Can the Subaltern Speak(Dt)

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ES KOMMT DARAUF AN Texte zur Theorie der politischen Praxis Herausgegeben von Boris Buden, Jens Kastner, Oliver Marchart, Stefan Nowotny, Gerald Raunig, Hito Steyerl, Ingo Vavra Band 6 GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation Aus dem Englischen von Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny Mit einer Einleitung von Hito Steyerl VERLAG TURIA + KANT

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ES KOMMT DARAUF AN

Texte zur Theorie der politischen Praxis

Herausgegeben von Boris Buden, Jens Kastner, Oliver Marchart, Stefan Nowotny,

Gerald Raunig, Hito Steyerl, Ingo Vavra

Band 6

GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK

Can the Subaltern Speak?

Postkolonialität und subalterne Artikulation

Aus dem Englischen von

Alexander Joskowicz und Stefan Nowotny

Mit einer Einleitung von Hito Steyerl

VERLAG TURIA + KANT

Page 2: Can the Subaltern Speak(Dt)

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der

Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

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Nationalbibliografie; detailed bibliographic data is available in

the internet at http://dnb.ddb.de.

ISBN 978-3-85132-506-5

© Gayatri Chakravorty Spivak

©für die deutsche Ausgabe: Verlag Turia +Kant, 2008 A-1010 Wien, Schottengasse 3A/ 5/DG1

[email protected] 1 www.turia.at

In Kooperation mit translate. Beyond Culture: The Politics of Translation

http://translate.eipcp.net/

Hito Steyerl

Die Gegenwart der Subalternen

5

Inhalt

GAY ATRI CHAKRA VOR TY SPIVAK

Can the Subaltern Speak?

17

Gayatri Chakravorty Spivak

Ein Gespräch über Subalternität 119

Editorische Nachbemerkung der Übersetzer Zur zweiten Fassung von »Can the Subaltern Speak?«

149

Page 3: Can the Subaltern Speak(Dt)

same Zuhören verstellt. Das Vermächtnis von Spivaks

Text ist der Hinweis auf diesen Moment des Bruchs -

und die Aufgabe, vor die er uns auch heute stellt, besteht

nicht darin, das autistische »Für-sich-selbst-Sprechen«

der einzelnen Subjekte zu verstärken, sondern vielmehr

darin, ihr gemeinsames Schweigen zu hören.

ANMERKUNGEN

1 In dem Film »La politique et le bonheur« (1972). 2 Ranajit Guha, »Ün Some Aspects of the Historiography of Co­lonial India«, in: Vinayak Chaturvedi (Hg.), Mapping Subaltern Studies and the Postcolonial, London/ New York: Verso 2000, S. 1-7. 3 Z.B. in Benita Parry, »Problems in Current Theories of Colonial Discourse«, in: Bill Ashcroft / Gareth Griffiths / Helen Tiffin (Hg.), The Post-Colonial Studies Reader, London/ New York: Routledge 1995, S. 36-44. 4 Vgl. in diesem Band S. 106. Die so beantwortete Frage lautete genau: »Wir müssen uns jetzt der folgenden Frage stellen: Auf der anderen Seite der internationalen Abspaltung der Arbeit vom so­zialisierten Kapital, innerhalb und außerhalb des Kreislaufs der epistemischen Gewalt des imperialistischen Rechts und der impe­rialistischen Erziehung, die einen früheren ökonomischen Text supplementieren - können Subalterne sprechen?« (S. 47) 5 Die Entwicklungen im Kunstfeld können in diesem Zusammen­hang als ein paradigmatisches Beispiel gelesen werden: Postkolo­nialität wurde zumeist als Auftrag zur Ausrichtung regionaler Ausstellungen (Balkan, Naher Osten etc.) interpretiert. 6 Vgl. dazu Kien Nghi Ha, Hype um Hybridität. Kultureller Diffe­renzkonsum und postmoderne Verwertungstechniken im Spätka­pitalismus, Bielefeld: Transcript 2005, sowie Slavoj Zizek, The spectre is still roaming around, Zagreb: Arkzin 1998, S. 61 f. 7 Peter Hallward, Absolutely Postcolonial. Writing Between the Singular and the Specific, Manchester / New York: Manchester University Press 2001. 8 Alain Badiou, Ethik. Versuch über das Bewusstsein des Bösen, aus dem Französ. übers. v. Jürgen Brankel, Wien: Turia + Kant 2003. 9 Jean-Luc Nancy, Die undarstellbare Gemeinschaft, aus dem Französ. übers. v. Gisela Febel u. Jutta Legueil, Stuttgart: Edition Patricia Schwarz 1988.

Can the Subaltern Speak? Gayatri Chakravorty Spivak

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SIGLEN:

PD »Die Intellektuellen und die Macht: Ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze«, aus dem Französ. übers. v. Hans-Dieter Gondek, in: Michel Foucault, Schrif­ten in vier Bänden, Dits et Ecrits, Bd. II (1970-1975), Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002, S. 382-393.

Gr Jacques Derrida, Grammatologie, aus dem Französ. übers. v. Hans-Jörg Rheinberger u. Hanns Zischler, Frankfurt/M.: Suhrkamp 51994.

HD Pandurang Vaman Kane, History of Dharmasastra. Ancient and Medieval Religious and Civil Law in India, Bd. 1-V, Poona: Bhandarkar Oriental Research Institute 1930-1962.

Sehr Michel Foucault, Schriften in vier Bänden, Dits et Ecrits, Bd. 1-IV, aus dem Französ. übers. v. Michael Bischoff, Hans-Dieter Gondek, Hermann Kocyba et al„ Frankfurt/M.: Suhrkamp 2002-2005.

VG Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorle­sungen am College de France (1975-76), aus dem Französ. übers. v. Michaela Ott, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1999.

Hinweise der Übersetzer zu besonderen Schreibweisen:

1. Kursiv gesetzte und mit einem Sternchen versehene Ausdrücke (z.B. darstellen») erscheinen im Original auf Deutsch.

2. Der differenzierenden Schreibweise des englischen Original­texts entsprechend geben wir »subject« mit »Subjekt« sowie das mit großem Anfangsbuchstaben geschriebene »Subject« mit »Sub­jekt« (mit kursiv gesetztem Anfangsbuchstaben) wieder. In den vereinzelten Fällen, in denen G. Ch. Spivak eine im Englischen an­sonsten unübliche Großschreibung auch an anderen Begriffen (z.B. »Theory«) durchführt, geben wir zusätzlich zur Kursivset­zung des Anfangsbuchstabens (»Theorie«) den englischen Ori­ginalbegriff in eckigen Klammern an.

Der ursprüngliche Titel dieses Textes lautete »Macht, Begehren, Interesse« 1• Und tatsächlich, die Macht, über

die diese Meditationen verfügen, mag, worin sie auch besteht, einer politisch interessierten Weigerung geschul­det sein, die grundlegenden Voraussetzungen meines Be­

gehrens, soweit sie mir zugänglich sind, an ihre Grenze

zu treiben. Diese grobe dreitaktige Formel, angewandt auf Diskurse von entschiedenstem Engagement wie auch

von größter Ironie, behält im Blick, was Althusser so passend als »Philosophie der Verneinung« 2 bezeichnet

hat. Ich habe meine Positionierung in dieser unbeholfe­

nen Art und Weise beschworen, um den Akzent auf die Tatsache zu legen, dass das Hinterfragen des Orts des

Forschers bzw. der Forscherin in vielen jüngeren Kritiken des souveränen Subjekts eine bedeutungslose Frömmig­

keit bleibt. Obgleich ich versuchen werde, den prekären Charakter meiner Position durchgehend in den Vorder­

grund zu rücken, weiß ich also, dass solche Gesten nie ausreichen.

Dieser Text wird sich, auf einer notwendigerweise um­ständlichen Route, von einer Kritik an gegenwärtigen

westlichen Bemühungen, das Subjekt zu problematisie­

ren, hin zur Frage bewegen, wie das Subjekt der Dritten Welt innerhalb des westlichen Diskurses repräsentiert

wird. Im Zuge dessen werde ich Gelegenheit haben, dar­zulegen, dass in der Tat sowohl Marx' als auch Derridas

Werk eine noch radikalere Dezentrierung des Subjekts impliziert. Und ich werde, vielleicht überraschend, auf

das Argument zurückgreifen, dass die westliche intellek­tuelle Produktion in verschiedenen Hinsichten mit inter­

nationalen wirtschaftlichen Interessen des Westens kom-

I9

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plizenhaft verbunden ist. Am Ende werde ich eine alter­native Analyse der Beziehungen zwischen den Diskursen

des Westens und der Möglichkeit, über (oder für) die subalterne Frau zu sprechen, anbieten. Ich werde meine

spezifischen Beispiele aus dem Fall Indiens beziehen und

ausführlich den außergewöhnlich paradoxen Status der britischen Abschaffung des Witwenopfers diskutieren.

Einige der radikalsten Kritiken, die heute aus dem We­

sten kommen, sind das Ergebnis eines interessierten Be­gehrens, das Subjekt des Westens, oder den Westen als

Subjekt, zu erhalten. Die Theorie pluralisierter »Subjekt­Effekte« erzeugt eine Illusion der Unterminierung sub­

jektiver Souveränität, während sie dieses Subjekt des

Wissens zugleich oft mit einem Deckmantel ausstattet. Obgleich die Geschichte Europas als Subjekt über das

Recht, die politische Ökonomie und die Ideologie des Westens narrativisiert wird, gibt dieses verborgene Sub­

jekt vor, »keine geopolitischen Bestimmungen« zu ha­ben. Die oft verlautete Kritik am souveränen Subjekt in­

auguriert dergestalt ein Subjekt. Um diese Schlussfolge­

rung zu argumentieren, werde ich einen Text zweier großer Praktiker dieser Kritik heranziehen: »Die Intel­

lektuellen und die Macht: Ein Gespräch zwischen Michel Foucault und Gilles Deleuze«3

Ich habe diesen freundlichen Austausch zwischen zwei

aktivistischen Geschichtsphilosophen ausgewählt, weil

er die Opposition zwischen autoritativer theoretischer Produktion und der ungeschützten Praxis des Gesprächs

auflöst und so einen Blick auf die Wege der Ideologie er­

möglicht. Foucault und Deleuze, die beiden Teilnehmer an diesem Gespräch, streichen die wichtigsten Beiträge

französischer poststrukturalistischer Theorie heraus: er­stens, dass die Netzwerke von Macht/Begehren/Interesse

dermaßen heterogen sind, dass es kontraproduktiv ist, sie auf ein kohärentes Narrativ zurückzuführen, weshalb

es einer beharrlichen Kritik bedarf; und zweitens, dass Intellektuelle versuchen müssen, den Diskurs des/der An­

deren der Gesellschaft zu enthüllen und zu erkennen. Doch die beiden ignorieren systematisch die Frage der

2I

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Ideologie sowie ihre eigene Verwicklung in eine intellek­

tuelle und ökonomische Geschichte.

Obgleich die Kritik des souveränen Subjekts eine seiner

wesentlichen Voraussetzungen darstellt, bilden zwei mo­

nolithische und anonyme Subjekte-in-Revolution den

Rahmen des Gespräches zwischen Foucault und De­

leuze: ein »Maoist« (FD, S. 382) sowie der »Arbeiter­

kampf« (FD, S. 393). Intellektuelle werden demgegen­

über benannt und unterschieden; ein chinesischer Maois­

mus spielt im Übrigen nirgendwo eine Rolle. Der

Maoismus erzeugt hier schlicht eine Aura narrativer Be­

sonderheit, was eine harmlose rhetorische Banalität dar­

stellen würde, ließe nicht die unschuldige Aneignung des

Eigennamens »Maoismus« für das exzentrische Phäno­

men des französischen intellektuellen »Maoismus« so­

wie der diesem nachfolgenden »Neuen Philosophie« in

symptomatischer Weise »Asien« transparent werden.4

Deleuze' Bezugnahme auf den Arbeiterkampf ist ebenso

problematisch; es handelt sich um einen offensichtlichen

Kniefall: »Und man wird an [die Macht nicht] rühren

können, an einem Punkt welcher Anwendung auch im­

mer, ohne dass man sich mit jenem diffusen Ganzen kon­

frontiert findet, und folglich wird man zwangsläufig gar

nicht anders können, als dieses [ „.] in die Luft sprengen

zu wollen. Jede Verteidigung oder jede partielle revolu­

tionäre Attacke schließt sich auf diese Weise dem Arbei­

terkampf an« (FD, S. 393). Die offenkundige Banalität

signalisiert eine Verleugnung. Die Aussage ignoriert die

internationale Arbeitsteilung - eine für die poststruktu­

ralistische politische Theorie oftmals charakteristische

Geste.5 Die Anrufung des Arbeiterkampfes ist gerade in

ihrer Unschuld unheilvoll. Sie ist unfähig, mit dem glo­

balen Kapitalismus umzugehen: mit der Subjektproduk­

tion von Arbeiterlnnen und Arbeitslosen innerhalb na­

tionalstaatlicher Ideologien in seinem Zentrum; mit der

zunehmenden Abtrennung der Arbeiterklasse in der Peri-

22

pherie von der Realisierung von Mehrwert und mithin

von einem »humanistischen« Training in Sachen Konsu­

mismus; und mit der umfangreichen Präsenz parakapita­

listischer Arbeit sowie dem heterogenen strukturellen

Status der Landwirtschaft in der Peripherie. Das Ignorie­

ren der internationalen Arbeitsteilung; »Asien« (und ge­

legentlich »Afrika«) transparent werden zu lassen (außer

wenn das Subjekt vordergründig die »Dritte Welt« ist);

das Rechtssubjekt des sozialisierten Kapitals wieder ein­

zusetzen - dies sind Probleme, die in weiten Teilen der

poststrukturalistischen Theorie ebenso verbreitet sind

wie in der strukturalistischen Theorie. Warum sollte sol­

chen Schließungen ausgerechnet im Falle jener Intellek­

tuellen zugestimmt werden, die unsere besten Propheten

der Heterogenität und des/der Anderen sind?

Die Anknüpfung an den Arbeiterkampf ist in dem Be­

gehren angesiedelt, die Macht an jedem beliebigen Punkt

ihrer Anwendung in die Luft zu sprengen. Diese Veror­

tung gründet sich offenkundig auf eine Aufwertung jed­weden destruktiven Begehrens gegenüber jedweder Macht. Walter Benjamin kommentiert die damit ver­

gleichbare Politik Baudelaires, indem er Marx zitiert:

»Marx fährt in seiner Schilderung der conspirateurs de profes­sion folgendermaßen fort: >[„.] sie [haben] keinen andern Zweck als den nächsten des Umsturzes der bestehenden Re­gierung und verachten auf>s tiefste die mehr theoretische Auf­klärung der Arbeiter über ihre Klasseninteressen. Daher ihr nicht proletarischer, sondern plebejischer Ärger über die ha­bits noirs (schwarzen Röcke), die mehr oder minder gebilde­ten Leute, die diese Seite der Bewegung vertreten, von denen sie aber, als von den offiziellen Repräsentanten der Partei, sich nie ganz unabhängig machen können.< Die politischen Ein­sichten Baudelaires gehen grundsätzlich nicht über die dieser Berufsverschwörer hinaus. [„.] Allenfalls hätte er Flauberts Wort >Von der ganzen Politik verstehe ich nur ein Ding: die Revolte< zu seinem eigenen machen können.« 6

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Die Anknüpfung an den Arbeiterkampf ist schlicht im Begehren angesiedelt. An anderer Stelle haben Deleuze

und Guattari eine alternative Definition von Begehren zu geben versucht, die diejenige, die von der Psychoanalyse

angeboten wird, revidiert: »Dem Begehren fehlt nichts,

auch nicht der Gegenstand. Vielmehr ist es das Subjekt, das das Begehren verfehlt, oder diesem fehlt ein festste­

hendes Subjekt; denn ein solches existiert nur kraft Re­pression. Das Begehren und sein Gegenstand sind eins,

und das ist die Maschine, als Maschine der Maschine. Das Begehren bildet eine Maschine, wie sein Gegenstand

die ihm angekoppelte Maschine, sodass vom Produzie­ren das Produkt entnommen wird, vom Produzieren zum

Produkt sich etwas abtrennt, das dem nomadenhaften Vagabundensubjekt einen Rest zuschlagen wird.« 7

Diese Definition ändert nichts an der Spezifität des be­

gehrenden Subjekts (oder des übrig bleibenden Subjekt­Effekts), das sich an spezifische Manifestationen des Be­

gehrens oder der Produktion der Begehrensmaschine anschließt. Wenn zudem die Verknüpfung zwischen Be­

gehren und dem Subjekt für irrelevant gehalten oder

bloß umgekehrt wird, so ähnelt der Subjekt-Effekt, der sich heimlich herausbildet, stark dem verallgemeinerten

ideologischen Subjekt des Theoretikers. Dieses mag das Rechtssubjekt des sozialisierten Kapitals sein - weder

Arbeit noch Unternehmensführung zugehörig -, das über einen »starken« Pass verfügt, eine »starke« oder

»harte« Währung benutzt und einen vermeintlich unbe­strittenen Zugang zu einem ordentlichen Gerichtsverfah­

ren hat. Es ist sicherlich nicht das begehrende Subjekt als Andere/r.

