C. Naturrecht und Rechtspositivismus · Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung 4....

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C. Naturrecht und Rechtspositivismus I. Formen und Arten des Naturrechts 1. Einteilungsmöglichkeiten 2. Naturrechtslehren und positives Recht II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung 1. Vertreter des Rechtspositivismus 2. Die Zentralaussage des Rechtspositivismus 3. Urteile und Vorurteile 4. Rechtsbegriff und Rechtsbefolgung III. Der Streit um den „Begriff des Rechts” IV. Die Radbruchsche Formel 26.03.2015 Prof. Dr. Pierre Hauck SS 2015 1

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C. Naturrecht und Rechtspositivismus

I. Formen und Arten des Naturrechts1. Einteilungsmöglichkeiten2. Naturrechtslehren und positives Recht

II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung1. Vertreter des Rechtspositivismus2. Die Zentralaussage des Rechtspositivismus3. Urteile und Vorurteile4. Rechtsbegriff und Rechtsbefolgung

III. Der Streit um den „Begriff des Rechts”IV. Die Radbruchsche Formel

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C. Naturrecht und Rechtspositivismus

I. Formen und Arten des Naturrechts:Vielfalt des „Natur"-Begriffs

1. EinteilungsmöglichkeitenSpricht man von Naturrechtslehren,so kann man abstellen

• auf das Merkmal "Natur" im Sinne der äußeren Welt(die als vernünftig strukturierte den Bezugspunkt der Stoa bildet);

• auf die "Natur" des Menschen, und zwar entweder– auf die biologische Konstitution des Menschen

(Sophisten) bzw. seine Triebnatur (Mensch als leidenschaftliches Wesen) oder

– auf die Vernunftnatur des Menschen (so - mit Einschränkungen - das rationalistische Naturrecht).

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I. Einteilungsmöglichkeiten• Man kann auch vornehmlich abstellen auf

das Merkmal "Recht", und zwar auf ein alsirgendwie absolut vorgestelltes Recht entweder

– als der Welt objektiv eingestiftet (Stoa: kosmologisches Naturrecht) oder

– als göttliche Vorgabe und Offenbarung (Thomas von Aquin) oder

– als natürliche Festlegungen mit variablen Ausprägungsformen (Aristoteles) oder

– als der menschlichen Einsicht und Erkenntnis zugängliche Aussagen bzw. Kernsätze über gewisse überpositive Gehalte und Strukturen des Rechts (Vernunftnaturrecht).26.03.2015 3

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I. Einteilungsmöglichkeiten

• verschiedene Epochen der Rechts- und Staatsphilosophie (klassische Antike, christliches Mittelalter, Neuzeit)

• Zweiteilung naturrechtlicher Konzeption unterscheidet zwischen einem älteren (ontologischen) Naturrecht und einem neueren Vernunftnaturrecht

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Formen und Arten des Naturrechts

Naturrechtstheorien i.e.S.

Empirischer Naturbegriff (Sophisten)

Natur als sinnvolle Seinsordnung oder

Schöpfungsordnung = metaphysisch-teleologische Naturrechtstheorie (Platon,

Aristoteles, Stoa, Augustinus, Thomas von

Aquin)

Vernunftrechtstheorien

Instrumentelle Vernunft (Hobbes)

Praktische Vernunft (Kant)

Absolute Vernunft (Hegel)

Quelle: Ralf Dreier, Artikel „Naturrecht“, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, 2/370, S. 2 ff.26.03.2015Prof. Dr. Pierre Hauck SS 2015

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I. Einteilungsmöglichkeiten

„'Naturrecht' ist der Inbegriff der unabhängig von allem positiven Recht und ihm

gegenüber präeminent geltenden Normen, welche ihre Dignität nicht von willkürlicher

Satzung zu Lehen tragen, sondern umgekehrt deren Verpflichtungsgewalt erst

legitimieren."Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (1922), 5. Aufl. 1976, S. 497

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II. Naturrechtslehren und positives Recht

