kurzen Minuskeln. Um dieses Merkmal genauer zu bestimmen, betrachten wir die vertikale räumliche Ausdehnung verschiedener Alphabetzeichen in (9): (9) Die vertikale Ausdehnung verschiedener Alphabetzeichen

Wie bereits eingangs erwähnt, wird die vertikale Ausdehnung unserer Alphabetzeichen durch fünf virtuelle Linien und dementsprechend vier Bänder strukturiert, wobei die inneren Bänder zu einem Mittelband zusammengefügt werden können (vgl. Althaus 1980, Coueignoux 1981). Die von unten betrachtet zweite Linie ist die Grundlinie. Lange Minuskeln wie <b, d, j, f, l> enthalten eine Linie, die Herbert Brekle, der dieses Merkmal eingehend untersucht hat, 'freie Hasta' nennt, weil sie im äußeren Band von keiner Koda umgeben wird (vgl. Brekle 1994, 1995, 1999). Wir nennen das entsprechende privative Merkmal [frei] und definieren es wie in (10):

a b p A B 3 ; ,

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(10) Eine Linie hat das privative Merkmal [frei] genau dann, wenn sie sich vertikal über

das Mittelband und mindestens ein äußeres Band erstreckt.

Einer Linie, die die entsprechende Eigenschaft nicht aufweist, fehlt das privative Merkmal [frei]. Die Elemente der Buchstabenpaare <i, l>, <℘, d> und <℘, q> unterscheiden sich in diesem Merkmal. Bei Majuskeln und Ziffern ist das Merkmal [frei] nicht subklassenbildend.

Damit ist das Inventar der graphematisch distinktiven Merkmale, die innergraphematisch und phonologisch relevante Subklassen von Buchstaben etablieren, erschöpft.

Diagonale Linien wie in <A, K, k, X, x, V, v> sind unserer Auffassung nach nicht distink-tiv. Es handelt sich um Varianten von vertikalen oder horizontalen, meist gekrümmten Linien,

wie die folgenden Buchstabenvarianten belegen: <A, ∩>, <x, x>, <v, v>, <k, k>, <y, y>.

Als Zusammenfassung dieses Abschnitts führen wir die Analyse der Buchstaben <e> und <d> in (11)-(12) vor. (11) <e> Kategorie: Buchstabe

Kopf: [vertikal], [bogen], [rechtsgerichtet] Koda: [horizontal] Horizontale Orientierung: [rechtsgerichtet] Vertikale Orientierung: [frei unten]

(12) <d> Kategorie: Buchstabe

Kopf: [vertikal], [frei] Koda: [vertikal], [bogen], [rechtsgerichtet] Horizontale Orientierung: [linksgerichtet] Vertikale Orientierung: [frei oben]

Beide Buchstaben bestehen aus einem Halbkreis und einer geraden Linie, die allerdings eine unterschiedliche Funktion ausüben. Bei <e> ist der Halbkreis der Kopf, während bei <d> die lange Gerade als Kopf fungiert. Die angegebene Kategorisierung in Kopf und Koda steht in Einklang mit den weiter unten formulierten innergraphematischen und funktionalen Beschrän-kungen. Diese liefern auch weitere Angaben darüber, wie die Grundelemente dieser Buch-staben miteinander verknüpft werden (vgl. die Kommentare zu (20) und (21) weiter unten). Eine theoretisch wie kognitiv plausible Merkmalsanalyse sollte nicht nur Markiertheits-überlegungen Rechnung tragen, sondern eine weitere wichtige Unterscheidung berücksich-tigen, die zu einer effizienten Organisation des mentalen Lexikons beiträgt. Merkmale, die aus allgemeinen Beschränkungen ableitbar und somit vorhersagbar sind, sollten nicht im Lexikoneintrag des Buchstabens vermerkt sein. Im Lexikon sollten nur nicht-vorhersagbare Merkmale erscheinen, deren Zuordnung vom Einzelfall abhängt und somit für diesen Buchstaben eigens gelernt werden müssen. Ob ein Merkmal vorhersagbar ist oder nicht, kann nur aufgrund der Vorkommensbeschränkungen für Merkmale, d. h. der Grammatik der Buch-staben, entschieden werden. Außerdem dienen solche Beschränkungen dazu, das System der Buchstaben vom System der Ziffern und Interpunktionszeichen zu unterscheiden. Solchen buchstabenbezogenen Beschränkungen widmet sich der nächste Abschnitt. 3. Innergraphematische Beschränkungen In Einklang mit den Grundannahmen der Optimalitätstheorie (OT), der wir in diesem Beitrag folgen, ist eine Beschränkung verletzbar, aber nur dann, wenn eine andere dominierende

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Beschränkung ihre Verletzung legitimiert. Dies setzt voraus, dass miteinander konkurrierende Beschränkungen geordnet sind. Der Geltungsgrad einer Beschränkung erscheint somit nicht in ihrer Formulierung, sondern ergibt sich aus ihrem Rang. Verletzbare Beschränkungen sind dominierte Beschränkungen, unverletzbare sind undominiert. Außerdem geht man in der OT davon aus, dass verschiedene Beschränkungsordnungen verschiedene Sprachsysteme definie-ren. In Einklang damit nehmen wir an, dass sich das System der Buchstaben von dem der Ziffern und Interpunktionszeichen nicht durch andere Beschränkungen, sondern durch eine andere Dominanzhierarchie der Beschränkungen unterscheidet. Beschränkungen erscheinen den OT-Konventionen folgend in Kapitälchen. Damit ist eine Verwechslung zwischen der Merkmalsangabe in einer Beschränkung und dem Merkmal selbst, das in Normalschrift in eckigen Klammern notiert wird, ausgeschlossen. Das erste einschlägige Beschränkungspaar regelt das Vorkommen des Merkmals [vertikal] und bezieht sich auf Köpfe. (13) VERTIKALKOPF: Jedes Zeichen hat einen Kopf mit dem Merkmal [vertikal].

¬VERTIKALKOPF: Jedes Zeichen hat einen Kopf, der das Merkmal [vertikal] nicht aufweisen darf.

Das System der Buchstaben und Ziffern unterscheidet sich vom System der Interpunktions-zeichen und Diakritika dadurch, dass für erstere die Beschränkung VERTIKALKOPF unverletzbar ist, was in der OT gleichbedeutend mit undominiert ist. Für Buchstaben und Ziffern gilt somit die Beschränkungsordnung VERTIKALKOPF >> .... ¬VERTIKALKOPF, wobei >> die Ordnungsrelation und die drei Punkte einen sehr niedrigen Rang notieren. Für Interpunktionszeichen gilt die Ordnung ¬VERTIKALKOPF >> ... VERTIKALKOPF, wobei ¬VERTIKALKOPF durch Komma, Klammer und Anführungszeichen verletzt wird (vgl. Bredel 2004). Auch den Diakritika fehlt in der Regel das Merkmal [vertikal], was bei Diakritika, die aus diagonalen Linien wie bei <é> bestehen, zugegebenermaßen weniger klar ist. Wie bereits besprochen, kann man auf der Grundlage der Buchstabengrammatik das Lexikon der Buchstaben vereinfachen, indem man ableitbare Merkmale unerwähnt, d. h. unterspezifiziert, lässt. Eine solche Repräsentation für <i> zeigt (14): (14) <i> unterspezifiziert Kategorie: Buchstabe Im Gegensatz zur Repräsentation in (6) verzichtet (14) auf die Angabe des Kopfes und des Merkmals [vertikal], weil diese Informationen aus dem allgemeinen Kopfprinzip, der Kategorisierung des Zeichens als Buchstabe und dem undominierten Status der Beschränkung VERTIKALKOPF logisch ableitbar sind und für diesen Buchstaben nicht eigens erlernt werden müssen. Da die allgemeine Kopfbeschränkung (Jeder Buchstabe hat einen Kopf) und VERTIKALKOPF im System der Buchstaben unverletzbar sind, können sich Buchstaben-varianten nicht bezüglich der Vertikalität ihres Kopfes voneinander unterscheiden. Die verschiedenen Subklassen von Alphabetzeichen haben eine charakteristische Lage innerhalb der virtuellen Linien und Bänder, die durch die Beschränkungen in (15) und (16) erfasst werden. (15) MITTELBAND : Jeder Kopf erstreckt sich im Mittelband und gegebenenfalls darüber

hinaus. (16) ¬FREIKODA: Für jede Koda gilt, dass sie sich nur innerhalb des Mittelbands erstreckt

und somit das Merkmal [frei] nicht aufweisen darf. Die zwei Beschränkungen beziehen sich explizit auf Kopf oder Koda. Das MITTELBAND-

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Gebot ist für Buchstabenköpfe unverletzbar, d. h. undominiert. Die Mittelbandbeschränkung für Kodas ist bei Minuskeln zuverlässiger als bei Majuskeln, weil mehrere Majuskeln (vgl. <t,T>, <p, P> oder <y,Y>), aber nur einige Minuskelvarianten wie <g> oder <�> sie verletzen. Die Rolle des Mittelbandes bei der Identifizierung von Buchstaben wurde in verschiedenen Arbeiten betont (vgl. Coueignoux 1981, Brekle 1994: 194, 1999: 175; Primus 2003: 29). Bei einer unterspezifizierten Merkmalsrepräsentation kann man die Wirkung der MITTELBAND-Beschränkung ausnützen und auf die Angabe einer Bänderplatzierung ver-zichten, wie bereits in den bisherigen Merkmalsanalysen stillschweigend geschehen. Wenn keine bänderbezogene Angabe erfolgt, so befinden sich alle Segmente im Mittelband. Das Merkmal [frei] ist nicht ableitbar und erfasst die Erstreckung einer Kopflinie über das Mittelspatium hinaus in ein Außenband hinein. Aufgrund dieser Beschränkungen kann bei einer Minuskel eine freie Linie heuristisch eindeutig als Kopfsegment identifiziert werden. Die folgende Beschränkung garantiert, dass – falls keine explizite Ausnahmebestimmung erfolgt – die Buchstaben unseres Alphabets nicht linksgerichtet sein dürfen. (17) ¬LINKS: Kein Zeichen darf das Merkmal [linksgerichtet] aufweisen. In anderen Alphabeten, dem Hebräischen zum Beispiel, wird ¬LINKS von ¬RECHTS (Kein Zeichen darf das Merkmal [rechtsgerichtet] aufweisen) dominiert. Gemäß den Annahmen der OT ist eine Beschränkung nur dann verletzbar, wenn sie von einer anderen Beschränkung dominiert wird. Beim jetzigen Kenntnisstand gibt es keine innergraphematische Beschrän-kung, die die Linksorientierung der in (18) aufgelisteten Buchstaben rechtfertigen könnte. Aus diesem Grund müssen die linksgerichteten Buchstaben innergraphematisch durch eine Listenbeschränkung, die ¬LINKS dominiert, erfasst werden (vgl. Hammond (1995) für diese Lösung im Rahmen der OT-Phonologie). (18) ¬RECHTS(d, j, q, g, a, u, o, ...) >> ¬LINKS >> ... ¬RECHTS (18) besagt, dass für Buchstaben im Normalfall ¬LINKS vor ¬RECHTS zum Zuge kommt, es sei denn, es handelt sich um einen Buchstaben, der in ¬RECHTS(d, j, q, g, a, u, o, ...) aufgelistet ist. Wir ordnen dadurch diese Buchstaben zu den markierten, aber zugelassenen Fällen, und begründen dies damit, dass ihr Sonderstatus phonologisch legitimiert ist (vgl. (29) weiter unten). Da ¬LINKS eine dominierte, verletzbare Beschränkung ist, können sich Buchstaben-varianten im horizontalen Orientierungsmerkmal unterscheiden (vgl. <d, D>). Auch für <r> werden wir im nächsten Kapitel eine Verletzung dieser Beschränkung in Erwägung ziehen, so dass wir die Liste der rechtsgerichteten Buchstaben offen halten und dies mit Auslassungs-punkten andeuten. Die letzte Beschränkung garantiert, dass Buchstabensegmente eine möglichst geschlos-sene geometrische Figur bilden. (19) GESCHLOSSEN: Die einzelnen Segmente eines Zeichens sind miteinander verbunden

und so angeordnet, dass der Raum zwischen ihnen möglichst geschlossen wird. Für Interpunktionszeichen ist GESCHLOSSEN keine hochrangige Beschränkung, wie die unverbundenen Bestandteile einiger Zeichen, bspw. <; : ! ?>, belegen. Die erste Bestimmung von GESCHLOSSEN ist für Buchstaben unverletzbar, allerdings gibt es phonologisch legitimierte Verletzungen der zweiten Bestimmung bei den Buchstaben <x> und <k>. Da wir Diagonale als nicht distinktiv eliminieren, führen wir <x> auf zwei voneinander abgewandte Halbkreise, also auf <x>, zurück und setzen auch für die Koda von <k> einen vom Kopf abgewandten Halbkreis zugrunde (vgl. (22) weiter unten). Dadurch können wir erfassen, dass

