BW HS D Aufg MusterIV - pauker.de

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9/10 Deutsch Abschluss2020 Hauptschulprüfung Baden-Württemberg Musterprüfung IV Deutsch angepasst an die novellierte Abschlussprüfung pauker

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Abschluss2020Hauptschulprüfung Baden-Württemberg

Musterprüfung IV Deutschangepasst an die novellierte Abschlussprüfung

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Teil A – Pflichtteil

A1 – Sachtext

Wundern & Wissen

Streiten kann jeder – versöhnen ist schwerWer kennt das nicht? Man pflaumt sich an, Türen knallen, dann herrscht Schweigen im Walde. Streit gibt es in jeder Familie. Doch wie geht das Versöhnen?

Bettina Levecke9.10.2018 Gibt es ein Familienleben ohne Streit? Vermutlich nicht. Klar, oft sind es nur kleine Auseinandersetzungen über liegen gebliebene Socken oder den verschütteten Kakao am Abendbrottisch. Manchmal aber auch um mehr. Die meis-ten Eltern dürften Situationen kennen, in denen ihnen der Kragen platzt, Türen knallen und Verbote ausgesprochen werden, die, kaum dass sie die Lippen verlassen haben, schon wieder bereut werden. Das Kind weint, man selbst schaut gefrustet in die Welt. Katerstimmung1. Und nun? Wie soll man sich versöhnen?„Streiten ist keine Kunst“, sagt Fabienne Becker-Stoll, Diplom-Psychologin und Direktorin des Staatsinstituts für Frühpädagogik in München. „Sich zu versöhnen aber schon.“ Die allgemeine Annahme, dass immer der, der Mist gebaut hat, sich auch dafür entschuldigen muss, gelte ganz besonders in der Eltern-Kind-Beziehung nicht, sagt die Expertin: „Die Verantwortung, dass eine Versöhnung und Aussprache stattfindet, liegt immer bei den Eltern.“Versöhnen stärkt die BindungDoch auch die tun sich oftmals schwer mit dem ersten Schritt. „Sich Fehler einzugestehen oder eine Überreaktion zuzugeben wird häufig noch als Zeichen von Schwäche gesehen“, sagt Carola Hoffmann, Diplom-Psychologin und Erziehungswissenschaftlerin aus Saarbrücken. Dabei ist genau das Gegenteil der Fall: „Sich zu entschuldigen erfordert Stärke.“Schwierig wird es vor allem dann, wenn Eltern auf einen Streit mit längerem Schweigen oder Rückzug reagieren. „Kinder sind emotional immer in der schwächeren Position“, sagt Becker-Stoll, die aus vielen Bindungsinterviews mit Kindern weiß, dass diese die Ablehnung der Eltern als eine enorme seelische Belastung empfinden. „Kinder handeln ja in der Regel nicht mit Kalkül2, wenn sie Regeln missach-ten, zum Beispiel länger Playstation spielen als vereinbart oder ihr Zimmer nicht aufräumen“, sagt die Psychologin und warnt vor der Vogel-Strauß-Taktik oder willkürlichen3 Verboten, die mit dem Streitfall gar nichts zu tun haben. „Es ist ein wichtiges emotionales Grundbedürfnis des Menschen, sich bei seinen Bezugspersonen gut aufgehoben zu fühlen – ganz besonders, wenn es mal schwierig ist.“

Wichtig für das SelbstwertgefühlDie gemeinsame Friedenspfeife hilft auch, die verfahrene Situation zu sortieren: Warum haben wir uns so angegif-tet? Was war hier eigentlich gerade los? Wenn man sich vorher versöhnt hat, fällt es leichter, die unterschiedlichen Sichtweisen in Ruhe zu betrachten. „Dabei ist es ganz wichtig, dem Kind zu vermitteln, dass die Situation der Auslöser war“, sagt Becker-Stoll. Die Wut und Vorwürfe der Eltern können nämlich sonst schnell dazu führen, dass das Kind sich selbst abgelehnt fühlt. Für die Entwicklung des Selbstwertgefühls und Selbstbewusstseins braucht es aber die grundlegende Erfahrung: „Ich bin in Ordnung und werde geliebt, auch wenn ich mal Fehler mache oder Mist baue.“Hoffmann erklärt die möglichen Folgen einer unversöhn-lichen Streitkultur: „Wenn Kinder immer wieder die Erfahrung machen, nach einem Streit in eine Opferrolle zu fallen, aus der sie von den Eltern nicht herausgeholt wer-den, leidet ihr Selbstkonzept. Sie haben das Gefühl, selbst nichts verändern zu können, und entwickeln eine Grund-unsicherheit, auch im Umgang mit anderen Menschen.“Der Anlass für den Streit ist klar – aber was ist die Ursache?Oft sind die Gründe für einen Streit auch nur vordergründig klar. Auslöser war vielleicht das unaufgeräumte Zimmer oder die liegen gebliebene Schultasche im Flur – die wah-ren Ursachen liegen jedoch nicht selten ganz woanders. Ein stressiger Tag im Büro, private Probleme oder eine schlech-te Nacht reichen schon, um die Nerven dünner werden zu lassen. Wenn dann schon wieder etwas nicht geklappt hat, sucht der Frust ein Ventil.Hinzu kommen enttäuschte Erwartungen oder auch ganz konkrete Sorgen. Wenn das Kind zum Beispiel nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause kommt, kanalisiert4 die Standpauke nicht nur den Ärger über den Regelverstoß, sondern vielmehr die Angst, dass etwas passiert sein könn-te. „Sich zu versöhnen bedeutet deshalb auch immer, sich zu erklären“, sagt Hoffmann. „Kinder lernen durch die Gefühlsausdrücke der Eltern, die Folgen ihres Handelns besser einzuordnen.“ Zu verstehen, dass Mama sich bei einem kaputten Teller nicht nur über die Unachtsamkeit ärgert, sondern traurig ist, weil er ein Erbstück der Oma war, sorgt für ein viel tieferes Verständnis des Konflikts.Andersherum gilt dieser Blick auf das Ursache-Wirkung-Prinzip natürlich auch für die Kinder: Warum haben sie sich so verhalten? „Sich beide Gefühlsseiten anzuschauen weitet

