Camenzind #6

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Die sechste Ausgabe von Camenzind

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Herausgeber: Jeanette Beck, Benedikt Boucsein, Axel Humpert, Tim Seidel. Anschrift: Camenzind, Hardstrasse 69, 8004 ZürichRedaktion und Vertrieb: [email protected] Internet: www.cazmag.com

Für unverlangt eingesandte Manuskripte und Photographien kann keine Haftung übernommen werden. Rücksendung nur bei Rückporto. Die Verwertungsrechte an den Beiträgen liegen bei den Autoren. Nachdruck der Texte nur mit Genehmi-gung der Urheber und mit Quellenangabe. Nachdruck der Zeichnungen | Photographien nicht gestattet. Disclaimer: Wir haben uns bemüht, sämtliche Rechteinhaber ausfindig zu machen. Sollte dies an einer Stelle nicht gelungen sein, bitten wir um Mitteilung. Berechtigte Ansprüche werden im Rahmen der üblichen Vereinbarungen abgegolten.

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EinE HommagE an diE FrEaksEditorial

Es ist an der Zeit für eine Hommage an die Freaks.

Freak kommt aus dem Englischen und bedeutet ursprünglich Laune. Die Bedeutung hat sich jedoch im Laufe der letzen Jahrhunderte gewandelt: von ‹freak of nature› - Laune der Natur, wie man den Freak z.B. aus dem Film ‹The Elephant Man› kennt - bis zum zeitgenössischem Freak, der eine bestimmte Sache über ein ‹normales› Mass hinaus betreibt, zum Lebensinhalt macht, und seine Umwelt damit beglückt oder in den Wahnsinn treibt.

Was hat das bloss mit Architektur zu tun?

Sie wird oft von Freaks gemacht.

Dies ist nur auf den ersten Blick erstaunlich! Es ist ja der Freak, der anders ist als die anderen. Damit kann eigentlich auch nur der Freak derjenige sein, der an unserer gebauten Umgebung etwas ändert. Gelingt es ihm, auch nur ein bisschen ‹freakiger› zu gestalten, ist er meist schon zufrieden. Es stellt sich trotzdem die Frage, inwieweit es dem Freak ausreicht, dass die Veränderungen nur von ihm wahrgenommen werden; gerade aus Sicht der planenden und bauenden Zunft.

Man möchte an dieser Stelle einwenden, dass im ‹Freakigen› auch eine Gefahr liegt, nämlich die, nicht ernst genommen zu werden! Wenn der Architekt als lau-nischer und flippiger Gestalter gilt, der seine wirren Ideen durchsetzen möchte, dann hat er verloren.

Aber ist das wirklich so? Nehmen wir ‹nerdige› Informatiker, verschrobene Ingenieure und seltsame Wirtschaftsspezialisten in ihrem Fachgebiet nicht unheimlich ernst und vertrauen ihnen unsere Computer, unsere Betondecken und unsere Finanzen an?

Mit der vorliegenden Camenzind Nr. 6 liefern wir eine Hommage an die Freaks. Nicht immer geht es in dieser vielfältigen Ausgabe um das klassische Bild des Freaks, das so oft von Klischees bedient wird. Vielmehr setzen wir uns mit aussergewöhnlichen Erscheinungen auseinander, und manche Freaks können nur noch sehr begrenzt als solche bezeichnet werden - dafür bergen sie andere Aspekte, die wir euch nicht vorenthalten möchten.

Bleibt uns nur noch, viel Spass beim Lesen zu wünschen! Hoffentlich haben wir alles inkonsistent genug hinbekommen. Oder es eigentlich nicht versucht aber doch hinbekommen; bzw. die Inkonsistenz nicht übertrieben, aber auch nicht verneint, oder so.

Die Redaktion

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scHiFFE im mondrobErt SchulzE

diE scHwEiz wird zErstörtintErviEw mit hanS Kollhoff

L`idEa dELLa cittaanna wEbEr

kEnnt iHr EigEntLicH diE «brasiLianiscHE scHwEiz»?PhilliP StubEnrauch

bLurry rEnoir dEbussyluzia budmingEr

adoLF Loos: diE Frau und das HausSoPhiE hochhäuSl

intErviEw witH j. n. HabrakEnJEanEttE bEcK, bEnEdiKt boucSEin

LE corbusiEr La viLLa La rocHElaura J gErlach

diE sLowakiscHE zwiscHEnkriEgszEit und das nEuE bauEnSilvia radlinSKy

traurigE modErnE und typEn abgEgLittEnEr artmarKuS PodEhl

inHaLt

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Vor mir stand jemand, der mir gerade erzählte, dass er, wann immer es die Wetterlage zulässt, jedoch vorzugsweise im Winter, sein Teleskop auf die Berge karrt und bei -20° die ganze Nacht ausharrt um ‹meinen› Mond zu sehen, wäh-rend er mit starr gewordenen Fingern alle 20 Minuten bei Rotlicht-Beleuchtung einen Okularwechsel vornimmt. Rotlicht, weil es die Pupillen nicht verengt und Berge, weil dort der Himmel halt dunkler ist. Bei entsprechendem Wetter eben. Man wünscht sich in diesen Kreisen zum Abschied nicht etwa ‹alles Gute› sondern ‹Clear Skies›. Alles klar.

Am Abend vorher bei einem Nachtessen fing einer der Gäste irgendwann an, ein Teleskop aufzubauen, durch das wir dann alle durchschauen mussten. Um den Mond zu sehen. Und sogar den Jupiter, mit seinen 4 galileischen Monden. Da war ich aber platt. Ich meine, ich kenne ihn ja. Den Mond. Und das nun zwar schon ziemlich lange. Oder auch den Jupiter. Aber das, was ich da durch dieses Teleskop gesehen habe, hat mich doch glatt umgehauen. Vor Schönheit. Fing irgendwie an zu leben. Dieser Mond. Und das war das erste Mal. Also bin ich am nächsten Tag sofort in den Teleskopladen gerannt und habe mich nach einem Teleskop erkun-digt. Da war ich dann ziemlich schnell wieder platt. Mit so viel Geld hatte ich nicht gerechnet. Mit starren Fingern in kalten Winternächten auch nicht, und habe ihn wohl etwas skeptisch, wenngleich voller Bewunderung, angeschaut. Mein Freaky-Teleskop-Verkäufer. Denn, obwohl ich ja eigentlich nur den Mond sehen wollte, befürchtete ich, dass er irgendwo Recht hatte.

Einfach nur die Tatsache, dass man mit einem Apparat einen Traum sehen oder sich seine ‹Fantasie ran-zoomen› kann, darauf kommt ausser meinem Freak irgendwie keiner (was mich wundert, denn so einige um mich herum sind doch Journalist, Schriftsteller oder Künstler, zumindest Architekten, Designer oder Lite-raten und doch sonst immer so offen in deren Gedanken). Dabei werde ich dann demnächst Mondlicht verkaufen, welches ich nachts gefangen habe. In dunkel-blauen Stofftüten zu 500gr. Zu einem völlig überhöhten Preis. Weil es so wunder-voll jungfräulich weiss ist. Und in diesem Licht alles schöner erscheint. Und dafür sind die Leute bereit, viel Geld auszugeben. Auch wenn sie irgendwie wissen, dass sie getäuscht werden. So nicht die Freaks.

scHiFFE im mondrobErt SchulzE

Robert Schulze, geboren 1969 in Rozenburg (NL), lebt in Zürich, ist tagsüber Steuerberater und schreibt nachts Texte.

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Von wegen Hobby und Freaksein. Wobei ‹Hobby› ja eigentlich ein Kackwort ist. Für diejenigen unter uns, die vor lauter Langeweile keine Lust mehr haben, allabendlich vor der Glotze zu hängen oder sich mit dem Vereinsleben irgendwie nicht ganz identifizieren können. Denn um eines beneide ich sie doch. Die Freaks. Und zwar dafür, dass sie für etwas eine richtige Leidenschaft aufbringen können. Genau! Für die Leidenschaft (wiederum ein schönes Wort). Die ich ja auch so gerne hätte.

Wie die Boot-Spotter in Holland. Damals. Als wir in den Ferien Büroräume geputzt haben. Jeden Abend von sechs bis acht. Nach zwanzig Stunden bekam man dann zusätzlich zum Stundenlohn einen Sony Walkman. So einen gelben, der erste, der auch unter Wasser konnte, oder wenigstens unter der Dusche. Damit habe ich dann tatsächlich zweimal geduscht (muss ich weiter nichts zu sagen). Also waren wir (mein Freund Christopher und ich) für zwei Wochen Teil einer Putz-kolonne. Und wir waren wohl die einzigen zwei, auf denen die Walkman-Annonce im Rosenburger-Kurier auch nur irgendeinen Eindruck gemacht hat.

Der Rest unseres Teams bestand nämlich ausschliesslich aus Rosenburger Hausfrauen. Die Kerntruppe der Putzkolonne. Und Christopher. Und ich. Das ‹Jung(s)fleisch›. Und da ja Ferienzeit war, bekamen wir den ganzen Ferientratsch der Mädels mit. Denn alle fuhren entweder drei Wochen mit dem Wohnwagen auf den Campingplatz nach Frankreich, zehn Tage nach Mallorca oder besuchten halt die Familie in Anatolien. Alle ausser einer.

Einer, die dieses Jahr nach Kobe (Japan) in Urlaub fuhr. KOBE, JAPAN? Ja, Kobe, Japan. Boah, da hingen Christopher und ich ihr aber an die Lippen. Warum denn Kobe Japan? Dabei wollte sie ja eigentlich lieber auch nach Spanien. Aber ihr Mann war halt Boot-Spotter und der wollte nach Kobe, also musste sie mit.

Boot-Spotter. Ich erinnerte mich, dass in Rosenburg, an der Rhein-Mündung im Rotterdammer Hafengebiet, am ‹Wasserweg›, also dort wo all die Schiffe vor-beifahren, die den Rotterdammer Hafen verlassen oder anfahren, immer irgend-welche Typen ganztags oder auch nachts am Ufer sassen. Unter so einem Rie-senschirm. Wie Angler. Nur hatten diese Männer (komischerweise kaum Mädels) keine Angel, sondern irgendeine professionelle Fotoausrüstung mit Riesen-Zoom-Objektiven, und die sassen dann da und warteten. Warteten bis sie ‹ihn hatten›.

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Das Schiff meine ich. Und wenn irgendwann mal ein ganz besonderes Schiff den Hafen anlief, dann sassen ganz besonders viele da. Und warteten. Bis das Schiff im Objektiv vorbeifuhr und sie abdrücken konnten. Und dann ‹hatten sie ihn›. Diese Boot-Spotter haben ihre ‹Leidenschaftsgenossen› in der ganzen Welt und tau-schen Fotos aus. Von Schiffen. Und weil eine von den Mädels aus meiner Putzko-lonne mit so einem Typ verheiratet war, musste die in Kobe, Japan Urlaub machen und nicht in Spanien.