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der zweite Buchstabe in den Paaren <v, x> und <b, k> sich vom ersten Buchstaben dadurch

auszeichnet, dass er hinsichtlich GESCHLOSSEN markiert ist. Für das System der Buchstaben gilt somit ¬GESCHLOSSEN(x, k, ...) >> GESCHLOSSEN. Auch für <r> werden wir eine Verletzung dieser Beschränkung in Erwägung ziehen, so dass wir die Liste der diesbezüglich markierten Buchstaben offen halten. Auf der Grundlage der innergraphematischen Beschränkungen sind wir nun in der Lage, den Lexikoneintrag der Buchstaben <e> und <d> angemessener als in (11)-(12) zu gestalten. Vgl. (20)-(21): (20) <e> Kategorie: Buchstabe

Kopf: [bogen] Koda: [horizontal] Horizontale Orientierung: Vertikale Orientierung: [frei unten]

(21) <d> Kategorie: Buchstabe

Kopf: [frei] Koda: [vertikal], [bogen]

Horizontale Orientierung: [linksgerichtet] Vertikale Orientierung: [frei oben]

Da die Beschränkung VERTIKALKOPF für Buchstaben unverletzbar ist, kann man daraus das Merkmal [vertikal] für das Kopfsegment von <e> und <d> ableiten. Aus der MITTELBAND-Beschränkung folgt die Mittelbandplatzierung von Kopf und Koda. Was eigens erlernt werden muss, ist allerdings, dass sich der Kopf von <d> über das Mittelband hinaus erstreckt, d. h. [frei] ist. Dieses Merkmal ist innerhalb des Minuskelsystems distinktiv, vgl. <d, ℘>. Das Merkmal [frei oben] von <d> garantiert, dass sich die Kopflinie im oberen Außenspatium verlängert, und ist ebenfalls aus der Kategorisierung von <d> als Buchstabe nicht ableitbar, also distinktiv, wie das Minimalpaar <d, q> belegt. Dass die Koda von <d> rund und vertikal ist, ist ebenfalls nicht vorhersagbar. Die Koda muss desweiteren so angebracht sein, dass sie die markierte Orientierung [linksgerichtet] und zugleich eine perfekt geschlossene Figur garantiert, da keine Verletzung von GESCHLOSSEN vermerkt ist. Ein nach rechts gerichteter Halbkreis, der sich im Mittelspatium auf der linken Seite der Kopflinie mit dieser verbindet, ist eine optimale Lösung. Der Buchstabe <e> hat eine einfache horizontale Koda. Dass sie sich der oberen Kopfrundung anschließt, ist aus der GESCHLOSSEN-Beschränkung und dem vertikalen Orientierungsmerkmal [frei unten] ableitbar. Die Rechtsorientierung der gebogenen Kopflinie folgt aus der Unterspezifizierung der horizontalen Orientierung, die Rechts-orientierung impliziert. Die Ableitungsrichtung kann man umkehren. In dieser Richtung versucht man, aus einer voll spezifizierten Merkmalsrepräsentation auf die Kategorie des alphabetischen Zeichens zu schließen. Wir führen dies am Beispiel <d> aus. Mehrere Merkmale, darunter die Vertikalität des Kopfes und die Geschlossenheit der Figur, schließen eine Kategorisierung als Inter-punktionszeichen aus. Die Option Ziffer ist nicht so ohne weiteres zu eliminieren, vgl. <d, 6>. Ziffern sind im unmarkierten Fall linksgerichtet, Buchstaben im unmarkierten Fall rechtsgerichtet (vgl. Watt 1983), allerdings zeichnet sich das Paar <d, 6> gerade dadurch aus, dass beide im Lexikon für eine markierte Orientierung spezifiziert sind. Durch diese markierte Spezifizierung, die ihnen einen Sonderstatus verleiht, lassen sich diese Zeichen korrekt einordnen. Der Sonderstatus linksgerichteter Buchstaben wie <d> oder <j> zeigt sich in häufigen Verschreibern und im Schrifterwerb. Linksgerichtete Buchstaben werden viel häufiger in die kanonische rechtsgerichtete Orientierung gedreht als rechtsgerichtete

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Buchstaben in die markierte linksgerichtete Orientierung (vgl. Frith 1971, Watt 1983). Im Hinblick auf die Didaktik ist die Frage nach der psycholinguistischen Evidenz für die hier eingeführten Buchstabenmerkmale und -beschränkungen besonders wichtig. Die Relevanz vertikaler Linien ist in der experimentellen Forschung bei der Erkennung (vgl. Schomaker / Segers 1999) und Produktion von Buchstaben nachgewiesen (vgl. Thomassen 2003). Der Unterschied zwischen geraden und gekrümmten Linien ist wahrnehmungs-psychologisch ebenfalls von zentraler Bedeutung (vgl. Schomaker / Segers 1999 und die dort referierte Literatur). Auch die Relevanz des Merkmals [frei] lässt sich in Buchstaben-erkennungsexperimenten (vgl. Schomaker / Segers 1999) und in der Produktion anhand von Verschreibern nachweisen (vgl. Berkemeier 1998). Bei der Bewertung von Verschreibern folgen wir Berkemeier (1998: 50) in der Annahme, dass "Elemente, die häufiger verwechselt werden bzw. ausgetauscht werden, relevante Strukturgrößen sind." Die psycholinguistische Validität der eingeführten horizontalen Orientierungsmerkmale und der Beschränkung ¬LINKS ist sowohl im Schrifterwerb durch Verschreiber (vgl. Watt 1983, Berkemeier 1997, 1998) als auch in Buchstabenerkennungsexperimenten belegt (vgl. Kolers / Perkins 1969, Kolers 1983). Verschreiber belegen auch die Relevanz der vertikalen Orientierungskontraste wie bei <d, g>, <u, n> und <w, m> (vgl. Ellis 1979, Berkemeier 1997, 1998). Es gibt auch neurobiologische Evidenz für die getrennte Verarbeitung von Buchstaben und Ziffern und für die Existenz eines Hirnareals, das auf Buchstabenverarbeitung spezialisiert ist (vgl. Polk et al. 2002 sowie die dort referierten Untersuchungen).

Wie bereits eingangs erwähnt, liefern innergraphematische und funktional-phonologische Beschränkungen wichtige heuristische Entscheidungkriterien, wenn ein Buchstabe, was meistens der Fall ist, mehrere Zerlegungsmöglichkeiten erlaubt. Die erste Entscheidungshilfe liefert das Ökonomieprinzip, das zwei miteinander konkurrierende Aspekte vereint: Möglichst wenige Grundelemente oder Merkmale und möglichst wenige Buchstabenkomponenten. Den zweiten Leitfaden liefert das Systematizitätsprinzip: Möglichst wenige Ausnahmen. Nach dem Gebot, möglichst wenige Buchstabenkomponenten anzunehmen, sollte der Buchstabe <o>, beispielsweise, auf das Grundelement bzw. Merkmal [kreis] zurückgeführt werden. Gegen diese Analyse spricht zunächst das Gebot, mit Grundelementen und Merkmalen äußerst sparsam umzugehen: Wenn man den Kreis zugunsten des Bogens eliminieren kann, aber nicht umgekehrt den Bogen zugunsten des Kreises, sollte man den Kreis eliminieren. Desweiteren gibt es keine Beschränkung, die sich auf Kreise bezieht. Der Buchstabe <o> sollte also in zwei Bögen zerlegt werden, wobei als weitere Option horizontale oder vertikale Bögen in Frage kommen. Die Zerlegung in zwei horizontale Bögen ergibt eine völlig unmotivierte Verletzung der VERTIKALKOPF-Beschränkung. Die alternative Zerlegung in zwei vertikale Bögen führt im Sinne des Systematizitätsgebots keine unnötigen Ausnahmen ein und ist somit die plausibelste Option. Schließlich müssen wir entscheiden, ob der erste oder zweite Halbkreis der Kopf des Buchstabens ist. Das Systematizitätsgebot und die weiter unten eingeführte phonologische Beschränkung, dass ein hinterer Artikulationsort wie beim Laut [o] durch eine markierte Orientierung von Kopf oder Koda graphematisch dargestellt wird, zwingen uns, den zweiten Halbkreis als Buchstabenkopf zu analysieren. Zum Abschluss dieses Kapitels werden wir die Buchstaben des deutschen Alphabets unter Ausschluss von Diakritika in einfachere Grundelemente zerlegen. Wir richten uns dabei – wie am Buchstaben <o> vorgeführt – nach allgemeinen, innergraphematischen und phonologisch-funktionalen Gesichtspunkten. Es ist jedoch wichtig festzuhalten, dass nicht die Grundfiguren, sondern die Merkmale, die sie definieren, für die Buchstabengrammatik relevant sind. Die Merkmale der Grundfiguren können aus der Zusammenstellung in (5) weiter oben ermittelt werden. Die Bänderanordnung der Grundelemente ist nur angedeutet, während die relative Abfolge von Kopf und Koda explizit angezeigt wird. Buchstabenvarianten und alternative Analysen werden in (22) nur punktuell für <a> bzw. <r> illustriert.