• Offenheit des Naturrechts für positives Recht

– antikes und christliches Naturrecht enthält nur wenige allgemeine Regeln

– positives Recht bietet auch für Naturrechtler großen Konkretisierungsspielraum

– bei Hobbes nur Ausgangspunkt naturrechtlich, nicht aber der Endpunkt seiner Überlegungen, weil Normen eines vorausgesetzten naturrechtlichen Systems keine kontrollierende oder limitierende Kraft mehr besitzen

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• Naturrecht bricht (nicht) positives Recht– eindeutiger Fall des Vorrangs: Antigone, Augustinus

aber: ältere deutsche Naturrechtslehre ließDurchbrechungen der Sätze des Naturrechtsausdrücklich aus Gründen des Gemeinwohls unddes Staatszwecks zu:

„Das Naturrecht ist für den positiven Gesetzgeber nach Maßgabe des Staatszwecks weitgehend verfügbar; die Beurteilung derStaatsnotwendigkeiten wird den Herrschernüberlassen.“

(Jan Schröder, "Naturrecht bricht positives Recht" in der Rechtstheorie des 18. Jahrhunderts?, in: Staat, Kirche, Wissenschaft in einer pluralistischen Gesellschaft. Festschrift zum 65. Geburtstag von PaulMikat, Berlin 1989, S. 425)

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• Naturrecht bricht (nicht) positives Recht

– jüngeres Naturrecht des ausgehenden 18. Jahrhunderts adressierte Naturrechtssätze an den Gesetzgeber

– naturrechtswidriges positives Recht warreformbedürftig, nicht ungültig

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C. Naturrecht und Rechtspositivismus

II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung

1. Vertreter des Rechtspositivismus

2. Die Zentralaussage des Rechtspositivismus

3. Urteile und Vorurteile

4. Rechtsbegriff und Rechtsbefolgung

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II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung1. Vertreter des Rechtspositivismus

Vorläufer

• Sophisten, namentlich Protagoras (5. Jh. V. Chr.):

„Denn was also einer jeden Polis gerecht und edel erscheint, das ist es für sie auch, solange sie dies als nomos festsetzt“ (Platon, Theaithetos, 167c)

• Johannes Duns Scotus († 1308): „legislator aeternus“

• Wilhelm v. Ockham († ca. 1347)

Gründervater• Thomas Hobbes († 1679):

„auctoritas non veritas facit legem“26.03.2015

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II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung1. Vertreter des Rechtspositivismus

Engl. Schule

Dt. Vertreter

Staatsrechtl. Positivismus

Gegenwart

• Jeremy Bentham († 1832)• John Austin († 1859)• H.L.A. [Herbert Lionel Adolphus] Hart (†1993):„The Concept of Law“ (1961)

• Karl Bergbohm († 1927)• Felix Somló († 1920)• Hans Kelsen († 1973): „Reine Rechtslehre“ (1934)

• Paul Laband († 1918)• Gerhard Anschütz († 1948)• Richard Thoma († 1957)

• Norbert Hoerster (geb. 1937) 12

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II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung

2. Die Zentralaussage des Rechtspositivismus

– Der Rechtspositivismus ist im Kern eine Lehre der Rechtsgeltung– Es geht ihm um die Differenz zwischen Recht und Nichtrecht, nicht um

die Frage von Recht und Unrecht:– "Das Vorhandensein einer Rechtsnorm ist eine Sache; ihre

Richtigkeit oder Unrichtigkeit eine andere. Ob sie besteht oder nicht, ist eine Frage; ob sie einer zugrundegelegtenIdealvorstellung entspricht, eine andere. Ein bestehendes Gesetz ist auch dann Gesetz, wenn es uns nicht zusagt oder wenn es von dem Kriterium abweicht, nach dem wir unsere Billigung oder Mißbilligung orientieren.„

John Austin, The providence of jurisprudence determined, 1954, S. 184

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II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung3. Urteile und Vorurteile

1. Gesetzesthese:

2. Neutralitäts-/Trennungsthese:

3. Subsumtions-these

Das Recht ist identisch mit der Summe der gesetzlichen Normen.

Recht ist inhaltlich/begrifflich neutral zu erfassen, also insbesondere ohne einen ethischen/moralischen Gerechtigkeitsbezug zu bestimmen.