Das Scheitern von Deleuze und Guattari daran, die Be­

ziehungen zwischen Begehren, Macht und Subjektivität zu denken, setzt sie außerstande, eine Theorie der Inter­essen zu artikulieren. In diesem Zusammenhang ist ihre

Indifferenz gegenüber der Ideologie (deren Theoretisie-

rung notwendig ist, um zu einem Verständnis von Inter­

essen zu gelangen) verblüffend, aber konsistent. Fou­caults Festlegung auf eine »genealogische« Spekulation

hindert ihn daran, in »großen Namen« wie Marx und Freud Wendepunkte in einem kontinuierlichen Strom der

intellektuellen Geschichte zu orten. 8 Diese Festlegung hat in Foucaults Werk einen unglücklichen Widerstand

gegen »bloße« Ideologiekritik erzeugt. Westliche Speku­

lationen über die ideologische Reproduktion sozialer Verhältnisse gehören jenem Mainstream an, und inner­

halb eben dieser Tradition schreibt Althusser, »dass die Reproduktion der Arbeitskraft nicht nur die Reprodukc

tion ihrer Qualifikation erfordert, sondern auch gleich­zeitig [ ... ]für die Arbeiter die Reproduktion ihrer Unter­

werfung unter die herrschende Ideologie und für die Träger der Ausbeutung und Unterdrückung eine Repro­

duktion der Fähigkeit, gut mit der herrschenden Ideolo­gie umzugehen, um auch >durch das Wort< die Herr­

schaft der herrschenden Klasse zu sichern.,/ Wenn Foucault über die alles durchdringende Heteroge­

nität der Macht nachdenkt, dann verkennt er nicht die

immense institutionelle Heterogenität, die Althusser hier zu schematisieren versucht. Deleuze und Guattari er­

schließen eben dieses Feld in ähnlicher Weise, wenn sie von Allianzen und Zeichenregimen, dem Staat und

Kriegsmaschinen (Tausend Plateaus) sprechen. Foucault kann jedoch nicht akzeptieren, dass eine entwickelte

Ideologietheorie ihre eigene materielle Produktion in ei­nem institutionellen Rahmen sowie in den »wirksame[n]

Instrumente[n] der Bildung und Akkumulation von Wis­sen« (VG, S. 43) begreift. Weil diese Philosophen sich of­

fenkundig gezwungen sehen, alle Argumente, die den

Ideologiebegriff im Munde führen, als nur schematisch und nicht textuell zurückzuweisen, sehen sie sich glei­

chermaßen dazu genötigt, eine mechanisch-schematische Gegenüberstellung von Interesse und Begehren zu pro-

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duzieren. Sie stellen sich damit in eine Reihe mit bürger­lichen Soziologinnen, die den Platz der Ideologie mit ei­

nem kontinuistischen »Unbewussten« oder einer para­subjektiven »Kultur« füllen. Das mechanische Verhältnis

zwischen Begehren und Interesse wird in Sätzen wie je­

nem deutlich, dass man »nicht gegen sein Interesse« be­gehren könne, »folgt doch das Interesse stets dem Begeh­

ren und findet sich stets da, wo das Begehren es auf­stellt« (PD, S. 391 ). Ein undifferenziertes Begehren ist

das Agens, und die Macht schleicht sich herein, um Be­gehrenseffekte zu erzeugen, indem sie »positive Wirkun­

gen auf der Ebene des Begehrens [ ... ] und auch auf der Ebene des Wissens hervorbringt« (Sehr II, S. 937).

Diese parasubjektive, von Heterogenität durchzogene Matrix führt das ungenannte Subjekt ein, wenigstens für

jene intellektuellen Arbeiterlnnen, die von der neuen He­

gemonie des Begehrens beeinflusst sind. Das Rennen um »die letzte Instanz« ist nun jenes zwischen Ökonomie

und Macht. Weil die Definition des Begehrens still­schweigend auf einem orthodoxen Modell beruht, wird

Begehren als Einheit einem »Getäuschtsein« gegenüber­gestellt. Ideologie als »falsches Bewusstsein« (Getäuscht­

sein) ist von Althusser in Frage gezogen worden. Sogar Reich vertrat implizit eher Vorstellungen eines Kollek­

tivwillens als eine Dichotomie von Täuschung und un­getäuschtem Begehren. »Man muss bereit sein, Reichs

Aufschrei Gehör zu schenken: Nein, die Massen sind

nicht getäuscht worden, sie haben zu jener Zeit den Fa­schismus begehrt!« (PD, S. 391.)

Diese Philosophen verweigern sich dem Gedanken eines

konstitutiven Widerspruchs - und eben hierin trennen

sie sich eingestandermaßen von der Linken. Im Namen des Begehrens führen sie erneut das ungeteilte Subjekt in den Machtdiskurs ein. Foucault scheint häufig »Indivi­

duum« und »Subjekt« durcheinander zu bringen10; und

die Auswirkung davon auf seine eigenen Metaphern ver-

stärkt sich vielleicht noch bei seinen Anhängerlnnen.

Aufgrund der Macht des Wortes »Macht«, so gibt Fou­cault zu, verwendete er die »Metapher des Punktes [ ... ],

der peu a peu ausstrahlt« (Sehr III, S. 398). Solche Fehll­

eistungen werden in weniger sorgfältigen Händen von der Ausnahme zur Regel. Und jener ausstrahlende Punkt, der einen effektiv heliozentrischen Diskurs ani­

miert, füllt den leeren Platz des Agens mit der histori­

schen Sonne der Theorie, dem Subjekt Europas.11

Foucault artikuliert noch eine weitere Konsequenz, die

sich aus der Verleugnung der Rolle der Ideologie in der Reproduktion gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse

ergibt, und zwar eine unhinterfragte Aufwertung der

Unterdrückten als Subjekt; »[e]s gilt« nämlich, wie De­leuze bewundernd bemerkt, »die Bedingungen bereitzu­

stellen, unter denen die Gefängnisinsassen selbst spre­chen können«. Foucault fügt hinzu: »[Die Massen] wis­

sen vollkommen, klar« - einmal mehr die Thematik des Nicht-getäuscht-Seins - »und viel besser als [die Intellek­

tuellen], und sie sagen es auch sehr gut« (PD, S. 383 u.

384; Hervorhebung von G. Ch. S.). Was geschieht in solchen Äußerungen mit der Kritik des

souveränen Subjekts? Die Grenzen dieses repräsentatio­nistischen Realismus werden mit Deleuze erreicht: »Die Wirklichkeit ist das, was sich [ ... ] in einer Fabrik, in ei­

ner Schule, in einer Kaserne, in einem Gefängnis oder

auf einem Kommissariat tatsächlich ereignet« (FD, S. 389). Sich der Notwendigkeit der schwierigen Auf­

gabe einer gegenhegemonialen ideologischen Produktion

solcherart zu versperren war nicht ratsam. Es hat dem positivistischen Empirismus - der rechtfertigenden Grundlage des fortgeschrittenen kapitalistischen Neo­

kolonialismus - dazu verholfen, seine eigene Arena als »konkrete Erfahrung«, als das, was sich »tatsächlich

ereignet«, zu definieren. In der Tat wird die konkrete Erfahrung, die den politischen Reiz von Gefängnisinsas-

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sinnen, Soldatinnen und Schulkindern verbürgt, durch

die konkrete Erfahrung der Intellektuellen verlautbart,

jener also, die die Episteme diagnostizieren. 12 Weder De­

leuze noch Foucault scheinen sich dessen bewusst zu

sein, dass die Intellektuellen innerhalb des sozialisierten

Kapitals, die die konkrete Erfahrung hochhalten, dazu

beitragen können, die internationale Arbeitsteilung zu konsolidieren.

Der uneingestandene Widerspruch im Inneren einer Posi­

tion, die die konkrete Erfahrung der Unterdrückten auf­

wertet, während sie dermaßen unkritisch hinsichtlich der

historischen Rolle der Intellektuellen ist, wird durch eine

sprachliche Fehlleistung aufrechterhalten. So äußert De­

leuze die bemerkenswerte Behauptung: » [ „.] eine Theo­

rie, das ist genauso wie ein Werkzeugkasten. Das hat

nichts zu tun mit dem Signifikanten« (FD, S. 384). Be­

denkt man, dass der sprachliche Charakter der theoreti­

schen Welt sowie ihres Zugangs zu irgendeiner Welt, die

im Gegensatz zu ihr als »praktisch« definiert wird, irre­

duzibel ist, so hilft eine derartige Erklärung nur demjeni­

gen Intellektuellen, der unter Beweis stellen möchte, in­

tellektuelle Arbeit sei gerade dasselbe wie eine Arbeit mit

den Händen. Sprachliche Fehlleistungen geschehen,

wenn Signifikanten sich selbst überlassen bleiben. Der

Signifikant »Repräsentation« ist ein typisches Beispiel

dafür. Im selben geringschätzigen Tonfall, mit dem das

Band zwischen Theorie und Signifikant aufgetrennt

wird, erklärt Deleuze: »Es gibt keine Repräsentation

mehr, es gibt nur noch Aktion« - »Aktion der Theorie,

Aktion der Praxis in Beziehungen von Verbindungsele­

menten oder Netzwerken« (FD, S. 383). Und doch wird

hier ein wichtiger Punkt angesprochen: Die Produktion

von Theorie ist auch eine Praxis; die Gegenüberstellung

zwischen abstrakter, »reiner« Theorie und konkreter,

»angewandter« Praxis ist zu schnell und zu simpel. 13

Mag dies auch das eigentliche Argument von Deleuze

sein, so ist doch die Art und Weise problematisch, wie er

es artikuliert. Zwei Bedeutungen von Repräsentation

werden hier miteinander vermischt: Repräsentation als

»sprechen für«, wie in der Politik, und Repräsentation

als »Re-präsentation«, als »Dar-stellung« bzw. »Vor­

stellung«, wie in der Kunst oder der Philosophie. Da

Theorie auch nur »Aktion« ist, repräsentiert der Theore­

tiker nicht (spricht nicht für) die unterdrückte Gruppe.

Das Subjekt wird in der Tat auch nicht als ein repräsen­

tierendes Bewusstsein gesehen (eines, das die Wirklich­

keit adäquat vor-stellt). Diese zwei Bedeutungen von

Repräsentation - im Rahmen der Ausgestaltung von

Staatlichkeit und im Recht einerseits sowie im Zusam­

menhang von Subjekt und Prädikation andererseits -

sind aufeinander bezogen, aber es gibt einen irreduziblen

Bruch zwischen ihnen. Den Bruch mit einer Analogie zu­

zudecken, die als Beweis präsentiert wird, spiegelt ein­

mal mehr eine paradoxe Privilegierung des Subjekts wi­der.14 Weil die »Person, welche spricht oder handelt«,

»stets eine Mannigfaltigkeit« ist, können » [d]iejenigen,

die handeln und kämpfen«, nicht von einem »lntellektu­

elle[n] als Theoretiker [oder] einer Partei oder einer Ge­

werkschaft« (FD, S. 383) repräsentiert werden. Sind die­

jenigen, die handeln und kämpfen, stumm, im Gegensatz

zu denjenigen, die handeln und sprechen (FD, S. 383)?

Diese immensen Probleme liegen in den Unterschieden

zwischen »ein und denselben« Wörtern begraben: Be­

wusstsein [consciousness] und Gewissen [conscience] (beide conscience auf Französisch), Repräsentation und

Re-präsentation. Die Kritik der ideologischen Subjekt­

konstitution in staatlichen Gebilden und Systemen der

politischen Ökonomie kann nun also gestrichen werden,

ebenso wie die aktive theoretische Praxis einer »Trans­

formation des Bewusstseins«. Die Banalität der von lin­

ken Intellektuellen erstellten Listen von um sich selbst

29

Page 10: Can the Subaltern Speak(Dt)

wissenden, politisch klugen Subalternen ist offen gelegt;

'indem sie sie repräsentieren, repräsentieren die Intellek­

tuellen sich selbst als transparent.

Wenn eine solche Kritik und ein solches Projekt nicht

aufgegeben werden sollen, so dürfen die beweglichen

Unterscheidungen zwischen der Repräsentation im Staat

und in der politischen Ökonomie einerseits sowie in der

Theorie des Subjekts andererseits nicht verwischt wer­

den. Führen wir uns das Spiel von vertreten':- (»repräsen­

tieren« in der ersten Bedeutung) und darstellen•· (»re­

präsentieren« in der zweiten Bedeutung) in einer be­

rühmten Passage aus Der achtzehnte Brumaire des Louis

Bonaparte vor Augen, wo Marx »Klasse« als deskripti­

ven und transformativen Begriff in einer Weise an­

spricht, die etwas komplexer ist, als es Althussers Unter­

scheidung zwischen Klasseninstinkt und Klassenposition zugestehen würde.

Marx behauptet hier, dass die deskriptive Definition ei­

ner Klasse differenziell sein kann - mithin in ihrer Tren­

nung und Unterscheidung von allen anderen Klassen

liegt: »Insofern Millionen von Familien unter ökonomi­

schen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise,

ihre Interessen und ihre Bildung von denen der andern

Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen,

bilden sie eine Klasse.« 15 Hier ist nichts dergleichen wie

ein »Klasseninstinkt« am Werk. Vielmehr verhält sich

die Kollektivität der Familienexistenz, die als Schauplatz

des »Instinkts« betrachtet werden mag, diskontinuierlich

zur differenziellen Isolierung von Klassen, obgleich sie

den Einwirkungen der Letzteren untersteht. In diesem

Zusammenhang, der für das Frankreich der 1970er

Jahre weitaus relevanter ist, als er es für die internatio­

nale Peripherie sein kann, ist die Formierung einer

Klasse künstlich und ökonomisch, und das ökonomische

Handlungsvermögen oder Interesse ist unpersönlich, da

es systematisch und heterogen ist. Das so verstandene

Handlungsvermögen oder Interesse schließt an die He­

gel'sche Kritik des individuellen Subjekts an, denn es

markiert den leeren Ort des Subjekts in jenem subjektlo­

sen Prozess, den Geschichte und politische Ökonomie

darstellen. Der Kapitalist wird hier als »bewusster Trä­

ger der maßlosen Bewegung des Kapitals« 16 definiert.

