Bürgerlicher Realismus

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 1. Kapitel Bürgerlicher Realismus Bürgerlicher Realismus (1850-1890) Begriff Realismus lat. res = Sache. Sachbezug als Programm einer gesamteuropäischen Literaturbewegung (z.B. Stendhal, Flaubert, Dickens); in Deutschland der Epoche zwischen dem Scheitern der 1848er Revolution und dem Ende der Bismarck-Ära. Nach Otto Ludwig "poetischer" oder "psychologischer" Realismus. Das Bürgertum ist Träger von Wirtschaft und Kultur. Historischer Hintergrund Die Ära B ismarcks ist geprägt von nationalstaatlichen Einigungs bestrebungen, außenpolitischer Macht- demonstration und erfolgreicher europäischer Vertragspolitik. In der Innenpolitik Disziplinierung (Kulturkampf; Sozialistengesetz), gleichzeitig Sozialpolitik. Mit dem seit 1848 prägenden Gedanken eines Nationalstaats verbindet sich bei zunehmen dem Selbstbewußtsein des Bürgertums die V orstellung einer Weltgeltung Deutschlands: Nationalismu s und Imperialismus sind Grundströmunge n auch der europäischen Politik bis zum Ersten Weltkrieg.  Nach dem Krieg zw ischen Preußen und Österreich 1866 Auflösung des Deu tschen Bundes; kleind eutsche Na- tionallösung unter Führung Preußens einerseits, Doppelmonarchie Österreich-Ungarn (Vielvölkerstaat als Keimzelle des Ersten Weltkriegs) andererseits. Versuch einer Lösung der sozialen Frage; 1869 Gründung der Sozialdemokratische n Arbeiterpartei (August Bebel, Wilhelm Liebknecht). Nach dem Deutsch-Französischen Krieg "Gründerjahre", Milliarden von Reparationszahlun gen an Deutschland. Seit 1878 Kurswechsel vom Liberalismus zum Konservativismus. Zunehme nde außenpolitische Spannungen. 1861-1888 Wilhelm I 1871-1890 Bismarck wird Reichskanzle r 1866 Krieg zwischen Österreich und Preußen 1848-1916 Franz Joseph I, Kaiser von Österreich- Ungarn 1870/71 Deutsch-Französ ischer Krieg 1871 Deutsches Kaiserreich gegründet 1860/61 Einigung Italiens (Viktor Emmanuel I) K ultur- und g eistesgeschichtlicher Hinterg rund Der gewaltige Aufschw ung in Naturwissenschaft und Technik führt zur Vorstellung der Erklärbarkeit aller Dinge und des Menschen. Entdeckungen und Erfindungen: Röntgenstrahlen (Röntgen), Dieselmotor (Diesel), drahtlose Telegraphie (F. Braun), Elektrizitätslehre (Hertz), Pathologie (Virchow), Bakteriologie (R. Koch). Auflösung der Religion in der Anthropologie (David Friedrich Strauß und Ludwig Feuerbach). Beginn einer materialistischen  Naturlehre bei Ludwi g Büchner ("Kraft und Stoff", 1855). Determinismu s bei Charles Darwin ("Über den Ursprung der Arten", 1859), kausalgesetzlic he Bedingtheit des Seelenlebens bei Ernst Haeckel. Archäologische Forschunge n (Schliemann: Troja), Geschichtswiss enschaft in Verbindung mit politischen Fragen: Heinrich von Treitschke, T heodor Mommsen, Friedrich Meinecke. Illusions- und Glaubenslosigkeit angesich ts der Erkenntnis, daß der Mensch einer Kausalkette schicksalhafter Faktoren ausgelief ert ist, gegen die zu kämpfen nur tragisch enden kann (Hebbel). Kulturpessimismus Arthur Schopenhauers (in der Welt sein heißt leiden, Rettung nur durch Verneinung des Wil lens zum Leben). Andererseits oberflächlicher Optimismus und Fortschrittsgläubigke it in weiten Teilen des Bürgertums, dessen Geschmack weitgehend bestimmt wird von Trivialliteratur, z. B. der weit verbreiteten Familienzeitschrift "Die Gartenlaube" (seit 1843). Musik : 1848 bis 1885 Franz Liszt, Richard Wagner Robert Franz, Johannes Brahms, Hugo Wolf Anton Bruckner Jacques Offenbach (Carl Michael Ziehrer, Franz Lehár, Emerich Kálmán)

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1. Kapitel

Bürgerlicher Realismus

Bürgerlicher Realismus (1850-1890)

Begriff 

Realismus lat. res = Sache. Sachbezug als Programm einer gesamteuropäischen Literaturbewegung (z.B.Stendhal, Flaubert, Dickens); in Deutschland der Epoche zwischen dem Scheitern der 1848er Revolution unddem Ende der Bismarck-Ära. Nach Otto Ludwig "poetischer" oder "psychologischer" Realismus. Das Bürgertumist Träger von Wirtschaft und Kultur.