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den Blick und hilft in zukünftigen Krisensituationen, die Lage besser einzuschätzen oder sich von vornherein anders zu verhalten“, sagt Becker-Stoll.Sie rät dazu, sich beim Versöhnen auch unbedingt körper-lich nah zu sein und mit dem Kind zu kuscheln. „Durch den Hautkontakt schüttet der Körper das Bindungshormon Oxytocin aus, einen wichtigen Stress-Gegenspieler, der nach einem Konflikt beiden Seiten richtig guttut.“ Das wohlige Gefühl im Bauch kennen wir alle. Nichts ist schließlich

schöner, als wenn sich nach einem blöden Streit die Wogen glätten und wir wissen: Jetzt ist endlich alles wieder gut!1 Katerstimmung: hier: Niedergeschlagenheit, die durch Enttäuschung

hervorgerufen wurde2 das Kalkül: etwas mit Berechnung tun3 willkürlich: wahllos, zufällig4 kanalisieren: bündeln, etwas in eine bestimmte Richtung lenken

Quelle: Bettina Levecke: Streiten kann jeder – versöhnen ist schwer, in: https://www.magazin-schule.de/magazin/streiten-kann-jeder-versoehnen-ist-schwer/, Seitenaufruf am 30.10.2019

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Textverständnis

1. Entscheiden Sie mithilfe des Textes, ob folgende Aussagen richtig oder falsch sind.

a) Streiten ist nicht schwer.

b) Sich zu entschuldigen, ist ein Zeichen von Schwäche.

c) Kinder sollten sich geliebt fühlen, auch wenn sie Fehler machen oder Mist bauen.

d) Beim Versöhnen sollten Eltern und Kinder sich auf keinen Fall körperlich nah sein.

2. Vervollständigen Sie die Tabelle, indem Sie die fehlenden Wortarten ergänzen.

Substantiv Verb Adjektiv

wüten

Emotionalität emotionalisieren

stark

Versöhnung

reaktiv

kritisieren

3. Finden Sie passende Textstellen für folgende Aussagen. Schreiben Sie Ihre Antwort in ganzen Sätzen und mit Zeilenangabe auf.

a) Eltern tragen stets die Verantwortung, dass es nach einer Auseinandersetzung eine Versöhnung und Aussprache gibt.

b) Häufig liegt die wahre Ursache für einen Streit nicht da, wo es auf den ersten Blick scheint.

4. a) Beschreiben Sie eine Streitsituation, in der Sie sich schon einmal ungerecht von Ihren Eltern behan-delt gefühlt haben.

b) Beschreiben Sie, wann Sie Ihren Eltern in einer Streitsituation schon einmal Unrecht getan haben.

Verfassen Sie Ihre Antwort in ganzen Sätzen. Fassen Sie sich kurz.

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Sprachgebrauch

1. Nennen Sie eine Regel oder Strategie, mit der Sie die Schreibung der markierten Buchstaben prüfen können.

Abendbrottisch, Schwäche, Fehler, Regelverstoß

2. Ergänzen Sie in folgenden Sätzen die fehlenden Satzzeichen und schreiben Sie diese korrigiert auf.

E Die gemeinsame Friedenspfeife hilft auch, die verfahrene Situation zu sortieren Warum haben wir uns so angegiftet

E Wenn das Kind zum Beispiel nicht zur vereinbarten Zeit nach Hause kommt kanalisiert die Standpauke nicht nur den Ärger sondern vielmehr die Angst dass etwas passiert sein könnte.

3. Suchen Sie aus dem Text jeweils zwei Beispiele für folgende Wortarten heraus:

Konjunktion · Präposition · Adjektiv · Substantiv

Zitieren Sie mit entsprechender Zeilenangabe.

4. Bilden Sie aus den folgenden Satzteilen einen sinnvollen Satz. Die Grundform sowie die Zeitform des Verbs stehen in Klammern.

a) Luca / fast nie / seine Schwester Greta / und (sich streiten, Präsens)

b) des menschlichen Zusammenlebens / Bestandteil / Eine gepflegte Streitkultur / schon immer. (sein / Perfekt)

c) mehr Rücksicht / Azra / zukünftig / ihrer Familie / auf die Wünsche. (nehmen / Futur I)

5. Suchen Sie zu den folgenden Wörtern das passende Synonym aus dem Text und schreiben Sie dieses auf.

Lage (Z. 4 – 8) · Berechnung (Z. 32 – 37) · genau, greifbar (Z. 72 – 73) · Auseinandersetzung (Z. 80 – 83)

A2 – Lektüre

Myron Levoy: Adam und Lisa (Textauszug)

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Information zum Buch (Klappentext)Die 14-jährige Lisa verliebt sich in ihren Mitschüler Adam, einen ehemaligen Schüler aus einer Sonderklasse, der in einem verfallenen Holzhaus lebt und behauptet, er stamme vom Planeten Wega X. Natürlich nimmt Lisa ihm die Geschichte nicht ab. Doch erst nach und nach begreift sie, dass Adam sich damit selbst belügt, um sein Kindheitstrauma – den alkoholabhängigen, gewalttätigen Vater – und die ärmlichen Verhältnisse, in denen er jetzt lebt, zu verdrängen.

Textauszug 1Auf dem langen Tisch neben der Tür lag ein Block mit Teilnahmeformularen. Ich war so nervös, dass ich ein Formular kaputtmachte, als ich es vom Block abriss. Kim riss zwei Blätter ab und gab sie mir. „Hey, machst du auch mit, Kim?“, fragte ich. Das hab ich noch gar nicht erzählt: Kim fotografiert auch ein bisschen.