Weil Kobe nämlich der grösste Hafen von Japan ist und es auf der anderen Welthalbkugel Schiffe gibt, die nie und nimmer in Rotterdam anlaufen. Und des-halb war Kobe das Paradies für den Mann der Frau aus meiner Putzkolonne. Der einen. Und Christopher und ich fanden das total geil und waren superneidisch, dass sie nach Kobe, Japan würde reisen können. Nur sie nicht. Denn sie wollte ja lieber nach Spanien. Wie alle andere Putzfrauen auch.

Und diese Typen, die da die ganze Nacht aufbleiben und warten, bis das eine Schiff vorbei kommt, um es zu fotografieren für ihre Sammlung und dafür ihr gan-zes Geld ausgeben, die nennt man Boot-Spotter. (Ganze Nacht stimmt vielleicht nicht ganz, weil im Rosenburger-Kurier sind, nebst Verlobungen, Geburten und Sterbefälle sowie Kirchendienstzeiten und Putzkolonnenannoncen, immer auch die Ein- und Ausfahrtszeiten der Schiffe angekündigt.)

Nun gut. Mag einer finden, dass das Ganze sinnlos ist. Mit dem Schiffe foto-grafieren oder den nächtlichen Okularwechseln bei -20° und so. Weil es dem Mond nichts ausmacht, ob ihn einer fotografiert. Geschweige denn ein Schiff. Aber das stimmt nicht. Das ist total wichtig. Weil es ohne diese Leute den Begriff ‹Leiden-schaft› nicht mehr geben würde. Und das ist irgendwie etwas ganz, ganz schönes.

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Dieses Interview haben nicht wir selbst geführt, sondern die Schweizer «Weltwoche». Wir fanden es jedoch so lesenswert, dass wir es nochmals abdru-cken. Bitte, liebe Weltwoche, seht von einer Klage ab! Ihr dürft uns auch jederzeit zurückkopieren.

Herr Kollhoff, Sie sind kein Stararchitekt.

Wer weiss?

Sie stellen jedenfalls nicht auf der ganzen Welt Ihre Wahrzeichen hin.

Ich bin jedenfalls keiner, der auf der ganzen Welt immer wieder das Gleiche abliefert, weil er nur damit Erfolg hat.

Sie sind ein Handwerker.

Das ist richtig. Ich will das künstlerische meines Berufes nicht ausschliessen, aber man darf diesen Beruf nicht primär als Kunst verstehen. Ein Architekt muss zunächst einmal Handwerker sein.

Zurzeit passiert genau das Gegenteil. Die Architekten verwirklichen sich selbst.

Und damit habe ich auch meine grossen Probleme. Architektur hat einen lebensdienlichen Charakter, Kunst nicht. Architektur ist vor allem eine Dienst-leistung, der Architekt muss sich dabei einer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst sein. Diese Grenze zwischen Kunst und Architektur ist heute verlorenge-gangen.

Einige Ihrer Kollegen haben die Grenze überschritten.

Ich weiss.

Nennen Sie Namen.

Zaha Hadid oder Frank Gehry sind gute Beispiele. Aber bleiben wir gerecht, ihre Bilder befriedigen gesellschaftliche Sehnsüchte. An ihrem Erfolg sind wir also mit schuld. Gehry hat mit seinem Guggenheim-Museum in Bilbao eine abgewirt-schaftete baskische Stadt zurück auf die Landkarte gebracht. Ob das allerdings ein

diE scHwEiz wird zErstört

Interview mit Hans Kollhoff in der Weltwoche Nr. 41, 08,

geführt von Peer Teuwsen

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gutes Haus für Kunst ist, ist eine andere Frage. Als das Museum fertig war, fragte man den Architekten Philip Johnson, ob das Gebäude auch dazu tauge, Kunst auszustellen. «When a building is as good as this one, fuck the art», war seine Antwort. Das ist die affirmative Überheblichkeit des Künstler-Architekten. Wenn Gehry dieses Museum dann an jede Ecke der Welt stellt oder, noch problemati-scher, wenn Libeskind sein Konzept für das Jüdische Museum in Berlin auch für ein Shoppingcenter in Bern verwenden kann, dann steht der Ruf unseres Berufs-standes auf dem Spiel. Ist das glaubwürdige Architektur oder bloss Marketing? Als Architekturlehrer muss ich das kritisch sehen, denn Gehry findet seine naiven Nachahmer, und unversehens haben wir in jedem Dorf einen Frank-Gehry-Epigo-nen, der ungehindert seinen Unfug treiben kann. Spätestens dort muss sich meine Verantwortung als Architekt melden. Ich bin bis zu einem gewissen Grad verant-wortlich für meine Kopisten. Und da ist man bei einer klassischen Architektur, die sich dem allzu Modischen, allzu Spektakulären verschliesst und die sich in erster Linie als Konvention versteht, sehr gut aufgehoben.

Es gibt von Ihnen den arroganten Satz: «Wer mich kopiert, vermeidet das Schlimmste.»

Dazu stehe ich immer noch. Meine Architektur wurde zunehmend traditionell, und sie ist urban. Das muss ganz und gar nicht rückwärtsgewandt sein. Das wirft man mir ja immer vor. Auch ich denke als entwerfender Architekt in die Zukunft, möchte dabei aber nicht vergessen, was war. Da gab es auch Brüche, nicht nur Kontinuität. Aber es gibt über diese Brüche hinweg Traditionen, auf die ich mich verlassen kann und einlassen muss. Dieses Verständnis des Phänomens Stadt ist mir wichtig. Ich lebe in einer kriegszerstörten Stadt, in Berlin.

Und dann sagen Ihre Kritiker, Sie würden an einem neuen Nazi-Berlin bauen.

Das verrät mehr über die Borniertheit der Kritiker als über meine architekto-nische Position. Da kann ich inzwischen nur schmunzeln. Städtische Architektur strebt eben nach Permanenz im architektonischen Ausdruck wie in der baulichen Qualität. Sie hat nichts Trendiges, und sie gibt sich nicht mit Basteleien zufrieden. In Dietikon, wo ich an der Entstehung des neuen Stadtteils «Limmatfeld» beteiligt bin, stellt sich eine ähnliche Frage. Dietikon ist ein Dorf, über das eine unkontrol-lierte Verstädterung hinweggegangen ist. Man kann sich darin einrichten, wie das in der Schweiz gemeinhin praktiziert wird. Man kann aber auch behaupten, das sei eine Vorstufe von Stadt. Und deshalb müssen meine Bemühungen dort auf Ver-städterung aus sein. Dietikon muss sein städtisches Potenzial ausspielen, es muss sich endlich als Stadt erkennen. Dabei kann ich als Architekt behilflich sein. Die Schweiz hat eine grosse städtische Tradition, gerade auch der Moderne. Nehmen Sie die Sihlporte in Zürich. Das ist ein modernes Stück Stadt. Das gibt es in ganz Deutschland nicht, weil man bei uns zu der Zeit ausschliesslich Siedlungsbau betrieben hat.

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Um es auf den Punkt zu bringen: Sie wollen keine Flugzeugträger bauen, die einfach irgendwie in eine Stadt gestellt werden, so wie es viele Ihrer Kollegen tun.

Richtig. Ich will meine Architektur zum Verschwinden bringen. Es dauerte auch bei mir einige Zeit, bis ich das begriffen hatte. Die Qualität einer Stadt beruht eben nicht auf der Addition baukünstlerischer Highlights, im Gegenteil. An der Zürcher Bahnhofsstrasse gibt es ein, zwei Häuser, die unter Denkmalschutz stehen. Der Rest sind Bauten, deren Architekten niemand kennt – aber von einer enorm hohen Qualität. In der Regel zerstören die angestrengten Artefakte der sogenannten Stararchitekten einen fragilen städtischen Kontext.

Sie sind die Antithese zu den Stararchitekten wie zum Beispiel den Baslern Herzog&de Meuron.

Stimmt, aber für Herzog & de Meuron muss ich eine Lanze brechen.

Haben die das nötig?

Nein, aber ich nehme mir das Recht heraus. Wenn es um Stadien geht, bewundere ich die beiden. Ich liebe die Allianz-Arena in München. Da geht alles auf, die Idee, das Stadion wie ein Raumschiff neben die Müllhalde zu stellen, das Spiel mit den bayerischen Rauten, grossartig. Ich habe Probleme mit ihrer bom-bastischen Philharmonie in Hamburg. Ich bemitleide eine stolze Hansestadt, dass sie es offenbar nötig hat, sich ein solches «Symbol» herbeizureden. Hamburg hat doch eine kulturelle Identität, die über jeden Zweifel erhaben ist, eine bemerkens-werte städtebauliche und architektonische Substanz, die haben so etwas doch nicht nötig. Diese Stadt steht jetzt da, als sei sie ein Problemfall wie Bilbao, als würde es diese künstlerische Beatmung brauchen, die mit dem, was Hamburg ausmacht, wenig zu tun hat. Die Hamburger sollten mal über ihr Brachland in der Stadtmitte nachdenken. Nein, solche skurrilen «Symbolbauten», die in asiatischen Megastädten ihre Daseinsberechtigung haben, zerstören europäische Städte.

Was kritisieren Sie an Herzog & de Meuron?

Herzog & de Meuron lassen ihre Einfälle oft zu frei laufen, wohl im Vertrauen auf die Rigorosität der ungebändigten, unvollendeten Idee. Die haben eine kindli-che Freude daran, das ist bei ihrer enormen Produktivität bewundernswert, nur, sie müssten hin und wieder tiefer schürfen, zum Beispiel die Frage an sich her-anlassen, was solche Einfälle aus einer städtischen Situation machen. Wenn Sie Basel nehmen, was da bei der Messe passiert, was tut dieses Projekt der Stadt an? Man kann auch eine grossartige Stadt wie Basel ruinieren. Da haben die Archi-tekten, die sich noch als Städtebauer verstanden haben, doch etwas komplexere Fragen aufgeworfen und einem guten Ende zugeführt.

Was sind die grössten Architektur-Verbrechen in Europa?

Ein starkes Wort. In Basel steht das ja so schön auf der Brücke: «Architekten sind Verbrecher.» Man kennt das aus den sechziger Jahren, damals habe ich das

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auch gesagt. Heute weiss ich, so einfach ist der Sachverhalt nicht. Für mich wird es dort problematisch, wo man versucht, mit Marketingprinzipien in Vergessenheit geratene, aber wunderbare Orte architektonisch aufzupeppen. Ich denke an viele schöne italienische Städte, wo unter unseren Augen die Marktplätze verschandelt werden. Vor ein paar Wochen war ich in einer bayerischen Kleinstadt, Tirschen-reuth: wunderbarer Stadtplatz, 200 Meter lang, 50 Meter breit. Der wird jetzt mit europäischen und bundesdeutschen Geldern «modernisiert». Den unbedarften Epigonen der Architekturweltmeister gelingt es tatsächlich, einen solchen Ort, der sich über jahrhunderte herausgebildet hat, innerhalb von zwei Jahren kaputtzu-machen. Und dann sieht man in den Schaufenstern Fotos, unter denen wehmütig steht: «So sah unser Stadtplatz aus.»

Sie bauen nicht in Asien. Warum nicht?

Ich habe mir das einige Male vor Ort angeschaut und entschieden, dass ich da keinen Beitrag leisten kann. Das müssen die selber machen. Ich will mich an die-ser Hyperventilation nicht beteiligen. Natürlich könnte ich da auch etwas hinstel-len, durchaus provokant. Aber es interessiert mich einfach nicht.