Die Anwendung und Auslegung des Rechts erfolgt im Wege wertungsfreier, strikt logischer Subsumtion, so dass für Auslegungsspielräume und konkretisierende Ergänzung durch den Rechtsanwender kein Raum bleibt.

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II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung3. Urteile und Vorurteile

4. Relativismus-these:

5. Gehorsams-these:

Recht ist relativ – und zwar in dem Sinne, dass alle Wertmaßstäbe auf rein subjektiven, nicht objektiv beweisbaren Präferenzen beruhen (auch These des ethischen Nonkognitivismus genannt).

Dem positiven Recht ist ganz unabhängig von seinem Inhalt unbedingt Folge zu leisten; dieser Gehorsam ist über die bloße Zwangswirkung des Rechts hinaus sittliche Pflicht

Vgl. zu den Thesen Norbert Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus (Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie 11), 1989, S. 9 ff.26.03.2015

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C. Naturrecht und Rechtspositivismus

II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung3. Urteile und Vorurteile

1. Gesetzesthese:

2. Neutralitäts-/Trennungsthese:

3. Subsumtions-these

Wird praktisch von niemandem vertreten, weil alle die Existenz von Gewohnheitsrecht und/oder Richterrecht anerkennen.

Trifft zu.

Wird praktisch kaum von jemandem vertreten, weil die „klassischen“ Rechtspositivisten durchgängig die schöpferische Rolle der Rechtsanwendung und damit auch der Rechtsprechung betont haben (so vor allem Kelsen und Hart).

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II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung3. Urteile und Vorurteile

4. Relativismus-these:

5. Gehorsams-these:

Wird von einigen Rechtspositivisten geteilt, von anderen nicht. Eine durchgängige und charakteristische Verbindung beider Positionen finden wir etwa in der Reinen Rechtslehre Kelsens. Hart hingegen lehnt diesen ethischen Nonkognitivismus ab.

Wird praktisch von kaum jemandem vertreten. Kelsenund Hart lehnen vielmehr die umstandslose Ineinssetzung der Bezeichnung bestimmter Regeln und Anordnungen als Recht und der weiteren, darüber hinausgehenden Forderung nach der Befolgung dieser Regeln als Verkürzung und Verirrung ab.

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II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung

4. Rechtsbegriff und Rechtsbefolgung

„Das wichtigste Anliegen dieser Denker war eine theoretischen und moralischen Probleme, die sich aus der Existenz solcher Gesetze ergeben, die vom moralischen Standpunkt aus verwerflich, jedoch formal ordnungsgemäß erlassen, klar in ihrer Bedeutung und im Einklang mit sämtlichen Gültigkeitskriterien der betreffenden Rechtsordnung sind. Die Rechtspositivisten waren der Ansicht, daß sowohl der Rechtstheoretiker als auch jener unglückliche Beamte oder Bürger, der diese Gesetze anzuwenden oder zu befolgen hat, nur verwirrt würde, wenn man ihn aufforderte, diesen Gesetzen das Prädikat 'Recht' oder 'gültig' zu verweigern. …

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II. Rechtspositivismus als Theorie der Rechtsgeltung

4. Rechtsbegriff und Rechtsbefolgung

Sie meinten, daß es einfachere und ehrlichere Mittel gäbe, um sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen Mittel, die alle intellektuellen und moralischen Gesichtspunkte von Relevanz weit besser zur Geltung bringen. So sollten wir sagen: 'Dies ist zwar Recht; aber es ist zu verwerflich, um angewendet oder befolgt zu werden'“.