Mein Argument ist, dass Marx nicht um die Erschaffung

eines ungeteilten Subjekts bemüht ist, in dem Begehren

und Interesse zusammenfallen. Klassenbewusstsein wirkt

nicht. auf dieses Ziel hin. Sowohl auf ökonomischem Ge­

biet (Kapitalist) als auch auf politischem Gebiet (weltge­

schichtlicher Akteur) sieht sich Marx genötigt, Modelle

eines geteilten und dislozierten Subjekts zu entwerfen,

dessen Teile keinerlei Zusammenhang oder Kohärenz

aufweisen. Eine gefeierte Stelle wie die Beschreibung des

Kapitals als faustisches Monster führt uns das lebhaft

vor Augen.17

Die folgende Passage, die an das Zitat aus dem Acht­

zehnten Brumaire anschließt, geht ebenfalls vom struk­

turellen Prinzip eines disparaten und dislozierten Klas­

sensubjekts aus: Das (mangelnde kollektive) Bewusstsein

der Klasse von Parzellenbauern findet ihren »Träger« in

einem »Repräsentanten«, einem »Vertreter«, der in je­

mandes anderen Interesse zu arbeiten scheint. Das Wort

für »Repräsentant« leitet sich hier nicht von »darstel­

len«,,_ ab; dies verschärft den Kontrast, über den Fou­

cault und Deleuze hinwegsehen, nämlich den Kontrast,

der, sagen wir, zwischen einer Stellvertreterln und einem

Porträt besteht. Gewiss gibt es eine Beziehung zwischen

beiden, die zudem in der europäischen Tradition eine po­

litische und ideologische Zuspitzung erfahren hat, zu­

mindest seitdem Dichter und Sophist, Schauspieler und

Redner als gleichermaßen schädlich angesehen wurden.

Im Gewand einer postmarxistischen Beschreibung der

Bühne der Macht begegnen wir auf diese Weise einer viel

älteren Debatte: jener zwischen Repräsentation oder

31

Page 11: Can the Subaltern Speak(Dt)

Rhetorik als Tropologie und als Überzeugung. Darstel­

len''" gehört der ersten Konstellation an, vertreten''. - mit

stärkeren Anklängen an eine Substitution - der zweiten.

Wiederum sind beide miteinander verbunden, aber sie

ineinander laufen zu lassen, insbesondere um zu sagen,

dass der Ort, wo unterdrückte Subjekte für sich selbst

sprechen, handeln und wissen, jenseits von beiden liege,

führt zu einer essenzialistischen, utopischen Politik. Hier also die Stelle bei Marx, die »vertreten«,,_ verwen­

det, wo im Englischen »represent« benutzt wird, und die

ein soziales »Subjekt« diskutiert, dessen Bewusstsein

und Vertretung" (ebenso sehr eine Substitution wie eine

Repräsentation) disloziert und inkohärent sind: Die Par­

zellenbauern »können sich nicht vertreten, sie müssen

vertreten werden. Ihr Vertreter muss zugleich als ihr

Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine

unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den ande­

ren Klassen beschützt und ihnen von oben Regen und

Sonnenschein schickt. Der politische Einfluss [anstelle

des Klasseninteresses, zumal es kein geeintes Klassensub­

jekt gibt] der Parzellenbauern findet also darin seinen

letzten Ausdruck [die Implikation einer Kette von Substi­

tutionen - Vertretungen''" - ist hier stark], dass die Exe­

kutivgewalt sich die Gesellschaft unterordnet.«

Ein solches Modell sozialer Indirektheit - mit notwendi­

gen Rissen zwischen der Quelle des »Einflusses« (in die­

sem Fall den Parzellenbauern), dem »Vertreter« (Louis

Napoleon) und dem historisch-politischen Phänomen

(Exekutivgewalt) - impliziert nicht nur eine Kritik des

Subjekts als eines individuellen Handlungsträgers, son­

dern sogar eine Kritik der Subjektivität einer kollektiven

Handlungsfähigkeit. Die notwendigerweise dislozierte

Maschine der Geschichte ist in Bewegung, weil »die Die~

selbigkeit [der] Interessen« dieser Parzellenbauern

»keine Gemeinsamkeit, keine nationale Verbindung und

keine politische Organisation unter ihnen erzeugt«. Das

32

Ereignis der Repräsentation als Vertretung" (in der Kon­

stellation der Rhetorik-als-Überzeugung) verhält sich

wie eine Darstellung''" (oder Rhetorik-als-Trope), sie be­

zieht ihren Ort im Zwischenraum zwischen der Formie­

rung einer (deskriptiven) Klasse und der Nicht-Formie­

rung einer (transformativen) Klasse: »Insofern Millionen

von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen

leben, die ihre Lebensweise [ ... ] trennen, bilden sie eine

Klasse. Insofern [ ... ] die Dieselbigkeit ihrer Interessen

keine Gemeinsamkeit [ ... ] erzeugt, bilden sie keine

Klasse.« Die Komplizität von Vertreten" und Dar­

stellen"", ihre Identität-in-Differenz als Ort der Praxis -

denn diese Komplizität ist genau das, was Marxistlnnen

darlegen müssen, wie Marx es im Achtzehnten Brumaire

tut -, kann nur zu Bewusstsein gelangen, wenn die bei­

den nicht durch einen Taschenspielertrick in einem Wort

zusammengefasst werden.

Es wäre nur tendenziös, wollte man argumentieren, dass

eine solche Lektüre Marx zu sehr textualisiere und ihn

dem gewöhnlichen Menschen [common »man«] unzu­

gänglich mache, der als Opfer des gesunden Menschen­

verstands [common sense] so tief in einem Erbe des Posi­

tivismus verwurzelt sei, dass die irreduzible Betonung,

die Marx auf die Arbeit des Negativen, die Notwendig­

keit einer Entfetischisierung des Konkreten legt, ihm be­

harrlich durch die stärkste Widersacherin, die in der Luft

hängende »geschichtliche Tradition«, entrissen werde. 18

Ich habe herauszustellen versucht, dass der ungewöhnli­

che Mensch [uncommon »man«], der gegenwärtige Phi­

losoph der Praxis, zuweilen denselben Positivism,us zur Schau stellt. "__.

Der Ernst des Problems ist offenkundig, sofern man zu­

stimmt, dass die Entwicklung eines transformativen

Klassen-»Bewusstseins« aus einer deskr~tiven Klassen­

»Position« bei Marx keine Aufgabe ist, welche die

grundlegende Ebene des Bewusstseins involviert. Klas-

33

Page 12: Can the Subaltern Speak(Dt)

senbewusstsein bleibt mit der Gemeinsamkeit verbun­

den, die der nationalen Verbindung und politischen Or­ganisationen zugehört, nicht mit jener anderen Gemein­

samkeit, deren Strukturmodell die Familie ist. Obwohl sie nicht mit der Natur identifiziert wird, findet sich die

Familie hier in eine Konstellation mit dem gerückt, was Marx unter dem Begriff »Austausch mit der Natur«

fasst, der philosophisch gesprochen einen »Platzhalter« für den Gebrauchswert bildet.19 Der »Austausch mit der Natur« wird durch den »Verkehr mit der Gesellschaft«

kontrastiert, wobei »Verkehr« das von Marx üblicher­

weise verwendete Wort für »Handel« ist. Dieser »Ver­kehr« nimmt also den Platz jenes Austauschs ein, der zur

Mehrwertproduktion führt, und eben im Bereich dieses

Verkehrs muss die Gemeinsamkeit entwickelt werden, die zur Handlungsfähigkeit als Klasse führt. Volle Hand­

lungsfähigkeit als Klasse (wenn es dergleichen gäbe) ist keine ideologische Transformation des Bewusstseins auf grundlegender Ebene, keine Begehrensidentität von

Handlungsträgerlnnen und deren Interessen - jene Iden­

tität, deren Abwesenheit Foucault und Deleuze Um­stände bereitet. Es ist eine streitbare Ersetzung sowie

eine Aneignung (eine Supplementierung) von etwas, das von Anfang an »künstlich« ist- »ökonomische Existenz­

bedingungen, die ihre Lebensweise trennen«. Marx' For­

mulierungen zeigen eine behutsame Rücksicht auf die

aufkeimende Kritik der individuellen und kollektiven Handlungsfähigkeit. Die Entwürfe des Klassenbewusst­

seins und der Transformierung des Klassenbewusstseins sind für ihn getrennte Themen. Umgekehrt stellen gegen­

wärtige Beschwörungen einer »libidinalen Ökonomie« und des Begehrens als bestimmendes Interesse - in Kom­

bination mit der praktischen Politik der Unterdrückten (unter der Bedingung sozialisierten Kapitals), die »für

sich selbst sprechen« - die Kategorie des souveränen

34

Subjekts im Rahmen jener Theorie wieder her, die diese Kategorie am meisten in Frage zu stellen scheint.

Zweifellos ist der Ausschluss der Familie, und sei es auch einer Familie, die einer spezifischen Klassenformation

angehört, Teil des männlich geprägten Rahmens, inner­

halb dessen der Marxismus seine Geburt verzeichnet.20

Historisch wie auch in der globalen politischen Ökono­mie unserer Tage stellt sich die Rolle der Familie in patri­

archalen gesellschaftlichen Verhältnissen als dermaßen heterogen und angefochten dar, dass die bloße Ersetzung

der Familie in dieser Problematik nicht den Rahmen auf­

brechen wird. Ebenso wenig liegt die Lösung in der posi­tivistischen Inklusion einer monolithischen Kollektivität

von »Frauen« in die Liste der Unterdrückten, deren un­gebrochene Subjektivität es erlaubt, dass sie - gegen ein

gleichermaßen monolithisches »System der Selbigkeit« [an equally monolithic »same system«] - für sich selbst sprechen.

Im Zusammenhang mit der Entwicklung eines strategi­

schen und künstlichen »Bewusstseins«, eines »Bewusst­seins« auf zweiter Ebene, verwendet Marx den Begriff

des Patronymischen, und zwar immer im Rahmen des breiteren Begriffs der Repräsentation als Vertretung":

Die Parzellenbauern »sind daher unfähig, ihr Klassenin­teresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei

es durch einen Konvent geltend zu machen«. Dem Man­

gel an einem nicht-familialen, künstlichen kollektiven Namen wird durch den einzigen Eigennamen abgehol­fen, den die »geschichtliche Tradition« bereitstellen kann

- durch das Patronymische selbst, den Namen des Va­

ters: »Durch die geschichtliche Tradition ist der Wunder­glaube der französischen Bauern entstanden, dass ein

Mann namens Napoleon ihnen alle Herrlichkeit wieder­bringen werde. Und es fand sich ein Individuum [an indi­

vidual turned up]« - das unübersetzbare »es fand sich« (es fand sich selbst ein Individuum? [there found itself an

35

Page 13: Can the Subaltern Speak(Dt)

individual?]) zertrümmert alle Fragen nach der Hand­lungsfähigkeit oder der Verbindung der Handlungsträge­

rinnen mit ihren Interessen - »das sich für diesen Mann ausgibt« (diese Vortäuschung ist im Kontrast dazu seine

einzige eigene Handlungsfähigkeit), »weil es den Namen Napoleon trägt [trägt'' - das Wort, das für das Verhält­

nis des Kapitalisten zum Kapital verwendet wird], in­folge des Code Napoleon, der anbefiehlt: >La recherche

de la paternite est interdite.< [>Die Erforschung der Vater­schaft ist untersagt.<]« Wenn Marx auch im Rahmen ei­

ner patriarchalen Metaphorik zu arbeiten scheint, so

sollte doch auf die textuelle Subtilität der Passage hinge­

wiesen werden. Es ist das Gesetz des Vaters (der Code

Napoleon), das paradoxerweise die Suche nach dem natürlichen Vater verbietet. Somit entspricht es einer strikten Einhaltung des historischen Gesetzes des Vaters,

dass dem Glauben der formierten und doch unformier­ten Klasse an den natürlichen Vater abgeschworen wird.

Ich habe mich deswegen so lange bei dieser Marx-Pas­

sage aufgehalten, weil sie die innere Dynamik der Vertre­

tung" offen legt, der Repräsentation im politischen Zu­

sammenhang. Repräsentation im ökonomischen Zusam­menhang ist Darstellung''., gemäß dem philosophischen

Begriff der Repräsentation als Inszenierung oder sogar Bedeutungsgebung, der sich auf indirekte Weise auf das

geteilte Subjekt bezieht. Die offensichtlichste Stelle ist wohlbekannt: »Im Austauschverhältnis der Waren selbst

erschien uns ihr Tauschwert als etwas von ihren Ge­brauchswerten durchaus Unabhängiges. Abstrahiert

man nun wirklich vom Gebrauchswert der Arbeitspro­dukte, so erhält man ihren Wert, wie er eben bestimmt

ward. Das Gemeinsame, was sich im Austauschverhält­nis oder Tauschwert der Ware darstellt [represents itselfj,

ist also ihr Wert.«21

Marx zufolge wird im Kapitalismus der Wert, wie er in

notwendiger Arbeit und Mehrarbeit produziert wird, als

Repräsentation/Zeichen der vergegenständlichten Arbeit

(die von der menschlichen Tätigkeit streng unterschieden

wird) veranschlagt. Umgekehrt muss die kapitalistische Ausbeutung, wo eine Theorie der Ausbeutung als Ex­

traktion (Produktion), Aneignung und.Verwirklichung von (Mehr-)Wert als Repräsentation von Arbeitskraft

fehlt, als eine Spielart von Herrschaft (der Mechanik der Macht als solcher) angesehen werden. »[B]esonders der

Marxismus«, sagt Deleuze, »hat das Problem [dass Macht diffuser ist als die Struktur der Ausbeutung und

die Ausformung des Staats] in Interessensbegriffen be­

stimmt (die Macht hat eine durch ihre Interessen be­stimmte herrschende Klasse inne)« (PD, S. 391).

Gegen diese minimalistische Zusammenfassung von Marx' Entwurf ist nichts einzuwenden, und ebenso we­

nig kann ignoriert werden, dass Deleuze und Guattari in Teilen des Anti-Ödipus ihre Argumentation auf einem

brillanten, wenn auch »poetischen« Verständnis von Marx' Theorie der Geldform aufbauen. Wir könnten un­

sere Kritik jedoch auf die folgende Art und Weise ver­

stärken: Das Verhältnis zwischen dem globalen Kapita­lismus (ökonomische Ausbeutung) und nationalstaatli­chen Allianzen (geopolitische Herrschaft) ist dermaßen

makrologisch, dass es die mikrologische Textur der Macht nicht erklären kann. Um sich einer solchen Er­klärung anzunähern, muss man sich Theorien der Ideo­

logie zuwenden - also Theorien von Subjektformatio­nen, die mikrologisch und in oft unberechenbarer Weise

die Interessen betreiben, die zur Verhärtung der Makro­logien führen. Solche Theorien können es sich nicht lei­

sten, die Kategorie der Repräsentation in ihren zwei Be­deutungen zu übersehen. Sie müssen davon Notiz neh­

men, wie die Inszenierung der Welt in der

Repräsentation - die Bühne, auf der sie geschrieben wird, ihre Darstellung" - die Wahl und das Bedürfnis

37

Page 14: Can the Subaltern Speak(Dt)

nach »Helden«, väterlichen Stellvertretern, Agenten der

Macht verschleiert - Vertretung''.

Eine radikale Praxis sollte meines Erachtens diesem dop­

pelten Modus der Repräsentationen Beachtung schen­ken, anstatt das individuelle Subjekt über totalisierende

Konzepte von Macht und Begehren erneut einzuführen.