Wenn Sie wie Herzog & de Meuron eine ganze Stadt in China bauen könnten, dann würde Sie das nicht interessieren?

Die Entwicklung dieser neuen Städte unterliegt ja politischen und ökonomi-schen Gesetzmässigkeiten, aus denen nichts Dauerhaftes, Vernünftiges, aus der eigenen Kultur heraus Entwickeltes entstehen kann. Die Erfahrung machen alle Architekten, die dort arbeiten. Da will man Kopien von Rothenburg ob der Tauber und hat dann Probleme, die Wohnungen loszuwerden, weil für Chinesen die Him-melsrichtung eine ganz andere Bedeutung hat als für uns Europäer. Wenn man etwas Gutes machen will, muss man dort längere Zeit leben.

Sie haben sich also bewusst für Europa entschieden?

Ja. Ich würde natürlich sehr gerne in den USA bauen, dort habe ich mehrere Jahre gelebt. Da muss man aber dranbleiben und Kontakte pflegen. Die Hektik reicht mir doch heute schon, ich bin ja ständig auf Rundreise zwischen Deutsch-land, den Niederlanden, Italien und der Schweiz.

Gibt es eine kritische Grösse für ein Büro?

Wenn man konsequent delegiert, kann man ein grosses Büro führen. Meine drei Büros zusammen umfassen etwa fünfzig angestellte Architekten. Bei die-ser Grösse bin ich in der Lage, mit fast jedem Mitarbeiter wenigstens einmal die Woche am Arbeitstisch zu sprechen. Zusammen mit der Lehre an der ETH ist das dann schon viel, manchmal sogar zu viel.

Woher nehmen Sie Ihre Kraft?

Ich komme aus einfachen Verhältnissen. Meine Familie führte über Jahre ein Flüchtlingsdasein. Sich in einem fremden Dorf mit einem unverständlichen Dialekt

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zu behaupten, das war nicht leicht, das hat Kräfte in mir geweckt, die nicht ohne weiteres verfügbar gewesen wären.

Sie tragen heute gar nicht Schwarz.

Schwarz trage ich zur rechten Zeit.

Ihre Studenten tragen vor allem Schwarz und zeichnen sich nicht durch Bescheidenheit aus. Sind das bessere Menschen?

Natürlich nicht. Aber meine Studenten müssen sich von ihren Kollegen erst einmal den Vorwurf gefallen lassen, dass sie zu einem so unmodernen oder gar reaktionären Menschen wie mir gehen. Aufgeschlossene und selbstbewusste Geister merken aber recht schnell, wie absurd das ist. Ein Architekt kann nicht blind geradeaus gehen, er muss bereit sein, nach links und rechts und hin und wieder auch zurückzuschauen, um sich seiner Sache sicher zu sein. Die grösste Herausforderung ist doch, gegenüber der Überlieferung zu bestehen, intellektuell, aber auch mit der gebauten Architektur. Das geht nicht ohne Handwerk und hand-werkliches Denken, das sich nun einmal der Überlieferung verdankt. Wissen Sie, ich verteile keine Traktate, ich bin viel zu unsicher, wie man es in der jeweiligen Situation richtig und gut machen soll in unserem Beruf.

Das ist aber mal ein Satz von einem Menschen, der als konsequent, sehr streng gilt.

Ich bin gar nicht darauf erpicht, dass jedes Fenster gleich und jeder Winkel rechteckig sein soll. Ich bin eher ein Vertreter der romantischen oder gar der baro-cken Architektur.

Wie erklären Sie sich denn, dass Sie immer wieder auf so erregten Widerstand stossen? Ihr prunkvoller Tivoli-Bau in Luzern, wo die Attikawohnung 3,5 Millionen Franken kostet, hat nicht alle gefreut.

Sehr viele waren aber auch begeistert. Wütend sind vor allem die lokalen Architekten und ihre Entourage. Diejenigen, die glauben, sie seien immer noch modern, wenn überall Sichtbeton- oder Glaskisten hinstellen – auch wenn man das schon vor hundert Jahren konnte. Die ärgert natürlich, wenn man so baut wie ich. Das ist ein Schweizer Phänomen, das gibt es nicht in Italien, Frankreich und auch nicht in Deutschland. Diese Terrassenhausmanie, bei der jeder über den anderen hinwegschauen will, und dann wird ihm doch wieder etwas vor die Nase gesetzt, ich verstehe das nicht. Schauen Sie sich den Vierwaldstättersee an, wunderbare Bauerndörfer mit Holzhäusern, die den Atem stocken lassen, und die dennoch unbewusst oder mutwillig zerstört werden.

Gibt es Momente, wo Sie durch die Schweiz fahren und am liebsten eine Stange Dynamit zünden würden?

Nein, ich habe 1968 studiert, ich weiss, dass man diese Auseinandersetzung nicht mit Sprengstoff führen kann.

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Sie können aber schon wütend werden?

Ja, aber man muss überzeugen, alles andere hilft nicht weiter. Und ich kann Ihnen sagen: Heute gut zu bauen, das ist nicht leicht. Unsere Gesellschaft gibt zu wenig Geld aus fürs Bauen. Vor allem in den Städten. Es kostet eben erheblich mehr, im städtischen Kontext zu bauen, vor allem dann, wenn wir nicht hinter dem zurückbleiben wollen, was unsere Väter und Grossväter gebaut haben. Machen wir uns nichts vor, wir sind als moderne Menschen Schmarotzer des 19. Jahrhunderts. Ich sagte, die Schweiz habe eine grosse städtische Tradition. Welcher Architekt stellt sich denn noch dieser Tradition? Nehmen wir Biel, eine kleinere Stadt, aber mit grossartiger urbaner Substanz. Warum ist man nicht bereit, das Charakte-ristische der Stadt Biel aus den dreissiger und vierziger Jahren weiterzudenken und weiterzubauen? Warum verhält man sich dort wie in Schwamendingen und Oerlikon? Es ist mir ein Rätsel.

Aber gerade auf Oerlikon ist man doch in Zürich so stolz.

Oerlikon war der Lackmustest, ob man aus einer Industriebrache eine neue Stadt bauen kann. Und man ist gescheitert. Weil man ganz unhinterfragend und affirmativ zeitgenössisch davon ausging, dass wir alle Individualisten sind, die nur einen Einstellplatz fürs Auto brauchen, einen Aufzug und einen grossen Balkon, auf den man sich nach getaner Arbeit, die Bierflasche in der Hand, setzen kann. Das ist antiurban. Das Urbane ist zuerst etwas Gesellschaftliches: Man nimmt sei-nen Nachbarn zur Kenntnis und verständigt sich mit ihm dann vielleicht darüber, wie das gemeinsame Lebensumfeld verschönert werden könnte. Wenn aber alle nur übereinander hinwegschauen wollen und die entsprechende Architektur ein bürgerliches Selbstverständnis verhindert, kann keine Stadt entstehen.

Was riskieren wir damit?

Dass die Städte zerfallen. Der Architekt hat es heute aufgegeben, etwas Eben-bürtiges in den überlieferten Kontext zu stellen, nicht zuletzt, weil ihm die gesell-schaftliche Rückendeckung fehlt. Deshalb muss er «visionär» kontrastieren, um sich zu beweisen, dass er doch etwas kann. Das hat etwas Infantiles.

Was ist das schlimmste Architekturverbrechen, das einer Ihrer Kollegen je begangen hat?

Ich gehe mit meinem Berufsstand hart ins Gericht. Ich weis aber auch, dass man nicht nur die Architekten an den Pranger stellen sollte, wenn man Architektur, zumal in ihrer städtischen Ausprägung, als gesellschaftliches Phänomen begreift.

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Köln, 25. – 26.09.’08

Der AnlAss

Eine junge Architektin besucht aus Neugierde einen Kongress, bei dem 21 Herren vom Standpunkt des Rationalismus aus über die «Idee der Stadt» diskutie-ren.

Die Teilnehmer sind aus Deutschland und Italien. Es wird simultan übersetzt.

Von: «Der Kongress finDet stAtt – bitte finDen sie Die stADt!» bis: «es muss eine iDee für Die stADt gefunDen werDen, Aber DAs wirD mit sicherheit nicht Der rAtionAlismus tun.»

Der Kongress dauert zwei Tage oder 17 Vorträge. Diese sind zum Teil analy-tisch, zum Teil werkberichthaft, immer wieder wird Bezug genommen auf zwei prägende Figuren, Oswald Matthias Ungers und Aldo Rossi.

Nach jeweils drei Vorträgen gibt es eine kurze Diskussionsrunde mit den Vortragenden, bei der unter der Leitung zusätzlicher Moderatoren zentrale The-men knapp aufgearbeitet werden. Eine extra Schleife über dem Flugfeld, um das Geschehen mit Abstand besser betrachten zu können.

Diese Struktur funktioniert gut – die kurzen Einschübe mit Moderatoren stel-len einen wichtigen und kritischen Gegenpol zur Projektschau vereinzelter Pfauen dar.

Vorher..

..habe ich ehrlich keine Ahnung was Rationalismus ist. Außer, dass er den Gebrauch des Verstandes für sich in Anspruch zu nehmen scheint und die Bezeich-nung für meine Ohren ein wenig spröde klingt.

L’idEa dELLa cittá. konzEptE EinEr rationaListiscHEn arcHitEkturanna wEbEr

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hinterher..

..sehe ich mich in der Lage, folgende Definition des Rationalismus zu formu-lieren:

Gesellschaftliche und kulturelle Regeln eines Ortes stellen ein Repertoire architektonischer Formensprache zur Verfügung, welches ein Weiterbauen ermög-licht. Diese zu erkennen befähigt der Verstand. Emotion wird durch den Verstand (die Ratio, dankeschön) kontrolliert, der Verstand durch die Inspiration stimuliert.

Klingt erstmal ziemlich logisch – da kann man ja nichts falsch machen?

los geht’s

Folgende Hauptthemen finde ich im Laufe der zwei Tage immer wieder bear-beitet:

1. Wie sieht sie aus, diese Idee für die Stadt, bzw. wie sieht die ‹gute› Stadt aus?

2. Was hat das einzelne Haus mit der Stadt zu tun?

3. Wie kann man seine Ziele in der Praxis erreichen?

4. Gibt es neue Impulse?

Wir sind auf einer europäischen Veranstaltung. Es geht um eine Stadt mit Straßen, Plätzen und Gassen, um Orte, die auf Grund ihrer wieder erkennbaren Merkmale einzuordnen sind.

«Und das ist auch gut so.»

Ansätze zur Erklärung, warum das gut ist, finden sich in Vorträgen, die sich mit dem konkret erfahrbaren Raum beschäftigen. Sie beschreiben die Stadt als komplexes Gebilde, in dem jedes Objekt räumliche Wechselbeziehungen zu ande-ren unterhält. Deren Erscheinung ist geprägt von Typologie bildenden Elementen, welche die Codierung der Funktionszusammenhänge und größere Sinngebung beinhaltet und Identifizierung/Orientierung ermöglicht.

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In diesem Zusammenhang kommt der Fassade jedes einzelnen Gebäudes als Träger dieser Elemente eine besondere Bedeutung zu.