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(22) Die Zerlegung der Buchstaben des deutschen Alphabets

Kopf Koda(s) Kopf Kopf Koda(s) Kopf i

׀

g

c

l

l

j

e

c

-

r

׀

ſ

t

l

-

r

׀

p

l

כ

h

l

ך

b

l

כ

k

l

c

f

ſ

-

z

כ

c

n

׀

ך

v

(

)

m

׀

ךך

w

(

) ( )

u

׀

c

c

o

c

כ

y

l

a

c

ך

x

כ

c

c ׀

q

c

l

d

c

l

ß

ſ

כ

s

c

כ

Bis auf die diagonalen Elemente der Buchstaben <k, z, v, w, y, x>, die wir zugrunde liegend als vertikale, meistens gekrümmte Linien analysieren, sowie der zweiten Analyse des Buchstabens <r> stimmen unsere buchstabengrammatisch begründeten Ergebnisse mit denen von Berkemeier (1998, 2003) überein. Da Berkemeier ihre Zerlegungen durch Produktions-fehler untermauert, bewerten wir diese Übereinstimmung als positive unabhängige Evidenz für die Plausibilität unserer buchstabengrammatischen Hypothesen. Die Reihenfolge der Buchstaben in (22) entspricht nicht der Ordnung im Alphabet und ist – unter anderem mit Blick auf die didaktische Anwendung – markiertheitstheoretisch und buchstabengrammatisch begründet: einfache vor komplexen, regelkonforme vor abweichen-den, uneingeschränkt vor eingeschränkt verwendbaren Buchstaben. Allerdings können diese

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Kriterien nicht immer in Einklang gebracht werden, so dass auch andere Erwerbsreihenfolgen in Frage kommen. Zunächst erscheinen die geometrisch einfachsten, unmarkierten Buchstaben <i> und <l>, denen sich unmittelbar <e> bis <f> anschließen. Ein plausibler Einstieg im Unterricht sind Buchstaben aus dieser Gruppe und Buchstabenfolgen wie <li> bzw. <lili> oder <ti> bzw. <titi>. An solchen einfachen Paaren kann der Kontrast zwischen langen und kurzen Köpfen, d. h. das Merkmal [frei], geübt werden. Dieser Kontrast ist – wie im nächsten Abschnitt erläutert – für die Organisation der graphematischen Silbe von zentraler Bedeutung (Allerdings muss bei der Wahl von <l> bedacht werden, dass den Buchstaben für Sonoranten in der Regel das Merkmal [frei] fehlt). Mehrere neuere Untersuchungen demonstrieren, wie wichtig silbisches Lesen und Schreiben im Grundschul-unterricht ist (vgl. Röber-Siekmeyer / Pfisterer 1998, Röber-Siekmeyer 2002 und dort erwähnte Literatur). An Paaren wie <t, f> oder <i, e> kann der weiter unten besprochene, phonologisch relevante Kontrast zwischen Bogen und Gerade eingeübt werden. Linksorientierte Buchstaben wie <u, a, o, d, j, g>, ggf. auch <r>, sind graphematisch markiert und haben phonologisch markierte, meist hinten artikulierte Korrespondenten, so dass es sich empfiehlt, sie zu einem späteren Zeitpunkt einzuführen. Minimalpaare sind zur Demonstra-tion eines Kontrastes im Allgemeinen nützlich, aber bei der Einführung unterschiedlich orientierter Buchstaben sind vertikale oder horizontale Spiegelungen wie <b, d>, <s, z> oder <u, n> zu vermeiden, weil sie zu Wahrnehmungsschwierigkeiten (vgl. Wiebelt 2003, 2004) und gehäuften Produktionsfehlern führen (vgl. Ellis 1979, Berkemeier 1997, 1998). Der in sich horizontal gespiegelte Buchstabe <s> dürfte aus demselben Grund Probleme bereiten. Auch Buchstaben mit Diagonalen wie <k, z, v, w, x, y> sollten später eingeführt werden, weil diagonale Linien nicht-distinktiv sind und auf andere Grundelemente zurückgeführt werden müssen. Schließlich gibt es Buchstaben, die eine distributionelle oder sonstige Besonderheit aufweisen. So hat <h> zwar eine recht einfache Buchstabenform, diese ist aber, wie weiter unten näher begründet wird, phonologisch nicht transparent und verweist eher auf die stumme silbische Funktion dieses Buchstabens. Auch <c> hat eine einfache Buchstabenform, kommt allerdings im Deutschen alleine nur in Fremdwörtern vor und ansonsten nur als Bestandteil von komplexen Graphemen wie <ch> oder <sch>. Ähnliche oder sonstige Besonderheiten weisen die Buchstaben am Ende der Tabelle (22) auf. Die Relevanz und Plausibilität der hier eingeführten Merkmale und Buchstaben-zerlegungen zeigen sich nicht nur innergraphematisch, sondern auch funktional dadurch, dass sie an systematischen Korrespondenzen zwischen graphematischen und phonologischen Formen beteiligt sind. Solchen Korrespondenzen widmet sich das nächste Kapitel. 4. Phonologisch-funktionale Beschränkungen Da unsere Alphabetschrift nicht nur für die Verschriftung des Deutschen benützt wird, müssen wir auch andere Sprachen berücksichtigen. Wichtig ist auch die Vorüberlegung, dass die schriftliche Repräsentation einer sprachlichen Form von verschiedenen, als 'Orthographie-prinzipien' formulierten Aspekten determiniert wird. Die lautbezogene phonologische Form ist nur ein Gesichtspunkt, an dem sich die Graphematik orientiert. Hinzukommen unter anderem silbische, morphologische und etymologische Faktoren. Es gibt Sprachen, wie das Italienische, Finnische oder Deutsche, deren Laut-Buchstaben-Beziehungen phonologisch systematischer sind, und Sprachen wie das Englische, deren Laut-Buchstaben-Beziehungen aufgrund intervenierender morphologischer und etymologischer Faktoren phonologisch undurchsichtiger und weniger systematisch sind. Es ist zu erwarten, dass sich diese Unterschiede auch auf Merkmalsebene niederschlagen. Es wäre daher unangebracht, die Graphematik des Englischen als Kanon für die phonologische Funktion von Buchstaben-merkmalen heranzuziehen. Aus dieser Perspektive betrachtet ist die Wahl des Deutschen als

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Ausgangspunkt merkmalsbasierter Analysen vielleicht nicht die beste, aber sicherlich auch nicht die schlechteste Wahl. Bei der Ermittlung des kanonischen Lautwerts eines Buchstabens lassen wir uns von folgenden allgemeinen Annahmen leiten. Der ermittelte Lautwert muss sprachenübergreifend gelten. Das Problem der sprachenübergreifenden Variation löst unser Alphabet durch Unter-spezifikation: einer bestimmten Buchstabenform entspricht ein unterspezifiziertes phonologi-sches Merkmalsbündel, so dass sie mehrere lautlich verwandte Phoneme wiedergeben kann. Desweiteren gehen wir davon aus, dass Buchstaben mit Phonemen und nicht mit deren Allo-phonen korrespondieren, weil Allophone entweder nicht-distinktiv (wie z. B. die konsonanti-schen r-Allophone des Deutschen) oder aus phonologischen Regeln ableitbar sind (wie z. B. das vokalische r-Allophon des Deutschen, vgl. Wiese 2000). Wir erinnern uns an das Prinzip der Lexikonökonomie, wonach nicht-distinktive oder ableitbare Information nicht gespeichert wird. Wenn eine Buchstabenform auf ein Allophon deutet – wie es sich u. a. für <c> und <g> herausstellen wird –, so betrachten wir die Korrespondenz als diesbezüglich irregulär. Desweiteren ziehen wir den distributionellen Normalfall der Buchstaben heran und schließen spezielle Vorkommenskontexte (wie z. B. silbeninitiales <s> vor <t> oder <p> im Deutschen) mit derselben allgemeinen Begründung aus: Der Lautwert eines speziellen Verwendungs-kontextes ist ableitbar. Eine praktische Hilfe bieten die Buchstaben-Laut-Tabellen der Fremdsprachenlexika, die für jeden Buchstaben zunächst nur dessen kanonischen Lautwert angeben. Die funktionalen Beschränkungen werden als Implikationen (Wenn A, dann B) formuliert, wobei im Antezedens ein graphematisches Merkmal bzw. dessen Absenz und im Konsequenz ein phonologisches Merkmal bzw. dessen Absenz erscheint. Die Richtung der Implikation darf nicht als serielle Derivation oder Transformation, die aus einer zugrunde liegenden graphematischen Form eine phonologische Form ableitet, gedeutet werden. Jede logische Implikation "Wenn A, dann B" ist mit der Kontraposition "Wenn nicht B, dann nicht A" äquivalent, wodurch sich die Blickrichtung von einem phonologischen Merkmal zu einem graphematischen Merkmal salva veritate wechseln lässt. Die Kontraposition wird nur zu Beginn des Abschnitts formuliert und anschließend stillschweigend akzeptiert. 4.1 Phonologische Sonorität Auf das innergraphematische "Prinzip der freien Hasta" bei der Herausbildung der karolingischen Minuskelschrift, aus der alle modernen Minuskelschriftvarianten unseres Alphabets hervorgegangen sind, hat Herbert Brekle (1994, 1995, 1999) aufmerksam gemacht, ohne eine phonologische Funktion des Merkmals "frei" in Erwägung zu ziehen. Unabhängig von Brekle hat Naumann (1989: 194f.) mit Bezug auf das Deutsche festgestellt, dass es eine enge Korrelation zwischen der Länge der Buchstaben und der phonologischen Sonorität bzw. Obstruenz der Laute gibt. Dabei sind die wichtigsten Stufen der Sonoritätshierarchie folgende: Plosiv – Frikativ – konsonantischer Sonorant – vokalischer Sonorant. Desweiteren sind stimmhafte Obstruenten sonorer als stimmlose und tiefe Vokale sonorer als hohe. Wie (23) zeigt, ist der relative Anteil der Buchstaben mit einem [freien] Kopf für Plosive am höchsten und für Vokale am niedrigsten: (23) (a) Buchstaben für Plosive: <p, t, k, b, d, g, q>

(b) Buchstaben für Frikative: <f, ß, j, h; c, s, v, w> (c) Buchstaben für konsonantische Sonoranten: <m, n, r; l> (d) Buchstaben für vokalische Sonoranten: <a, e, i, o, u; y>

Naumanns Beobachtungen werden wir mit Hilfe des Merkmals [frei] und der Unterscheidung zwischen Obstruenten (Plosive und Frikative) und Sonoranten anhand folgender verletzbarer

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Beschränkungen erklären: (24) FREI/OBSTR: Wenn ein beliebiger Buchstabe einen [freien] Kopf hat, dann hat der

korrespondierende Laut das Merkmal [obstruent]. Die Kontraposition ist ¬OBSTR/¬FREI: Wenn einem beliebigen Laut das Merkmal [obstruent] fehlt, dann fehlt dem Kopf des korrespondierenden Buchstabens das Merkmal [frei].

Ausnahmen zu (24) sind <l> für /l/ sowie <y> für einen Vokallaut. Die zweite Ausnahme könnte mit dem Sonderstatus des <y> erklärt werden, der schon in der römischen Zeit nur für Lehnwörter aus dem Griechischen benutzt wurde und diese Sonderstellung im Deutschen und anderen Sprachen beibehalten hat (vgl. <Lyrik> oder <Rhythmus>). Allerdings wird <y> in einigen Sprachen, z. B. im Tschechischen und Schwedischen, mit vokalischer Funktion lexikalisch uneingeschränkt verwendet. Die Ausnahmelänge von <l> ist in einem Wettbewerbsmodell wie der OT erklärbar (vgl. Primus 2004). Neben (24) gilt auch (25) als verletzbare Beschränkung: (25) ¬FREI/¬OBSTR: Wenn ein beliebiger Buchstabe einen Kopf hat, dem das Merkmal

[frei] fehlt, dann fehlt dem korrespendierenden Laut das Merkmal [obstruent]. Die logische Kontraposition ergibt OBSTR/FREI.

Ausnahmen zu (25) sind die Buchstaben <c, s, z, x, v, w>, wenn sie – wie im Deutschen – mit

Obstruenten korrespondieren, nicht jedoch die Buchstabenvariante <zzzz>. Eine Erklärung für

diese Ausnahmen kann man aus der Beobachtung von Brekle (1999) gewinnen, dass sich runde Linien der Entwicklung in eine freie Hasta widersetzten. Diese Erklärung erscheint plausibel, wenn man zugleich erklären kann, warum diese Buchstaben den runden Kopf zugunsten eines freien Kopfes nicht aufgeben konnten. Die funktionale Analyse des Bogenmerkmals hilft hier weiter. Die Buchstaben <c, s, z, x, v, w> stellen Frikative oder Affrikate mit einer frikativen Komponente dar. Das frikative Merkmal wird durch einen gekrümmten Kopf graphematisch repräsentiert, wie weiter unten eingehender besprochen wird. Aus diesem Grund hat der Kopf dieser Buchstaben das Merkmal [bogen] zugunsten von [frei] in der geschichtlichen Entwicklung dieser Buchstabenformen nicht aufgeben können. Durch eine Listenbeschränkung BOGEN&¬FREI/OBSTR(c, s, z, x, v, w) über ¬FREI/¬OBSTR können wir die Systematizität dieser Sonderfälle erklären. Die Beschränkungen in (26) legen die phonologische Relevanz der Merkmale [frei unten] vs. [frei oben] fest und belegen, dass unser Alphabet auch feinere Sonoritätsunterschiede wiedergibt. (26) FREIUNTEN/MINSON: Wenn ein Buchstabe das Merkmal [frei unten] trägt, dann gehört

der korrespondierende Laut zur minimal sonoren Subklasse unter Vorgabe des Merkmals [frei] bzw. ¬[frei] und ggf. weiterer Merkmale. FREIOBEN/MAXSON: Wenn ein Buchstabe das Merkmal [frei oben] trägt, dann gehört der korrespondierende Laut zur maximal sonoren Subklasse unter Vorgabe des Merkmals [frei] bzw. ¬[frei] und ggf. weiterer Merkmale.