Ebenso bin ich der Ansicht, dass Marx, indem er den Be­reich der Klassenpraxis auf einer zweiten Abstraktionsebe­

ne beließ, in Wirklichkeit die (Kantische und) Hegel'sche

Kritik des individuellen Subjekts als Handlungsträgerln

offen hielt. 22 Diese Sichtweise zwingt mich nicht zu einer

Verkennung des Umstands, dass sich Marx einer uralten Ausflucht bedient, wenn er Familie und Muttersprache

implizit als grundlegende Ebene definiert, auf der Kultur und Konvention die Art und Weise zu sein scheinen, wie die Natur selbst »ihre« eigene Subversion organisiert.23

Im Zusammenhang poststrukturalistischer Ansprüche

darauf, eine kritische Praxis zu sein, scheint dieses Pro­blem leichter zu beheben als die klammheimliche Wie­

dereinsetzung eines subjektiven Essenzialismus. Die Reduktion von Marx auf eine wohlwollende, jedoch

überholte Figur dient zumeist dem Interesse, eine neue

Theorie der Interpretation zu lancieren. Im Gespräch zwischen Foucault und Deleuze scheint es darum zu ge­

hen, dass es keine Repräsentation, keinen Signifikanten gibt. (Sollte davon ausgegangen werden, dass der Signifi­

kant bereits entsorgt ist? Es gibt mithin keine Zeichen­

struktur, die die Erfahrung bestimmt, und wir können also die Semiotik verabschieden?) Die Theorie ist eine Schaltstelle der Praxis (womit Probleme der theoreti­

schen Praxis verabschiedet werden), und die Unter­

drückten können für sich selbst wissen und sprechen. Dadurch wird das konstitutive Subjekt auf zumindest

zwei Ebenen wieder eingeführt: als Subjekt des Begeh­rens und der Macht im Sinne einer unhintergehbaren

methodologischen Voraussetzung; sowie als Subjekt der

Unterdrückten, das sich selbst am nächsten, wenn nicht

sogar mit sich selbst identisch ist. Ferner werden die In­tellektuellen, die keines dieser S/Subjekte sind, als durch­

laufene Schaltstelle transparent, denn sie berichten bloß vom nicht-repräsentierten Subjekt und analysieren (ohne

zu analysieren) die Arbeitsweisen von Macht und Begeh­ren (bzw. von jenem ungenannten Subjekt, das durch

Macht und Begehren irreduzibel vorausgesetzt wird). Die produzierte Transparenz markiert den Ort des »In­

teresses«; sie wird durch eine vehemente Verneinung auf­rechterhalten: »Nun ist aber diese Position des Schieds­

richters, des Richters oder des universellen Zeugen eine

Rolle, der ich mich uneingeschränkt verweigere [ ... ] «

(Sehr III, S. 40). Eine Verantwortung, in der Kritikerin­

nen stehen, könnte darin gesehen werden, so zu lesen und zu schreiben, dass die Unmöglichkeit solch interes­

segeleiteter individualistischer Verweigerungen gegen­

über den dem Subjekt verliehenen institutionellen Privi­legien der Macht ernst genommen wird. Die Verweige­

rung gegenüber dem Zeichensystem blockiert den Weg zu einer ausgearbeiteten Ideologietheorie. Auch hier lässt sich der eigentümliche Tonfall der Verneinung verneh­

men: Auf Jacques-Alain Millers Andeutung, dass »die

Institution [ ... ] etwas Diskursives« sei, antwortet Fou­cault: »Wenn du so willst, doch für meine Sache mit dem

Dispositiv ist es nicht so sehr wichtig, ob es heißt: Dies da ist diskursiv, dies da ist es nicht. [ ... ] mein Problem

[ist] ja kein sprachliches« (Sehr III, S. 396). Warum diese Verschmelzung von Sprache und Diskurs von Seiten des Meisters der Diskursanalyse?

Edward W. Saids Kritik an Foucaults Machtbegriff als

einer fesselnden und mystifizierenden Kategorie, die es ihm erlaubt, »die Frage zu ignorieren, welche Rolle Klas­

sen, welche Rolle die Ökonomie, welche Rolle Aufstand und Rebellion [ ... ] spielen«, ist hier von besonderer Re­

levanz. 24 Ich füge der Analyse von Said den Begriff des

39

Page 15: Can the Subaltern Speak(Dt)

heimlichen Subjekts von Macht und Begehren hinzu,

markiert durch die Transparenz des Intellektuellen. Selt­

sam genug, dass Paul Bove an Said dessen Betonung der

Bedeutung der Intellektuellen beanstandet, während

»Foucaults Projekt im Wesentlichen eine Herausforde­

rung gegenüber der führenden Rolle sowohl hegemonia­

ler als auch oppositioneller Intellektueller ist« 25• Ich

habe angedeutet, dass diese »Herausforderung« genau

deshalb in die Irre führt, weil sie das verkennt, was Said

unterstreicht - nämlich die institutionelle Verantwortung

der Kritikerlnnen.

Das S/Subjekt, das über Verneinungen auf wundersame

Weise zu einer Transparenz zusammengeflickt wird,

gehört der Seite der Ausbeutung innerhalb der interna­

tionalen Arbeitsteilung an. Zeitgenössischen französi­

schen Intellektuellen ist es nicht möglich, sich jene Art

von Macht und Begehren vorzustellen, die dem namen­

losen Subjekt von Europas Anderem/r innewohnen mag.

Nicht nur dass alles, was sie gelesen haben, sei es kritisch

oder unkritisch, innerhalb der Debatte der Erzeugung

dieses/r Anderen gefangen ist, indem es die Konstitution

des Subjekts als Europa unterstützt oder kritisiert. Es

geht auch darum, dass die textuellen Ingredienzien, mit

denen ein solches Subjekt seinen Werdegang besetzen

konnte, in der Konstitution dieses/r Anderen von Europa

mit großer Sorgfalt verwischt wurden, und zwar nicht

nur durch ideologische und wissenschaftliche Produk­

tion, sondern auch durch die Institution des Rechts. Wie

reduktionistisch eine ökonomische Analyse auch immer

scheinen mag, die französischen Intellektuellen vergessen

auf eigene Gefahr, dass diese ganze überdeterminierte

Unternehmung im Interesse einer dynamischen ökono­

mischen Situation erfolgte, die danach verlangte, dass In­teressen, Motive (Begehren) und Macht (des Wissens)

rücksichtslos disloziert werden. Diese Dislozierung nun­

mehr als eine radikale Entdeckung zu beschwören, die

uns zur Diagnose des Ökonomischen (der Existenzbe­

dingungen, die »Klassen« auf deskriptiver Ebene sepa­

rieren) als Bestandstück einer überholten analytischen

Maschinerie bewegen soll, könnte darauf hinauslaufen,

die Arbeit dieser Dislozierung fortzusetzen und unwis­

sentlich zu »einer neuen Balance hegemonialer Beziehun­

gen «26 beizutragen. Ich werde auf dieses Argument

gleich noch zurückkommen. Angesichts der Möglichkeit,

dass Intellektuelle zu Komplizinnen in der beharrlichen

Konstituierung des/der Anderen als Schatten des Selbst

werden, könnte eine Möglichkeit der politischen Praxis

für die intellektuelle Welt darin bestehen, das ökonomi­

sche als »durchgestrichen« anzusetzen und den ökono­

mischen Faktor zugleich als irreduzibel anzusehen, zu­

mal er sich, selbst als durchgestrichener und wie unvoll­

kommen auch immer, aufs Neue in den sozialen Text

einschreibt, wenn er die letzte Determinante oder das

transzendentale Signifikat zu sein beansprucht.27

Page 16: Can the Subaltern Speak(Dt)

II

Das klarste Beispiel für eine solche epistemische Gewalt ist das aus der Distanz orchestrierte, weitläufige und he­

terogene Projekt, das koloniale Subjekt als Anderes zu konstituieren. Dieses Projekt bedeutet auch die asymme­

trische Auslöschung der Spuren dieses Anderen in seiner

prekären Subjekt-ivität bzw. Unterworfenheit. Bekannt­lich siedelt Foucault epistemische Gewalt, eine komplette

Überarbeitung der Episteme, in der Neudefinition von geistiger Gesundheit an, die am Ende des europäischen

18. Jahrhunderts vollzogen wird.28 Aber was wenn diese

partielle Neudefinition nur ein Teil des Narrativs der Ge­schichte in Europa wie auch in den Kolonien wäre? Was wenn die beiden Projekte einer epistemischen Überarbei­

tung als dislozierte und uneingestandene Teile einer im­mensen zweiarmigen Maschine [two-handed engine] ge­

arbeitet hätten? Vielleicht liefe dies lediglich auf die For­

derung hinaus, dass der Subtext des palimpsestischen Narrativs des Imperialismus als »unterworfenes Wissen«

anerkannt wird, als »eine ganze Reihe von Wissen, die als nicht-begriffliches Wissen, als unzureichend ausgear­

beitetes Wissen abgewertet wurden: naive, am unteren Ende der Hierarchie angesiedelte Wissen, Wissen unter­

halb des verlangten Kenntnisstandes und des erforderli­

chen Wissenschaftsniveaus« (VG, S. 15). Es geht mir hier nicht um eine Beschreibung dessen, »wie es eigentlich gewesen«, noch auch um die Behauptung,

das Narrativ der Geschichte als Imperialismus sei als be­

ste Version der Geschichte zu privilegieren.29 Es geht mir vielmehr darum, zu zeigen, wie eine Erklärung bzw. ein Narrativ der Realität als normativ etabliert wurde. Be­

trachten wir, um dies weiter auszuführen, kurz den Un­

terbau der britischen Kodifizierung des Hindu-Gesetzes.

42

Zuerst einige Vorbehalte: In den Vereinigten Staaten ist der Diskurs über die »Dritte Welt«, der in den Geistes­

wissenschaften vorherrscht, oft offen ethnisch verfasst.

Ich wurde in Indien geboren und habe dort meine Grund- und Sekundarschulausbildung ebenso erhalten

wie meine universitäre Ausbildung samt zwei Jahren postgradualem Studium. Mein indisches Beispiel könnte

also als nostalgische Erforschung der verlorenen Wur­zeln meiner Identität angesehen werden. Ich würde den­

noch - und obwohl ich weiß, dass man das Dickicht der »Motivationen« nicht ungehindert betreten kann - be­

haupten, dass mein primäres Projekt darin besteht, die

positivistisch-idealistische Variante einer solchen Nostal­gie herauszustellen. Ich wähle indisches Material, weil

mir der Zufall von Geburt und Bildung, ohne dass ich über eine disziplinenspezifische Ausbildung verfügen

würde, ein Gefühl für den historischen Gesamtzusam­menhang sowie die Kenntnis einiger der relevanten Spra­

chen an die Hand gibt, die für einen bricoleur hilfreiche Instrumente sind - besonders dann, wenn man mit einem

marxistischen Skeptizismus bezüglich der konkreten Er­fahrung als letztgültiger Instanz und einer Kritik an Dis­ziplinenformierungen bewaffnet ist. Dennoch kann der

indische Fall nicht als repräsentativ für alle Länder, Na­tionen, Kulturen etc. angesehen werden, die als das An­

dere von Europa - als Selbst - angeführt werden mögen. Nun zur schematischen Zusammenfassung der epistemi­

schen Gewalt, die in der Kodifizierung des Hindu-Geset­zes liegt. Wenn sich der Begriff der epistemischen Gewalt

auf diese Weise verdeutlichen lässt, so kann dies meiner abschließenden Diskussion des Witwenopfers zusätzliche

Signifikanz verleihen. Ende des 18. Jahrhunderts hat das Hindu-Gesetz, sofern

es sich als einheitliches System beschreiben lässt, mit vier Textsorten gearbeitet; diese »inszenierten« eine viertei­

lige Episteme, welche durch den Gebrauch des Gedächt-

43

Page 17: Can the Subaltern Speak(Dt)

nisses durch das Subjekt definiert wurde: .§ruti (das

Gehörte), smrti (das Erinnerte), Sitstra (das von anderen

Gelernte) und vyavahära (das im Austausch Vollzogene).

Die Ursprünge dessen, was gehört und erinnert wurde,

bildeten nicht notwendigerweise einen Zusammenhang

oder eine Identität. Technisch gesehen rezitierte jede An­

rufung von .fruti das Ereignis des ursprünglichen

»Hörens« oder der Offenbarung (bzw. eröffnete dieses

Ereignis aufs Neue). Die letzteren beiden Texte - das Ge­

lernte und das Vollzogene - wurden als in einem dialek­

tischen Zusammenhang stehend angesehen. Rechtstheo­

retiker und Leute, die das Recht zur Anwendung brach­

ten, waren sich in keinem Fall sicher, ob diese Struktur

das Gesetzeskorpus beschrieb oder vier Arten der

Schlichtung von Auseinandersetzungen. Die Legitima­

tion der polymorphen Struktur der Rechtsausübung, die

»in ihrem Inneren« nicht-kohärent und aufgrund einer

binären Sichtweise offen an beiden Enden ist, bildet das

Narrativ der Kodifizierung, das ich als ein Beispiel für

epistemische Gewalt anbiete.

Das Narrativ der Stabilisierung und Kodifizierung des

Hindu-Gesetzes ist weniger bekannt als die Geschichte

des indischen Erziehungssystems, weshalb es vielleicht

sinnvoll ist, hiermit anzufangen. 30 Betrachten wir die oft

zitierten programmatischen Zeilen aus Macaulays

berüchtigtem »Minute on Indian Education« (1835):

»Wir müssen gegenwärtig unser Bestes tun, um eine

Klasse von Menschen hervorzubringen, die zwischen uns

und den Millionen, die wir regieren, übersetzen können;

eine Klasse von Personen, die in Blut und Farbe indisch

sind, aber englisch in ihrem Geschmack, ihren Meinun­

gen, ihrer Moral und ihrem Intellekt. Dieser Klasse kön­

nen wir es überlassen, die Landesdialekte zu verfeinern,

diese Dialekte mit wissenschaftlichen, der westlichen

Nomenklatur entlehnten Begriffen anzureichern und sie

nach und nach zu einem guten Instrument für die Ver-

44

mittlung von Wissen an die breite Bevölkerungsmasse zu

machen.« 31 Die Erziehung der kolonialen Subjekte er­

gänzt die Produktion dieser Subjekte durch das Gesetz.

Ein Effekt der Etablierung einer Variante des britischen

Systems bestand in der Entwicklung einer instabilen

Trennung zwischen der Wissens- und Ausbildungsdiszi­

plin der Sanskritstudien und der nativen - nunmehr al­

ternativen - Tradition der Sanskrit-»Hochkultur«. In­

nerhalb der Ersteren entsprachen die durch autoritative

Gelehrte hervorgebrachten kulturellen Erklärungen der

epistemischen Gewalt des Rechtsprojekts.

Hierin verorte ich die Gründung der Asiatic Society of

Bengal im Jahr 1784 und des Indian Institute in Oxford

1883 sowie die analytische und taxonomische Arbeit

von Gelehrten wie Arthur Macdonnell und Arthur Ber­

riedale Keith, die beide Kolonialbeamte und für die

Frage des Sanskrit zuständig waren. Aus ihren zuver­

sichtlichen utilitaristisch-hegemonialen Plänen für Sans­

kritstudenten und -forscher sind weder die aggressive

Repression des Sanskrit im allgemeinen Schulsystem

noch die zunehmende »Feudalisierung« des performati­

ven Gebrauchs von Sanskrit im Alltagsleben des brah­

manisch-hegemonialen Indien auch nur zu erahnen.32

Nach und nach wurde eine Version der Geschichte eta­

bliert, in der die Brahmanen so dargestellt wurden, als

hätten sie dieselben Intentionen wie die kodifizierenden

Briten (die auf diese Weise legitimiert wurden): »Um die

Hindu-Gesellschaft intakt zu halten, mussten [die] Nach­

folger [der ursprünglichen Brahmanen] alles auf Schrift

reduzieren und sie immer rigider machen. Und das ist es,

was die Hindu-Gesellschaft erhalten hat, trotz einer

Reihe von politischen Aufständen und Invasionen von

außen.« 33 Das ist das 1925 geäußerte Urteil des indi- -·

sehen Sanskritgelehrten Mahamahopadhyaya Harapra­

sad Shastri, eines hervorragenden Repräsentanten der in­

digenen Elite innerhalb der kolonialen Produktion, der

45

Page 18: Can the Subaltern Speak(Dt)

gebeten worden war, mehrere Kapitel einer »Geschichte

Bengalens« zu schreiben, entworfen 1916 vom Privatse­kretär des Generalgouverneurs von Bengalen. 34 Um die

Asymmetrie in der Beziehung zwischen Autorität und Erklärung anzudeuten (abhängig von der »Rasse«­

Klasse der Autorität), werfen wir noch einen verglei­chenden Blick auf die folgende Bemerkung von Edward

Thompson, einem englischen Intellektuellen, aus dem Jahr 1928: »Der Hinduismus war, was er zu sein schien.