H.L.A. Hart, The Concept of Law (1961), 2nd edition 1994, S. 207 f., zit. nach: Norbert Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral. Texte zur Rechtsphilosophie, 1987, S. 50-76 (71)

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III. Der Streit um den "Begriff des Rechts"

• Unrechtsargument

besagt, daß Normen und Normensysteme existieren, die imunerträglichen Widerspruch zu allen Moral- undGerechtigkeitsprinzipien stehen, so daß ihnen der Rechtscharakter abzusprechen ist

• Prinzipienargument

besagt, daß Rechtssystemen bestimmte Rechtsprinzipien immanent sind, die eine notwendige Verbindung zwischen Recht und Moral herstellen und so die positivistische Trennungsthese sprengen

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IV. Die Radbruchsche Formel

„Der Konflikt zwischen der Gerechtigkeit und der Rechts-sicherheit dürfte dahin zu lösen sein, daß das positive, durchSatzung und Macht gesicherte Recht auch dann den Vorranghat, wenn es inhaltlich ungerecht und unzweckmäßig ist, es sei denn, daß der Widerspruch des positiven Gesetzes zurGerechtigkeit ein so unerträgliches Maß erreicht, daß dasGesetz als "unrichtiges Recht" der Gerechtigkeit zu weichenhat. (...) Wo Gerechtigkeit nicht einmal erstrebt wird, wo dieGleichheit, die den Kern der Gerechtigkeit ausmacht, bei derSetzung positiven Rechts bewußt verleugnet wurde, da istdas Gesetz nicht etwa nur 'unrichtiges Recht', vielmehr entbehrt es überhaupt der Rechtsnatur.„

Gustav Radbruch, Gesetzliches Unrecht und übergesetzliches Recht, in: SJZ 1946, Sp. 105 (107)

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IV. Die Radbruchsche Formel

Zur Kritik„Diese punktuelle Betrachtung der einzelnen Gesetze bewirkt, daß für jeden Staat zu jeder Zeit festgestellt werden kann, daß in ihm eine intakte Rechtsordnung gelte oder gegolten habe -nämlich eine Rechtsordnung, bestehend aus den jeweiligen staatlichen Gesetzen, korrigiert durch die Normen des überpositiven Rechts. Mögen in einem Staate noch so abscheuliche Gesetze bestehen, befolgt und durchgesetzt werden - die Welt des geltenden Rechts ist immer eine heile Welt.“

Gerald Grünwald, Zur Kritik der Lehre vomüberpositiven Recht, 1971, S. 14

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IV. Die Radbruchsche Formel

Kritik– Schaffung einer neuen Rechtsordnung

qua Rückwirkung– Problem des Art. 103 II GG:

Rückwirkung im Strafrecht ausgeschlossen

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IV. Die Radbruchsche Formel

Alternative: Offene Rückwirkung"Wenn man von diesem Grundsatz (gemeint ist: "nulla poena sinelege", H.D.) Ausnahmen machen muß, um ein noch größeres Übelals die Preisgabe des Grundsatzes selbst zu vermeiden, so ist esunbedingt notwendig, die anstehenden Probleme deutlichherauszuarbeiten. Man sollte einen Fall rückwirkender Bestrafungnicht so hinstellen, daß der Anschein entsteht, es handele sich umeinen Normalfall der Bestrafung einer zur Tatzeit rechtswidrigenHandlung. Für die einfache positivistische Lehre, daß moralischverwerfliche Normen trotz ihrer Verwerflichkeit gültiges Recht sein können, spricht zumindest folgendes: Wenn unter extremenUmständen eine Wahl zwischen verschiedenen Übeln getroffenwerden muß, so läßt sich dies mit den Mitteln der positivistischenLehre jedenfalls nicht verschleiern.„

H.L.A. Hart, The Concept of Law (1961), 2nd edition 1994,S. 211f., zit. nach: Norbert Hoerster (Hrsg.), Recht und Moral.Texte zur Rechtshilosophie, 1987, S. 50-76 (76)

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IV. Die Radbruchsche Formel

„1944 gab eine Frau, die ihren Ehemann los werden wollte, bei den Behörden an, er habe während eines Fronturlaubs abfällige Bemerkungen über Hitler gemacht. Die Frau war gesetzlich nicht verpflichtet, ihn anzuzeigen, wenn auch seine Äußerungen offensichtlich gegen Bestimmungen verstießen, die alle Äußerungen verboten, welche die Regierung des Dritten Reiches herabsetzten oder in irgendeiner Form die Wehrkraft des deutschen Volkes schwächten. Der Ehemann wurde festgenommen und - offenbar in Anwendung dieser Bestimmungen - zum Tode verurteilt, dann aber nicht hingerichtet, sondern an die Front geschickt. 1949 wurde die Frau vor einem westdeutschen Gericht wegen rechtswidrigerFreiheitsberaubung angeklagt. …