Ein zweiter wichtiger Zusammenhang wird im Verhältnis unterschiedlicher Stufen von ‹Innen› und ‹Außen› zueinander untersucht – wie man in der Gasse einer Stadt im ‹Innen› vom ‹Außen› sein kann. Mit der Gestaltung eines Volumens wird gleichzeitig immer auch das Negativ dazu, der Leerraum drum herum, aktiv gestaltet, und ist daher mit der gleichen Sorgfalt zu bedenken.

Einer der Moderatoren stellt unter anderem diese Frage: Die Regeln und Muster, die da zu erkennen sind, sind die historisch oder eher ‹überweltlich’ plato-nisch?

Knifflig: Diese Codierung, die erkannt wird/erlernt worden ist, setzt eine Art kontinuierlichen Prozess voraus und scheint besonders in einem kulturell und geographisch beschreibbaren Raum stattzufinden. Gleichzeitig scheint man sich innerhalb des formalen Repertoires in einem Destillierungsprozess auf der Suche nach dem ausschließlich Wesentlichen zu befinden.

Die Frage ist zum mit nach Hause nehmen. Auf dem Podium Schweigen und Ausflüchte, so einfach ist das nicht.

Ein immer wiederkehrendes Thema ist das der praktischen Umsetzung ‹guter› Ideen in der Architektur. Der Rationalist als Pragmatiker? Ein Weg ist die in Berlin unter dem Senatsbaudezernenten Hans Stimmann durchgeführte Parzellierung größerer Grundstücke und die daraus resultierende Möglichkeit eines (an ‹guter› Architektur interessierten) Bürgers, in der Stadt ein Haus als Teil eines Blocks bauen zu können. Das ist auch gut für den Architekten, aber das größere Thema dahinter ist der Bürger als Voraussetzung für Stadt. Hier wird eine andere Vorstel-lung des modernen Stadtbewohners als der beliebte ‹Stadtnomade’ diskutiert. Es geht um Menschen, die Verantwortung für eine Stück(chen) Stadt übernehmen, woraus sich eine auch ästhetische räumliche Qualität ergibt.

Einer schlägt formal kräftig aus der Reihe. Er behauptet, Häuser ohne Wär-medämmung bauen zu können und es auch schon getan zu haben. Sie seien aus anderen Gründen warm. Und deswegen sehen sie anders aus als andere Häuser.

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Er gibt eine kurze Einführung in unterschiedliche Gebäudetypen, die sich ihren geographischen und klimatischen Gegebenheiten in besondere Weise angepasst und daraus einen ‹Typ› entwickelt haben, z.B. das Schwarzwaldhaus oder die Tuchhäuser in Görlitz.

(Dann gab es dieses kurze Blackout während der Moderne.)

Jetzt aber, im Zeitalter der wieder entdeckten Nachhaltigkeit, wird die Frage gestellt, ob die Notwendigkeit besteht, klimatische Themen aktiver gestaltbildend in die Entwicklung eines Gebäudetyps einfließen zu lassen. Im Rahmen des Kon-gresses und der ‹Definition› von Rationalismus steht die Behauptung im Raum, es gäbe diese Notwendigkeit.

(Die Theorie hat auch einen nach Zukunft klingenden Namen: Kybernetik)

Ein neuer und dazu optimistisch vorgetragener Denkanstoß! Wie schwer es ist, sich damit ernsthaft auseinanderzusetzen, kann an den Reaktionen der ‹schon immer Rationalist gewesenen› beobachtet werden.

Ich bin ja erst ein 1.5-Tage Rationalist und daher leicht zu beeindrucken, nicht so die Altvorderen. Auch ein Haus mit Säulen kann ein Passivhaus sein!

Das ist wieder eine Szene, die mich folgendem Gedanken näher bringt: Die vorgetragenen Haltungen zu Entwurf und Stadt der Referenten bringe ich sehr viel schwerer unter einen Hut als ihr formales Repertoire. (Abgesehen von der Unei-nigkeit darüber, ob man eine Säule bauen darf oder nicht.)

Die Ratio, der rechte Winkel und die Wiederholung scheinen ein Entwurfs-Bermuda-Dreieck zu bilden, welches offensichtlich schwer zu verlassen ist. Will man eins haben, muss man alle nehmen. Warum eigentlich?

Ich habe den Eindruck, dass für einige der Satz vom Wesen, das in der Form zu suchen und finden sei, keine Herausforderung, sondern ein Versprechen zu sein scheint. Mach den rechten Winkel, das ist intelligent.

Vielleicht stecken ja Teufel und Gott zusammen im Detail. Unterschiede in der Feinheit und Präzision der verwandten, wenn auch stark reduzierten Mittel sind deutlich zu erkennen. Es gibt auch Sinnliches.

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Zum schluss

Ordnung, Disziplin, Ernsthaftigkeit – die Begriffe fallen immer wieder.

Es gibt einen Unterschied zwischen ernst sein und es ernst meinen. Das zweite hat für mich mit Verantwortung für das, was man tut, zu tun, und ich halte es für weit wichtiger als das erste.

Ernst kann sein wer mag, was soll ich dazu sagen – ich aber nicht?

Viele der Referenten haben es ernst gemeint, und ich habe es sehr genossen, zuzuhören.

Auch dass Europa den geographischen Mittelpunkt einer Diskussion darstellt, finde ich, die ich mich häufig arbeitend im Ausland wieder finde, gut. Es gibt genug zu tun.

Hat mein alter Physiklehrer immer gesagt: «In die ganze Welt fliegt ihr in den Urlaub und keiner kennt den Bodensee.»

Und wo ich grad beim Urlaub bin:

Ich kenne das so: Ich komme aus dem Urlaub zurück und mir fällt auf, wie schön es zu Hause ist. Aber ich hab viel erlebt und etwas über fremde Kulturen erfahren. Etwa so fühl ich mich jetzt.

Ein Schreck zum Ende:

F: «Wie sieht das denn aus, Ihr Bild der Stadt?»

A: «Ja keine Ahnung… Es gibt da halt dieses überlieferte Repertoire… Und es geht heute eher ums ‹Wie?› als ums ‹Was?›. Die Haltung ist ja klar.»

Ein Mitglied der ‹Berliner Mafia› outet sich, zudem mit einem Statement: Ich koche gerne und Architektur ist ein bisschen wie Pizza, Pasta und Risotto: immer das Gleiche in unendlichen Variationen.

Einen Guten, die Herren.

23.09.2008 Die Idee der Stadt. Rationalismus-Kongress in Köln. Veranstalter: Fachhochschule Köln

An dem Kongress nahmen unter anderem teil: Bernd Albers (Berlin), Nicola Di Battista (Rom), Klaus Theo Brenner

(Berlin), Jasper Cepl (Berlin), Andreas Denk (Berlin/Bonn), Max Dudler (Berlin/Zürich), Massimo Fagioli (Florenz), Jan

Kleihues (Berlin), Hans Kollhoff (Berlin/Zürich), Christoph Mäckler (Frankfurt am Main), Vittorio Magnago Lampugnani

(Mailand/Zürich), Christoph Mäckler (Frankfurt), Walter Arno Noebel (Berlin/Frankfurt), Uwe Schröder (Bonn/Köln)

und Gerwin Zohlen (Berlin).

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kEnnt iHr EigEntLicH diE brasiLianiscHE scHwEiz??PhilliP StubEnrauch

Wir fahren schon fast zwei Stunden durch die Nacht. Man hat mich am internationalen Flughafen Guarulhos abgeholt, und längst haben wir die letzten urbanen Fransen von São Paulo hinter uns gelassen. Draussen im Dunkel ziehen schon seit einer ganzen Weile nur noch menschenleere Landschaften schemenhaft an uns vorbei. Manchmal nicke ich ein. Allerdings ist mir nicht entgangen, dass es, seit wir aus der Riesenmetropole heraus sind, ständig bergauf geht. Berge in Brasilien? Darüber hatte ich noch nie nachgedacht.

Als man mir vom Reichenvorort Campos do Jordão erzählte, wo alljährlich das größte Musikfestival Südamerikas stattfindet, hatte ich eher Palmen, Caipirinhas und Mädchen in Bikinis vor Augen. Ich war dort eingeladen, einen Meisterkurs für junge Kontrabassisten zu geben.

Es könnte kühl werden im Juli, sagte der Mann noch am Telefon, schließlich sei es Winter in Brasilien, und: ich solle meine Winterjacke einpacken. Jaja, dachte ich, sobald das Thermometer unter 30 Grad fällt, kriegen die Südamerika-ner schon die Krise. «I’m from Germany, you know! We have snow in winter, you know...» sagte ich lachend. Der Mann am Telefon lachte dann auch.

Als ich aussteige, ist es in der Lobby des Hotels fünf Grad.

Die Boys an der Rezeption stehen mit Schaal und dicken Fäustlingen hinterm Tresen, Drachenatem vorm Gesicht. Heizung gibt es keine. Warum sie denn die Türen nicht schließen frage ich. «Inverno» sagen sie nur, Winter. Im Winter sei es kalt, aber warum solle man deswegen die Türen schließen? Langsam beginne ich zu verstehen: wo es Sommer wie Winter heiß und schwül ist und selbst ein Bad im Meer keine ausreichende Erfrischung bringt, muss dies eine Oase sein! Die Leute, die es sich leisten können, fliehen am Wochenende nach Campos do Jordão. Hier auf knapp 2000 Metern ist es ruhig, die Luft ist klar und es ist – kalt.

Zu meiner Freude entdecke ich, dass es tagsüber wärmer ist. Bei einem Spa-ziergang durchs Zentrum verschaffe ich mir einen Überblick. Edelshopping wie im Kurort. Zu völlig überteuerten Preisen kann man Pullis von Ralph Lauren, Jacken von Calvin Klein oder auch mal Stiefel vom italienischen Modedesigner kaufen. Ein Laden verkauft ausschließlich bunte Wollsocken und Handschuhe in allen Variati-onen. Dass es hier nie Schnee gibt, stört niemand. Man tut einfach so, als würden die nächsten olympischen Winterspiele in Campos stattfinden!

Aber damit nicht genug. Vollkommen begeistert von der Vorstellung, eine brasilianische Schweiz zu erschaffen, müssen natürlich auch «Schweizer Häuser» her, also braunes Holz, Fachwerk, Fensterkreuze, spitze Giebel – und Türmchen! Ich bin mir sicher, dass keiner der hiesigen Architekten je ein eidgenössisches Chalet gesehen hat. Die Stadt sieht daher auch so aus, als ob der Alphornverein

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sich an Bossa Nova versuchte. Lustig und schaurig zugleich. Alle Klischees von Westeuropa werden hier gemischt: der Schwarzwälder Bauernhof mit herunterge-zogenem Dach, das Berghotel mit dem obligatorischen verzierten Balkon, Holzkir-chen aus Skandinavien und Fachwerk aus Baden. Wenn ich nicht wüsste, dass ich in Brasilien bin, würde ich auf Disneyland tippen.