[„.] Eine höhere Zivilisation hat ihn besiegt, sowohl im Falle Akbars als auch im Falle der Engländer.« 35 Und zu­

sätzlich sei noch der Brief eines englischen Soldaten-Ge­

lehrten aus den 1890ern erwähnt: »Das Studium des Sanskrit, >der Sprache der Götter<, hat mir in meinen

letzten 25 Jahren in Indien großes Vergnügen bereitet, aber es hat mich, wie ich dankbar sagen kann, nicht -

wie so manche andere - dahin geführt, meinen herzli­chen Glauben an unsere eigene große Religion aufzuge­ben. «36

Diese Autoritäten sind die allerbesten der Quellen, die

den nicht-spezialisierten französischen Intellektuellen als Zugang zur Zivilisation der Anderen zur Verfügung ste­hen. 37 Ich beziehe mich hier indes nicht auf Intellektuelle

und Wissenschaftler der postkolonialen Produktion wie

Shastri, wenn ich sage, dass der/die Andere als Subjekt Foucault und Deleuze unzugänglich bleiben. Ich denke

an die allgemeine nicht-spezialisierte, nicht-akademische

Bevölkerung quer durch das Klassenspektrum, für die die Episteme ihre lautlose programmierende Funktion

ausübt. Ohne die Landkarte der Ausbeutung zu berück­sichtigen, auf welchem Raster der »Unterdrückung«

würden sie diesen bunten Haufen einordnen? Wenden wir uns nun einer Betrachtung der Ränder (man

könnte genauso gut sagen, des lautlosen, zum Schweigen gebrachten Zentrums) des Kreislaufs zu, der durch diese

epistemische Gewalt angezeigt wird, nämlich den Män-

nern und Frauen der illiteraten bäuerlichen Bevölkerung, den Stammesangehörigen, der untersten Schicht des

städtischen Subproletariats. Laut Foucault und Deleuze

können (in der Ersten Welt, in einer Situation der Stan­dardisierung und Reglementierung von sozialisiertem

Kapital, obwohl sie das nicht zu erkennen scheinen) die Unterdrückten, sofern ihnen die Möglichkeit dazu gege­

ben wird (das Problem der Repräsentation kann hier nicht umgangen werden), und auf dem Weg zu einer durch Allianzpolitik geschaffenen Solidarität (eine mar­

xistische Thematik ist hier am Werk), ihre Verhältnisse

aussprechen und erkennen. Wir müssen uns jetzt der fol­genden Frage stellen: Auf der anderen Seite der interna­

tionalen Abspaltung der Arbeit vom sozialisierten Kapi­tal, innerhalb und außerhalb des Kreislaufs der epistemi­

schen Gewalt des imperialistischen Rechts und der

imperialistischen Erziehung, die einen früheren ökono­mischen Text supplementieren - können Subalterne spre­chen?

Antonio Gramscis Arbeit über die »subalternen Klas­

sen« erweitert die Auseinandersetzung mit dem Verhält­nis von Klassenposition und Klassenbewusstsein, die im Achtzehnten Brumaire isoliert vollzogen wird. Gramsci

beschäftigt, vielleicht weil er die avantgardistische Posi­tion des leninistischen Intellektuellen kritisiert, die Rolle

des Intellektuellen in der auf Hegemonie zielenden kultu­

rellen und politischen Bewegung der Subalternen. Diese Bewegung ist notwendig, um die Hervorbringung von

Geschichte als Narrativ (der Wahrheit) zu bestimmen. In Texten wie »Einige Gesichtspunkte zur Frage des Sü­

dens« betrachtet Gramsci die Bewegung der historisch­

politischen Ökonomie in Italien in einem Rahmen, der

als eine Allegorie des Lesens angesehen werden kann, welche auf die internationale Arbeitsteilung hinweist

oder diese ankündigt.38 Dennoch wird eine Bestandsauf­nahme der stufenweisen Entwicklung der Subalternen

47

Page 19: Can the Subaltern Speak(Dt)

nicht gelingen, wenn die Anwendung von Gramscis kul­

tureller Makrologie dem Einfluss der rechtlichen und

disziplinenspezifischen Definitionen, die das imperialisti­

sche Projekt begleiten, auch nur im Entferntesten episte­

misch ausgesetzt bleibt. Wenn ich mich am Ende dieses

Aufsatzes der Frage der Frau als Subalterner zuwende,

werde ich behaupten, dass die Möglichkeit von Kollekti­

vität selbst beharrlich durch die Manipulation weibli­

cher Handlungsfähigkeit abgesperrt wird. Mit dem ersten Teil meiner Feststellung - dass die stufen­

weise Entwicklung der Subalternen durch das imperiali­

stische Projekt kompliziert wird - setzt sich eine Gruppe

von Intellektuellen auseinander, die als »Subaltern Stu­

dies«-Gruppe bezeichnet werden kann.39 Sie müssen fra­

gen: Können Subalterne sprechen? Wir befinden uns hier

in Foucaults eigenster Disziplin, der Geschichte, und ha­

ben es mit Leuten zu tun, die seinen Einfluss anerkennen.

Ihr Projekt besteht darin, die indische Kolonialge­

schichtsschreibung aus der Perspektive der diskontinu­

ierlichen Kette von Bauernaufständen zu überdenken,

die während der kolonialen Besetzung stattfanden. Hier

stehen wir in der Tat vor dem Problem der »Erlaubnis zu

erzählen«, wie es von Said erörtert wurde.40 Ranajit

Guha meint dazu:

»Die Historiographie des indischen Nationalismus war lange Zeit von Elitismus dominiert: einem kolonialistischen Elitis­mus und einem bürgerlich-nationalistischen Elitismus [ ... ],die das Vorurteil teilen, dass die Herausbildung der indischen Na­tion und die Entwicklung des Bewusstseins - des Nationalis­mus -, das diesen Prozess bekräftigte, ausschließlich oder überwiegend eine Elitenleistung darstellten. In den kolonialen und neokolonialen Historiographien werden diese Leistungen den britisch-kolonialen Herrschern, Administratoren und In­stitutionen, ihrer Politik und Kultur zugeschrieben; in den na­tionalistischen und neonationalistischen Schriften dagegen Persönlichkeiten, Institutionen, Aktivitäten und Ideen der in­dischen Elite.« 41

Einige Spielarten der indischen Elite werden im besten

Fall von einheimischen Informantinnen für Intellektuelle

aus der Ersten Welt, die sich für die Stimme des/der An­

deren interessieren, gebildet. Dennoch gilt es darauf zu

bestehen, dass das kolonisierte subalterne Subjekt un­

wiederbringlich heterogen ist.

Der indigenen Elite könnten wir die von Guha so ge­

nannte »Politik des Volkes« [»the politics of the people«] entgegenstellen, und zwar sowohl außerhalb (»es handelte sich um einen autonomen Bereich, da sie

weder durch Elitenpolitik geschaffen wurde noch in ih­

rer Existenz von Letzterer abhing«) als auch innerhalb

(»sie hat trotz des [Kolonialismus] weiterhin kraftvoll

funktioniert, indem sie sich an die unter dem Raj beste­

henden Verhältnisse angepasst hat und in vieler Hinsicht

völlig neue Typen entwickelt hat, sowohl was die Form

als auch was den Inhalt betrifft«) des Kreislaufs kolonia­

ler Produktion.42 Ich kann dieses Beharren auf einer fest­

stehenden Vitalität und voller Autonomie nicht ganz un­

terschreiben, da praktische historiographische Anforde­

rungen eine solche Privilegierung des subalternen

Bewusstseins nicht zulassen. Gegen den möglichen Vor­

wurf, ein solcher Zugang sei essenzialistisch, präsentiert

Guha eine Definition des Volkes [the people] (als des Or­

tes einer solchen Essenz), die nur als Identität-im-Diffe­

renten verstanden werden kann. Er schlägt ein dynami­

sches Stratifikationsraster vor, das die koloniale soziale

Produktion umfassend beschreibt. Die dritte Gruppe auf

der Liste, die sozusagen die Puffergruppe zwischen dem

Volk und den großen makrostrukturellen, dominanten

Gruppen bildet, ist sogar selbst als ein Ort des Dazwi­

schen definiert, mithin als das, was Derrida als »antre«

beschrieben hat43:

49

Page 20: Can the Subaltern Speak(Dt)

Elite 1. Dominante ausländische Gruppen. 2. Dominante einheimische Gruppen auf indienweiter Ebene. 3. Dominante einheimische Gruppen auf regionaler und lokaler Ebene. 4. Die Begriffe »Volk« und »subalterne Klassen« wurden hier durchgehend synonym benutzt. Die sozialen Gruppen und Elemente, die in dieser Kategorie enthalten sind, repräsentieren den demographischen Unterschied zwischen der indischen Gesamtbevölkerung und all ;enen, die wir als „Elite" beschrieben haben.

Betrachten wir den dritten Punkt der Liste - das antre ei­

ner situationsbedingten Unbestimmtheit, das diese vor­sichtigen Historikerlnnen voraussetzen, während sie mit der Frage ringen: Können Subalterne sprechen? »Als

Ganzes und im Abstrakten genommen war [„.] diese

Kategorie [.„] in ihrer Zusammensetzung heterogen und aufgrund des ungleichen Charakters regionaler ökono­

mischer und sozialer Entwicklungen je nach Gebiet un­terschiedlich. Dieselbe Klasse oder dasselbe Element, das

in einer Gegend dominant war [„.], konnte in einer an­deren zu den Dominierten gehören. Das konnte viele

Zweideutigkeiten und Widersprüche in den Haltungen und Allianzen erzeugen und tat es auch, besonders in der

untersten Schicht des ländlichen Adels, bei verarmten

Gutsherren, reichen Bauern und Bauern aus der oberen Mittelklasse, die idealtypisch gesprochen allesamt zur Kategorie des Volkes oder der subalternen Klassen

h.. 44 ge orten.«

»Die Aufgabe der Forschungen«, die hier entworfen

wird, besteht darin, »die spezifische Natur und das Maß der Abweichung der [Punkt 3 konstituierenden] Ele­

mente vom Ideal zu untersuchen, zu identifizieren und zu

vermessen, sowie sie historisch zu situieren. « »Das Spe­zifische untersuchen, identifizieren und vermessen«:

essenzialistischer und taxonomischer könnte ein Pro-

gramm kaum sein. Dennoch ist hier ein eigenartiger me­thodologischer Imperativ am Werk. Ich habe argumen­

tiert, dass sich im Gespräch zwischen Foucault und

Deleuze hinter einem postrepräsentationistischen Voka­bular eine essenzialistische Programmatik versteckt. Im

Falle der Subaltern Studies muss - aufgrund der Gewalt der epistemischen, sozialen und disziplinären Einschrei­

bung des Imperialismus - ein in essenzialistischen Begrif­fen konzipiertes Projekt mit radikalen Textpraxen der

Differenz arbeiten. Der Untersuchungsgegenstand der Gruppe, der in diesem Fall nicht einmal das Volk als sol­

ches, sondern die flottierende Pufferzone einer regiona­len subalternen Elite betrifft, ist eine Abweichung von ei­

nem Ideal - dem Volk oder den Subalternen-, das sei­nerseits als Differenz zur Elite definiert ist. Die

Forschungen sind auf diese Struktur hin ausgerichtet und

lassen ein heikles Problem zutage treten, das sich von der selbst-diagnostizierten Transparenz linker Intellektueller der Ersten Welt einigermaßen unterscheidet. Welche Ta­

xonomie kann einen solchen Raum fixieren? Ob dies in­

nerhalb der Subaltern Studies selbst wahrgenommen wird oder nicht (in Wahrheit verortet Guha seine Defini­tion »des Volks« innerhalb einer Herr-Knecht-Dialek­

tik): ihr Text artikuliert die schwierige Aufgabe, seine

eigenen Unmöglichkeitsbedingungen als Bedingungen seiner Möglichkeit neu zu schreiben.

»Auf den regionalen und lokalen Ebenen haben [die do­minanten indigenen Gruppen] [„.], wenn sie sozialen

Schichten angehörten, die jenen der dominanten indien­weiten Gruppen hierarchisch untergeordnet waren, im

Interesse der letzteren und nicht in Übereinstimmung mit Interessen, die ihrem sozialen Wesen wirklich ent­

sprochen hätten, gehandelt.« Wenn diese Autorlnnen in ihrer essenzialisierenden Sprache von einer Kluft zwi­

schen Interesse und Handeln in der Zwischengruppe

sprechen, dann stehen ihre Schlussfolgerungen Marx

51

Page 21: Can the Subaltern Speak(Dt)

näher als der bewussten Naivität der diesbezüglichen

Äußerungen von Deleuze. Wie Marx spricht Guha von

Interesse eher im Sinne der sozialen als der libidinösen

Existenz. Die Vorstellung des Namens-des-Vaters im

Achtzehnten Brumaire kann hilfreich sein, wenn es um

die Betonung der Tatsache geht, dass eine »wirkliche

Übereinstimmung mit der eigenen Existenz« auf der

Ebene von Klassen- und Gruppenhandlungen so künst­

lich oder sozial ist wie das Patronym.

So viel zur Zwischengruppe, die unter Punkt 3 angespro­

chen wird. Was die »wahre« subalterne Gruppe anbe­

langt, deren Identität ihre Differenz ist, so gibt es hier

kein nicht-repräsentierbarcs subalternes Subjekt, das

selbst wissen und sprechen kann; die Lösung der Intel­

lektuellen besteht nicht darin, sich der Repräsentation zu

enthalten. Das Problem ist, dass der Werdegang des Sub­

jekts nicht in einer Weise verzeichnet worden ist, die es

den repräsentierenden Intellektuellen als Objekt der Ver­

führung anböte. In der etwas veralteten Sprache der in­

dischen Gruppe wird die Frage folgendermaßen formu­

liert: Wie können wir an das Bewusstsein von Menschen

rühren, während wir doch ihre Politik untersuchen? Mit

welchem Stimmbewusstsein [voice-consciousness] kön­

nen Subalterne sprechen? Das Projekt der Gruppe be­

steht letztendlich darin, die Entwicklung des Bewusst­

seins der indischen Nation neu zu schreiben. Die plan­

volle Diskontinuität des Imperialismus unterscheidet

dieses Projekt, wie altmodisch auch immer es artikuliert

sein mag, rigoros von dem Vorhaben, »die medizinische

und gerichtliche Maschinerie sichtbar [zu] machen [ ... ],

die [die] Geschichte [von Pierre Riviere] umgab« (Sehr

II, S. 927). Korrekterweise führt Foucault aus: »[ ... ]das

sehen zu lassen, was nicht gesehen wurde, das kann

heißen, dass man die Ebene verschiebt, sich an eine

Ebene wendet, die bis dahin historisch nicht einschlägig

war, die keine Bewertung hatte, weder moralisch noch

ästhetisch, noch politisch, noch historisch« (Sehr II, S. 928).

Es ist die Verschiebung vom Sichtbarmachen eines Me­

chanismus zum Stimmhaftmachen des Individuums - in

beiden Fällen »eine psychologische, psychoanalytische

oder linguistische Analyse [des Subjekts]« (Sehr II, S.927)

vermeidend-, die durchwegs problematisch ist.