Die Wirkung der Beschränkungen in (26) belegt (27), wo die graphematische Repräsentation der Sonoritätshierarchie zusammengefasst wird:

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(27) Die graphematische Repräsentation der Sonoritätshierarchie

-------------- steigende Sonorität ------------------>

FREI/OBSTR Obstruenten

¬FREI/¬OBSTR Sonoranten

FREIUNTEN/MINSON stimmlos

FREIOBEN/MAXSON stimmhaft

FREIUNTEN/MINSON konsonantisch

FREIOBEN/MAXSON

vokalisch <p, q, t>

<f, ſ>

<b, d>

<j>

<n, m>

<r>

<u>

< iiii>

Am deutlichsten erkennt man die Wirkung der Sonoritätsbeschränkungen an den Buchstaben, die annähernd als horizontale Spiegelungen voneinander aufgefasst werden können und zur selben Sonoritätsoberklasse gehören. Weitere positive Evidenz bildet die Opposition [frei unten] vs. [frei oben] für die Korrespondenzen <f>-/f/ vs. <v>-/v/, <f>-<f> vs. <w>-/v/ und <e>-/e/ vs. <a>-/a/. Im letzten Fall spielt der Sonoritätsunterschied innerhalb der Subklasse der nicht-hohen Vokale eine Rolle: /e/ ist weniger sonor als /a/. Zu beachten ist dabei auch, dass <e, a> annähernd als horizontale Spiegelbilder voneinander betrachtet werden können.

Einige Buchstaben scheren aus dieser Systematik aus oder bedürfen eines Kommentars. Die Tatsache, dass <t> unten frei ist, sieht man an der Minuskel weniger deutlich als an der Majuskel <T>, auch fehlt beiden Buchstabenvarianten ein horizontales Spiegelbild in der Klasse der Buchstaben für Obstruenten. Die Buchstaben, die Frikative repräsentieren, sind weniger systematisch. Wie bereits erwähnt, verhinderte in etlichen Fällen ihre zugrunde liegend gerundete Form die Herausbildung eines freien Kopfes und damit einhergehend eine optimale graphematische Repräsentation der Obstruenz. Die lautliche Stimmhaftigkeits-opposition unterliegt bei Obstruenten sprachintern und sprachenübergreifend einer erheblichen Variation, so dass es nicht überrascht, wenn mehrere Buchstaben diesen Kontrast nicht systematisch genug repräsentieren. Das Paar <k, g> muss eigens erwähnt werden, weil es die umgekehrte Konstellation aufweist: [frei oben] repräsentiert den stimmlosen Plosiv und [frei unten] den stimmhaften. Allerdings ist die Analyse von <g> als [frei unten] angesichts der Minuskelvariante <g> nicht eindeutig. 4.2 Phonologische Konstriktion und postalveolarer Artikulationsort Die beiden anderen systematischen phonologischen Korrelate von Buchstabenmerkmalen sind der Grad der phonologischen Konstriktion und der Artikulationsort. Wir fangen mit der phonologischen Konstriktion an.

Konsonanten, die mit einer maximalen Schließbewegung im Mundraum artikuliert werden, klassifiziert man in der Phonologie auch als [-kontinuierlich]. Dies sind Plosive, Nasale und – je nach Auslegung dieses phonologischen Merkmals – auch /l/ und vielleicht auch /r/. Kontinuierliche Konsonanten, die mit einer minimalen Konstriktion im Mundraum artikuliert werden, sind die Frikative. Bei den Vokalen kommt per definitionem keine voll-ständige Konstriktion im Mundraum in Frage, so dass die maximal zugelassene Schließung bei hohen Vokalen und eine minimale Schließbewegung bei nicht-hohen Vokalen vorliegt. Eine minimale Konstriktion wird bei Vokalen wie Konsonanten graphematisch durch einen runden Kopf wiedergegeben. Diese Beschränkung kürzen wir als BOGEN/MINKONSTR ab. Die Absenz dieses graphematischen Kopfmerkmals signalisiert eine maximale phonologische Konstriktion, abgekürzt ¬BOGEN/MAXKONSTR. Vgl. (28):

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(28) ¬BOGEN/MAXKONSTR und BOGEN/MINKONSTR

Graphematisches Kopfmerkmal

Phonologisches Merkmal

Buchstaben

maximale Konstriktion: nicht-kontinuierlich hoch

<t, d, p, b, k, q, m, n> <i, u>

fraglich <l, r, h> minimale Konstriktion: kontinuierlich nicht hoch

<s, z, f, v, w, j, ſ, ß>

<e, a, o>

[bogen]

fraglich <c, g, x>

Buchstaben, die Diagonale enthalten, werden durch ihre gerundeten Varianten vertreten. Die Buchstabenliste enthält auch Buchstaben wie <ſ, ß>, die nicht zum modernen Kerninventar unseres Alphabets gehören. Einige Frikative werden durch Mehrgraphen repräsentiert, wie z. B. <ch> und <sch> im Deutschen. Wenn man das erste gerundete Segment als Kopf der gesamten Konstruktion betrachtet, was plausibel erscheint, so folgen auch diese Digraphen den Konstriktionsbeschränkungen. Bevor wir die fraglichen Fälle diskutieren, ist es ange-bracht, auch die graphematische Repräsentation der Artikulationsorte vorzustellen. Graphematisch systematisch wiedergegeben wird der Kontrast zwischen vorderen und postalveolaren, hinteren Artikulationsorten, für die wir das phonologische Merkmal [postalveolar] einführen. Der vordere Bereich ist der unmarkierte Artikulationsbereich, wobei koronale Laute am wenigsten markiert sind (vgl. Hall 2000). Aufgrund des Prinzips des konstruktionellen Ikonismus erwarten wir, dass Buchstaben für koronale Laute die einfach-sten Kodas haben und dass postalveolaren Lauten besonders markierte Buchstabenformen entsprechen. Dies kann zweierlei bedeuten. Erstens kann die Koda durch ihre vom Kopf abgewandten Orientierung die GESCHLOSSEN-Beschränkung verletzen, was bei <k, x> und vielleicht auch bei <r> der Fall ist. Zweitens kann die Position der Koda links vom Kopf oder der Kopf selbst die ¬LINKS-Beschränkung verletzen, was bei <q, g, k, j, a, u, o> der Fall ist. Vereinfacht formuliert liegt in beiden Fällen eine markierte horizontale Orientierung vor. Die Belege für unsere Hypothesen sind in (29) zusammengefasst: (29) IKONORT für [postalveolar]

Graphematisches Merkmal

Phonologisches Merkmal Buchstaben

(unmarkiert hinsichtlich [postalveolar])

<b, p, t, f, v, w, l, s, n, m>, <i, e>

(unmarkiert hinsichtlich GESCHLOSSEN und ¬LINKS)

fraglich <h, r, c>

[postalveolar] <q, g, k, j>, <a, u, o> verletzt GESCHLOSSEN oder ¬LINKS fraglich <r, d, z, z>

Einige Buchstaben bedürfen eines Kommentars. Fangen wir mit der Einordnung von <l> an. Dem Buchstaben <l, L> fehlt in beiden Varianten ein runder Kopf, obwohl der korrespon-dierende Laut /l/ von vielen Phonologen als kontinuierlich klassifiziert wird. Es gibt jedoch auch Arbeiten (z. B. Chomsky / Halle 1968: 318), die seine Klassifizierung als kontinuier-

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lichen Laut in Frage stellen und darauf hinweisen, dass er mit einer partiellen Schließung des Mundraums artikuliert wird: Der aktive Artikulator berührt den passiven, womit man eine durch den geraden Kopf indizierte maximale Konstriktion rechtfertigen könnte. Allerdings gibt es für das Paar <l, L> eine alternative graphematische Erklärung, die die Absenz der phonologisch erwartbaren Krümmung <�> rechtfertigen könnte. Sie basiert auf folgenden Beobachtungen: a) Majuskeln neigen dazu, das Merkmal [bogen] durch Entrundung zu verlieren (vgl. Abschnitt 5 weiter unten), so dass <L> zugrunde liegend gekrümmt sein könnte; b) <l, L> ist das einzige Paar, in dem die Minuskel symmetrisch und die Majuskel asymmetrisch ist, was bei <�, L> nicht der Fall wäre; c) der Spazierstock <�>, der anstelle von <l> in Frage kommt, wird als Buchstabe auch sonst nicht verwendet, obwohl er visuell und schreibmotorisch unmarkiert ist (vgl. die Buchstabenanalysen in (22) weiter oben). Eine Erklärung für diese systematische Lücke kann auf den geraden Kopf von <l> übertragen werden und lässt sich bei verbundenen Schriften finden: Der Kontrast zwischen der Geraden <l> und dem Spazierstock <�> ist in verbundenen Schriften aufgrund der geschwungenen rechtsorientierten Verbindungslinien nicht rekonstruierbar, d. h. zugunsten des Spazierstocks <�> neutralisiert.

Bei <r, r, R>5 ist die Situation undurchsichtiger, aber für unsere funktionale Buchstaben-

grammatik nicht hoffnungslos. Das erste Problem ist die Buchstabenvariation. Bei <r, R> handelt es sich um ein Variantenpaar, das nicht auf einfachem Weg voneinander abgeleitet werden kann (vgl. Abschnitt 5) und auch die beiden Minuskelvarianten unterscheiden sich recht deutlich voneinander. Das zweite Problem ist, dass der korrespondierende Laut eine erhebliche dialektale und sprachenübergreifende phonologische Variation aufweist. Soll man den koronalen Vibrant (den gerollten Zungenspitzenlaut), der mit einer intermittierenden partiellen Schließung des Mundraumes artikuliert wird, zugrunde legen? Das erste gerade Segment aller Buchstabenvarianten würde die intermittierende maximale Konstriktion indizieren, falls eine intermittierende Schließung als maximale Konstriktion eingestuft werden darf. Die einfache kleine runde Koda der Minuskel <r> würde den unmarkierten koronalen Wert auf optimale Weise wiedergeben. Wir erinnern uns an das Prinzip des konstruktionellen Ikonismus: einfache Formen repräsentieren einfache Funktionen. Gegen die Wahl des Zungenspitzenlauts als kanonischen Korrespondenten spricht die relativ komplexe Koda der

Majuskel <R> und der Minuskelvariante <r>. Schließlich muss man zu bedenken geben, dass

zur Minuskel <r> alternative Analysemöglichkeiten existieren. Berkemeier (1997: 332, 1998: 50) analysiert <r> aufgrund von Produktionsfehlern als Gerade ׀ mit Spazierstock ∂. Wenn der runde Spazierstock der Kopf der Minuskel ist, zeigt er einen kontinuierlichen Laut, d. h. Frikativen oder Vibranten, an. Damit könnte man Vibranten in Einklang mit der phonologischen Forschung als kontinuierlich einstufen. Da sich der Spazierstock nicht zur Koda orientiert, liegt eine Verletzung der GESCHLOSSEN-Beschränkung vor. Mit Blick auf die

andere Minuskelvariante <r> und die Majuskel <R> bedeutsamer erscheint uns die Tatsache,

dass bei dieser Analyse die Koda links vom gerundeten Kopf erscheint, womit der Buchstabe in allen drei Varianten linksgerichtet ist. Beides, die linksgerichtete Orientierung und die ungeschlossene Figur der Grundvariante, weisen auf einen postalveolaren Artikulationsort hin. Die Probleme, die die Buchstabenvarianten und die phonologische Einordnung der Vibranten bieten, wären also entschärft, wenn wir den uvularen Frikativ oder Vibrant (den Zäpfchenlaut) als kanonischen Lautwert annehmen und den Buchstaben als linksgerichtet und seinen Kopf als bögig analysieren. Der Zäpfchenlaut wird zumindest im Deutschen als

5 Die Variante <r> ist neben <r> in der österreichischen Schulausgangsschrift aufgenommen.

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Grundallophon angesetzt (vgl. Wiese 2000). Diese Lösung sollte uns jedoch nicht allzu euphorisch stimmen, denn es ist fraglich, ob der Zäpfchenlaut auch sprachenübergreifend der kanonische Korrespondent dieses Buchstabens ist.