Ich glaub, ich hab sie damit angesteckt. Nur fotografiert sie am liebsten kleine Katzen und Blumen. Meine Mutter mag ihre Sachen. Aber Kim ist schon okay; und ich erziehe sie langsam. In einem Jahr hab ich sie so weit, dass sie das Wasser in Klärgruben fotografiert.„Nein, ich nicht“, sagte sie. „Ich hab bloß gedacht, du könntest ja vielleicht zweimal mitmachen, wie beim Lotto.“„Kim!“Wir gingen durch die Gänge in der Bibliothek und schauten uns um. Falls Adam irgendwo in der Bibliothek war, dann sollte er sehen, dass ich mir Bücher anschaute, damit er nicht dachte, ich sei bloß gekommen, um ihn hier aufzuspü-ren. Außerdem stöbere ich gerne in Buchhandlungen und in der Bibliothek herum. Am liebsten tu ich das in New York, weil da die Buchhandlungen riesige Fotoabteilungen haben. Ich blättere immer so lange in den großen Bildbänden herum, bis Mama mich regelrecht aus der Fotoabteilung zerrt. Eisenstaedt, Cartier-Bresson, Walker Evans, Margaret

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Bourke-White, Dorothea Lange – ich mag sie alle, obwohl Dorothea Lange meine absolute Lieblingsfotografin ist. Ich werde später vielleicht noch ein bisschen mehr über sie sagen.Wir stöberten also in den Regalen herum. Kim suchte in einigen Sexbüchern nach irgendwelchen verrückten und abartigen Sachen, die sie in Sexualkunde nicht durchge-nommen hatten. Sie rief mich immer wieder zu sich herü-ber und zeigte mir ihre neuesten Entdeckungen. Darunter war eine Stelle, an der beschrieben wurde, dass es Leute gibt, die nur an gefährlichen Orten mit jemandem schla-fen können, zum Beispiel in Löwenkäfigen oder auf den Tragflächen von alten Flugzeugen. Lauter solche Sachen. Ich sagte, dass man unter solchen Umständen ja kaum lange in jemanden verliebt sein könnte, aber Kim hatte kein Verständnis dafür. Ich stand noch bei ihr, als eine Frau durch den Gang auf uns zukam, und Kim fischte sich schnell ein Buch aus dem gegenüberliegenden Regal und vertiefte sich in die Geschichte der Gewerkschaftsbewegung in den Südstaaten.Arme Kim, ich mache mir Sorgen um sie. Ich krieg viel-leicht keinen Bauchtanz auf dem Fahrrad hin, aber ich hab auch keinen Sexkomplex. Sex ist nur eins von vielen Dingen und eines Tages, wenn ich so weit bin, dann wird es mir auch Spaß machen – ich meine, wenn ich wirklich so weit bin. Wenn Kim mich danach fragt, dann sag ich meis-tens, dass ich erst mal warte, bis ich aufs College komme. Im Moment besteht jedenfalls keinerlei Gefahr. Ich habe immer noch meinen ersten Kuss vor mir, den ersten Kuss von jemand anderem als meinen Tanten oder meinen Eltern. Süße vierzehn und noch nie von jemandem geküsst worden. Na ja, vielleicht nicht süß. Aber noch nie von jemandem geküsst worden. Es würde mir schon reichen, wenn ich mit jemandem ein bisschen Nasenreiben spielen würde. Durch eine Fensterscheibe.Aber wenn für Kim alles so leicht und locker läuft, warum war sie dann vorhin auf dem Fahrrad so aufgeregt? Und warum schnüffelt sie in all diesen Büchern herum? Vielleicht – Zutreffendes bitte ankreuzen – macht sie sich a) Sorgen, dass er/sie mehr will; vielleicht macht sie b) schon mehr und erzählt mir nichts davon, weil es mich nichts angeht; vielleicht denkt sie c) daran, sich einen Löwenkäfig zu mieten.

Textauszug 2Kim und ich haben eine Art Parole, die wir uns in der fünften Klasse ausgedacht haben. Wenn es einer von uns einmal wahnsinnig schlecht ging, dann brauchte sie nur Notkommando zu sagen und die andere ließ dann alles liegen und stehen – auch wenn es mitten im Unterricht, beim Essen oder sonst wo war – und zog los, um zu hel-fen. Bis jetzt hatte noch keine von uns die Parole benutzt. Ich war mir nicht sicher, ob Kim sich überhaupt noch daran erinnerte. Aber ich ging ans Telefon und rief sie an. „Notkommando“, sagte ich laut und deutlich, als sie am Apparat war.