Im Restaurant «Genève» gibt es das beste Käsefondue der Stadt. Direkt dane-ben ist das «Matterhorn» und nicht weit findet man die Brauerei «Baden-Baden». So klein ist Europa hier! In den Strassen wird an jeder Ecke heiße Schokolade verkauft - Marke «Copenhagen». Hübschen Mädels in farbigen T-Shirts machen Promotion für japanische Autos, amerikanische Kreditkarten und Limonade. Eine Band spielt brasilianischen Rock. Gedränge. Überhaupt sind die Gässchen so voll gestopft mit Touristen, wie ich es bisher nur in Venedig erlebt habe. Dennoch scheinen die Menschen zufrieden. Schwitzend führen sie ihre Pelzmäntel aus.

Dass sie dabei durch eine Stadt wie eine Hollywoodkulisse laufen ist ihnen egal. Dass Almhütten hier so wenig hingehören wie Haziendas in die Schweiz – who cares? Dass allerdings in ihren Städten eine faszinierende moderne Architek-tur entstanden ist, die stolz von sich behaupten könnte: «Das ist Brasilien!», haben sie erst gar nicht bemerkt, glaubt man.

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Guten Tag Herr Lemcke.

Tag. Sie haben nicht etwa gewartet?

Er steht vor der kleinsten der vier Aluminiumskulpturen, die zwischen den Betonpfeilern platziert sind, umgeben von keinem Tageslicht und fast keinem Sau-erstoff. Die Skulpturen sind vergrösserte Abgüsse schnell entstandener Lehmfigu-ren. Figuren, wie sie sich zufällig ergeben, wenn ein halbharter Klumpen Lehm in einer kräftigen Hand ohne Willen zur Gestaltung gedrückt und gedreht wird. Weil die Skulpturen auch aus Papier sein könnten, aus lackiertem Papier, beugt Lemcke nun seinen Zeigefinger. So, wie er ihn werktags beugt, wenn er die Eingeschlafe-nen weckt. Dann streicht er ihnen mit den vorderen zwei Fingergliedern über den Oberarm, zwei, drei, viermal. Bis sie die Augen aufschlagen. Nun jedoch dreht er die Hand nur so weit, bis der Knöchel das kühle Aluminium berührt, und klopft leise dagegen. Der Klumpen überragt ihn nun um gut das Vierfache seiner Körper-grösse.

Einen halben Schritt hinter ihm, hinter Herrn Lemcke, steht eine malvenfar-ben gekleidete Frau. Möglicherweise ist sie seine Tochter. Möglicherweise ist sie englischsprechend. Lemcke dreht sich zu ihr hin. Sie reicht ihm ein Blatt. Es trägt das Galerienlogo, weiss auf blau auf weiss. Ich bin hingerissen, denkt sie. Und befremdet zugleich. Lemcke nimmt das Blatt entgegen und nickt.

Freaks machen verlegen. Freaks beflügeln. Freak ist jemand, der sich der-art kompromisslos mit etwas beschäftigt, dass er in den Augen anderer seltsam erscheint. Freak ist, wer Spuren hinterlässt, ob deren andere zwar nicht zum Freak werden, für die Dauer eines Augenblicks jedoch zumindest erstaunt sind.

Lemcke nähert sich nun Blurry Renoir und Blurry Debussy, in denen er sich selbst wiederzuerkennen glaubt. Sein Blick wechselt von Werk zu Blatt und

bLurry rEnoir dEbussy *luzia budmingEr

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zurück. Lx, 237 kg, Miss Satin, 477 kg, Marguerite de Ponty, 988kg, Zizi, 654kg. Blurry Renoir, 150kg, Blurry Debussy, 143kg, Blurry Hesse, 160 kg.

Ich gebe zu, darauf war ich nicht vorbereitet. Ich muss in Gedanken abge-schweift sein, denn ich stehe mit dem Rücken zu Herrn Lemcke, angespannt zwar, doch für einen Moment nicht auf der Hut, als er seiner Stimme unvermittelt und in so schriller Weise Raum gibt, dass ich später daran zweifle, ob es tatsächlich seine Stimme war.

Oooooh! ruft er. Oh! Da krieg ich gute Laune! Da krieg ich ganz gute Laune, hiervon! Diese Gewichtsangaben! Vierhundertsiebenundsiebzig Kilos! Ooohoho!

Er wird dies wiederholen, auch als ich es nicht mehr werde hören können.

Bevor wir uns in üblicher Förmlichkeit verabschieden jedoch, reicht mir Lem-cke ein Waffelhütchen. Es ist mit Schokolade überzogen. Mit dunkler Schokolade.

Ich stehe da, wo ich die letzten vier Stunden gestanden hatte, nun mit diesem Hütchen in der linken Hand. Ich versuche, es so zu halten, dass der Schokoladen-rand die Finger nicht berührt.

* Urs Fischer: Blurry Renoir DebussyGalerie Eva Presenhuber, Limmatstrasse 270, Zürich.25. Oktober bis 20. Dezember 2008.

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Von Nord nach Süd, von Orient zum Occident erschallt der Ruhm der deut-schen Hausfrau. Sie strickt die Strümpfe eigenhändig, sie ist auf die «Garten-laube» abonnirt, sie staubt die Möbel ab. Und wenn Schlag 1 Uhr zu Mittag geges-sen werden soll, da brodelt es schon um 8 Uhr Morgens das Wasser tüchtig in der Küche für das Rindfleisch, und die Eier werden für den ausgezognen Aepfelstrudel vielleicht noch etwas früher in das Mehl geschlagen. Denn alle diese Leckerbissen, mit denen der deutsche Ehemann gefüttert wird, nehmen Zeit in Anspruch.

Die deutschen Ehemänner aber werden mit Befriedigung vernehmen, dass es ihre französischen, englischen und amerikanischen Collegen nicht so gut haben. Ja, ja, ganz besonders die Amerikanerinnen! Man kennt ja diese Sippe. Den ganzen Tag liegen sie im Schaukelstuhl und rauchen Cigaretten. Und was kriegen auch die armen Männer dort zu essen? Statt des guten, weichen, fünf Stunden lang aufgekochten Rindfleisches müssen diese armen Leute alle Tage Steaks essen! Beefsteak, Vealsteak, Muttonchops, Coteletts und andere nur so auf den Rost hin-geworfene, in fünf Minuten gebratene Fleischfetzen!

Auch zum Strümpfestricken sind die Amerikanierinnen zu faul. Die kaufen sie fertig im Laden. Und den Kindern stopfen sie nicht mal die Kleider. Ist etwas zerrissen, wird´s gleich neu angeschafft. Auf den Markt gehen sie auch nicht. Sie lassen sich alles ins Haus bringen und zahlen für Alles den geforderten Preis. O diese Verschwenderinnen! Man blicke dagegen hoch auf unsere Hausfrau. Sie kann Tagereisen unternehmen, wenn es gilt, das Pfund Mehl um zwei Kreuzer billiger einzukaufen.

Ich hatte Gelegenheit, mich von all diesen Schandthaten persönlich an Ort und Stelle zu überzeugen. Nur die Geschichte vom Schaukelstuhl und den Ciga-retten stimmte nicht. Die Amerikanerinnen haben nämlich gar keinen Schaukel-stuhl nach unseren Begriffen, und das Cigarettenrauchen ist dort bei den Damen unbekannt. Es würde sogar niemals ein Mann wagen, in Begleitung von Damen zu rauchen.

Wie nur diese Geschichte in das sonst so wahre Lasterbild der Amerika-nerin hereingerathen sein konnte? Lange habe ich darüber nachgedacht. Endlich fand ich´s. Was würde nämlich die echte deutsche Hausfrau, ich meine die, auf die wir so stolz sind, und nicht ihre entartete Schwester, die sich schon langsam

diE Frau und das HausSoPhiE hochhäuSl

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amerikanisiert hat, was würde diese echte deutsche, unverfälschte Original-Hausfrau beginnen, wenn sie nicht meilenweit mit der Pferdebahn zur billigsten Einkaufquelle fahren könnte, nicht Strümpfe stricken würde, nicht das Wasser zur frühen Morgenstunde zusetzen, nicht auf die «Gartenlaube» abonnirt sein könnte? Sie wäre Zeit ihres Lebens verurtheilt, nichts zu machen. Und Nichtsmachen, das bedeutet für sie Herumbummeln und Cigaretten rauchen.

Die Amerikanerin ist aber weit entfernt, nichts zu machen. Sie bringt es zu Stande, sich außer den bereits angedeuteten Verrichtungen zu beschäftigen. Sie zeichnet, sie malt. Sie ist auf The Studio abonnirt. Sie trainiert ihre Augen. Der Mann hat für solche Dinge keine Zeit. Der hat ans Geschäft zu denken. Ganz wie bei uns. Da aber bei uns die Frau keine Zeit dafür hat, so steht man nun allen Kunstfragen rathlos gegenüber. Die stellen sich im Haushalte zahlreich genug ein. Hier ist ein neuer Ofen zu setzen, hier das Zimmer frisch zu tapezieren. Da brauchen die Möbel neue Ueberzüge, hier soll der Tante ein Geburtstagsgeschenk gekauft werden. Da muß man sich denn auf die Verkäufer verlassen. Schrecklich aber ist es, wenn man ein Zimmer, eine Wohnung einrichten soll. Schrecklich für dasjenige Ehepaar, das den Ehrgeiz besitzen sollte, sich selbst einzurichten. Soll man das nehmen oder soll man jenes nehmen! Was Wunder, wenn man schließlich verzagt den Tapezierer ruft, den Retter in der Noth, der diese Frage nach seinem Schema frisch und fröhlich zur allgemeinen Zufriedenheit löst. Da man nie mit seinen eigenen Augen sehen gelernt hat, so fühlt man sich schließlich auch ganz glücklich. Dem Blinden ist es gleichgiltig, ob das Zimmer roth oder grün austape-ziert ist.

Die Amerikanerin ist aber nicht blind. Durch das Zeichnen hat sie die Formen, durch das Malen die Farben zu erfassen gelernt. Wenn sie etwas einzukaufen hat, so braucht sie sich nicht den Kopf zu zerbrechen. Sie weiß, was ihr frommt; sie weiß, was ihr Zimmer braucht. Diese Sicherheit merkt man aber auch ihren Wohn-räumen an. Da kommt kein Tapezierer hinein. Und Farbe haben diese Räume! Wenn man den Farbton, der sich in der Natur vorfindet, auf der Palette sucht, wenn man es ehrlich damit meint und nicht die schon von erfolgreichen Malern aufge-fundenen Töne für seine Bilder verwendet, da geht Einem eine neue Welt für Farbe und Tonwerth auf. Da erscheint Einem die Welt im neuen Glanze, mögen die mit den verkümmerten Augen, die, welche statt lebendiger Augäpfel photographische Apparate im Kopfe haben, noch so sehr über blaue Bäume und den rothen Himmel der Sehenden spötteln. Ein Hunger nach Farbe stellt sich ein, und man kann dann mit Sicherheit diesen Hunger stillen, während die Blinden sich leicht einen Magen-katarrh dabei holen. Denn ohne sicheres Farbengefühl kann man nicht mit Farben umgehen, ohne Gefahr zu laufen, Geschmacklosigkeiten zu begehen.