Die Situation für <h, H> lässt die Frage aufkommen, ob dessen kanonische Funktion nicht angemessener als silbisch, also suprasegmental, eingestuft werden sollte. Fangen wir aber zunächst mit der äußerst strittigen Einordnung des korrespondierenden Lauts /h/ ein. Die traditionelle Phonologie stuft ihn als laryngalen Frikativ ein. Der freie gerade Kopf der Minuskel würde zwar die Obstruenz, jedoch nicht auch deren minimale Konstriktion wiedergeben, weil der Kopf in keiner der beiden Varianten gerundet ist. Außerdem ist die Geschlossenheit der Figur und ihre Rechtsorientierung relativ gesichert, so dass der postalveolare Artikulationsbereich nicht repräsentiert wird. In der neueren Forschung wird der Laut /h/ allerdings nicht als 'normaler' Frikativ klassifiziert, sondern in die Sonderklasse der Laryngale mit den Merkmalen [-obstruent, -sonorant] eingestuft (vgl. Chomsky / Halle 1968, Steriade 1995). Außerdem wird die Larynx nicht mit den Artikulationsorten im Mundraum in eine Reihe gestellt. Aufgrund dieser Analyse ist der gerade lange Kopf der Minuskel <h> und seine relativ unmarkierte Koda funktional anders zu deuten als bei den Buchstaben, die mit Nicht-Laryngalen korrespondieren. Einen ersten Hinweis auf die primär silbische Funktion von <h, H> liefern die Vorkommensbeschränkungen laryngaler Merkmale im Deutschen und anderen europäischen Sprachen, die sich des römischen Alphabets seit Jahrhunderten bedienen. Wie neuere Untersuchungen zeigen (vgl. Kehrein 2001, Neugebauer 2002), kommen der Stimmhaftigkeitskontrast, der laryngale Hauchlaut und der laryngale Knacklaut (Glottisschlag) bevorzugt, im Deutschen sogar ausschließlich im Silbenanfangsrand vor. Es ist daher plausibel anzunehmen, dass der lange gerade Kopf der Minuskel <h> den Silbenbeginn anzeigt, eine Annahme, die zumindest als partielle Funktion dieses Buchstabens allgemein anerkannt wird. Dass der graphematische Silbenbeginn das Merkmal [frei] bevorzugt aufweist, hat bereits Naumann (1989) belegt. Wir gehen einen Schritt weiter und behaupten, dass die Indizierung eines Silbenbeginns die grundlegende, kanonische Funktion von <h, H> ist. Diese weitergehende Hypothese wird durch die stumme Realisation dieses Buchstabens bestätigt, unter anderem im Französischen (vgl. <horrible>, <horologe>), Serbokroatischen und zumindest partiell auch im Deutschen (vgl. <ge-hen>, das wie angegeben graphematisch syllabiert wird). Das Problem, das <c> aufwirft, ist die velare, plosive Funktion /k/. Der kurze Kopf dieses Buchstabens indiziert einen Sonoranten, seine Rundung deutet auf einen Sonoranten mit einer minimalen Konstriktion hin, der außerdem einen vorderen, unmarkierten Artikulationsort aufweisen muss, weil der Buchstabe die denkbar einfachste Koda aufweist, nämlich gar keine. Der nicht-hohe vordere Vokal /e/ nebst seinen phonologischen Varianten wären also optimale Korrespondenten. Unsere Vorhersagen sind zwar faktisch falsch, aber nicht weit von der idealen Situation entfernt, wenn man den minimalen Unterschied zwischen den Buchstaben <c> und <e> bedenkt. Wir können unsere Vorhersagen verbessern, wenn wir – wie bereits erwähnt – eine Listenbeschänkung BOGEN&¬FREI/OBSTR(c, s, z, x, v, w) über ¬FREI/¬OBSTR einfügen. Die Listenbeschränkung bewirkt, dass <c> nun mit einem Obstruenten korrespon-diert, der eine minimale Konstriktion und den am wenigsten markierten Artikulationsort aufweist. Der optimale Kandidat ist /s/ und seine phonologischen Varianten. Diese Vorher-sage ist zutreffender, weil <c> diesen Lautwert in vielen Sprachsystemen hat, sei es als Frikativ (vgl. Französisch <cinema, centre>), sei es als Affrikate (vgl. Italienisch <cinema, centro>). Das Problem ist, dass der Sibilant auch in diesen Sprachen als Allophon des velaren Plosivs gedeutet werden kann (vgl. Französisch <cours>, <carosse>).6 Die Probleme, die <g>

6 <c> ist als runde Variante aus dem griechischen Gamma hervorgegangen (cf. Jeffery 1990), so dass ein velarer Plosiv auch die historisch tradierte Funktion dieses Buchstabens ist. Im kyrillischen Alphabet wird allerdings <C> für den koronalen Sibilanten verwendet, wobei für diese Funktion eine vereinfachte gerundete Variante des griechischen Sigma Pate stand (vgl. Threatte 1996:274)

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bereitet, sind ähnlich gelagert und werden im nächsten Abschnitt besprochen. Als nächsten uneindeutigen Fall müssen wir <x> besprechen, dessen Form auf zwei voneinander abgewandte Halbkreise zurückzuführen ist. Der kanonische phonologische Korrespondent ist nicht nur im Deutschen, sondern auch in anderen Sprachen /ks/. Nun hat /ks/ widersprüchliche lautliche Eigenschaften, so dass die Buchstabenform phonologisch nicht perfekt transparent sein kann. Die Halbkreise indizieren die frikative Komponente und rechtfertigen die Verletzung der ¬FREI/¬OBSTR-Beschränkung. Die voneinander abgewandte Orientierung der Halbkreise verletzt die GESCHLOSSEN-Beschränkung und deutet auf einen postalveolaren Artikulationsort hin, der allerdings nicht im Frikativ /s/, sondern im Plosiv /k/ realisiert wird. Vereinfacht formuliert löst die Form <x> das phonologisch bedingte Dilemma, indem sie den Artikulationsort des Plosivs und die Artikulationsart des Frikativs wiedergibt.

Die Linksorientierung von <d, z, z> kann nicht durch den Artikulationsort der ent-

sprechenden koronalen Laute motiviert sein. Wir gehen von der recht plausiblen Hypothese aus, dass bei <s, z> die vertikale Spiegelung7 den Stimmhaftigkeitskontrast andeutet, weil eine horizontale Spiegelung wie bei <p, b> bei <s>, der horizontal bereits in sich gespiegelt ist, nicht möglich ist. Die affrikate Funktion, die <z> im Deutschen hat, sollte man nicht als sprachenübergreifenden Prototyp werten. Für die Linksorientierung von <d> kann man die Homomorphiegefahr verantwortlich machen. Optimale Kandidaten für den Lautwert /d/ wären Buchstabenformen, die sich von <t T> nur durch das Merkmal [frei oben] unter-scheiden, also <� ┴>. Bei diesen Formen ist aber die Verwechslungsgefahr mit <� L> bzw. <l, L> sehr groß. Außerdem stellten wir in Zusammenhang mit <l, L> fest, dass <�> als Buchstabenform nicht zur Verfügung steht. Bei den Buchstabenformen für koronale Laute gibt es ein phonologisch begründetes Dilemma, das dadurch entsteht, dass koronale Laute unmarkiert und deswegen besonders zahlreich vorkommen, z. B. /t, d, s, z, l, r, i, e/. Die Beschränkung IKON-ORT verlangt, dass alle koronalen Phoneme durch unmarkierte und distinkte Buchstabenformen repräsentiert werden, was bei einer so hohen Anzahl von koronalen Phonemen nicht ohne Verletzung von IKONORT oder einer anderen Beschränkung gelingen kann. Zusammenfassend halten wir fest, dass unsere Alphabetschrift systematische Korrespon-denzen zwischen Buchstabenmerkmalen und phonologischen Merkmalen erkennen lässt, die man auch für die Ermittlung des Lautwerts eines Einzelbuchstabens heranziehen kann. Zum Abschluss dieses Kapitels sollen einige exemplarische Einzelanalysen vorgeführt werden.8 4.3 Exemplarische funktionale Buchstabenanalysen Im Folgenden wird mit Blick auf die praktischen Aufgaben beim Schreib- und Lese-Erwerb die Ableitungsrichtung von einem vorgegebenen Buchstaben zu einem möglichen Laut verfolgt. Es geht im Schreib- und Lese-Erwerb nämlich vorrangig darum, vorgegebene Buchstabenformen beim Schreiben adäquat wiederzugeben und deren Lautwert beim Lesen zu ermitteln. Die Blickrichtung von einem vorgegebenen Laut zu einer möglichen Buchstabenform entspricht eher der praxisferneren Aufgabe des 'Erfinders' einer Buchstaben-form.

Wir beginnen unsere Einzelfallanalysen mit dem ersten Buchstaben unseres Alphabets und versuchen, den Lautwert von <a> aufgrund der Buchstabenform zu ermitteln. In loser Anknüpfung an die Methoden der OT stellen wir unsere Analysen in Tabellen dar. Die erste Spalte gibt als Vorgabe bzw. Input die relevanten graphematischen Merkmale bzw. deren Absenz an. In der zweiten Spalte erscheint die einschlägige Beschränkung, die dem

7 Dass diese beiden Buchstaben in ihrer zugrunde liegenden Form vertikale Spiegelungen voneinander sind, belegen die häufigen Produktionsfehler (vgl. Berkemeier 1997, 1998). 8 Weitere exemplarische Analysen findet man in Primus (2004).

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graphematischen Merkmal in der ersten Spalte das phonologische Merkmal, das in der dritten Spalte erscheint, als Output zuordnet. Die letzte Spalte erläutert das Zwischenergebnis. Das Endergebnis wird in der letzten Zeile zusammengefasst.