„Notkommando?“, fragte sie.„Richtig. Notkommando“, wiederholte ich.„Ich bin schon unterwegs.“Vom Klicken in der Leitung bis zu dem Augenblick, in dem sie vor unserer Haustür stand, vergingen drei Minuten und vierzig Sekunden. Und von ihr bis zu uns sind es mit dem Fahrrad sechs Minuten.Das ist eben Kim.Ich erzählte Kim alles: von Wega X, von dem gestohlenen Briefbeschwerer, von den Narben auf Adams Rücken – alles eben, die ganze Geschichte. Ich lag neben ihr auf dem Fußboden und redete und redete; es war fast so, als würde ich laut denken.Kim war wunderbar; sie sagte fast kein Wort, solange ich vor mich hin schwafelte. Sie sagte ein paar Mal an der richtigen Stelle oh und Junge, Junge und ein paar Mal aha, damit ich weiterredete, aber sie sagte kein einziges Mal, sie habe mich ja gewarnt. Es gab kein einziges Ich hab’s-dir-ja-gesagt, den berühmten Schlachtruf meiner Mutter.Es tat gut, einmal alles richtig loszuwerden; ich glaube, ich hatte überhaupt nicht mehr gewusst, was los war, hatte versucht mich auf Adams schräge Sachen einzustellen und alles für mich behalten. Ich hab mal gehört, dass es das gibt; wenn einer von zwei Leuten eine Macke hat, dann kann es passieren, dass der andere das für völlig normal hält und auch ’ne Macke bekommt. Kim war so vernünftig und praktisch; ich hatte das Gefühl, wieder festen Boden unter die Füße zu kriegen, nur weil sie neben mir saß.„Du hast also eine Erfahrung gemacht“, sagte Kim jetzt. „So muss man das sehen. So wie Russ für mich im Grunde eine Erfahrung ist. Das ist keine große Sache. Es bleibt doch sowieso fast niemand mit dem zusammen, mit dem er mit vierzehn einmal gegangen ist. Was weiß man denn schon mit vierzehn? Was weiß ich denn schon? Nichts. Machen wir uns doch nichts vor. Ich hab doch in dieser blöden Schularbeit nicht einmal gewusst, durch was für eine Arterie das Blut aus der linken Herzkammer fließt. Woher soll ich denn wissen, warum mein Herz klopft und flattert? Und dasselbe gilt auch für dich. Stimmt’s?“Kim hatte noch nie so vernünftig über sich, Russ oder sonst was geredet. Sie hatte offensichtlich eine ganze Menge darüber nachgedacht.„Ja, wahrscheinlich“, sagte ich. „Aber ich mag Adam trotz-dem. Das ist doch das Schlimme.“„Na und? Ich mag Russ ja auch, obwohl ... ach, nichts.“„Was?“ Jetzt war sie plötzlich die Hauptperson. Was sollte denn diese Andeutung über Russ?„Nichts.“„Kimberly! Ich hab dir alles über Adam erzählt, vielleicht sogar zu viel! Ich hab ja schließlich geschworen, dass ich niemandem was davon sage. Aber ich vertrau dir. Glaubst du nicht, dass du mir auch vertrauen kannst?“„Okay ... Es ist keine große Sache. Nicht so was wie das mit Adam. Es ist ... er sagt, dass er nicht mehr mit mir gehen will, wenn wir nicht ... na ja, du weißt schon, was. Und ich hab ihm gesagt, dass da nichts drin ist. Und jetzt droht er

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mir damit, dass er Schluss machen will, und ich bleib bei meinem Nein und das macht mich noch ganz verrückt.“„Willst du denn mit ihm ...?“„Nein! Jetzt komm aber, Lee!“„Dann tu’s doch einfach nicht.“„Ich kann ihn mir ja kaum mehr vom Leib halten. Du hast ja gesehen, wie er sich am Strand aufgeführt hat, und das war noch gar nichts. Aber ich glaub, er will nur bei seinen Freunden damit Eindruck schinden, und das kratzt mich eigentlich am meisten. Ich glaub, er benimmt sich nur so, weil er glaubt, dass die anderen es von ihm erwarten.“„Da wäre ich mir nicht so sicher.“„Lee, weißt du, dass er Gedichte schreibt?“„Russ?“„Ja! Gedichte! Es sind lausige Sachen, aber es sind immer-hin Gedichte. Das ist seine andere Seite, vor der er so viel Angst hat. Ich musste schwören, dass ich es niemandem erzähle. Jetzt haben wir also beide einen Schwur gebrochen und was ausgeplaudert, was wir für uns hätten behalten sollen. Ich frag mich, wann der Blitz einschlägt!“„Jetzt!“, sagte ich. „Wwummm!“ Ich knallte ihr ein Kissen von meinem Bett auf den Kopf.„Das tut weh, Lisa! – Also, jedenfalls geht es zur Zeit mit Russ und mir auf und ab. Aber es ist nicht wahnsinnig schlimm. Ich hab langsam ein bisschen Übung darin, wie ich ihn mir vom Leib halten kann.“„Das kann man aber auch übertreiben“, sagte ich.„Was kann man übertreiben?“„Sich jemanden vom Leib zu halten. Es gibt auch gute Kompromisse, Kim.“„Ich weiß schon, Lee Lee. Ich bin doch nicht von gestern. Aber wir müssen uns jetzt um deine Geschichte kümmern und nicht um mich. Ich glaub, du solltest die ganze Sache mit Adam ganz ruhig und still abbrechen. Du bist kein Klapsmühlendoktor; du kannst ihn nicht wieder hinbiegen. Und er braucht einen Psychologen, Lisa. Er hat einfach zu viele Probleme. Menschenskind, ich meine, dieser Planet Warga und –“„Wega.“„Und dann stiehlt er auch noch und macht diese ganzen anderen Sachen. Lee, der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden … Es wird für ihn nur noch schlimmer, und für dich auch, wenn du bei ihm bleibst und aushältst und schließlich doch Schluss machen musst.“ Noch ein vernünf-tiger Rat. Kim war heute wirklich gut drauf.„Du hast Recht“, sagte ich. „Wenn du Recht hast, dann hast du Recht. Okay! Okay! Mama wird im siebenten Himmel sein.“„Deine Mutter ist jetzt nicht wichtig. Du musst tun, was für dich richtig ist.“