Historischer Hintergrund 

Die Ära Bismarcks ist geprägt von nationalstaatlichen Einigungsbestrebungen, außenpolitischer Macht-

demonstration und erfolgreicher europäischer Vertragspolitik. In der Innenpolitik Disziplinierung (Kulturkampf;Sozialistengesetz), gleichzeitig Sozialpolitik. Mit dem seit 1848 prägenden Gedanken eines Nationalstaatsverbindet sich bei zunehmendem Selbstbewußtsein des Bürgertums die Vorstellung einer WeltgeltungDeutschlands: Nationalismus und Imperialismus sind Grundströmungen auch der europäischen Politik bis zumErsten Weltkrieg.Nach dem Krieg zwischen Preußen und Österreich 1866 Auflösung des Deutschen Bundes; kleindeutsche Na-tionallösung unter Führung Preußens einerseits, Doppelmonarchie Österreich-Ungarn (Vielvölkerstaat alsKeimzelle des Ersten Weltkriegs) andererseits.Versuch einer Lösung der sozialen Frage; 1869 Gründung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (AugustBebel, Wilhelm Liebknecht). Nach dem Deutsch-Französischen Krieg "Gründerjahre", Milliarden vonReparationszahlungen an Deutschland. Seit 1878 Kurswechsel vom Liberalismus zum Konservativismus.Zunehmende außenpolitische Spannungen.

1861-1888 Wilhelm I 1871-1890 Bismarck wird Reichskanzler1866 Krieg zwischen Österreich und Preußen 1848-1916 Franz Joseph I, Kaiser von Österreich-

Ungarn1870/71 Deutsch-Französischer Krieg 1871 Deutsches Kaiserreich gegründet

1860/61 Einigung Italiens (Viktor Emmanuel I)

Kultur- und geistesgeschichtlicher Hintergrund 

Der gewaltige Aufschwung in Naturwissenschaft und Technik führt zur Vorstellung der Erklärbarkeit aller Dingeund des Menschen. Entdeckungen und Erfindungen: Röntgenstrahlen (Röntgen), Dieselmotor (Diesel), drahtloseTelegraphie (F. Braun), Elektrizitätslehre (Hertz), Pathologie (Virchow), Bakteriologie (R. Koch). Auflösung derReligion in der Anthropologie (David Friedrich Strauß und Ludwig Feuerbach). Beginn einer materialistischenNaturlehre bei Ludwig Büchner ("Kraft und Stoff", 1855). Determinismus bei Charles Darwin ("Über denUrsprung der Arten", 1859), kausalgesetzliche Bedingtheit des Seelenlebens bei Ernst Haeckel.Archäologische Forschungen (Schliemann: Troja), Geschichtswissenschaft in Verbindung mit politischen Fragen:Heinrich von Treitschke, Theodor Mommsen, Friedrich Meinecke. Illusions- und Glaubenslosigkeit angesichtsder Erkenntnis, daß der Mensch einer Kausalkette schicksalhafter Faktoren ausgeliefert ist, gegen die zu kämpfennur tragisch enden kann (Hebbel). Kulturpessimismus Arthur Schopenhauers (in der Welt sein heißt leiden,Rettung nur durch Verneinung des Willens zum Leben). Andererseits oberflächlicher Optimismus undFortschrittsgläubigkeit in weiten Teilen des Bürgertums, dessen Geschmack weitgehend bestimmt wird vonTrivialliteratur, z. B. der weit verbreiteten Familienzeitschrift "Die Gartenlaube" (seit 1843).Musik: 1848 bis 1885Franz Liszt, Richard WagnerRobert Franz, Johannes Brahms, Hugo Wolf Anton BrucknerJacques Offenbach(Carl Michael Ziehrer, Franz Lehár, Emerich Kálmán)

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(George Gershwin, Cole Porter, Frederik Loewe)Baukunst:Ö.: Opernhaus (Eduard van der Nüll und August Siccardsburg), Parlament (Theophil Hansen), Burgtheater(Gottfried Semper und Karl Hasenauer), Rathaus (Friedrich Schmidt), Votivkirche (Heinrich Ferstel) und diebeiden Staatsmuseen (Gottfried Semper)Malerei:Epigonenhafte Historienmalerei und allmählicher Übergang zum Realismus

Franz Lenbach, Adolph Menzel.Ö.: Franz Defregger, Hans Makart.F.: Théodore Rousseau, Camille Corot, Jean-François Millet.