Man hat viel mehr über den Dilettantismus der bildenden Künste gespöttelt. Man will sogar einen Schaden für diese Künste darin erblickt haben. Welche Kurz-sichtigkeit! Oder hat vielleicht das Clavierspiel Beethoven und Wagner Schaden

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zugefügt? Höchstens den lieben Nachbarn. Aber auch dieser fällt bei den bilden-den Künsten weg.

Selbst ohne die Pflege der bildenden Künste könnte uns die Mithilfe der Frau in der Wohnungseinrichtung nur willkommen sein. Die Frau hat mehr mit Farbe umzugehen als der Mann. Aus ihrer Kleidung ist noch nicht alle Farbe verbannt. Durch die stetige Sorge um die Farbe in ihrem Anzuge hat sie sich noch das Farb-gefühl bewahrt, das dem Manne durch seine farblose Kleidung völlig abgeht. Auch dem Tapezierer, denn dieser lernt nicht wirklich mit Farben umzugehen, sondern mir den Veränderungen, denen diese Farben durch Abnützung und Schmutz im Laufe der Jahrhunderte unterworfen waren. Aus Grün wird Olivengrün, aus Roth wird Braunroth. Und in dieser olivengrünen und rothbraunen Tapezierersauce sind wir ein ganzes Jahrhundert herumgeschwommen.

Resumé: Die Österreicherin versucht, ihren Mann durch gute Küche an die Familie zu fesseln, die Amerikanerin und die Engländerin durch ein gemüthliches Heim. Das entspricht eben den verschiedenen Feinden, die das Familienleben in diesen verschiedenen Staaten besitzt. Hier das Wirthshaus, dort der Club.

Der deutsche Ehemann bekommt aber mit der Zeit auch englische Bedürf-nisse. Auch er will ein wohnliches Heim besitzen. Und da werden unsere Haus-frauen gut daran thun, sich zu amerikanisieren. Eine Wiener Zeitung hilft ihnen dabei. Es ist dies die «Wiener Mode», das einzige Blatt, das der modernen Bewe-gung im Kunstgewerbe, soweit es sich auf weibliche Handarbeiten bezieht, voll und ganz Rechnung trägt. Das einzige in deutscher Sprache. Hand in Hand mit dem Tapisserie-Geschäft Ludwig Novotny hat es eine Umwälzung der Nadelarbeit hervorgerufen.

Die Firma Ludwig Novotny hat sich auf der Ausstellung rühmlichst hervorge-than. Sie hat den Beweis erbracht, dass sie Nadelarbeit, bisher durch ihre falsche Anwendung ein Stiefkind unseres Kunstgewerbes – man erinnere sich nur an die ehemalige gute Stube, die den Eindruck eines gehäkelten Museums machte – auch in großen Quantitäten im Wohnraume verwerthet werden kann. Novotny stellte nämlich ein ganzes Zimmer – ich wage schon gar nicht, es zu sagen, aber Muth! – im englischen Styl aus, das fast durchwegs Nadelarbeitals Decoration aufwies. Obwohl Ausstellungsobject, machte der Raum doch einen außergewöhnlich warmen und wohnlichen Eindruck. Man sah sofort: in diesem Raum herrscht die Frau. Und das ist recht. Familienräume sollen immer etwas Feminines haben. Das kann aber der Tapezierer schlecht. Will er feminin werden, schlägt er leicht ins Cocettenhafte um. Die solide bürgerliche Tüchtigkeit kann jede Frau selbst ihren Wohnräumen verleihen.

Zur Arbeit der Frau gehört seit neuester Zeit auch der Knüpfteppich. Wir sahen in den letzten Jahren sehr verunglückte moderne Versuche. Noch in der letzten Weihnachtsausstellung wurde einem von einem Wiener Künstler zuge-muthet, auf einem Drachenkampf herumzusteigen. Vor vierzig Jahren war´s der

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Löwenkampf. Man sieht also: die Form hat sich geändert, der Geist ist geblieben. Morris, der große Kunstgewerbe-Reformator, hat sich auch in Teppichen ver-sucht. So viel er sich auch anstrengte, Neues zu bringen, es wurden nur immer wieder orientalische Teppiche. Denn der orientalische Teppich ist die Akme der textilen Fußbodenbekleidung. Ohne figuralen Schmuck, ohne aufdringliches Ornament, bei Verwerthung sämmtlicher Farben, bei dem Aufgeben jeder Fern- oder Nahwirkung ist er der Bodenbelag par excellence. Man sah solche moderne Versuche, die Orendi aus der Maffersdorfer Fabrik von Ginzkey. Vivat sequens!

Das deutsche Heim ist noch weit entfernt vom herrlichen englischen Ideal. Unser Volk singt Marsch-, Wander-, und Liebeslieder. Ein Lied wie das englische «Home, sweet home» kennt es nicht. Worte wie homelike können wir im Deut-schen gar nicht wiedergeben. Homefeeling kennt man nicht. Die Kinder hängen wol an der Familie, an den Wänden hängen sie nicht. Beim Ausziehen wird kein Familienmitglied melancholisch. Im Gegentheil. Man freut sich auf die neue Wohnung, von der man sich bessere Nachbarn und eine bessere Hausmeiste-rin erhofft. Das ist die Hauptsache. Niemand denkt daran, dass man durch ein einziges Heim, durch seinen eigenen Garten allen diesen Unzukömmlichkeiten aus dem Wege gehen könnte. Aber unsere Zeit ruft gebieterisch nach eigenen Heimstätten. Möge diese englische Krankheit auch einmal über uns kommen! Denn gegenwärtig ist nur die Sehnsucht nach dem eigenen Heim die Triebfeder zur Ehe! Alles kann dem Junggesellen gegenwärtig geboten werden, nur eines nicht: das eigene Heim.

Adolf Loos, «Neue Freie Presse», 3. November 1898Aus «Die Potemkinsche Stadt – Verschollene Schriften»

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Dear Mr Habraken, thank you for coming – and for the opportunity to inter-view you. Amongst other things, you have since several decades occupied yourself with the Everyday and its structure. As our magazine aims at amateurs as well as architects, this is especially interesting for us. Everybody knows the Everyday. We all inhabit it and feel able to talk and judge about it. Nevertheless, many architects seem to have great difficulties to accept this fact and to deal with the Everyday.

As a start to this interview, it would be very interesting for us to get to know how you grew up. What was your Everyday when you were a little child?

When I was 10 or 11 years old and living in Indonesia, my parents built a house up in the mountains. That was the point when I decided to become an architect. Also, my father was a civil engineer, and he had a library. In his library I found two books about contemporary Dutch architecture of the Amsterdam School, which influenced my decision to go to Holland to become an architect. Our house in the mountains stood near an Indonesian village. Our neighbours were farmers, and we were invited of them for special occasions like weddings or a special religious things. My mother, who was born in Indonesia, spoke all the local languages and knew the customs. I spent a good amount of my vacation just walking by myself through the villages, experiencing how people actually lived there and build their own houses. I am sure that was a good experience later on, when I came to Europe to compare.

Is it possible that the Indonesian context was your everyday and the Dutch and European culture exotic?

I am not sure I experienced it in that way. Initially, I wanted to become an architect to build beautiful buildings. But in post-war Holland, reconstruction and mass housing sort of called my attention. I felt that for some reason this situation was producing and presenting a very serious issue that I wanted to deal with. So it was not so much a reaction to Dutch architecture – I always loved to see it by itself. There was very much good work done in the 20s and 30s. But I felt that what hap-pened in architecture after the war was a problem and a challenge.

When did you realize this for you and what ideas did you have?

intErviEw witH j. n. HabrakEnJEanEttE bEcK, bEnEdiKt boucSEin

Thursday 2nd October 2008, Burgdorf, Switzerland

Interview by Benedikt Boucsein and Jeanette Beck. Sonja

Lüthi [SL] was attending the interview as well.

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I remember that we had some kind of discussion groups amongst us when I was a student. If you like, I first suggested the idea of open building at that time. And I found that most of my friends didn’t find it very interesting (laughs).

Modernity as you mentioned it in your foreword seems to be like a breaking point for the Everyday in the way architects practice and the way it is configured. Can you tell us more about this relationship?

In the beginning, when we started to research the separation between support and infill, it sounded like an avantgardist proposal. Most people said it was too far out in the future. But then we realized that we were actually returning to some-thing already done in the past. That raised the question of how we lost this rela-tionship between architecture and the process leading to it. My book »Palladio’s children” was an attempt to answer that question.

What exactly has changed within modernity?

Well, in a few words, during the Renaissance our present image of the archi-tect was created. Before that, you mainly had the builders who were very good designers and builders. These builders were part of an organic relationship between local typologies and change. The special buildings were all related to local typologies as well as to traditions. During the Renaissance, for the first time, the architect was regarded as somebody who thinks on his own mind to create. That meant the deliberated emancipation from the traditional role of the designer. Because the everyday environment was still taking care of itself, this was a very successful model during the 15th, 16th and 17th century. For a number of reasons, it now became a problem with modernity. Architects took care of it and approached the design of the everyday environment in the same way as they approached spe-cial buildings.

There was a problem with the architect’s mindset?

Yes, there still is the funny contradiction that on the one hand everybody wants architecture to be special, and on the other hand they want everything to be archi-tecture – which of course is a contradiction!

There seems to be a very close connection between the production of architec-ture and the socioeconomic factors influencing it. There is a demand, and the archi-tects meet this demand. But they themselves of course cannot control the needs of society: The way buildings are organized, the way money is given to certain projects, and so on. Do you think this can change?

Well, you are right! I came to realize that we basically talk about a much broader problem: The role of a professional related to human life. There is a general movement of a professional class that has enormous power because of modern logistics and the ability to realize big projects, combined with the belief that they can change the world. The ideologies disappeared, but the professional classes are still there, and their whole methodology of thinking and working is

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still the same. They compromise by making things a little bit smaller, prettier and handsome, but underneath there is still the dilemma of a professional class that has been trained to operate in a process from which the users are excluded.

As we have the same difficulties in medicine, it seems to be a broader problem than with the architects’ profession only. As architects we cannot change things because we are probably less powerful than anybody else. The developers and the politicians and the lobbies of the large building companies have the power. But: at a certain point they do find out that what they are doing is contra-productive. This is why some of the most interesting things that happened in the last five or seven years took place in the open building projects. Before that, open building projects were always seen as experimental, something special. Now we see projects that were done by people who just make money with it. There is a market out there for it.

So you also talk to non-architects about the ideas of open building?

Oh, yes! Right now, it is much more interesting to talk to developers and build-ers than to architects. Very often, good open building projects are the result of clients who know what they want and tell the architects.

[SL] Developers in Switzerland - a lot of them are architects.

That is interesting! Good!

[SL] This is not the case in Holland?

No, not many. Not that I know them.

[SL] What is their background in Holland?

Management. Construction. Law. Economics.

How do you think the individual person can change his everyday environment?

It is not so much that you want to give freedom to the people to decide for themselves. It is that if you do not do this, the built environment will not be healthy. So, the condition for a healthy built environment that can change and adapt over time and remain human is that people make decisions for themselves.

There is a point in Aldo Rossi’s »The Architecture of the City” where functional-ism is highly criticized because it is too specific. Would you agree on this?