Die Kritik von Ajit K. Chaudhury, einem westbenga­

lischen Marxisten, an Guhas Suche nach einem sub­

alternen Bewusstsein kann als Moment des Produk­

tionsprozesses gesehen werden, der die Subalternen mit

einschließt. Chaudhurys Beobachtung, dass die marxisti­

sche Sicht der Veränderung des Bewusstseins das Wissen

um soziale Beziehungen beinhaltet, scheint mir im Prin­

zip durchaus scharfsinnig zu sein. Dennoch nötigt ihm

das Erbe der positivistischen Ideologie, die sich den

orthodoxen Marxismus angeeignet hat, den folgenden

Zusatz ab: »Damit soll nicht heruntergespielt werden,

dass es wichtig ist, das Bewusstsein der Landbevölke­

rung oder das Arbeiterbewusstsein in seiner reinen Form

zu verstehen. Es bereichert unser Wissen über Bauern

und Arbeiter und wirft möglicherweise ein Licht darauf,

wie ein bestimmter Modus in unterschiedlichen Regio­

nen unterschiedliche Gestalten annimmt, was im klassi­

schen Marxismus als zweitrangiges Problem betrachtet wird.« 45

Diese Spielart des »internationalistischen« Marxismus,

die an eine reine, wiederzuerlangende Form des Bewusst­

seins glaubt, nur um sie wieder zu verwerfen, und damit

das verschließt, was bei Marx Momente des produktiven

Staunens sind, kann den Gegenstand der Foucault'schen

und Deleuze'schen Ablehnung des Marxismus bilden

und zugleich die Quelle der kritischen Motivation der

Subaltern-Studies-Gruppe. Alle drei sind in der An­

nahme vereint, dass es eine reine Form des Bewusstseins

tatsächlich gibt. In Frankreich erleben wir ein Herum­

schieben der Signifikanten: »Das Unbewusste« oder

53

Page 22: Can the Subaltern Speak(Dt)

»das Subjekt-in-der-Unterdrückung« füllen klammheim­

lich den Raum der »reinen Form des Bewusstseins« aus. Im orthodoxen »internationalistischen« Marxismus, ob

in der Ersten oder in der Dritten Welt, bleibt die reine

Form des Bewusstseins ein idealistisches Grundgestein,

das ihm - zumal es als zweitrangiges Problem abgetan wird - oftmals den Vorwurf des Rassismus oder Sexis­

mus einbringt. In der Subaltern-Studies-Gruppe bedarf dieses Bewusstsein einer weiteren Ausarbeitung, die den

unbedachten Begriffen seiner eigenen Artikulation Rech­

nung trägt. Hinsichtlich einer solchen Artikulation ist eine ent­wickelte Ideologietheorie erneut sehr hilfreich. In einer

Kritik wie jener Chaudhurys führt die Verknüpfung von »Bewusstsein« und »Wissen« zur Auslassung des ent­

scheidenden Mittelbegriffs der »ideologischen Produk­tion«: »Bewusstsein verbindet sich laut Lenin mit einem

Wissen über die Wechselbeziehungen zwischen verschie­

denen Klassen und Gruppen; also einem Wissen über die materiellen Grundlagen der Gesellschaft. [ ... ]Diese Defi­

nitionen nehmen nur im Rahmen der Problematik eines

eindeutig bestimmten Wissensobjekts eine Bedeutung an - um den Wandel in der Geschichte, oder genauer: den Wechsel von einem Modus zu einem anderen, zu verste­

hen, während die Frage nach der Besonderheit eines be­stimmten Modus nicht in Betracht gezogen wird.« 46

Pierre Macherey bietet für die Interpretation von Ideolo­

gie folgende Formel an: »Wichtig in einem Werk ist das, was es nicht sagt. Das läuft nicht auf dasselbe hinaus wie

die voreilige Formulierung >was es zu sagen verweigert<, obwohl bereits das interessant wäre: Darauf könnte eine

Methode aufbauen, die die Aufgabe hätte, das Schwei­gen zu vermessen, ob dieses Schweigen eingestanden

oder uneingestanden ist. Wichtig ist jedoch vielmehr das, was das Werk nicht sagen kann, denn hier, in einer Art

Reise ins Schweigen, spielt sich die Ausformung der

54

Rede ab.<.47 Machereys Ideen lassen sich in Richtungen weiterentwickeln, denen er wohl kaum folgen würde.

Vordergründig ist er mit der Literarizität der Literatur europäischer Provenienz beschäftigt, und doch artiku­

liert er eine Methode, die auf den sozialen Text des Im­

perialismus angewandt werden kann, und zwar gegen den Strich seiner eigenen Argumente. Mag auch bezüg­

lich eines literarischen Werks die Vorstellung von etwas, »was es zu sagen verweigert«, unvorsichtig sein, so kann doch so etwas wie eine kollektive ideologische Verweige­

rung für die kodifizierende Rechtspraxis des Imperialis­

mus diagnostiziert werden. Das würde das Feld öffnen für eine politisch-ökonomische und multidisziplinäre

ideologische Neuschreibung des Terrains. Da dies ein »Welten der Welt« auf einer zweiten Abstraktionsebene

bedeutet, wird ein Konzept der Verweigerung hier plau­

sibel. Die archivalische, historiographische, disziplinen­kritische und unvermeidlich interventionistische Arbeit,

die das mit sich bringt, stellt in der Tat eine Aufgabe dar, die es erfordert, »das Schweigen zu vermessen«. Dies

lässt sich als eine Beschreibung dessen verstehen, was es heißt, die »Abweichung[ ... ] zu untersuchen, zu identifi­

zieren und zu vermessen, sowie sie historisch zu situ­ieren «,und zwar die Abweichung von einem Ideal, das

unhintergehbar differenziell ist. Kommen wir zur Frage des Bewusstseins der Subalter­

nen, die sich in diesem Zusammenhang stellt, so wird die

Vorstellung davon, was eine Arbeit nicht sagen kann, wichtig. In den Semiosen sozialer Texte stehen Darstel­lungen von Aufständen an der Stelle der »Äußerung«.

Der Sender - »der Bauer« - markiert nur den Hinweis

auf ein unwiederbringliches Bewusstsein. Bezüglich des Empfängers müssen wir fragen: Wer ist »der wirkliche

Empfänger« eines »Aufstandes«? Historikerinnen, die »Aufstand« in einen »Text, der für ein Wissen bestimmt ist«, umwandeln, bilden nur eine Art von »Empfängerin-

55

Page 23: Can the Subaltern Speak(Dt)

nen « eines jeglichen kollektiv intendierten sozialen Akts.

Historikerlnnen, die nicht über die Möglichkeit einer

Nostalgie für verlorene Ursprünge verfügen, müssen (so

gut wie möglich) das Geschrei ihres eigenen Bewusst­

seins (oder des Bewusstseinseffekts, der durch eine diszi­

plinenspezifische Ausbildung bewirkt wird) außer Kraft

setzen, damit die Beschreibung des Aufstands, beladen

mit einem Aufstandsbewusstsein, sich nicht zu einem

»Untersuchungsobjekt« oder - schlimmer noch - einem

nachzuahmenden Modell verfestigt. Das von den Texten

des Aufstands implizierte »Subjekt« kann nur als eine

Gegenmöglichkeit zu der narrativen Billigung dienen, die

den kolonialen Subjekten in den dominanten Gruppen

gewährt wird. Die postkolonialen Intellektuellen lernen,

dass ihr Privileg ein Verlust ist, den sie erleiden. Darin ist

ihr Fall für die Intellektuellen paradigmatisch.

Es ist wohlbekannt, dass die Idee des Weiblichen (mehr

als jene der Subalternen des Imperialismus) innerhalb

der dekonstruktiven Kritik sowie bestimmter Spielarten

feministischer Kritik auf eine ähnliche Art und Weise

verwendet wurde.48 Im ersteren Fall steht eine Figur der

»Frau« zur Diskussion; die Minimalaussage, diese Figur

sei unbestimmt, steht bereits der phallozentrischen Tra­

dition zur Verfügung. Subalterne Geschichtsschreibung

wirft Fragen der Methode auf, die sie davon abhalten

würden, sich einer solchen List zu bedienen. Für die »Fi­

gur« der Frau gilt, dass die Beziehung zwischen Frauen

und Schweigen durch Frauen selbst dargestellt werden

kann; »Rassen«- und Klassendifferenzen werden unter

dieses Problem subsumiert. Subalterne Geschichtsschrei­

bung muss sich der Unmöglichkeit solcher Gesten stel­

len. Die enge epistemische Gewalt des Imperialismus gibt

uns eine unvollkommene Allegorie für die allgemeine

Gewalt, die die Möglichkeit einer Episteme ausmacht.49

Innerhalb des ausgelöschten Werdegangs des subalternen

Subjekts ist die Spur der sexuellen Differenz doppelt aus-

gelöscht. Dabei geht es nicht um eine Beteiligung von

Frauen am Aufstand oder um die grundlegenden Regeln

der geschlechtlichen Arbeitsteilung; für beides gibt es

»Beweise«. Vielmehr geht es darum, dass die ideologi­

sche Konstruktion des Geschlechts, sowohl als Objekt

kolonialistischer Geschichtsschreibung als auch als Sub­

jekt des Aufstands, das Männliche in seiner Dominanz

belässt. Wenn die Subalternen im Kontext kolonialer

Produktion keine Geschichte haben und nicht sprechen

können, dann ist die Subalterne als Frau sogar noch tie­

fer in den Schatten gedrängt.

Die heutige internationale Arbeitsteilung stellt eine Ver­

schiebung jenes unterteilten Feldes dar, das durch den

territorialen Imperialismus des 19. Jahrhunderts abge­

steckt wurde. Einfach gesagt: Eine Gruppe von Ländern,

die im Allgemeinen der Ersten Welt angehören, ist in der

Position, Kapital zu investieren; eine andere Gruppe, in

der Regel der Dritten Welt angehörend, bildet das Feld

für mögliche Investitionen, und zwar sowohl durch die

indigenen Kapitalisten, die die Rolle von Kompradoren

übernehmen, als auch durch die schlecht geschützte und

in Veränderung begriffene Arbeitskraft in diesen Län­

dern. Im Interesse einer Aufrechterhaltung von Zirkula­

tion und Wachstum des Industriekapitals (sowie der

damit einhergehenden Aufgabe, die die Verwaltung in­

nerhalb des territorialen Imperialismus des 19. Jahrhun­

derts darstellte) wurden Transportsysteme, ein Gesetzes­

werk und standardisierte Bildungssysteme entwickelt -

während lokale Industrien zerstört, die Landverteilung

neu gestaltet und Rohstoffe in die kolonisierenden Län­

der gebracht wurden. Angesichts der sogenannten Deko­

lonisierung, des Anwachsens von multinationalem Kapi­

tal sowie der Erleichterung des Verwaltungsaufwands

impliziert »Entwicklung« heute weder eine umfassende

Gesetzgebung noch die Errichtung von Bildungssyste­

men in vergleichbarer Art und Weise. Das behindert die

57

Page 24: Can the Subaltern Speak(Dt)

Entwicklung des Konsumismus in den Kompradorlän­dern. Vor dem Hintergrund moderner Telekommunika­

tion und des Aufkommens fortgeschrittener kapitalisti­scher Ökonomien an den beiden Rändern Asiens dient

die Aufrechterhaltung der internationalen Arbeitsteilung

dazu, das Angebot an billiger Arbeitskraft in den Kom­pradorländern zu erhalten.

Es liegt natürlich nicht im Wesen menschlicher Arbeits­kraft, »billig« oder »teuer« zu sein. Die Abwesenheit ar­

beitsrechtlicher Regelungen (bzw. deren diskriminie­rende Umsetzung), totalitäre Staaten (die oftmals die

Folge von Entwicklung und Modernisierung in der Peri­pherie sind) und minimale Subsistenzanforderungen auf

der Seite der Arbeiterlnnen werden dieses Angebot auch weiterhin sicherstellen. Um dieses Schlüsselelement in­

takt zu halten, darf das urbane Proletariat in den Kom­

pradorländern nicht systematisch in der (als Philosophie einer klassenlosen Gesellschaft auftretenden) Ideologie

des Konsumismus ausbildet werden, die gegen alle Wahrscheinlichkeit den Boden dafür bereitet, dass es

durch die von Foucault (FD, S. 392 f.) erwähnte Koaliti­onspolitik zur Ausformung von Widerstand kommt.

Diese Abtrennung von der Ideologie des Konsumismus wird durch das wuchernde Phänomen des internationa­

len Subunternehmertums zunehmend verschlimmert. »Durch diese Strategie vergeben Produzentlnnen, die in

den entwickelten Ländern ansässig sind, Unterverträge

für die arbeitsintensivsten Phasen der Produktion, wie etwa Näharbeit oder Montage, an Nationen der Dritten

Welt, in denen die Arbeitskraft billig ist. Sobald die Gü­ter fertig gestellt sind, reimportiert der multinationale

Konzern sie unter großzügigen Zollbefreiungen in die entwickelten Länder, anstatt sie auf dem lokalen Markt zu verkaufen.« Hier wird die Verbindung zum Training

in Sachen Konsumismus fast vollständig zerrissen.

»Während die globale Rezession seit 1979 Handel und

Investitionen weltweit signifikant verlangsamt hat, flo­

rierte das internationale Subunternehmertum. [ ... ] In diesen Fällen haben multinationale Konzerne mehr Frei­

heit, um militanten Arbeiterinnen, revolutionären Auf­ständen und sogar wirtschaftlichen Abschwüngen stand­

zuhalten. «50

Die Klassenmobilität ist in den Kompradorsettings zu­

nehmend träge. Es überrascht nicht, dass einige Mitglie­

der der indigenen dominanten Gruppen in Komprador­ländern, die Mitglieder der lokalen Bourgeoisie sind, die

Sprache der Allianzpolitik attraktiv finden. Die Identifi­kation mit Formen des Widerstandes, die in fortgeschrit­

tenen kapitalistischen Ländern plausibel sind, passt oft gut mit jener elitistischen Tendenz bürgerlicher Ge­

schichtsschreibung zusammen, die Ranajit Guha be­

schrieben hat. Der Glaube an die Plausibilität globaler Allianzpolitik

findet in den Kompradorländern unter Frauen, die domi­nanten sozialen Gruppen angehören und am »internatio­nalen Feminismus« interessiert sind, weite Verbreitung.

Auf der anderen Seite des Spektrums bilden Frauen aus

dem urbanen Subproletariat jene Gruppe, der jegliche Möglichkeit einer Allianz zwischen »Frauen, Gefängnis­

insassen, wehrpflichtigen Soldaten, Kranken in den Krankenanstalten und Homosexuellen« (FD, S. 393) am

meisten versperrt bleibt. In ihrem Fall werden die Ver­

weigerung und Vorenthaltung des Konsumismus sowie die Ausbeutungsstruktur noch durch patriarchale soziale

Verhältnisse verstärkt. Auf der anderen Seite der interna­tionalen Arbeitsteilung angesiedelt, ist das ausgebeutete

Subjekt nicht in der Lage, den Text weiblicher Ausbeu­tung zu erkennen und auszusprechen, selbst wenn nicht­

repräsentierende Intellektuelle sich absurderweise dazu

versteigen, diesen Frauen einen Raurn zu schaffen, um

selbst zu sprechen. Die Frau ist doppelt in den Schatten

gerückt.

59

Page 25: Can the Subaltern Speak(Dt)

/ Auch das aber ist noch keine umfassende Darstellung

des/der heterogenen Anderen. Außerhalb (wenn auch

nicht gänzlich) des Kreislaufs der internationalen Arbeits­

teilung gibt es Menschen, deren Bewusstsein wir nicht

erfassen können werden, solange wir unser Wohlwollen

mit Konstruktionen eines homogenen Anderen verrie­

geln, die lediglich auf unseren eigenen Platz an der Stätte

des Selben oder des Selbst verweisen. Hier geht es um

Subsistenzbauern und -bäuerinnen, unorganisierte Land­

arbeiterlnnen, Stammesangehörige sowie um die Ge­

meinschaften derer, die überhaupt nicht arbeiten, ob auf

der Straße oder auf dem Land. Ihnen ins Auge zu sehen

heißt nicht, sie zu repräsentieren (uertreten''), sondern zu

lernen, uns selbst zu repräsentieren (darstellen"). Dieses

Argument würde zu einer Kritik der Anthropologie als

Disziplin sowie der Beziehungen zwischen elementarer

Pädagogik und disziplinenspezifischer Ausbildung

führen. Es würde auch die implizite Forderung nach ei­

nem Subjekt, das durch die Geschichte hindurch als per­

spektivische Erzählung der Produktionsweise hervortritt,

in Frage stellen, die von jenen Intellektuellen erhoben

wird, die für ein »natürlich artikulationsfähiges« Subjekt

der Unterdrückung optieren.