Textauszug 3Als wir alleine waren, setzte sich Mrs. Bates vorsichtig auf einen der wackligen Küchenstühle und deutete auf einen der anderen Stühle. Ich setzte mich hin.„So“, sagte sie. „Ach, ich bin ja froh, dass du da bist. Ich bin

ja so froh. Was ist denn vorgestern passiert? Du hast diese Bilder gemacht und es war alles so nett, so schön, und dann habt ihr euch beide auf einmal angeschrien und – und er hat geweint und du hast geweint und dann bist du auf einmal ganz schnell weg gewesen.“„Hat Ihnen denn Adam nichts erzählt?“, fragte ich.„Nein. Er hat bloß gesagt, dass ihr euch gestritten habt. Das ist alles.“„Und Emily hat auch nichts gesagt?“„Sie sagt, dass sie nichts weiß. ,Ich weiß nichts. Ich weiß nichts.’ Das ist alles, was sie sagt. Aber sie und Adam sagen mir ja sowieso nie etwas.“„Ja, also ... wir haben Streit gehabt. Und ich bin jetzt gekommen, um alles wieder ein bisschen gradezubiegen.“„Ich bin ja so froh. Adam mag dich doch so gerne. Wir alle mögen dich. Ach, Mädchen, ich hab Angst, dass ihr euch wegen der Sachen gestritten habt, die ich zu dir gesagt habe. Dieses ganze Zeug über Almosen und über dein Preisgeld und über die Leute unten in Lake Hills. Es würde mir doch im Traum nicht einfallen, dir wehzutun oder dich zu belei-digen. Oder Adam – ich würde nie etwas sagen, was ihm wehtäte; er hat schon so viel durchmachen müssen.“„Ich weiß.“„Das weißt du?“„Ja, irgendwie schon.“„Sein Vater hat ihn manchmal mit einer Kette geschlagen. Er kam oft völlig betrunken und wild nach Hause und ist mit einer Kette auf ihn losgegangen.“„O Gott! Adam hat gesagt, mit einem Gürtel.“„Ja, ich kann mir vorstellen, dass er das gesagt hat. Gürtel klingt nicht so schrecklich wie Kette. Das hat er gesagt, damit es nicht ganz so furchtbar klingt; er möchte, dass sein Vater nicht als ein Ungeheuer dasteht. Und das war er ja auch nicht! Das war er nicht! Nein, Mädchen, das war er nicht. Er hat auch viel durchmachen müssen. Wir haben alle viel durchmachen müssen.“„Warum ... warum sind Sie denn nicht weggegangen? Warum haben Sie denn nicht einfach Emily und Adam genommen und sind weggegangen? Ich weiß nicht, ob ich das fragen darf.“ „Ach ja, ich hab die ganze Zeit daran gedacht. Aber ich hab Angst gehabt. Er hat mir gedroht, wenn ich vom Weggehen geredet habe. Und die Kinder hat er auch bedroht. Und ich wusste ja nicht, wo ich hin-gehen sollte. Das hier ist das Haus meines Vaters. Und das Haus meines Großvaters. Es war schon immer unser Haus. Das Haus hier, das bin ich. Das ist mein Zuhause. Unser Zuhause. Und ich bin ja keine von diesen modernen Frauen. Ich hab Angst davor gehabt, mir eine Arbeit zu suchen; ich kann ja nichts.“„Aber hätten Sie nicht die Polizei rufen können?“„Das hab ich ja auch getan. Einmal. Aber es ist nur noch schlimmer geworden, sobald die Polizei wieder weg war ... Und er hat Whisky gebrannt, illegal, und ich wollte nicht, dass die Polizei dahinterkommt und ihn einsperrt. Vielleicht war das verkehrt, aber ... na ja, jedenfalls hat er nachts mit seinem Freund hier oben immer Whisky gebrannt und das

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Zeug verkauft. Und er war immer öfter betrunken. Und hat immer öfter herumgetobt. Und dadurch ist Adam so – ach, ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll – so durcheinan-dergekommen und so komisch geworden ...“„Sie meinen so Sachen wie die Geschichte mit Wega X?“, fragte ich.„Ja, diese ganzen Geschichten, die er im Kopf hat.“„Glaubt er das alles wirklich?“„Ach, Mädchen, wenn ich das wüsste. Manchmal wacht er in der Nacht auf und brüllt und weint! Und wenn ich ihn frage, was los ist, dann sagt er nichts.“„Haben Sie schon mal daran gedacht, mit ihm zu einem ... na ja ... zu einem Psychologen zu gehen?“ Mrs. Gladdings hatte zwar gesagt, dass Adams Mutter nichts von Psychologen hielt, aber ich konnte es ja mal versuchen. Vielleicht ließ sie sich langsam umstimmen.„Ach, das ist doch alles Hokuspokus. Außerdem hab ich kein Geld dafür.“„Es gibt welche, die machen es kostenlos.“„Davon weiß ich nichts. Aber das ist ja sowieso alles Hokuspokus.“„Aber Adam hat gesagt, er habe Alpträume. Und ich erin-nere mich daran, wie er mir von einem Traum erzählt hat, in dem diese Raumkapsel vorkam. Und wie er als kleines Kind in der Kapsel drin war. Bei solchen Sachen können Psychologen schon helfen.“„Ach ja, den Traum kenne ich in- und auswendig! Ich hab Adam gesagt, warum er diesen Traum hat, aber er wollte es nicht hören.“„Woher kommt denn der Traum?“„Irgendwann hatte sich was in der Destillieranlage ver-klemmt, in dem Apparat, in dem sie den Whisky brannten. Und sie ließen Adam durch ein Loch, so groß wie ein Bullauge, reinschlüpfen und das Ding wieder in Ordnung bringen. Er war ja so ein dürres kleines Kerlchen. Aber klug. Und er ist da reingeschlüpft und hat den Apparat wie-der hingekriegt.“„Eine Destillieranlage? Adams Kapsel war eine Destil-lieranlage, eine Schwarzbrennerei?“ „Ich hab das Adam bestimmt schon hundertmal gesagt! Die Leute von der Regierung kamen dahinter; sie planten eine große Untersuchung, aber mein Mann hat irgendwie Wind

davon bekommen. Und er ist mit seinem Freund raufgestie-gen und hat den ganzen Kram vergraben. Sie haben Tag und Nacht gebuddelt und alles vergraben. Und damit war die ganze Schwarzbrennerei zu Ende. Gott sei Dank.“