That is right! At a certain point, functionalism was attacked. But still, when architects get a job, they ask for the programme. I have started to give students exercises by design – and there is no programme. This leads us to the issue of capacity and things like that. Although functionalism is highly criticised, it still drives the system. It is still a big leap to the idea of the open building: How to make an environment in which things can happen, without giving a programme for the floor plans.

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How do users know in which way they can participate?

They need a framework within they can operate. People react on a typology they understand. If you give them a series of examples, they will tell you what they want. The essential question is where the boundary is. It is not where the architect stops and where the user begins – it is between what is communal and what is individual to the user. That is the basic question. What is it you all share? This may be different depending on the culture. For instance, one of the issues is: To what extend do you want the façade to express the interior of the house? We know that in different cultures this is different. In the Dutch canals, everybody has his own façade. And in the Georgian architecture in London, you have monumental facades but behind it are different houses. So there is not just one answer! But slowly, through experience, we begin to understand where the boundary may lie. If you ask the correct question in a specific situation, you can discuss this issue with your cli-ent, with the developer, whoever is responsible for the larger framework: What do you think where we should stop? This is also an economic and practical question. We know for instance that – generally speaking – you cannot fix bathrooms and kitchens. Only when the process is working, you will learn more and more about these installations.

In your book »The structure of the Ordinary” you propose a quite a complex system of how to look at our Everyday environment. You divide it into three parts as well as subsystems. Is this an attempt to create something that can serve as point of a reference for architects? Or for remembering something that is not implicit anymore?

Yes. The book is not about architecture, it is about the built environment. Basi-cally said, built environments are autonomous organisms that nobody can control. So if we want to contribute to them by our architecture, we must understand them. And so the comparison I sometimes make is the one to the medical doctor: you must understand the human body if want to intervene. And we must understand the built environment before we can intervene. The book is an attempt to write down the general principles that built environments are composed of.

Do you hope that we will catch up with what is out there? I’ve got the feeling that Modernity went too fast and our environment changed much too fast for the profession to understand what was happening or to develop concepts to deal with it. Do you have the feeling that there is a development towards a point where reality and profession get closer to each other again?

Yes. I think it is a very long process. We come from a period after the seventies in which the ideology of self-expression in architecture sort of was the total oppo-site of what we are talking about now. I am convinced that it will change, because there are already signals. Also, we educate more and more architects, and most of them become involved in the everyday environment. There will be only a handful

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of architects who will do things that are internationally interesting. The majority of architects will discover that the role model of the star architect is not useful for them. They will look around and discover the whole environment.

What also will happen is that there will be many, many dead-end attempts, because everybody reinvents the wheel. In Holland, there are now quite a few very interesting open building projects. But they do not know what we did in the sixties, and they do not think that it is important to know about it. I see them making all the mistakes I could tell them about. But I’ve realized that people have to learn from their mistakes. When I began teaching, I also was very enthusiastic and told the students about methodology and things; it didn’t work! But then, at MIT, I started to give them a job and a question. For instance, if you tell one student to make one house, he’ll be able to design it. If you ask him to make five houses that are differ-ent – yes. But making a hundred houses that a different – that is a problem.

You didn’t put any method in front?

No. Just the assignment to make 100 houses that are different. How do you achieve that? Then they said, well, maybe there is a methodology! So when you set the people to discover a task, they will find out that it is difficult to solve it, and the methodology is not a problem anymore. And I think this is what will happen eventually to people who read this book and other people who ask themselves the question about what is going on with the build environment.

For instance, many people are educated as architects but will never build a building by themselves. They will work in an office, they will do a part of a build-ing. Architects become involved in many other different jobs that are related to the build environment, but they don’t necessary design buildings. Very often people complain, stating that the architect is marginalized – everybody is making deci-sions and we have to do what they say. That is not true. Architects are more and more involved into the processes of the build environment, but in different ways. And that is what education is all about. You don’t have to worry about a handful of people who become star architects. It is nice to have them, to work with them. But the general practitioner has to know much more about things than making one beautiful building.

Role models are very important, and there is always an orientation of the lower architecture towards a higher architecture. There is some copying and some adaptation of techniques. I guess that is a very usual mechanism, which is also very human, isn’t it?

That is true. But I also find that among the younger generation, there are very intelligent people who move in their own direction. They understand problems. And eventually they will lead a kind of dialogue on a more sophisticated way of design-ing the build environment, as well as the relationship between the built environ-ment and the special building. One of the exercises I used to do with my students in the MIT was, after working on some kind of urban fabric, to make a special building

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in it. How do you let it grow out of the normal typology? I wrote an article about that which is called ‘The leaves and the flowers’. The special building comes out of the tree, out of the leaves. The flower basically is a transformation of the leaves.

That’s something Rossi didn’t see!

No, he didn’t do that!

I would like to jump to another topic. Have you looked at questions about the emerging cities in China, Russia and of course in the Middle East? Do you think they are doing exactly the same errors as we did? Or is there something different?

I don’t think you can generalize. If you look at it for example in Dubai with the palm tree island: This is the extreme form of the top-down approach. But: they have eventually to sell these houses to rich people. And that is not very interesting. Maybe it is spectacular – but it doesn’t give you an interesting model.

Generally speaking, I think you can say that if things have to grow very fast, there are such enormous powers working that you cannot expect innovation. Much of that will not last very long. Just like with the developments of the 50s and 60s in Europe. The buildings are there and will have to be adapted and remodelled. Most of the buildings which where built by my teachers in have already disappeared. Back then, people had different expectations and less money.

I think the idea of making a building project like an infrastructure that has to be finished later on will prove to be the most economical and efficient way to work. Already, it sometimes happens spontaneously. In Singapore, we saw the islands they have built: Just a platform on columns, the roof on columns, and then the people build their shops underneath. There is a stair in the middle and there is a hotel on top of the houses. And it is the developer who is doing these things.

I also observed an interesting project in Moscow where builders started build-ing apartments for very rich people, beautiful apartments, with everything laid out. They sold the apartments, and the first thing the people did was to take everything out. The developer concluded this was a waste of money. So they asked the archi-tect: Can you make an empty building for me? And that is what they did. And now there are thousands of them.

There was an article with a dialogue: the architects didn’t know what to think about this. Some said: »It is fine that we don’t have to develop a floor plan, I can make a nice beautiful building” but others said »we are not a very developed coun-try, but when we become more developed, we can do the rest and design all the floor plans!” (Laughter)

So they determine something primitive that you would describe as advanced?

I think the morale of the story is that real life is stronger than role models because it settles itself. Listen, if you look at office buildings in the United States, none of them has an interior. They all rent out the space, then the company comes

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in and hires its own architect. If you do a shopping mall you don’t make the interior as well. Everywhere where there is an economic mechanism in which the smaller scale users have economic power, they get freedom. And eventually in housing it will happen as well.

Is it a matter of education of the people, of the non-professional?

It is a matter of example. People know there is an alternative and everybody knows about the idea to build your own house with your own garden.

That is an ideal and picturesque idea!

That is an ideal, but in apartment buildings for instance it is coming now. In Holland there have been large competitions for developers and housing companies to submit a proposal for open buildings. There was an enormous interest to submit and of people who wanted to live there, thousands people. There is no doubt that people see an alternative and they like it. If you tell people you can buy a raw house and you can decide by yourself on the floor plan or maybe you can change the façade: If the price is ok, they prefer this.

Do you live in an open building house?

Yes I do. (NJH making a sketch of his house) Everything is kind of filled in. Later on we changed the façade and build an extension; it is a very classic design with a central space. I visited an exhibition in Cologne about an Egyptian city by the Pharao Echnaton. He used it for 17 years and then he left it and now they have been digging it up again. All the houses have a central space with spaces around it. It is exactly the same typology.

[SL] Don’t you think it is a pity that you stopped practicing as an architect because of the theories?

I think so, too. (Laughter) But when I started I was very naive. I thought first I have to explain the people what the problem is, and then I can go back to architec-ture.

[SL] You could start now!

Yes, if you have somebody who wants a house.

Mehr Informationen zu John Habraken: www.habraken.com

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LE corbusiEr La viLLa La rocHElaura J gErlach© Laura J Gerlach, all rights reserved

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«knackiges Zitat von Corbusier zu der Architektur der Villa La Roche knackiges

Zitat von Corbusier zu der Architektur der Villa La Roche knackiges Zitat von

Corbusier zu der Architektur der Villa La Roche»

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Die Architektur der Avantgarde, die in den 20er- und 30er Jahren in der dama-ligen Tschechoslowakei entstand, wird vor allem mit Bauten aus Prag und Brünn und Umgebung identifiziert. Weniger bekannt sind die Werke, die zur gleichen Zeit im slowakischen Landesteil gebaut wurden.

Die 1993 erfolgte politische Aufspaltung der Tschechoslowakei in zwei Staaten gab in der Slowakei den Anstoss, sich mit der eigenen Geschichte auseinander zu setzen. Seit der Wende sind verschiedene Ausstellungen und Publikationen zum Thema «Slowakische Architektur» entstanden. Einen besonderen Stellwert nimmt dabei die Zwischenkriegszeit ein, die traditionell als erfolgreichste Periode der Architektur des 20. Jahrhunderts betrachtet wird.

Die Gründung der selbständigen Tschechoslowakischen Republik 1918 brachte der Slowakei grosse Fortschritte. Unter der Herrschaft der ungarischen Magnaten war sie überwiegend ein Agrarland geblieben. Als nach dem Ersten Weltkrieg die Österreich-Ungarische Monarchie zerfiel und die Slowakei zusammen mit dem hoch industrialisierten und weiter entwickelten Böhmen und Mähren zur nationa-len Selbständigkeit gelangte, kam es zu politischen, wirtschaftlichen und gesell-schaftlichen Veränderungen. Neben dem wirtschaftlichen Aufschwung waren die Fortschritte in den Bereichen Bildung und Kultur besonders bedeutend. Es wurden Schulen und Universitäten gegründet, wie beispielsweise 1928 die Kunstgewerbe-schule in Bratislava. Auch entwickelten sich neue Formen von Kunst, Musik, Tanz und Architektur.

Durch das Entstehen der Tschechoslowakischen Republik mit der Hauptstadt Prag gab es Bedarf an neuen Bauaufgaben, wie zum Beispiel Verwaltungsgebäu-den, Schulen oder Wohnungen für tschechische Beamte. Viele slowakische Archi-tekten, die vor dem ersten Weltkrieg im Ausland tätig gewesen waren, kehrten in das national befreite Land zurück. Da es in der Slowakei – bis nach dem zweiten Weltkrieg – keine eigene Architekturschule gab, studierten die Architekten in Prag, Wien, Budapest, Deutschland, Frankreich oder in der Schweiz und brachten ver-schiedene Einflüsse mit nach Hause.

Die Zeit nach dem ersten Weltkrieg war durch die Suche der Architekten nach einem neuen formalen Ausdruck geprägt, der sich von den Repräsentationsbauten der Monarchie absetzten sollte. Die progressiven Ideen des Funktionalismus, die insbesondere von Deutschland in die Slowakei gelangten, vermochten die tech-nischen Entwicklungen und die wirtschaftlichen Erfolge der neuen Republik am besten zu symbolisieren und verbreiteten sich schnell.