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(30) Der Lautwert von <a> Input: graphemati-

sches Merkmal relevante

Beschränkung Output: phonologisches

Merkmal Zwischenergebnis

Kopf: ¬[frei] ¬FREI/¬OBSTR ¬[obstruent] Nasal, Liquid oder Vokal Kopf: [bogen] BOGEN/

MINKONSTR minimale Konstriktion kontinuierlicher Konsonant

(Frikativ) oder nicht-hoher Vokal, kompabibel mit ¬FREI/ ¬OBSTR ist nicht-hoher Vokal

horiz. Orientierung: [linksgerichtet]

IKONORT [postalveolar] postalveolarer Laut; kompa-tibel mit ¬FREI/¬OBSTR und BOGEN/MINKONSTR ist nicht-hoher, postalveolarer Vokal

vert. Orientierung: [frei oben]

FREIOBEN/ MAXSON

sonorer relativ zum horiz. Spiegelbild in

seiner Subklasse

sonorer als /e/, also tiefer Vokal

Endergebnis: postalveolarer tiefer Vokal Das Resultat der Analyse ist phonologisch unterspezifiziert, denn es gibt sprachenver-gleichend und gegebenenfalls in ein und derselben Sprache mehrere postalveolare tiefe Vokale. Diese phonologische Unterspezifikation ist kein Nachteil. sondern vielmehr der große Vorteil unseres Alphabets: mit einer Buchstabenform können mehrere lautlich verwandte Phoneme und Allophone abgedeckt werden. Wie bereits in einem anderen Zusammenhang erwähnt, garantiert Unterspezifikation einen effizienten Umgang mit Varianten. Wenn eine Sprache, die sich unseres Alphabets bedient, nur einen postalveolaren tiefen Vokal hat, dann ist sprachintern keine Lautverwechslung möglich. Das Deutsche hat jedoch vier Vokale, die als postalveolar und tief eingestuft werden können. Dies sind in phonetischer Transkription [a] wie in Ratte, [℘:] wie in rate, [�] wie in Wille und [�] wie in Tür.

Zwei allgemeine Prinzipien erklären die Tatsache, warum zu keinem Zeitpunkt in der Geschichte des Deutschen diese Lautwerte durch verschiedene Buchstaben ausdifferenziert wurden. Das erste, bereits erwähnte Prinzip besagt, dass vorhersagbare Information nicht im mentalen Lexikon gespeichert wird. Aufgrund einer phonologischen Regel vorhersagbar ist das Vorkommen des vokalischen /r/-Allophons (vgl. Wiese 2000). Für solche Fälle wird somit weder ein eigenständiges Phonem, noch ein eigenständiger Buchstabe gespeichert. Die Absenz eines eigenen Buchstabens für Schwa, dessen Phonemstatus fraglich ist, lässt sich ähnlich erklären. Außerdem greift hier wie auch im Falle der Vokalquantität das Ebenenprinzip: suprasegmentalen phonologischen Kontrasten entsprechen suprasegmentale (phonologische wie graphematische) Kontraste, segmentale Kontraste korrespondieren mit segmentalen Unterschieden. In der neueren Forschung hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass Schwa nicht als segmentales Allophon eines bestimmten Phonems, sondern als vokalischer Nukleus einer Reduktionssilbe fungiert (vgl. Wiese 2000). Auch für die Vokal-opposition haben sich verschiedene suprasegmentale Lösungen durchgesetzt (vgl. Becker 1996, Wiese 2000). Das Ebenenprinzip erklärt, warum Schwa und Vokalopposition einerseits und Wortakzentzuweisung andererseits, allesamt suprasegmentale Erscheinungen, mit-einander korrelieren: Eine Reduktionssilbe bzw. Schwasilbe kann den Wortakzent nicht tragen, während die Vokalopposition nur unter Akzent distinktiv ist (vgl. Becker 1996). Angesichts dieser Erkenntnisse überrascht es nicht, dass für diese phonologischen supra-segmentalen Kontraste auf der graphematischen Ebene ebenfalls nur suprasegmentale Repräsentationen existieren (vgl. Primus 2000, 2003).

Fazit ist, dass die Existenz genau eines Buchstabens mit der Form <a> für das phonolo-gische Merkmalsbündel [postalveolar, tief, vokalisch] in jedem Sinne eine optimale Lösung

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ist. Dies impliziert, dass die Buchstabenvariante <a> phonologisch weniger transparent ist, was hier aus Platzgründen nicht näher begründet wird, aber aufgrund unserer Buchstaben-grammatik leicht überprüft werden kann.

Als nächster Buchstabe kommt – als willkürlich herausgegriffene Stichprobe – <i> an die Reihe: (31) Der Lautwert von <i> Input: graphemati-

sches Merkmal relevante

Beschränkung Output: phonolo-gisches Merkmal

Zwischenergebnis

Kopf: ¬[frei] ¬FREI/¬OBSTR ¬[obstruent] Nasal, Liquid oder Vokal Kopf: ¬[bogen] ¬BOGEN/

MAXKONSTR maximale Konstriktion Plosiv, Nasal oder hoher Vokal,

kompabibel mit ¬FREI/¬OBSTR

ist Nasal oder hoher Vokal horiz. Orientierung: ¬[linksgerichtet]

IKONORT ¬[postalveolar] vorderer Nasal oder vorderer hoher Vokal

keine Koda, Kopf unmarkiert

IKON koronal, nicht-rund, nicht-nasal

vorderer hoher nicht-runder Vokal

vert. Orientierung: [frei oben]?

FREIOBEN/ MAXSON

sonorer relativ zum horiz. Spiegelbild in

seiner Subklasse

sonorer als <r>, also Vokal

Endergebnis: vorderer hoher nicht-runder Vokal Die hinzugefügte allgemeine IKON-Beschränkung und die dazugehörigen phonologischen Merkmale bedürfen eines Kommentars. Aufgrund dieser Beschränkung und der sehr einfachen Form von <i> darf sein phonologischer Korrespondent nur unmarkierte phonologische Merkmale aufweisen. Nicht-nasale Laute sind gegenüber nasalen Lauten unmarkiert, und für vordere Vokale ist nicht-rund die unmarkierte Option (vgl. Chomsky / Halle 1968, Steriade 1995, Hall 2000). Ob <i> als [frei oben] und als Spiegelbild von <r> eingestuft werden sollte, müssten weitere Untersuchungen ergeben. Zum Endergebnis trägt diese Annahme nichts bei. Hier wie für den Lautwert für <a> gilt, dass <i> nicht nur das Phonem /i/ abdeckt, sondern alle Phoneme, die die selben segmentalen Merkmale tragen, sowie Allophone dieser Phoneme.

Als nächstes greifen wir einen Buchstaben heraus, der mit einem Konsonanten korrespon-diert. Vgl. (32): (32) Der Lautwert von <q> Input: graphemati-

sches Merkmal relevante

Beschränkung Output: phonolo-gisches Merkmal

Zwischenergebnis

Kopf: [frei] FREI/OBSTR [obstruent] Plosiv oder Frikativ Kopf: ¬[bogen] ¬BOGEN/

MAXKONSTR maximale Konstriktion Plosiv

horiz. Orientierung: [linksgerichtet]

IKONORT [postalveolar] postalveolarer Plosiv

vert. Orientierung: [frei unten]

FREIUNTEN/ MINSON

weniger sonor als horiz. Spiegelbild in

der Subklasse

stimmloser postalveolarer Plosiv

Endergebnis: stimmloser postalveolarer Plosiv Der vorhergesagte Lautwert deckt /k/, den tatsächlich attestierten kanonischen Lautwert von

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<q> ab. Wenn /k/ das einzige stimmlose postalveolare Plosivphonem ist – was für die meisten Sprachen, die sich unseres Alphabets bedienen, zutrifft –, dann ist die Korrespondenz eindeutig.

Damit nicht der Eindruck entsteht, dass alle Vorhersagen unserer Buchstabengrammatik ohne weitere Vorkehrungen zutreffen, wollen wir uns abschließend einem problematischen Fall zuwenden. Vgl. (33): (33) Der Lautwert von <g> Input: graphemati-

sches Merkmal relevante

Beschränkung Output: phonolo-gisches Merkmal

Zwischenergebnis

Kopf: [frei] FREI/OBSTR [obstruent] Plosiv oder Frikativ Kopf: [bogen] BOGEN/

MINKONSTR minimale Konstriktion Frikativ

horiz. Orientierung: [linksgerichtet]

IKONORT [postalveolar] postalveolarer Frikativ

vert. Orientierung: [frei unten]?

FREIUNTEN/ MINSON

[stimmlos] ? stimmloser (?) postalveolarer Frikativ

Endergebnis: stimmloser (?) postalveolarer Frikativ Die Fragen, die <g> aufwirft, treten bei dieser Analyse klar zu Tage. Wenn man die Rundung des Kopfes und ihre Öffnungsrichtung ernst nimmt, so müsste diese Buchstabenform einen postalveolaren Frikativ indizieren. Diese lautliche Funktion ist in der Tat für <g> attestiert, unter anderem vor vorderen Vokalen im Spanischen (vgl. <giro, gente>), Französischen (vgl. <girafe, gens>) und als Affrikate im Italienischen (vgl. <giro, gente>) sowie in bestimmten Umgebungen in einigen deutschen Dialekten, in denen <g> in <Tag> wie <ch> in <Dach> ausgesprochen wird. Allerdings handelt es sich in diesen Fällen um allophonische oder dialektale Varianten des velaren Plosivs. Die Majuskel <G> könnte die Situation retten, wenn man die kurze gerade Linie als Kopf des Buchstabens analysiert. Das Problem ist, dass Majuskeln im Allgemeinen phonologisch weniger transparent sind als Minuskeln, so dass man sie als Evidenz für oder gegen eine funktionale Analyse mit großer Vorsicht behandeln muss. Eine weitere kleinere Unsicherheit bietet die Buchstabenvariante <g>, die keine klare vertikale Orientierung aufweist. Deswegen wurde [frei unten] und die phonologische Entsprechung [stimmlos] mit einem Fragezeichen notiert. Als Endergebnis halten wir fest, dass /g/ als Lautwert dieses Buchstabens nur partiell abgeleitet werden kann. Ableitbar sind die Obstruenz und der postalveolare Artikulationsort des Lautes, während sein Verschluss und seine Stimmhaftigkeit im mentalen Lexikon eigens gespeichert werden muss. 5. Buchstabenvarianten und ihre didaktische Bewertung Wir sind davon ausgegangen, dass Minuskeln in serifenlosen Druckschriften den abstrakten, d. h. unterspezifizierten, Buchstabenrepräsentationen am nächsten stehen. Es gilt also zu zeigen, dass Majuskelvarianten durch einige wenige Beschränkungen charakterisiert werden können. Die kognitive Plausibilität einer vorhersagbaren Beziehung zwischen Majuskeln und Minuskeln ist u. a. in Experimenten belegt worden, in denen Probanden Buchstaben memorieren sollten und die Buchstabenidentität zuverlässiger wiederholen konnten als ihren Status als Majuskel oder Minuskel (vgl. Friedman 1980: 58). In diesem Abschnitt widmen wir uns zunächst der schwierigeren Aufgabe, Majuskeln abzuleiten. Handschriftvarianten werden wir nur anhand der Buchstabenvarianten für <e> und im Zusammenhang mit der strittigen Frage nach einer geeigneten Ausgangsschrift im Schreib- und Leseunterricht kurz diskutieren.