Textauszug 4„Bist du okay?“, fragte ich. „Vielleicht sollten wir jetzt gehen.“„N-nein ... ich will es sehen“, sagte er. „Das – das da war die Wand von meinem Zimmer.“ Er zeigte auf den Bulldozer, dessen Schaufel gerade auf etwas Flaches krachte. „Das ist die andere Wand ... da drüben.“„Wie kannst du nur – ich weiß nicht – so ruhig sein?“, fragte ich. „Jetzt hören vielleicht d-die Alpträume auf“, sagte er. „Jetzt ist es tot ...“„Sind das Alpträume von deinem Haus?“„Von ihm. Von ihm ... Verstehst du? Das ist wie eine B-beerdigung. Für ihn ...“„Ist er denn tot, dein Vater? Du sagst ja nie was.“„Ich weiß es nicht. Aber er schlägt mich jede Nacht im Schlaf ... verstehst du? Und dann; jede Nacht ... und dann bring ich ihn um. Ich bringe ihn im Schlaf um ... Ich k-kann nicht anders ...“„Ach, Adam!“ Er braucht Hilfe, dachte ich.Er braucht Hilfe.„Mach dir keine Sorgen. Ich bin okay. Ich bin schon okay ...“Ich legte den Arm um ihn und hielt ihn ganz fest und ich versuchte ihn ein bisschen zu schaukeln, weil ihm jetzt die Tränen übers Gesicht liefen; ich wollte ihn schaukeln, ihn richtig wiegen, um ihm zu zeigen, was ich getan hätte, wenn er mein Kind gewesen wäre.Und er hatte Recht gehabt: Es gibt Dinge, die kann man nicht mit einer Kamera fotografieren, oder malen, oder sagen; man kann nur dasitzen und jemanden ganz fest hal-ten, so wie ich es da oben auf der Wiese machte, und man kann ihn schaukeln und wiegen und darauf hoffen, dass es ihm bald wieder gut geht; man kann vielleicht auch versu-chen ein kurzes Gebet zu sprechen, ein Gebet wie das, das mir an diesem Nachmittag durch den Kopf ging, während neben uns der Bulldozer röhrte und dröhnte.Quelle: Myron Levoy: Adam und Lisa, Übersetzer: Günter Ohnemus, dtv Taschenbuch, 19. Auflage 2016, S. 19 – 22, 150 – 155, 179 – 183 und 236 – 237.

1. Beschreiben Sie in Stichworten die Freundschaft zwischen Lisa und Kim. Was zeichnet diese aus?

2. Erläutern Sie, was es mit der Raumkapsel aus Wega X wirklich auf sich hat?

3. Welche beiden Ereignisse helfen Adam, am Ende sein Trauma wenigstens ein Stück weit zu überwinden?

4. Am Abend nach dem Hausabriss schreibt Lisa ihrer Freundin Kim einen Brief. Verfassen Sie diesen Brief und beschreiben Sie Lisas Eindrücke und Gefühle.

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Teil B – Wahlteil

Bearbeiten Sie eine der folgenden Aufgaben.

1. Erörterung

Lesen Sie den untenstehenden Text „Pubertät: Drei Millimeter Rebellion“ und schreiben Sie anschließend eine Erörterung zum Thema „Pubertät – emotionalste Zeit des Lebens“. Beantworten Sie dabei die Frage: Inwieweit spielen Rebellion und Abgrenzung in der Pubertät eine zentrale Rolle?

ENennen Sie im Einleitungssatz Titel, Thema und Art des Textes.EFühren Sie im Hauptteil mindestens drei Argumente zu oben genannter Frage auf und verwenden Sie

dabei Zitate aus dem Text. EBeschreiben Sie im Schlussteil Ihre eigene Meinung zum Thema. Sie können dabei auch auf persönliche

Erfahrungen zurückgreifen.

Der Text muss mindestens 150 Wörter umfassen. Schreiben Sie in vollständigen Sätzen. Achten Sie auch auf richtige Sprache und Rechtschreibung, beides fließt in die Bewertung ein. Sie dürfen ein Wörterbuch benutzen.

Pubertät: Drei Millimeter Rebellion

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Die Tochter unserer Autorin hat sich die Haare abrasiert. Aber wogegen rebelliert die 15-Jährige überhaupt? Sie hat doch so eine coole Mutter – findet die Mutter.

Von Lea Bredenstein10. April 2019 Jugendliche sind immer online, körperlich frühreif und neu erdings politisch aktiv? Wir fragen, was es für junge Menschen bedeutet, sich heutzutage einen Platz in der Welt zu suchen, und blicken in einem Schwerpunkt auf die wahrscheinlich emotionalste Zeit des Lebens: die Pubertät. Hier erzählt die Mutter einer 16-Jährigen. […]Als Lynn sich die Haare abrasierte, war ich nicht dabei. Ihre kleine Schwester schickte mir ein Foto, und im ersten Moment dachte ich, es zeige eine Sängerin oder ein Model, irgendeine mir unbekannte Frau mit vielen Followern. Lynn trug eine getönte Brille und lange Ohrringe. Schön, aber auch fremd wirkte sie. Auf diese Verwandlung war ich nicht vorbereitet. Ist nur ein Spleen1, tröstete ich mich. Tage später strich ich über die drei Millimeter langen Stoppeln und sagte, Haare wachsen wieder – als ob damit mein Kind zurückkäme, das ich verloren hatte. Sie trug jetzt schwar-ze lange Mäntel. Jacketts mit Schulterpolstern. Schwere Schuhe. Ihr Ausdruck veränderte sich, sie blickte ernst in die Welt. Manche Passanten wechselten die Straßenseite, erzählte Lynn stolz, sie war 15.Ein Jahr später rasiert sich Lynn ihr Haar noch immer. Sie grenzt sich ab. Teenager wollen das, sich abnabeln, das steht in jedem Elternratgeber. Aber meine Tochter muss das ja gar nicht, denke ich, ich bin weder streng noch autoritär2. Mal gebe ich ihr eine Uhrzeit mit auf den Weg, an anderen Tagen beharre ich auf eine gemeinsame Mahlzeit, mehr nicht. Lynn kann sich frei fühlen, behaupte ich, denn sie wächst in einem freiheitsliebenden Umfeld auf. Unsere Freunde leben in den unterschiedlichsten Familienformen. Sie arbeiten viel und selten regelmäßig. Regelmäßig wird stattdessen gefeiert,