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IV. Die Radbruchsche Formel

Dies war eine strafbare Handlung auf Grund des deutschenStrafgesetzbuches von 1871, das seit seinem Inkrafttretenununterbrochen in Geltung war. Die Frau berief sich darauf,daß die Inhaftierung ihres Mannes auf Grund der Nazigesetzeerfolgt sei und daß sie infolgedessen keine Straftat begangenhabe. Das Revisionsgericht, vor das der Fall schließlich kam,war der Ansicht, die Frau sei schuldig, weil sie dieFreiheitsberaubung ihres Mannes durch seine Denunziation herbeigeführt habe, wenn er auch von einem Gericht wegen Verstoßes gegen ein Gesetz verurteilt worden sei; denn - um die Worte des Gerichts zu zitieren - dieses Gesetz verstoße‚gegen das Billigkeits- und Gerechtigkeitsempfinden alleranständig Denkenden‘. …

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IV. Die Radbruchsche Formel

Diese Argumentation wurde in der Folge in vielen Entscheidungen übernommen, die man als Sieg der Lehrendes Naturrechts und als ein Zeichen der Überwindung desPositivismus gepriesen hat. Die uneingeschränkte Befriedigung über dieses Ergebnis scheint mir eine Art vonHysterie zu sein. Viele von uns werden zwar das Ziel – dieBestrafung einer Frau für eine empörend unmoralischeHandlung - gutheißen, aber es wurde dadurch erreicht, daß man einem seit 1934 bestehenden Gesetz die Rechtsgültigkeit absprach, und man muß zumindest die Klugheit dieses Vorgehens anzweifeln. Es gab natürlich zwei andereMöglichkeiten. Eine war, die Frau straflos ausgehen zulassen; man kann für die Auffassung, daß dies eine schlechte Lösung gewesen wäre, Sympathie und Zustimmung empfinden. …

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IV. Die Radbruchsche Formel

Die andere war, sich mit der Tatsache abzufinden, daß sollte die Frau bestraft werden, dies durch den Erlaß einesunverhüllt rückwirkenden Gesetzes hätte geschehen müssen, im vollen Bewußtsein dessen, was man aufgibt, um auf diesem Wege ihre Bestrafung zu erreichen. So abstoßend eine rückwirkende Strafgesetzgebung und Bestrafung auch sein mag, sie in diesem Falle offen durchgeführt zu haben, hätte wenigstens den Vorzug der Red lichkeit gehabt. Es hätte deutlich gemacht, daß man bei der Bestrafung der Frau zwischen zwei Übeln zu wählen hatte: dem, sie unbestraft zu lassen, und dem, ein wert volles moralisches Prinzip preiszugeben, das die meisten Rechtssysteme gutheißen. Wenn wir aus der Geschichte der Moral etwas gelernt haben, dann doch dieses, daß man moralische Probleme nicht kaschieren sollte. …

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IV. Die Radbruchsche Formel

Die Fälle, in denen das Leben uns zwingt, von zwei Übeln dasgeringere zu wählen, muß man wie Brennesseln anfassen: mit dem Bewußtsein dessen, was man tut. Der Nachteil dervorliegenden Heranziehung des Prinzips, daß in gewissenGrenzsituationen das, was im höchsten Grade unmoralischist, nicht Recht sein kann, liegt darin, daß es die wahre Naturder uns gestellten Probleme bemäntelt und demromantischen Optimismus Nahrung gibt, alle unsere Werteließen sich letzten Endes in einem einzigen Systemunterbringen und keiner von ihnen müsse zugunsten einesanderen geopfert oder eingeschränkt werden.“

H.L.A. Hart, Der Positivismus und die Trennung von Recht undMoral (1958), in: ders., Recht und Moral. Drei Aufsätze, aus demEnglischen übersetzt und mit einer Einleitung herausgegebenvon Norbert Hoerster, 1971, S. 14-57 (43 ff.)26.03.2015 29