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Unsere Auffassung unterscheidet sich von Ansätzen, die für Majuskeln und Minuskeln getrennte Inventare von Grundelementen annehmen (vgl. Scharnhorst 1988), oder von Arbeiten, die die Varianten einiger Buchstaben so unterschiedlich analysieren, dass sich ihre Verwandtschaft nicht unmittelbar erschließen lässt. So analysiert Berkemeier (1998: 57) die

Varianten <E>, <e> und <e> wie folgt:

(34) <E> I ¯–_ <e> c – <e> � ®®®®

Berkemeier zerlegt die Druckschrift-Majuskel in 4 Teile und setzt sie somit auch durch die Zahl ihrer Grundelemente von den Minuskelvarianten ab. Bei der Zerlegung der verbundenen Minuskelvariante spielen offensichtlich schreibmotorische Gesichtspunkte eine wesentliche Rolle (vgl. auch Topsch 2003: 777). Dies ist ein bedenkenswerter Aspekt, der jedoch bei der Analyse der beiden Druckvarianten, die ebenfalls handgeschrieben werden können, von Berkemeier offenbar vernachlässigt wird, weil ihre Zerlegung aus schreibmotorischer Perspektive weniger plausibel ist. Die Zerlegung der drei Buchstabenvarianten wird bei Berkemeier offenbar durch verschiedene Kriterien motiviert und dementsprechend weit klaffen ihre Eigenschaften auseinander. Unser Ansatz ist regelbasiert und versucht, Buchstabenvarianten durch einige wenige Beschränkungen systematisch voneinander abzuleiten. In Einklang mit unserer Eingangs-hypothese, dass Druckschrift-Minuskeln die Grundvarianten darstellen, werden wir versuchen, Druckschrift-Majuskeln durch drei Beschränkungen zu charakterisieren und abzuleiten. Die erste Beschränkung OBER+MITTELBAND betrifft die Bändereinteilung der Majuskeln: der Kontrast, den das Merkmal [frei] bei den Minuskeln etabliert, wird bei den Majuskeln zugunsten einer gleichmäßigen Verteilung über Mittelband und Oberband aufgegeben. In etlichen Fällen geht dies mit einer Verlängerung der Kopf- und / oder Kodalinie einher. Als weitere Folgeerscheinung wird die Majuskel auch seitlich gegenüber

der Minuskel vergrößert. Mit Ausnahme der verbundenen Schreibschriftvarianten <G J Y> steht den Majuskeln das Unterband nicht zur Verfügung, so dass bei Minuskeln mit Unterlänge auch eine Verschiebung des Buchstabens um ein Band nach oben erfolgt. Einen Platz des Unterbandes beanspruchen auch einige Varianten des <Q>. Als weitere Folgeerscheinung werden die einfachen Punktdiakritika eliminiert. Alle Majuskeln folgen dem OBER+MITTELBAND-Gebot. (35) listet jedoch lediglich diejenigen Buchstaben auf, die sich nur aufgrund der OBER+MITTELBAND-Beschränkung und ihrer Folgeerscheinungen von ihren Minuskelvarianten unterscheiden: (35) OBER+MITTELBAND : <c, C>, <i, I>, <j, J>, <k, K>, <o, O>, <p, P>, <s, S>, <v, V>,

<w, W>, <x, X>, <z, Z> Das nächste Gebot erfasst die Präferenz der Majuskeln für die intrinsische Symmetrie. Bei dieser Art der Spiegelung liegt die Symmetrieachse innerhalb des Buchstabens. Majuskeln, die sich nicht nur durch die Bändereinteilung, sondern auch durch die Befolgung dieses Gebots von ihrer Minuskelvariante unterscheiden, zeigt (36): (36) INTRSYMMETRIE:

Vertikal-Symmetrie: <a, A>, <h, H>, <m, M>, <t, T>, <u, U>, <y, Y> Horizontal-Symmetrie: <b, B>, <d, D>, <e, Є, E>, <h, H> Punkt-Symmetrie: <n, N>

Das INTRSYMMETRIE-Gebot führt in einigen Fällen zu innergraphematisch nicht-

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vorhersagbaren Unterschieden zwischen Majuskel und Minuskel, wie z. B. dem Orientierungswechsel zwischen <d> und <D>. Für diesen Orientierungswechsel bietet sich eine funktionale Erklärung an: die kanonische Orientierung der Majuskel <D> passt zum koronalen Lautwert /d/ besser als die Linksorientierung der Minuskel. Eine exzeptionelle, umgekehrte Symmetrieverteilung weist das Variantenpaar <l, L> auf, das weiter oben im Abschnitt 4.2 diskutiert wurde.

Einige der Unterschiede, die sich bei den Variantenpaaren in (36) zeigen, sind auch durch das dritte Gebot ENTRUNDUNG motiviert. Minuskeln neigen zu runderen und geschlosseneren Formen als die Majuskeln, die in etlichen Fällen winkeliger und offener sind. Die enge Korrelation zwischen Rundung und Schließung einerseits und Winkelung und Öffnung andererseits scheint auch für andere Alphabete zu gelten (cf. Wiebelt 2004: 55), so dass wir nur eine Beschränkung, nämlich ENTRUNDUNG, ansetzen. (37) ENTRUNDUNG: <a, A>, <e, E>, <f, F>, <h, H>, <m, M>, <n, N>, <t, T> Einige Variantenpaare folgen nicht der Systematik, die wir mit Hilfe der drei Beschränkungen aufstellen: <r, R>, <g, G> and <q, Q>. Die Probleme, die <r, R> und <g, G> auch sonst aufwerfen, wurden im vorigen Kapitel besprochen. Bei der Majuskel <Q> kommt die phonologisch gut motivierte Linksorientierung der Minuskel <q> weniger – bzw. je nach Auslegung gar nicht – zum Vorschein. Aufgrund unserer Buchstabengrammatik ergeben sich für die Varianten von <e> folgende systematisch erklärbare Zusammenhänge:

(38) <e> c - <E>: [ – <e>: c ∴

Der lange rechtwinklige Kopf der Majuskel wird durch OBER+MITTELBAND und ENTRUNDUNG mit Öffnung abgeleitet. Die größere horizontale Ausdehnung der Majuskel entsteht als Folgeerscheinung, um die Proportionen des Buchstabens zu bewahren. Durch Entrundung und Öffnung ergibt sich die intrinsische horizontale Symmetrie der Majuskel von selbst. Die visuelle Form der Schulschriftvariante leitet sich aus der Druckschrift-Minuskel durch die produktionsorientierten Gebote für verbundene Schriftarten ab: Kopf- und Kodalinien werden durch geschwungene Verbindungslinien verlängert und gegebenenfalls weiter gekrümmt. Um von der verbundenen Variante die Druckvariante der Minuskel abzuleiten – bei einer verbundenen Schriftart als Erstschrift eine wichtige Aufgabe –, muss man Verbindungslinien als buchstabengrammatisch irrelevant erkennen und eliminieren. Die drei Beschränkungen, die Majuskeln charakterisieren, bewirken, dass diese phonologisch weniger transparent sind. Durch die uniforme Bänderanordnung aller Majuskeln sowie durch die intrinsische Symmetrie einiger Majuskeln werden vertikale graphematische Kontraste neutralisiert, die bei Minuskeln phonologische Sonoritätsunterschiede repräsentieren. Die intrinsische Symmetrie hebt auch die horizontale Orientierung mancher Minuskeln und somit die Kennzeichnung des Artikulationsort-Kontrastes auf (vgl. <a, A>, <u, U>, <n, N> und <m, M>). Bei <d, D> wird allerdings, wie bereits erwähnt, diese Kennzeichnung repariert. Auch die Entrundung zerstört die phonologische Transparenz einiger Majuskeln. So verlieren <A, E, F> ihre im Hinblick auf die Konstriktionsopposition

relevante Rundung (vgl. jedoch die gerundeten Majuskelvarianten <∩, E, Є>). Zum Abschluss dieses Beitrags werden wir auf die neuen Gesichtspunkte, die sich aus unserer Untersuchung für den schulisch vermittelten Lese- und Schreib-Erwerb ergeben, hinweisen. Bei der Bewertung und Wahl "der besten Schulschrift" spielen folgende Kriterien eine wichtige Rolle (vgl. Valtin 2000, Hasert 2003, Topsch 2003 sowie die Richtlinien der Kultusministerien). Wichtige Rezeptionsaspekte sind gute Lesbarkeit und Formgenauigkeit

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besonders im Hinblick auf die Diskriminierung von Buchstabentypen und einzelnen Buch-staben. Wichtige Produktionsaspekte sind Bewegungsökonomie, flüssiger Schreibrhythmus, automatisierter zügiger Schreibablauf und mit Blick auf den Materialaspekt die Wahl der Schreibgeräte und Beschreibstoffe. Schließlich ist die schnelle und zuverlässige Lehr- und Lernbarkeit auch ein wichtiger Faktor.

Zu einigen der genannten Gesichtspunkte kann unsere Untersuchung wenig beitragen. Sie ist – wie eingangs näher begründet – rezeptionsbasiert und erlaubt somit keine gesicherten Schlüsse über produktionsorientierte Aspekte. Nichtsdestotrotz sind Rezeptionsaspekte auch für die Produktion wichtig, weil jeder Schreibakt die Rezeption und Kontrolle des eigenen Produkts nach sich zieht. Hinsichtlich der oben genannten Rezeptionsaspekte wie gute Lesbarkeit und Formgenauigkeit im Hinblick auf die Diskriminierung von Buchstabentypen und einzelnen Buchstaben kann unsere Untersuchung einige neue Erkenntnisse beisteuern. Wie Formunklarheiten zu Ablese- und Zuordnungsschwierigkeiten führen, erläutert Hasert (2003: 310) eingehender wie folgt:

Die Buchstaben a, g, o müssen oben sorgfältig geschlossen werden. U und y dagegen müssen klar und weit geöffnet sein. Ein u würde sonst als ○/o oder a/a gelesen. Die senkrechten Striche sollten eine Gerade und keinen Bogen darstellen, sonst würde z. B. aus einem U ein O. Kurven und Schwünge dürfen nicht gerade, sondern müssen gerundet sein. Buchstabenelemente, die unmittelbar anschließen, müssen tatsächlich verbunden sein, da sonst Fehlinformationen entstehen: Zum Beispiel werden aus einem k die zwei Zeichen l und <.

Diese Beispiele könnten nicht besser gewählt werden, um die didaktische Relevanz der aus unserer Buchstabengrammatik gewonnenen Erkenntnisse vorzustellen. Kennzeichnend für alle bisherigen Merkmalsanalysen – so auch für Haserts Hinweise – ist, dass alle Angaben auf die Diskriminierung von Einzelbuchstaben zielen bzw. mit dieser begründet werden. Dies ist bereits ein wichtiger erster Erkenntnisschritt, der die Unterscheidung zwischen graphematisch distinktiven Merkmalen und nicht-distinktiven Merkmalen wie Verbindungslinien und Serifen voraussetzt. Haserts eingestreutem pauschalem Hinweis "Kurven und Schwünge dürfen nicht gerade, sondern müssen gerundet sein" kann man nicht ohne nähere Angaben beipflichten. So

ist bei Verbindungslinien und auch bei manchen Kodas (vgl. <e, e> weiter oben) die

Unterscheidung zwischen Gerade und Bogen nicht buchstabenunterscheidend, so dass Gerade und Bogen in Abhängigkeit von anderen Faktoren wie Schreibstil oder Schreibtempo frei gewählt werden können. Auch geben Haserts Hinweise keinen Aufschluss darüber, warum ausgerechnet bei senkrechten Strichen das Auseinanderhalten von Geraden und Bögen wie bei <U, u> vs. <O, o> so wichtig ist. Hier kann unsere auf Buchstabenklassen und Buchstaben-beschränkungen ausgelegte Buchstabengrammatik eine systematischere Orientierungshilfe bieten. Die senkrechten Striche, die Hasert wie beiläufig erwähnt, charakterisieren Buchstabenköpfe, bei denen der Unterschied zwischen Gerade und Bogen nicht nur einzelne Buchstaben, sondern ganze Klassen von Buchstaben hinsichtlich ihres Lautwertes unterscheidet. Wir erinnern daran, dass runde Buchstabenköpfe eine minimale Schließung und gerade Köpfe eine maximale Konstriktion wiedergeben. Zu den Kontrastpaaren <u, o> und <u, ℘>, die Hasert erwähnt, könnte man beispielsweise <i, e> oder <t, f> hinzufügen. Diagonale erwähnt Hasert nicht, aber sie sind für das Auseinanderhalten von Geraden und Bögen ein Unsicherheitsfaktor, der nur aufgrund unserer Konstriktionsbeschränkung geklärt werden kann. Den diagonalen Kopf des Buchstabens <y>, dem ein geschlossener Vokal entspricht, kann man wie in (22) weiter oben gezeigt, als Gerade wiedergeben, wie die

ansonsten zu Rundungen neigende Ausgangsschriftvariante <y> belegt. Bei Buchstaben, die

einem Laut mit minimaler Schließung entsprechen, dürfen Diagonale durch Bögen ersetzt werden, vgl. <v, υ> und <w, ω>. Andere Hinweise von Hasert beziehen sich auf die GESCHLOSSEN-Beschränkung, deren systematische Wirkung in den vorigen Abschnitten