Dass Deleuze und Foucault sowohl die epistemische Ge­

walt des Imperialismus als auch die internationale Ar­

beitsteilung ignorieren, wäre von geringerer Bedeutung,

wenn sie nicht - in solcher Verschließung - an Themen

der Dritten Welt rühren würden. Doch in Frankreich ist

es unmöglich, die Probleme der tiers monde, der Be­

wohnerinnen der ehemaligen französischen Kolonien in

Afrika zu ignorieren. Deleuze beschränkt seine Überle­

gungen zur Dritten Welt auf jene alten, lokalen und re­

gionalen indigenen Eliten, die - idealtypisch gesehen -

subaltern sind. Verweise auf die Aufrechterhaltung der

industriellen Reservearmee verfallen in diesem Zusam­

menhang einer umgekehrten ethnischen Sentimentalität.

60

Da er vom Erbe des territorialen Imperialismus des 19.

Jahrhunderts spricht, bezieht er sich mehr auf den Na­

tionalstaat als auf das globalisierende Zentrum: »Der

französische Kapitalismus hat einen großen Bedarf an ei­

ner >frei verfügbaren< Masse von Arbeitslosen[ ... ]. Unter

diesem Gesichtspunkt bilden die Begrenzung der Ein­

wanderung - sobald einmal anerkannt wird, dass die

härtesten und undankbarsten Arbeiten an die Emigran­

ten vergeben wurden-, die Repression in den Fabriken -

sollen doch die Franzosen wieder auf den >Geschmack<

an einer immer härteren Arbeit gebracht werden - und

der Kampf gegen die Jugendlichen und die Repression in

der Ausbildung [ ... ] eine Einheit« (FD, S. 388). Das ist

eine akzeptable Analyse. Dennoch zeigt sich erneut, dass

sich die Dritte Welt am Widerstandsprogramm einer Al­

lianzpolitik, die gegen eine »vereinheitlichte Repression«

gerichtet ist, nur dann beteiligen kann, wenn sie auf

Gruppen der Dritten Welt beschränkt wird, die der Er­

sten Welt direkt zugänglich sind. 51 Diese wohlwollende,

seitens der Ersten Welt erfolgende Aneignung und Wie­

dereinschreibung der Dritten Welt als Andere ist die

grundlegende Charakteristik eines großen Teils des heu­

tigen Diskurses über die Dritte Welt in den US-amerika­

nischen Humanwissenschaften. Foucault setzt die Kritik des Marxismus fort, indem er

die geographische Diskontinuität ins Spiel bringt. Wirk­

lich bezeichnend für »geographische (geopolitische) Dis­

kontinuität« ist die internationale Arbeitsteilung. Doch

Foucault verwendet den Begriff, um zwischen Ausbeu­

tung (Extraktion und Aneignung des Mehrwerts; sprich,

das Feld marxistischer Analyse) und Herrschaft

( »Macht«-Analysen) zu unterscheiden, und behauptet,

mit Letzterer verbände sich ein größeres, auf Allianzpoli­

tik gegründetes Widerstandspotenzial. Er kann nicht ein­

räumen, dass solch ein monistischer und vereinheitlich­

ter Zugang zu einer Konzeption von »Macht« (die me-

6r

Page 26: Can the Subaltern Speak(Dt)

thodologisch ein Subjekt-der-Macht voraussetzt} durch

ein gewisses Stadium der Ausbeutung möglich gemacht

wurde, denn sein Blick auf die geographische Diskonti­

nuität ist geopolitisch eigentümlich für die Erste Welt:

»Diese geographische Diskontinuität, von der Sie sprechen, bedeutet vielleicht Folgendes: Sobald man gegen die Ausbeu­

tung kämpft, führt das Proletariat nicht nur den Kampf, son­dern bestimmt auch die Zielscheiben, Methoden, Orte und In­strumente des Kampfes; sich mit dem Proletariat verbünden heißt, sich ihm in seinen Positionen und seiner Ideologie anschließen, heißt, die Motive seines Kampfes übernehmen. Heißt, darin aufzugehen [im marxistischen Projekt]. Doch wenn der Kampf gegen die Macht gerichtet ist, dann können auch alle diejenigen, [ ... ] die sie als unerträglich ansehen, dort, wo sie sich befinden, und von ihrer eigenen Aktivität (oder Passivität) her den Kampf aufnehmen. Indem sie diesen Kampf aufnehmen, der ihr eigener ist, dessen Zielscheibe ihnen vollends bekannt ist und dessen Methoden sie festlegen kön­nen, treten sie in den revolutionären Prozess ein. Mit dem Proletariat verbündet, versteht sich, denn so wie die Macht ausgeübt wird, wird sie ausgeübt, um die kapitalistische Aus­beutung aufrechtzuerhalten. Der Sache der proletarischen Re­volution erweisen sie einen wirklichen Dienst, wenn sie genau da kämpfen, wo die Unterjochung an ihnen ausgeübt wird. Zur Zeit haben die Frauen, die Gefängnisinsassen, die wehr­pflichtigen Soldaten, die Kranken in den Krankenanstalten und die Homosexuellen ihren spezifischen Kampf gegen die jeweilige Form von Macht, Zwang und Kontrolle aufgenom­men, der sie unterliegen«. (FD, S. 392 f.). [Kursivsetzung von G. Ch. Spivak; Anm. d. Übers.]

Das ist ein bewunderungswürdiges Programm des lokali­

sierten Widerstands. Wo immer es möglich ist, bildet die­

ses Modell des Widerstands nicht etwa eine Alternative

zu »marxistisch« orientierten makrologischen Kämpfen,

sondern kann diese ergänzen. Wird diese Situation aller­

dings universalisiert, so beherbergt sie eine uneingestan­

dene Privilegierung des Subjekts. Ohne Ideologietheorie

kann das zu einem gefährlichen Utopismus führen.

62

Foucault ist ein brillanter Denker der Macht-zwischen­

den-Zeilen, aber das Bewusstsein der topographischen

Wiedereinschreibung des Imperialismus findet in seine

Vorraussetzungen keinen Eingang. Er fällt auf die einge­

schränkte Version des Westens herein, die durch eine sol­

che Wiedereinschreibung hervorgebracht wird, und trägt

so zur Verfestigung ihrer Effekte bei. Bemerkenswert ist

auch - in der im Folgenden zitierten Passage - die Aus­

lassung der Tatsache, dass der neue Machtmechanismus

im 17. und 18. Jahrhundert (in der marxistischen Be­

schreibung: die Extraktion von Mehrwert ohne außer­

ökonomischen Zwang) »andernorts« durch den territo­

rialen Imperialismus - die Erde und ihre Produkte - ab­

gesichert wurde. Die Repräsentation von Souveränität

ist an diesen Schauplätzen von entscheidender Bedeu­

tung: »Im 17. und 18. Jahrhundert trat dann ein bedeu­

tendes Phänomen auf den Plan: die Erscheinung - oder

besser Erfindung - eines neuen Machtmechanismus mit

ganz besonderen Verfahren, [ ... ] der, wie ich denke, mit

den Souveränitätsverhältnissen völlig inkompatibel ist.

Dieser neue Machtmechanismus bezieht sich zunächst

auf die Körper und mehr auf das, was diese tun, als auf

die Erde und ihr Produkt« (VG, S. 45).

Aufgrund des blinden Flecks bezüglich der ersten Welle

»geographischer Diskontinuität« kann Foucault deren

zweiter Welle in den mittleren Jahrzehnten des 20. Jahr­

hunderts, die er einfach mit »dem Zusammenbruch des

Nazismus [und dem] Rückgang des Stalinismus« (VG, S.

23) identifiziert, unzugänglich bleiben. Dazu die alterna­

tive Sicht von Mike Davis: »Es war vielmehr die globale

Logik konterrevolutionärer Gewalt, die die Bedingungen

für die friedliche ökonomische Interdependenz eines ge­

zügelten atlantischen Imperialismus unter amerikani­

scher Führung geschaffen hat. [ ... ] Eine multinationale

militärische Integration unter dem Schlagwort der kol­

lektiven Sicherheit gegenüber der UdSSR ging der wech-

Page 27: Can the Subaltern Speak(Dt)

selseitigen Durchdringung der wichtigsten kapitalisti­

schen Ökonoillien voraus und hat diese beschleunigt;

dies hat die n;ue Ära des kommerziellen Liberalismus,

der zwischen 1958 und 1973 aufgeblüht ist, möglich ge­macht.«52

Die Fixierung auf nationale Schauplätze, der Widerstand

gegen das Wirtschaftsdenken sowie die Betonung von

Begriffen wie Macht und Begehren, die die Mikrologie

privilegieren, müssen im Rahmen des Aufkommens die­

ses »neuen Machtmechanismus« gelesen werden. Davis

fährt fort: »Diese quasi-absolutistische Zentralisierung

strategischer Militärmacht durch die Vereinigten Staaten

sollte ihren hauptsächlichen Satrapen eine aufgeklärte

und flexible Unterwerfung erlauben. Sie hat sich insbe­

sondere den verbleibenden imperialistischen Ansprüchen

Frankreichs und Großbritanniens gegenüber als höchst

gefällig erwiesen [„.], währenddessen beide eine starke

ideologische Mobilisierung gegen den Kommunismus

weiterbetrieben. « Vorbehalte gegenüber solch vereinheit­

lichenden Begriffen wie »Frankreich« sind angebracht;

und doch muss gesagt werden, dass Davis' Narrativ eine

Interpretation solch vereinheitlichender Begriffe wie

»der Arbeiterinnenkampf« zuzulassen scheint, oder auch

solch vereinheitlichender Aussagen wie: »[Der Wider­

stand] ist also wie [die Macht] selbst vielgestaltig und

lässt sich in globale Strategien integrieren« (Sehr III, S. 547). Ich behaupte nicht wie Paul Bove, dass »für ein

vertriebenes und heimatloses Volk [die Palästinenserin­

nen], das militärischen und kulturellen Angriffen ausge­

setzt ist, [„.] eine Frage [wie jene, die Foucault an­

spricht, wenn er sagt: >Politik betreiben [„.] heißt, mit

der größtmöglichen Ehrlichkeit herauszufinden versu­

chen, ob die Revolution wünschenswert ist<] ein alberner

Luxus westlichen Wohlstandes ist« 53 . Vielmehr behaupte

ich: Einer gezügelten Version des Westens aufzusitzen

heißt, dessen Hervorbringung durch das imperialistische

Projekt zu ignorieren. Manchmal hat es den Anschein, als ob gerade die Bril­

lanz von Foucaults Analyse der Jahrhunderte des eu­

ropäischen Imperialismus eine Miniaturversion dieses

heterogenen Phänomens produzieren würde: Organisa­

tion von Raum - aber durch Ärzte; Entwicklung von

Verwaltungsapparaten - aber in Irrenanstalten; Überle­

gungen zur Peripherie - aber in Bezug auf Geisteskranke,

Gefängnisinsassen und Kinder. Die Klinik, die Irrenan­

stalt, das Gefängnis, die Universität - sie alle scheinen

Deckallegorien zu sein, die eine Beschäftigung mit den

größeren Narrativen des Imperialismus verhindern.

(Eine ähnliche Diskussion könnte bezüglich des Furcht

erregenden Motivs der »Deterritorialisierung« bei De­

leuze und Guattari eröffnet werden.) »Man kann sehr

wohl über etwas einfach nur deshalb nicht sprechen,

weil man es nichf kennt«, würde Foucault vielleicht

murmeln (Sehr III, S. 41). Wir haben indessen bereits

von der sanktionierten Ignoranz gesprochen, die jede/r

Kritikerin des Imperialismus zu dokumentieren hat.

Page 28: Can the Subaltern Speak(Dt)

111

Auf der unspezifischen Ebene, auf der Akademikerinnen und Studierende in den USA »Einflüsse« aus Frankreich

beziehen, begegnet man der folgenden Auffassung: Fou­cault beschäftigt sich mit wirklicher Geschichte, wirkli­

cher Politik und wirklichen sozialen Problemen; Derrida ist unzugänglich, esoterisch und textualistisch. Den Lese­

rinnen ist diese überkommene Idee wahrscheinlich wohl­bekannt. »Dass [Derridas] eigenes Werk«, schreibt Terry

Eagleton, »gröblich unhistorisch, politisch schwammig

und praktisch ohne Beziehung zur Sprache als >Diskurs< [Sprache in Funktion] ist, kann nicht in Abrede gestellt

werden [ ... ].«54 Im Weiteren empfiehlt Eagleton Fou­caults Untersuchung »diskursiver Praktiken«. Perry An­

derson konstruiert eine ähnliche Geschichte: »Mit Der­rida vollendet sich die Selbstauflösung des Strukturalis­

mus, die im Rekurs auf die Musik oder den Wahnsinn bei Levi-Strauss oder Foucault latent angelegt ist. Der­

rida ließ jegliches Engagement bezüglich der Erfor­schung sozialer Realitäten vermissen und hatte wenig

Bedenken, die Entwürfe dieser beiden einer sehr grundsätzlichen Kritik zu unterziehen, indem er beide ei­

ner - rousseauistischen respektive vorsokratischen ->Nostalgie der Ursprünge< beschuldigte und die Frage

aufwarf, mit welchem Recht sie angesichts der je eigenen Prämissen von der Geltung ihrer Diskurse ausgehen konnten.« 55

Der vorliegende Text ist dem Gedanken verpflichtet, dass eine Nostalgie der Ursprünge, ob in Verteidigung Derridas oder nicht, der Erforschung sozialer Realitäten

im Rahmen einer Imperialismuskritik abträglich sein

kann. Tatsächlich wird Anderson durch seine glanzvolle Fehllektüre nicht davon abgehalten, das von mir an Fou­cault hervorgehobene Problem genau zu sehen: »Fou-

66

cault schlug einen charakteristisch prophetischen Tonfall

an, als er 1966 erklärte: >Der Mensch ist in dem Maße im Begriff zu verschwinden, wie das Sein der Sprache im­

mer heller an unserem Horizont leuchtet.< Aber wer ist

dieses >Wir<, das einen solchen Horizont wahrnehmen oder besitzen soll?« Anderson übersieht die Inan­

spruchnahme des uneingestandenen Subjekts des We­stens beim späteren Foucault, eines Subjekts, das seine

Autorität auf Verleugnung gründet. Er betrachtet Fou­caults Haltung auf die übliche Art und Weise, nämlich

als Verschwinden des wissenden Subjekts als solchen; und er erblickt des Weiteren in Derrida die letzte Aus­

prägung dieser Tendenz: »In der Leerstelle des Prono­

mens [wir] liegt die Aporie des Programms beschlos­sen.« 56 Nehmen wir schließlich Saids klagenden Apho­

rismus hinzu, der ein gründliches Missverstehen des Begriffs der » Textualität« erkennen lässt: »Die Kritik im

Sinne Derridas führt uns in den Text hinein, die Fou­caults hinein und hinaus.«57

Ich habe darzulegen versucht, dass die substanzielle Sorge um die Politik der Unterdrückten, die den Reiz

Foucaults oft ausmacht, über eine Privilegierung des In­tellektuellen sowie des »konkreten« Subjekts der Unter­

drückung hinwegtäuschen kann, die den Reiz in der Tat verstärkt. Umgekehrt, und obwohl ich hier nicht die Ab­

sicht verfolge, dem von diesen einflussreichen Autoren beförderten spezifischen Blick auf Derrida entgegenzu­

treten, werde ich einige Aspekte von Derridas Werk dis­kutieren, die eine langfristige Nützlichkeit für Menschen

außerhalb der Ersten Welt bewahren. Dies ist keine Apo­logie. Derrida ist schwierig zu lesen; sein eigentlicher Un­

tersuchungsgegenstand ist die klassische Philosophie. Er

ist jedoch, sofern er verstanden wird, weniger gefährlich als die Intellektuellen der Ersten Welt, die sich die Maske

abwesender Nicht-Repräsentierer anlegen und die Unter­drückten für sich selbst sprechen lassen.