wild und ausgelassen, wenn jemand Geburtstag hat, ein Film abgedreht ist oder der Sommer begonnen hat. Dann werden Sitzmöbel an die Wand geschoben, es wird geraucht und getanzt und sowohl Lynn als auch ihre zwei Jahre jüngere Schwester Marie feiern mit. Sie schauen uns Erwachsenen bei unserer Glückssuche zu, werden nicht ausgeschlossen, aber auch nicht geschont. Und dennoch hat Lynn sich dazu entschieden, zu rebellieren. Nur – wogegen?Sie stellt mein Selbstverständnis infrageKeine noch so lustige Party wird meine Töchter davon abhalten, anders sein zu wollen als ich, anders Frau sein zu wollen als ich. Das ist richtig, und trotzdem verstehe ich es als Ablehnung. Ihr Anderssein zwingt mich zur Toleranz, eine unbequeme Herausforderung. Unbequem, weil sie mein Selbstverständnis infrage stellt: Bin ich wirklich so aufge-schlossen? Zwölf Monate nach Lynns Verwandlung muss ich feststellen, dass ich Ansprüche stelle und weniger lässig bin, als ich gerne wäre. Still rebellierend hält mir mein Kind den Spiegel vor. Ich gefiel mir schon mal besser.Nach einer langen Phase des Verliebtseins streiten mein Kind und ich darüber, welches das richtige Leben ist. Pubertät bedeutet, so viel habe ich schon begriffen, dass ich nicht mehr mitspielen darf, jedenfalls nicht mehr so wie früher. Einmal kehre ich vom Einkaufen zurück. Lynn sitzt in der Küche mit drei Jungs. Verschlafene Gesichter, sie sind eben der Kindheit entschlüpft. Sie frühstücken. Boys, rufe ich übermütig, weil ich mich freue, dass Jungs zu Besuch sind, hey Boys! Sie gucken verlegen. Ich ziehe ein paar Scheiben Schinken aus meiner Tasche, sage, hier, fürs Frühstück. Stille. Mama, antwortet Lynn gedehnt, das sind Vegetarier.Mal bin ich ihnen peinlich, mal sind sie stolz, die Mädchen. Zum Streit kommt es selten, mit der Jüngeren nie. Noch verehrt sie mich, ist Komplizin3, dafür bin ich dankbar. Wie ich, ist sie um Harmonie bemüht, will Stimmungen glätten und gefallen. Sie ist ein Mädchen, wie ich eines war. Eines,

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das ohne Aufforderung Hausaufgaben macht, ihr Zimmer aufräumt und sich schlafen legt, wenn es müde ist. Das sagt, macht nichts, wenn ich an einem Sonntag keine Zeit habe, weil ich schreiben muss, und mir so die Zweifel nimmt, keine gute Mutter zu sein. Lynn hingegen stellt mich infra-ge, indem sie anders lebt, liebt und denkt als ich, und das ist enttäuschend und beeindruckend zugleich.Drei Millimeter, sie verfehlen ihre Wirkung nicht. Lynn weiß, dass ich mich nicht getraut hätte, mir die Haare zu rasieren. Dass ich vor jeder Form der Radikalität zurück-schrecke. Sie hat sich nach kurzer Zeit von ihrem ersten Freund getrennt, weil er ihr nicht sagen konnte, was sie ihm bedeute. Ich bewundere sie für ihre Konsequenz, die ihr selbstverständlich scheint. Ich bewundere sie für ihre Unabhängigkeit. Während ich Segelschuhe, Jeans und Hemd trug, um nicht aufzufallen, verlässt sie das Haus im

Konfirmationsjackett ihres Großvaters, um den Kopf einen Hidschab4. Eben hat sie Schürzen für sich entdeckt, sie trägt sie über ihren Kleidern. Gehe ich neben ihr die Straße entlang, fängt sie alle Blicke, so ungewöhnlich ist ihre Erscheinung. Lynn probt Wirkung, sie probt Eigensinn und Identität und erinnert mich daran, dass ich ihre Mutter bin, eine erwachsene Frau.[…]

Text für Schülerzwecke gekürzt

1 der Spleen: Eigenheit, Macke, Tick2 autoritär: sehr streng, häufig auf Erziehung bezogen3 Komplizin: Verbündete4 Hidschab: islamische Kopfbedeckung für Frauen

Quelle: Lea Bredenstein: Pubertät: Drei Millimeter Rebellion, in: https://www.zeit.de/entdecken/2019-04/pubertaet-tochter-teenager-rebellin-mutter-erwartungen, Seitenaufruf 23.10.2019

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2. Lyrik

Friedrich Rückert (1788 – 1866)

Du meine Seele

Du meine Seele, du mein Herz,Du meine Wonn’, o du mein Schmerz,Du meine Welt, in der ich lebe,Mein Himmel du, darein ich schwebe,O du mein Grab, in das hinabIch ewig meinen Kummer gab!

Du bist die Ruhe, du bist der Frieden,Du bist der Himmel, mir beschieden.Daß du mich liebst, macht mich mehr wert,Dein Blick hat mich vor mir verklärt;Du hebst mich liebend über mich,Mein guter Geist, mein bess’res Ich!Die Rechtschreibung folgt der Textvorlage.