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dieser Arbeit eingehender besprochen wurde. Mit Blick auf den Unterricht ist es daher angebracht, die von uns erarbeiteten buchstaben-grammatischen Kontraste, für die, wie bereits in Kapitel 3 erwähnt, auch psycholinguistische Evidenz existiert, aus dieser Perspektive Revue passieren zu lassen. Von allergrößter Wichtigkeit ist, sich auf das Grundelement (= den Kopf) eines Buchstabens zu konzentrieren. Deswegen und aus Gründen der Einfachheit sollte man die Buchstabenphase des Unterrichts mit Buchstaben wie <i> oder <l> beginnen, die lediglich aus einer Kopflinie bestehen. Für die Benützung eines Bänder- bzw. Linienschemas spricht die Relevanz des Merkmals [frei], d. h. der Kontrast zwischen langen und kurzen Buchstabenköpfen, der für die Organisation der graphematischen Silbe und für die Korrespondenz zu phonologischen Sonoritätsunterschieden von entscheidender Bedeutung ist. Dieser Kontrast kann, wie bereits im Kapitel 3 erwähnt, an graphematisch einfachen Buchstabenformen wie <l> vs. <i> und einfachen Silbenstrukturen wie <li> bzw. <lili> oder <ti> bzw. <titi> eingeübt und durch Linienabfolgen wie <l ı l ı> vorbereitet werden. Ein wahrnehmungspsychologisch und schreibmotorisch einfacher Kontrast besteht auch zwischen Gerade und Bogen bzw. Halbkreis, wie bspw. bei <t> vs. <f> und <i> vs. <e>. Er kann auch durch Linienabfolgen wie <l ſ l ſ> und <ı c ı c> geübt werden. Dieser Kontrast dient bei Köpfen (wohlgemerkt nur bei Köpfen) dazu, den Öffnungsgrad des korrespondierenden Lautes zu signalisieren. Der horizontale Kontrast zwischen rechts-gerichteten und linksgerichteten Buchstaben, wie z. B. <u, a, d, j>, der in erster Linie vordere vs. hintere Artikulationsorte indiziert, und der vertikale sonoritätsrelevante Kontrast wie bei <b, p> oder <d, q>, d. h. [frei oben] vs. [frei unten], erfordern den sicheren Umgang mit Spiegelungen. Diese sind, wie bereits zum Abschluss des Kapitels 3 erwähnt, wahrnehmungs-psychologisch problematisch und sollten erst später in Angriff genommen werden. Damit ist die Liste der buchstabenübergreifenden Kontraste erschöpft. Alle anderen Unterschiede, die in der Tabelle (22) zusammengetragen wurden, dienen der Diskriminierung von Einzelbuchstaben. Weitere Merkmale und Buchstabenelemente – wie Verbindungslinien, Serifen sowie ein Neigungswinkel zwischen horizontal und vertikal, der auch bei Diagonalen zu finden ist – sind graphematisch irrelevant. Damit ist natürlich nicht gesagt, dass sie gar keine Rolle spielen und im Anfangsunterricht unberücksichtigt bleiben müssen. Allerdings sollte man ihre Rolle nicht überschätzen. Unsere Buchstabengrammatik bietet auch eine Orientierungshilfe bei der Wahl der Erstschrift im Schreib- und Lese-Unterricht, wobei wir auch hier zu Produktionsaspekten wenig beitragen können. Schulschriften und Schulschriftalphabete sind Schreib- und Schriftvorlagen, die in den Schulen als Orientierungsgrundlage für eine schulisch vermittelte Handschrift gelten. In diesem Zusammenhang diskutiert und in der Praxis bereits erprobt, ist die Majuskel-Druckschrift, die in jüngerer Zeit unter anderen von Valtin (2000) verteidigt wird, die Minuskel-Druckschrift, die sich in Dänemark, Schweden und Norwegen als Erstschrift durchgesetzt hat, sowie drei verbundene Majuskel- und Minuskelschriften, die in den verschiedenen Bundesländern Deutschlands im Einsatz sind: die Lateinische Ausgangsschrift (LA) von 1953, die Schulausgangsschrift (SAS), die Renate Tost 1968 in der ehemaligen DDR entwickelte (vgl. Tost 1992), und die Vereinfachte Ausgangsschrift (VA), die Grünewald (1970) vorschlug. Zusammenfassende Bewertungen und weiterführende Hinweise bieten u. a. Ossner (1994), Günther (1998), Topsch (1998, 2003) und Hasert (2003). Die beiden unverbundenen Druckschriften und die Vereinfachte Ausgangsschrift wurden in (3)-(4) weiter oben illustriert.

Aus unserer Buchstabengrammatik ergeben sich folgende neue Aspekte. Druckschrift-Majuskeln sind durch die Bank phonologisch weniger transparent als Minuskeln und unter-liegen auch strikteren Vorkommensbeschränkungen als diese. Diese Besonderheiten, durch die sich Majuskeln nicht nur zufällig, sondern systematisch von Minuskeln unterscheiden, müssen bei der Wahl der Erstschrift, aber auch beim Erwerb der Druckschrift-Majuskeln als Varianten von bereits verfügbaren Minuskeln berücksichtigt werden. Die intrinsische

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Symmetrie vieler Druckschrift-Majuskeln bietet wiederum einen Vorteil besonders bei Vorschulkindern, die intrinsische Symmetrie in der Natur und bei vielen Artefakten vorfinden und diese auf Buchstaben übertragen können. Die Erwerbsfolge symmetrisches – asymme-trisches Zeichen ist in dieser Hinsicht ein natürlicher, in der Genese mehrerer Alphabete nachweisbarer Ablauf. Wie Wiebelt zeigt (2003, 2004), haben sich viele asymmetrische Buchstabenformen aus intrinsisch symmetrischen Abbildungen von Objekten entwickelt.

Verbundene Schriften und besonders solche mit stark geschwungenen ('verschnörkelten') Buchstabenkomponenten wie die Lateinische Ausgangsschrift sind hinsichtlich der Klarheit distinktiver und klassenbildender Buchstabenmerkmale ebenfalls im Nachteil gegenüber Druckschrift-Minuskeln, die wir mit guten Gründen als grundlegende Varianten auserkoren haben. Die Druckschrift-Minuskeln kommen unseren unterspezifizierten Buchstaben-repräsentationen am nächsten. Bei ihnen zeigen sich die innergraphematischen und phonologisch-funktionalen Gesetzmäßigkeiten, denen Buchstaben unterliegen, am klarsten. Andere Buchstabenvarianten kann man aus Druckschrift-Minuskeln ableiten, und umgekehrt kann man, wie für <e> weiter oben erwähnt, aus einer verbundenen Variante die Druckschrift-Minuskel ermitteln. Allerdings muss man bei solchen Ableitungen zusätzliches Wissen bemühen. 6. Zusammenfassung und Ausblick Die hier vorgelegte Buchstabengrammatik geht davon aus, dass Buchstaben syntagmatisch komplexe Gebilde sind, die in kleinere Bestandteile zerlegt werden müssen. Diese Bestand-teile lassen sich durch wenige geometrische Merkmale wie [vertikal], [bogen], [rechts-gerichtet], [frei] und [frei unten], die zum Beispiel die längere Linie des Buchstabens <f> charakterisieren, erzeugen und klassifizieren. Diese Merkmale dienen dazu, Buchstaben voneinander zu unterscheiden und zu Klassen zusammenzufassen. Aus ihrem Status als syntagmatisch komplexe Gebilde ergibt sich bei Buchstaben die Unterscheidung zwischen Kopf und Koda, auf die sich die innergraphematischen und phonologisch-funktionalen Beschränkungen beziehen.

Innergraphematisch lassen sich Druckschrift-Minuskeln, die wir als grundlegende Varianten betrachten, von Majuskeln, Ziffern und Interpunktionszeichen durch charakteristische Eigenschaften unterscheiden, die wir als Beschränkungen formulieren. Das System der Druckschrift-Minuskeln lässt sich somit durch den hohen Rang dieser Beschränkungen von den anderen Zeichensystemen unseres Alphabets absondern, in denen diese Beschränkungen einen niedrigen Rang einnehmen. Alle Buchstaben haben einen vertikalen Kopf, der sich über das Mittelband und gegebenenfalls auch über ein Außenband hinaus erstreckt. In diesem Fall trägt der Buchstabe das Merkmal [frei], das nur für Minuskelköpfe distinktiv ist; Minuskelkodas überschreiten in der Regel das Mittelband nicht. Majuskel- und Ziffernköpfe sind unterschiedslos [frei], wobei ihnen das Unterband in der Regel nicht zur Verfügung steht. Desweiteren sind Druckschrift-Minuskeln im Gegensatz zu Ziffern und den bevorzugt intrinsisch symmetrischen Druckschrift-Majuskeln im unmarkierten Fall rechtsgerichtet, wodurch sich als unmarkierte Abfolge Kopf+Koda ergibt. Als letzte charakteristische Eigenschaft ist die Geschlossenheit von Minuskeln zu nennen, wodurch sie sich von Interpunktionszeichen und, allerdings weniger systematisch, auch von Druckschrift-Majuskeln unterscheiden.

Die Buchstabenmerkmale sind phonologisch funktional, wobei sich auch hier die Druckschrift-Minuskeln in serifenlosen Schriftarten als besonders transparent erweisen. Das Merkmal [frei] und die weiteren vertikalen Kontraste, die die Merkmale [frei oben] vs. [frei unten] etablieren, geben Sonoritätskontraste wieder. Gerundete Minuskelköpfe zeigen eine minimale Schließung des Mundraumes an, d. h. Frikativität bei Konsonanten und eine nicht-

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offene Kieferstellung bei Vokalen, während gerade Köpfe eine maximale Schließung indizieren. Eine Buchstabenform, die eine horizontal unmarkierte Orientierung aufweist, deutet auf einen vorderen Artikulationsort hin, während diesbezüglich markierte Buchstaben-formen einen postalveolaren Artikulationsort wiedergeben. Die Korrelation zwischen unmarkierter Buchstabenform und unmarkierter phonologischer Funktion ist eine Manifestation des Prinzips des konstruktionellen Ikonismus. Um Markiertheitsunterschieden und dem Ikonismusprinzip gerecht zu werden, arbeiten wir mit privativen Merkmalen. Die phonologischen Beschränkungen sind – wie die innergraphematischen – verletzbar, allerdings können etliche Verletzungen sekundär erklärt werden.

Das Problem der Buchstabenvariation ist lösbar, wenn man sich auf distinktive Kontraste beschränkt und Buchstabenvarianten – in diesem Beitrag Druckschrift-Majuskeln aus Druckschrift-Minuskeln – durch wenige Beschränkungen ableitet.

Aus didaktischer Perspektive ist die kognitive, experimentell nachgewiesene Evidenz für die hier postulierten Merkmale und Beschränkungen erwähnenswert sowie die Tatsache, dass unsere Buchstabengrammatik eine systematische Orientierungshilfe bietet, wenn es darum geht, optimale Buchstabenvarianten zu ermitteln, relevante reihenbildende Formkontraste und Grundelemente herauszuarbeiten und gravierende Formunklarheiten, die reihenbildende Kontraste betreffen, von weniger gravierenden zu unterscheiden.

Die vorliegende Arbeit betritt in vielen Hinsichten Neuland, so dass unsere Annahmen durch weitergehende Untersuchungen, die sich auf andere Sprachen und Alphabete beziehen, überprüft und gegebenenfalls korrigiert werden müssen. Literaturhinweise Althaus, Hans P. 1980. Graphetik. In: Althaus, Hans P. / Henne, Helmut / Wiegand, Ernst

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