Am deutlichsten vermochte sich das ornamentlose Neue Bauen in Bratislava durchzusetzen. Die multinationale Stadt am Kreuzweg zwischen Wien, Buda-

diE sLowakiscHE zwiscHEnkriEgszEit und das nEuE bauEnSilvia radlinSKy

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pest und Prag war ein fruchtbarer Boden für neue Strömungen und Gedanken. Eine Konzentration moderner Bauten entstand am Platz der Republik, der heute Platz des Slowakischen Nationalaufstandes heisst. Ab 1929 wurden dort dank der Wirtschaftselite des Landes Schlüsselwerke der slowakischen Moderne wie die Stadtsparkasse (1929-1931), das Kauf- und Wohnhaus Manderla (1933-1935), die Genossenschaftshäuser (1933-39) oder das Kaufhaus Bata (1930) errichtet. Der Platz, der auch als Schaufenster der Republik bezeichnet wird, manifestiert den Übergang der slowakischen Gesellschaft von einer traditionell agrarischen zu einer modernen städtischen Gesellschaft.

Mit der Veränderung der Gesellschaftsstruktur erstarkte die Stellung des Bür-gertums, und die Moderne wurde zu einem Standessymbol nicht nur der oberen, sondern auch der mittleren Schichten. Dies betraf den Sport und das Autofahren ebenso wie die positive Rezeption von abstrakter Kunst und moderner Architektur.

Einen bedeutenden Beitrag zur slowakischen Architektur der Zwischenkriegs-zeit leisteten die Architekten Emil Belluš und Fridrich Weinwurm. Von Belluš stam-men Werke wie die oben erwähnten Genossenschaftshäuser (1933-39) und die Nationalbank (1936-38) in Bratislava, die Kolonnadenbrücke (1930-33) in Pieštany oder der Getreidespeicher (1936-38) in Trnava.

Fridrich Weinwurm war derjenige Architekt, der die Themen des sozialen Wohnens und der Wohnung für das Existenzminimum am intensivsten behandelte. Von ihm stammen die Wohnsiedlungen Unitas (1931-32) und Nová doba (1932-42).

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Viele funktionalistische Werke entstanden durch tschechische Architekten, die ab 1919 in der Slowakei bauten und dort ihre Chance zum beruflichen Durchbruch sahen.

Zu erwähnen sind der slowakische Kunstverein (1924-27) sowie die Bezirks-sozialversicherungsanstalt (1933-39) in Bratislava von Alois Balán und Jirí Grossmann. Zahlreich sind die Bäder und Sanatorien, die von der tschechischen Avantgarde gebaut wurden. Ein poetischer Zweig des Funktionalismus zeigt sich insbesondere im Sanatorium Machnác (1930-1932) von Jaromír Krejcar und im Thermalbad Zelená Žaba (1935-1937) von Bohuslav Fuchs in Trencianske Teplice.

Ein wichtiges Organ für die Architektur in der Slowakei war die dreisprachige Zeitschrift «Forum». Sie erschien zwischen 1931 und 1938 auf deutsch, ungarisch und slowakisch und kommentierte in erster Linie das slowakische Baugeschehen, das in Zeitschriften der Landeshauptstadt Prag keinen Platz fand.

Das «goldene Zeitalter» endete, als die Tschechei durch Hitlerdeutschland besetzt wurde und 1939 unter Hitlers Druck ein autonomer slowakischer Staat mit einem totalitären Regime entstand. Viele Architekten tschechischen Ursprungs wurden nach zwei Jahrzehnten beruflicher Tätigkeit gezwungen das Land zu ver-lassen. Die meisten jüdischen Architekten emigrierten oder wurden ermordet.

Dies, sowie die politische Unterdrückung durch die kommunistische Macht-ergreifung in der wiederhergestellten Tschechoslowakischen Republik ab 1948, bedeutete das definitive Ende des Neuen Bauens und für viele Jahre auch das Ende des gedanklichen und personellen Austausches mit den westlichen Nachbar-staaten.

Doch das Baugeschehen der Vorkriegsjahre setzte den Grundstein für die her-ausragende Architektur, die in den 60er Jahren in der Slowakei entstand. Und auch heute schöpfen die jungen Architekten wieder aus der Quelle des Neuen Bauens. Denn die moderne Tradition ist die stärkste Tradition der tschechischen und der slowakischen Architektur.

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«... da gab es ferner den Schwindler, der, gegen sich und die Kranken unehr-lich, im psychotherapeutischen Verkehr alle möglichen Bedürfnisse (Machtgefühl, erotische Triebe, Sensationssucht) bei sich und seinen Patienten befriedigt.» Der Philosoph Karl Jaspers charakterisierte als ‹Schwindler› einen Typ psycho-therapeutischer Nervenärzte ‹abgeglittener Art›. Machtgefühl, erotische Triebe und Sensationssucht in Architektur umzuwandeln ist eine Gefahr, der auch jeder Entwerfer begegnet und der nicht jeder aus dem Wege geht. Mancher macht sie in voller Absicht zu seinem Markenzeichen. Camenzind interessiert sich für dieses Schwindlertum. Entspricht (oder sogar entspringt) diese Lust an pathologischer Extase unserer Zeit, welcher düstere soziologische Theorien eine «reflexive Modernisierung» unterstellen? Dieser Ausdruck, der mittlerweile als «Reflexive Moderne» auch Eingang in die Architekturdiskussion gefunden hat, beschreibt den Prozess einer Radikalisierung der Basisprinzipien der Moderne, welche die moderne Gesellschaft, d. h. ihre industriegesellschaftlichen Strukturen, untermi-niere. Ein kulturelles Stadium sei darin erreicht, in dem die Modernisierung selbst die Grundlagen von Modernisierung untergrabe. Sie zerstöre und transformiere diese und erzeuge damit auf globaler Ebene Angst und Schrecken – oder einfach nur Ratlosigkeit.

Was im Westen wenig bekannt ist: Das Land, in dem Architekten in erster Linie Dichter sind, Russland, nahm in seiner Vergangenheit in der Sowjetunion Themen der «Reflexiven Moderne» in einer Reihe von Bauwerken virtuos vorweg! Im philosophisch-poetischen Sinne weiterhin avantgarde, war sie, auch nach Schließung der Laboratorien des Konstruktivismus, ein fruchtbares Experimen-tierfeld der Architektur. Im relativen Wohlstand der Breschnev-Ära gegen Ende der 1970er Jahre (einer Zeit, in der sich der Kommunistische Anspruch des Landes, aus Mangel an Alternativen, immer stärker reflexiv auf seine revolutionären Ursprungsideen bezog) bauten die Russen erschütternd melancholische Bau-werke. Die Ambivalenz zwischen der offiziellen, optimistischen Kommunismuste-leologie und dem zu einer ständigen Improvisation herausfordernden russischen Alltag hatte augenscheinlich eine mehr epische denn rationale Weltsicht gefördert. Aus ihr brachten, jenseits westlich-ironischer Tendenzen, sowjetische Architekten tragisch-heroische Werke hervor. Ganz anders als die auf den ersten Blick spiele-rische, helle, sorgenfreie, letztlich aber doch hochreflektiert pessimistische Archi-tektur der amerikanisch-italienischen Postmoderne zur gleichen Zeit offenbarte sich abseits westlicher kapitalistischer Frohsinnsmasken hinter dem eisernen Vorhang das ratlose Gesicht der Sowjetunion in ihrem «goldenen Zeitalter des Stillstands». Hier wurden Prototypen einer (weniger intellektualisierend und verzweifelt ausgedrückt:) «traurigen Moderne» gebaut. Hier kann man noch heute der Übersetzung Aldous Huxley’s «Recht auf Unglück» in Architektur begegnen.

traurigE modErnE und typEn abgEgLittEnEr artmarKuS PodEhl

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Architekten in der Sowjetunion am Vorabend der Perestrojka besaßen offensicht-lich die Freiheit dazu, Melancholie zu bauen. Sie waren darin keine Schwindler. Seismographisch formte ihre architektonische Haltung das Ergrauen des Realsozi-alismus lebendig und stimmungsvoll in Fassaden und Interieurs ab.

Heute können diese Gebäude unsere «reflexiv-moderne» Lust am Pathologi-schen anregen. Wir können sie im Licht jener zeitgenössischen westlichen Archi-tektur betrachten, die, auch wenn sie das Gegenteil behauptet, radikal Kitsch (oder Vitrine für Kitsch) ist. Auf den ersten Blick scheinen sie dem modernen Denken in Extremen (oftmals ein Denken in Extremitäten) zu entsprechen, gegen das die ein oder andere, meist trockene, klassizistische Donquichotterie antritt, die sich aber schließlich, gar nicht weltfremd, als Teil der reflexiven Maschinerie positioniert. Wer aber genauer hinsieht wird merken: es mangelt der «traurigen Moderne» nicht an Poesie. Sie wirkt nicht versteinert. Entgegen vieler oft albern dualistischer oder künstlich pluralistischer Positionen neobürgerlicher Architekturparlamente scheint die Architektur der «traurigen Moderne» ihre Zeit eher dialektisch abge-bildet zu haben, statt sie demokratistisch brutal in nichtssagende, Individualismus heuchelnde Extrempositionen aufzuspalten. Die sowjetische Architektur kam bis 1985 in einer schleichenden Krise (der 1991 schließlich der Zusammenbruch folgte) zu einer düsteren Blüte. Sie wurde darin nicht vulgär.

Jenseits des auskristallisiert scheinenden mitteleuropäischen Familien-stammbaums der Architektur, dessen jüngste Früchte steinerne klassizistische Suprematismen, orthodox-funktionalistische Schlichtheiten und tabulose expres-sive Konzeptionalismen sind, liegt die Chance zu einer direkten, empfindsamen Architektur, die nach dem wie eines Gebäudes fragt, und nicht die im Grunde unplausible und unmoderne Frage nach dem was oder wer stellt. Wenn wir uns also als Totengräber-Generation der Moderne, als Vertreter einer «reflexiven Moderne» sehen wollen, so sollten wir uns darin einer sanften, mitfühlenden Traurigkeit verpflichten. So umgehen wir, indem wir es wie die sowjetischen Archi-tekten der 1970er Jahre transzendieren, die Gefahr eines Schwindlertums. Karl Jaspers schrieb, es gäbe einen charakteristischen Ton und Stil von Schriften aus dem Umkreis der Schwindler: phantastische Theorien, die alle anderen Meinungen verachten, ein Überlegenheitsgefühl aus dem naiv oder frech behaupteten Besitz der eigentlichen Wahrheit heraus, eine Neigung zum Pathetischen und Großarti-gen, eine endlose Wiederholung der simplen Positionen, sowie die Form endgül-tiger dicta, die jeden Widerspruch als erledigt ansehen. Dem reflexiv-modernen Architekten fällt es nicht mehr zu, dem «Schwindlertum» einer degenerierten Moderne zu widersprechen. Er ist nicht postmodern. Es fällt ihm ebenfalls nicht zu, dem «Schwindlertum» einer degenerierten Postmoderne zu widersprechen. Er ist nicht neomodern. Dagegen fällt ihm zu, die Dualismen des 20. Jahrhunderts dialektisch zu begreifen. In der Synthese ihrer besten Teile wird er einem Neuen entgegenblicken.

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