Erstellen Sie eine Textbeschreibung. Gehen Sie dabei auf folgende Punkte ein:

ENennen Sie in der Einleitung Autor und Titel des Gedichts. Gehen Sie auf den formalen Aufbau, Strophe, Vers, Reim ein.

EGeben Sie im Hauptteil den Inhalt des Gedichts wieder. Stellen Sie klar die Haltung des Autors zu seiner geliebten „Seele“ heraus. Untermauern Sie mit entsprechenden Zitaten aus dem Text.

EIm Gedicht heißt es: „Daß du mich liebst, macht mich mehr wert“. Beschreiben Sie im Schlussteil, wes-sen Liebe so bedeutend sein kann, dass man sich dadurch besonders wertvoll fühlt.

Schreiben Sie einen zusammenhängenden Text von mindestens 150 Wörtern. Achten Sie auf richtige Sprache und Rechtschreibung, denn beides fließt in die Bewertung mit ein. Sie dürfen ein Wörterbuch verwenden.

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3. Prosa

Peter Bichsel: Die Tochter

Abends warteten sie auf Monika. Sie arbeitete in der Stadt, die Bahnverbindungen sind schlecht. Sie, er und seine Frau, saßen am Tisch und warteten auf Monika. Seit sie in der Stadt arbeitete, aßen sie erst um halb acht. Früher hatten sie eine Stunde eher gegessen. Jetzt warteten sie täglich eine Stunde am gedeckten Tisch, an ihren Plätzen, der Vater oben, die Mutter auf dem Stuhl nahe der Küchentür, sie warteten vor dem leeren Platz Monikas. Einige Zeit später dann auch vor dem dampfenden Kaffee, vor der Butter, der Marmelade. Sie war größer gewachsen als sie, sie war auch blonder und hatte die Haut, die feine Haut der Tante Maria. „Sie war immer ein liebes Kind“, sagte die Mutter, während sie warteten. In ihrem Zimmer hatte sie einen Plattenspieler, und sie brachte oft Platten mit aus der Stadt, und sie wusste, wer darauf sang. Sie hatte einen Spiegel und verschiedene Fläschchen und Döschen, einen Hocker aus marokkani-schem Leder, eine Schachtel Zigaretten. Der Vater holte sich seine Lohntüte auch bei einem Bürofräulein. Er sah dann die vielen Stempel auf einem Gestell, bestaunte das sanfte Geräusch der Rechenmaschine, die blondierten Haare des Fräuleins, sie sagte freundlich „Bitte schön“, wenn er sich bedankte. Über Mittag blieb Monika in der Stadt, sie aß eine Kleinigkeit, wie sie sagte, in einem Tearoom. Sie war dann ein Fräulein, das in Tearooms lächelnd Zigaretten raucht. Oft fragten sie sie, was sie alles getan habe in der Stadt, im Büro. Sie wusste aber nichts zu sagen. Dann versuchten sie wenigstens, sich genau vorzustellen, wie sie beiläufig in der Bahn ihr rotes Etui mit dem Abonnement aufschlägt und vorweist, wie sie den Bahnsteig entlang geht, wie

sie sich auf dem Weg ins Büro angeregt mit Freundinnen unterhält, wie sie den Gruß eines Herrn lächelnd erwidert. Und dann stellten sie sich mehrmals vor in dieser Stunde, wie sie heimkommt, die Tasche und ein Modejournal unter dem Arm, ihr Parfum; sie stellten sich vor, wie sie sich an ihren Platz setzt, wie sie dann zusammen essen würden. Bald wird sie sich in der Stadt ein Zimmer nehmen, das wussten sie, und dass sie dann wieder um halb sieben essen würden, dass der Vater nach der Arbeit wieder seine Zeitung lesen würde, dass es dann kein Zimmer mehr mit Plattenspieler gäbe, keine Stunde des Wartens mehr. Auf dem Schrank stand eine Vase aus blauem schwedischem Glas, eine Vase aus der Stadt, ein Geschenkvorschlag aus dem Modejournal. „Sie ist wie deine Schwester“, sagte die Frau, „sie hat das alles von deiner Schwester. Erinnerst du dich, wie schön deine Schwester singen konnte.“ „Andere Mädchen rauchen auch“, sagte die Mutter. „Ja“, sagte er, „das habe ich auch gesagt.“ „Ihre Freundin hat kürzlich geheiratet“, sagte die Mutter. Sie wird auch heiraten, dachte er, sie wird in der Stadt wohnen. Kürzlich hatte er Monika gebeten: „Sag mal etwas auf Französisch.“ – „Ja“, hatte die Mutter wiederholt, „sag mal etwas auf Französisch.“ Sie wusste aber nichts zu sagen. Stenografieren kann sie auch, dachte er jetzt. „Für uns wäre das zu schwer“, sagten sie oft zueinander. Dann stellte die Mutter den Kaffee auf den Tisch. „Ich habe den Zug gehört“, sagte sie.Quelle: Bichsel, Peter: Eigentlich möchte Frau Blum den Milchmann kennen lernen, Suhrkamp-Verlag Frankfurt (1964), 1992, S. 34 – 35

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Erstellen Sie eine Textbeschreibung, in der Sie auf folgende Punkte eingehen:

ENennen Sie in der Einleitung Autor und Titel des Textes. Geben Sie den Handlungsverlauf kurz wieder.EBeschreiben Sie im Hauptteil das Beziehungsgefüge der Familienmitglieder. EWie bewerten Sie das Verhältnis zwischen Monika und ihren Eltern? Warum spricht sie nicht mit ihnen?

Ihr Text sollte mindestens 150 Wörter umfassen. Schreiben Sie in zusammenhängenden Sätzen. Achten Sie auch auf richtige Sprache und Rechtschreibung, beides fließt in die Bewertung ein. Sie dürfen ein Wörterbuch benutzen.