Tendenzen und Merkmale 

Sach- und Dinggebundenheit; Versuch einer objektiven Wirklichkeitsdarstellung. Vorrang der erzählendenLiteratur mit genauen Zustandsbeschreibungen. In der Novelle als "Schwester des Dramas" psychologisch feineCharakterisierung, strukturierende Leitmotivik (z. B. Storm: "Der Schimmelreiter"). Novellentheorie von PaulHeyse: Bedeutung des Dingsymbols. Stilistische Objektivierung durch Form der Chronik, Rahmenerzählung,fingierten Erzähler, Rückgriff auf Zeitungsmeldungen und Gesellschaftsnachrichten (Fontane; "Effi Briest").Entwicklungsroman als Spiegel des Bürgertums (Keller, Raabe, Fontane). Mittelpunkt ist der bürgerliche Alltag.Milieuschilderungen dienen der Verdeutlichung seelischer Vorgänge. Entsagende Melancholie und Humor als"Waffe gegen die Bedrohung des Daseins" (Raabe, Keller). Außenseiter und Käuze in trügerischer Idylle.

Historische Romane und Erzählungen (C. F. Meyer, Gustav Freytag).

Autoren und Werke 

Theodor Fontane (1819-1898). Gesellschaftsromane: "Vor dem Sturm" (1878), "Schach von Wuthenow" (1882),"  Irrungen Wirrungen" (1887), "Stine" (1890), "Unwiederbringlich" (1891), "Frau Jenny Treibel" (1892), „ Effi

 Briest “ (1894/95), " Die Poggenpuhls" (1895/96), " Der Stechlin" (1897). "Wanderungen durch die Mark 

 Brandenburg" (1862-1882). Balladen und Erzählungen.

Friedrich Hebbel (1813-1863), einziger bedeutender Dramatiker. Hauptthema: Scheitern eines tragischenIndividuums in der Welt. " Judith" (1840), „ Maria Magdalene“ (1844), " Agnes Bernauer " (1855), " Die

 Nibelungen" (1861).

Gottfried Keller (1819-1890): „ Der grüne Heinrich“ (1854/55, 1879): bedeutendster Entwicklungsroman nachGoethe und Jean Paul. " Martin Salander " (1886): Zeitbild der Gründerjahre. Novellenzyklen u. a. " Die Leute von

Seldwyla" (1856, 1874), " Zürcher Novellen" (1876-1878).

Conrad Ferdinand Meyer (1825-1898). Gedichte und Novellen, u. a. " Das Amulett " (1873), " Der Schuß von der 

Kanzel" (1878), "Gustav Adolfs Page" (1882), " Die Hochzeit des Mönchs" (1884).

Wilhelm Raabe (1831-1910). Romane: " Die Chronik der Sperlingsgasse" (1857), " Der Hungerpastor " (1864),"Stopfkuchen. Eine See- und Mordgeschichte" (1891).

Theodor Storm (1817-1888), geprägt durch die nordfriesische Landschaft. Lyrik im Ton der Spätromantik.Novellen, u. a. " Immensee" (1850), " Zur Chronik von Grieshuus" (1884), „ Der Schimmelreiter “ (1888).

Österreich:

Marie von Ebner-Eschenbach: „ Er läßt die Hand küssen“.

Ferdinand von Saar: „Schloß Kostenitz“

Ludwig Anzengruber: „ Märchen des Steinklopferhanns“, Dramen: „ Der Pfarrer von Kirchfeld “, „ Die

Kreuzelschreiber “.

Textbeispiel 

Theodor Fontane  Effi Briest (1894/95. Romananfang) In Front des schon seit Kurfürst Georg Wilhelm von der Familie von Briest bewohnten Herrenhauses zu Hohen-

Cremmen fiel heller Sonnenschein auf die mittagsstille Dorfstraße, während nach der Park- und Gartenseite hin

ein rechtwinklig angebauter Seitenflügel einen breiten Schatten erst auf einen weiß und grün quadrierten

Fliesengang und dann über diesen hinaus auf ein großes, in seiner Mitte mit einer Sonnenuhr und an seinem

 Rande mit Canna indica und Rhabarberstauden besetztes Rondell warf. [...] Fronthaus, Seitenflügel und 

Kirchhofsmauern bildeten ein einen kleinen Ziergarten umschließendes Hufeisen, an dessen offener Seite man

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eines Teiches mit Wassersteg und angeketteltem Boot und dicht daneben einer Schaukel gewahr wurde, deren

horizontal gelegtes Brett zu Häupten und Füßen an je zwei Stricken hing - die Pfosten der Balkenlage schon

etwas schief stehend. [...]