Page 29: Can the Subaltern Speak(Dt)

Ich werde mich mit einem Kapitel auseinander setzen,

das Derrida vor 20 Jahren verfasst hat: »Grammatologie

als positive Wissenschaft« (Gr, S. 130-170). In diesem

Kapitel beschäftigt sich Derrida mit der Frage, ob die

» Dekonstruktion « zu einer angemessenen - sei 's kriti­

schen, sei's politischen - Praxis führen kann. Das Pro­

blem dabei ist, wie das ethnozentrische Subjekt davon

abgehalten werden kann, sich selbst zu etablieren, indem

es selektiv eine/n Andere/n definiert. Es handelt sich

nicht um ein Programm für das Subjekt als solches; eher

geht es um ein Programm für wohlwollende westliche In­

tellektuelle. Für jene unter uns, die dessen gewahr sind,

dass das »Subjekt« eine Geschichte hat und dass die Auf­

gabe, die sich dem Wissenssubjekt der Ersten Welt in un­

serem historischen Augenblick stellt, darin besteht, sich

der über »Assimilierung« erfolgenden »Anerkennung«

der Dritten Welt zu widersetzen und sie zu kritisieren, ist

diese Besonderheit zentral. Im Sinne einer weniger pathe­

tischen als sachbezogenen Kritik des ethnozentrischen

Impulses europäischer Intellektueller räumt Derrida ein,

dass er die »ersten« Fragen, die beantwortet werden

müssen, um die Grundlagen für seine Argumentation be­

reitzustellen, nicht stellen kann. Er erklärt nicht, die

Grammatologie könne sich »über« einen bloßen Empi­

rismus »erheben« (gemäß der Formulierung von Frank

Lentricchia); denn wie der Empirismus kann sie keine er­

sten Fragen stellen. Derrida richtet das »grammatologi­

sche« Wissen anhand der gleichen Probleme aus, die

auch die empirische Forschung hat. »Dekonstruktion«

ist mithin kein neues Wort für »ideologische Demystifi­

zierung«. Wie im Falle der »empirischen Forschung«

verpflichtet der »Schutzbereich des grammatologischen

Wissens« dazu, »mit >Beispielen< zu arbeiten« (Gr,

s. 131 f.). Die Beispiele, die Derrida ausbreitet - um die Grenzen der

Grammatologie als positive Wissenschaft zu zeigen -,

68

entstammen der einschlägigen ideologischen Selbstrecht­

fertigung eines imperialistischen Projekts. Im europäi­

schen 17. Jahrhundert, schreibt er, waren in verschiede­

nen Konstruktionen einer Geschichte der Schrift drei Ar­

ten von »Vorurteilen« am Werk, die ein »Symptom der

Krise des europäischen Bewusstseins« (Gr, S. 133) bilde­

ten: das »theologische Vorurteil«, das »chinesische Vor­

urteil« und das »hieroglyphistische Vorurteil«. Das erste

kann mit dem folgenden Index versehen werden: Gott

schrieb eine ursprüngliche oder natürliche Schrift - He­

bräisch oder Griechisch. Das zweite: Chinesisch ist ein

perfekter Entwurf für die philosophische Schrift, aber es

ist nur ein Entwurf. Wahre philosophische Schrift ist

durch ihre »Unabhängigkeit gegenüber der Geschichte«

(Gr, S. 140) charakterisiert und wird das Chinesische in

eine leicht zu lernende Schrift aufheben, die das eigentli­

che Chinesisch ablösen wird. Das dritte: Die ägyptische

Schrift ist zu erhaben, um entziffert zu werden. Das erste

Vorurteil bewahrt die »Aktualität« des Hebräischen

oder Griechischen; die letzteren beiden (die »rational«

respektive »mystisch« sind) spielen zusammen, um das

erste zu unterstützen, innerhalb dessen das Zentrum des

Logos als der jüdisch-christliche Gott angesehen wird

(die Aneignung des hellenischen Anderen durch Assimi­

lierung ist eine frühere Geschichte) - ein »Vorurteil«, das

in Bemühungen, der Kartographie des jüdisch-christli­

chen Mythos den Status geopolitischer Geschichte zu

verleihen, nach wie vor aufrechterhalten wird:

»Der Begriff der chinesischen Schrift wirkte also wie eine Art europäische Halluzination [ ... ]:seine Wirkung gehorchte ei-ner strengen Notwendigkeit.[ ... ] Das[ ... ] Wissen, das damals über die chinesische Schrift zur Verfügung stand, vermochte sie nicht zu unterbrechen. [ ... ] Zur gleichen Zeit wie das »chi­nesische Vorurteil« hatte ein »hieroglyphistisches Vorurteil« dieselbe Wirkung hervorgerufen, nämlich interessierte Ver­

blendung. Die Verdunkelung, die [ ... ] überhaupt nichts mit

Page 30: Can the Subaltern Speak(Dt)

ethnozentrischer Verachtung zu tun hat, nimmt die Gestalt übertriebener Bewunderung an. Wir sind mit der Verifikation der Notwendigkeit dieses Schemas noch nicht zu Ende. Auch unser Jahrhundert konnte sich nicht von 'ihm lösen: immer, wenn der Ethnozentrismus mit viel Eile und Lärm gestürzt wird, lauert hinter dem Spektakel im Stillen irgendein Vorstoß in der Absicht, das Drinnen zu festigen und aus alledem sei­nen Nutzen zu ziehen« (Cr, S. 142; Derrida hob nur »hiero­glyphistisches Vorurteil« hervor).

Derrida führt im Weiteren zwei charakteristische Lö­

sungsmöglichkeiten für das Problem des europäischen

Subjekts an, das eine/n Andere/n zu produzieren sucht,

der/die ein Drinnen und damit den eigenen Subjektstatus

zu festigen erlaubt. Es folgt eine Darstellung der Kompli­

zität zwischen der Schrift, den Anfängen einer Binnenge­

sellschaft oder zivilen Gesellschaft sowie den Strukturen

von Begehren, Macht und Kapitalisierung. Derrida legt

anschließend die Verletzlichkeit seines eigenen Begehrens

offen, etwas zu bewahren, das paradoxerweise sowohl

unaussprechlich als auch nicht-transzendental ist. Im

Zuge der Kritik an der Produktion des kolonialen Sub­

jekts wird dieser unaussprechliche, nicht-~ranszendentale (»historische«) Ort durch das subalterne Subjekt besetzt.

Derrida schließt das K~pitel ab, indem er erneut zeigt,

dass das Projekt der Grammatologie sich zwangsläufig

innerhalb des Diskurses der Präsenz entwickelt. Es han­

delt sich nicht nur um eine Kritik der Präsenz, sondern

um eine Bewusstheit bezüglich des Verlaufs, den der Dis­

kurs der Präsenz in der eigenen Kritik nimmt, eine Wach­

samkeit gerade gegenüber einem allzu großen Anspruch

auf Transparenz. Das Wort »Schrift« als Name des

Gegenstands und Modells der Grammatologie ist eine

Praxis »nur in der historischen Geschlossenheit, das

heißt in den Grenzen der Wissenschaft und der Philoso­phie« (Gr, S. 169).

Derrida trifft hier nietzscheanische, philosophische und

psychoanalytische, und nicht spezifisch politische Ent­

scheidungen, um eine Kritik des europäisohen Ethnozen- ·

trismus in der Konstitution des/der Anderen vorzuschla­

gen. Es stört mich nicht, dass er mich nicht auf den spe­

zifischen Pfad führt (wie es europäische Intellektuelle

unvermeidlich zu tun scheinen), den eine solche Kritik

notwendig macht. Wichtiger ist mir, dass er, als europ~i­

scher Philosoph, die Tendenz des europäischen Subjekts

artikuliert, den/die Andere/n als Randphänomen eines

Ethnozentrismus zu konstituieren, und darin das Pro­

blem aller logozentrischen und daher auch aller gram­

matologischen Bemühungen (zumal di~ Hauptthese des

Kapitels in der Komplizität zwischen beiden besteht) ver­

ortet. Nicht ein allgemeines Problem, sorfdern ein eu­

ropäisches Problem. Eben innerhalb des Zusammen­

hangs dieses Ethnozentrismus versucht er verzweifelt,

das Subjekt des Denkens oder Wissens zu degradieren,

bis hin zur Aussage: » [ ... ] Denken [ist]. leerer Zwi­

schenraum im Text« (Gr, S. 170); das, was Denken ist,

ist, wenn auch unbeschrieben oder leer, noch immer im Text und muss dem/der Anderen der Geschichte ausge­

liefert werden. Diese unzugängliche Leere, umschrieben durch einen interpretierbaren Text, ist es, was postkolo­

niale Kritikerlnnen des Imperialismus innerhalb der eu­

ropäischen Einhegung als den Ort der Produktion von

Theorie entwickelt sehen möchten. Postkoloniale Kriti­

kerlnnen und Intellektuelle können nur dadurch versu­

chen, ihre eigene Produktion zu verschieben, dass sie

diese dem Text eingeschriebene Leere voraussetzen. Das

Denken oder das denkende Subjekt transparent oder un­

sichtbar zu machen scheint im Kontrast dazu über die

unerbittliche Anerkennung des/der Anderen durch Assi­

milierung hinwegzutäuschen. Im Interesse solcher Vor­

sichtsmaßnahmen beruft sich Derrida nicht darauf,

»den/die andere(n) für sich selbst sprechen zu lassen«,

71

Page 31: Can the Subaltern Speak(Dt)

sondern vielmehr auf den »Appell« oder »Ruf« nach

dem »ganz anderen« (tout-autre, im Gegensatz zu einem sich selbst verfestigenden anderen), darauf, »die innere

Stimme, die Stimme des anderen in uns, delirieren [zu] lassen« 58

Derrida nennt den Ethnozentrismus der europäischen

Wissenschaft der Schrift im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert ein Symptom der allgemeinen Krise des eu­

ropäischen Bewusstseins. Es handelt sich sicherlich um einen Teil eines größeren Symptoms, oder vielleicht um

die Krise selbst, nämlich die langsame Wende vom Feu­dalismus zum Kapitalismus im Zuge der ersten Wellen

des kapitalistischen Imperialismus. Die Wege der Aner­

kennung durch Assimilierung des/der Anderen können meines Erachtens in der imperialistischen Konstitution

des kolonialen Subjekts auf interessantere Art und Weise nachgezeichnet werden als in Gestalt wiederholter Aus­

flüge in die Psychoanalyse oder zur »Figur« der Frau, auch wenn die Bedeutung dieser beiden Interventionen

innerhalb der Dekonstruktion nicht heruntergespielt werden sollte. Diesen Schauplatz hat Derrida nicht be­

treten (und kann es vielleicht nicht). Welche Gründe es für diese spezifische Lücke auch geben

mag - nützlich scheint mir die anhaltende und sich ent­wickelnde Arbeit am Mechanismus der Konstitution

des/der Anderen; wir können uns ihrer mit viel größerem

analytischem und interventionistischem Gewinn bedie­nen, als dies im Falle von Anrufungen der Authentizität des/der Anderen möglich ist. Auf dieser Ebene nützlich bei Foucault bleibt der Mechanismus der Disziplinierung

und Institutionalisierung, der gewissermaßen die Konsti­tution der Kolonisierenden beschreibt. Foucault bezieht

sie auf keinerlei Version (ob früh oder spät, proto- oder post-) des Imperialismus. Seine Themen sind von großem

Nutzen für Intellektuelle, die mit dem Verfall des We­stens beschäftigt sind. Die Verführungskraft, die sie auf

72

diese ausüben - und das, was uns zugleich bange werden

lässt-, liegt darin beschlossen, dass sie es der komplizen­haften Verstrickung des Forschersubjekts (männlicher

oder weiblicher Berufswissenschaftlerinnen) erlauben, sich selbst zu verschleiern, indem es sich in Transparenz

hüllt.

Page 32: Can the Subaltern Speak(Dt)

IV

K_önnen Subalterne sprechen? Was muss die Elite tun, um der andauernden Konstruktion der Subalternen Be­

achtung zu schenken? Die Frage der »Frau« scheint am problematischsten in diesem Zusammenhang. Es ist klar,

dass arm, schwarz und weiblich sein heißt: es dreifach abbekommen. Wenn diese Formulierung jedoch aus dem

Zusammenhang der Ersten Welt in einen postkolonialen Zusammenhang (was nicht gleichbedeutend mit der

Dritten Welt ist) verschoben wird, dann verliert die Be­schreibung als »schwarz« oder »of color« ihre Überzeu­

gungskraft und Signifikanz. Die notwendige Stratifizie­

rung der kolonialen Subjektkonstitution in der ersten Phase des kapitalistischen Imperialismus macht »Farbe«

als emanzipatorischen Signifikanten unbrauchbar. Kon­frontiert mit dem Furcht erregenden standardisierenden

Wohlwollen des Großteils der humanwissenschaftlichen Linken in den USA und Westeuropa (Anerkennung

durch Assimilierung), dem fortschreitenden, aber unein­heitlichen Rückzug des Konsumismus in der Kompra­

dor-Peripherie sowie dem Ausschluss der Ränder sogar der Bindeglieder zwischen Zentrum und Peripherie (der

»wahren und differenziellen Subalternen«), scheinen sich

Rechte wie Linke dem Analogon eines Klassenbewusst­seins anstelle eines »Rassen« -Bewusstseins gleicher­

maßen zu versperren, und zwar historisch ebenso wie hinsichtlich der Disziplinenordnung und auf praktischer

Ebene. Es geht hier nicht nur um die Frage einer doppel­ten Verschiebung, denn das Problem besteht nicht ein­

fach in der Auffindung einer psychoanalytischen Allego­rie, die es erlauben würde, die Frau der Dritten Welt mit

jener der Ersten Welt zusammenzudenken.

Die Vorbehalte, die ich gerade ausgesprochen habe, sind nur gültig, wenn wir vom Bewusstsein - oder angemesse-

74

ner: vom Subjekt - der subalternen Frau sprechen. Über

die antisexistische Arbeit unter warnen of color oder Frauen, die einer Klassenunterdrückung unterliegen, zu

berichten oder sich - besser noch - an dieser Arbeit zu beteiligen steht unbestreitbar auf der Tagesordnung, in

der Ersten Welt ebenso wie in der Dritten Welt. Wir soll­ten auch alle Kenntnisse über diese zum Schweigen ge­brachten Bereiche begrüßen, die in Anthropologie, Poli­

tikwissenschaft, Geschichte und Soziologie erarbeitet werden. Die Annahme und Konstruktion eines Bewusst­

seins oder Subjekts erhält jedoch eine solche Arbeit auf­

recht und wird sich auf lange Sicht mit dem Werk der imperialistischen Subjektkonstitution verbinden, episte­

mische Gewalt mit der Beförderung von Lernen und Zi­

vilisation vermischend. Und die subalterne Frau wird so

stumm bleiben wie eh und je.59

In einem dermaßen befrachteten Feld ist e~ nicht leicht,

die Frage nach dem Bewusstsein der subalternen Frau zu

stellen; umso notwendiger ist es, pragmatische Linke daran zu erinnern, dass eine solche Frage kein idealisti­

sches Ablenkungsmanöver darstellt. Auch wenn nicht alle feministischen und antisexistischen Projekte auf sie

reduziert werden können: das Ignorieren dieser Frage ist

eine uneingestandene politische Geste, die eine lange Ge­schichte hat und mit einer männlichen linken Haltung kollaboriert, die den Ort des Forschers transparent

macht. Indem die postkolonialen Intellektuellen zu ler­

nen versuchen, zu dem historisch zum Verstummen ge­brachten Subjekt der subalternen Frau zu sprechen (an­statt ihm zuzuhören oder für es zu sprechen), »verler­

nen« sie systematisch die Privilegierung des Weiblichen.

Dieses systematische Verlernen schließt auch mit ein, dass man den postkolonialen Diskurs mit den besten Mitteln, die er zur Verfügung stellt, zu kritisieren lernt,

anstatt einfach die verlorene Figur der Kolonisierten ein­

zusetzen. Das unhinterfragte Zum-Verstummen-Bringen

75

Page 33: Can the Subaltern Speak(Dt)

der subalternen Frau in Frage zu stellen, das sogar inner­

halb des anti-imperialistischen Projekts der Subaltern

Studies stattfindet, bedeutet nicht, wie Jonathan Culler

behauptet, »Differenz [„.] durch Differieren [zu erzeu­

gen]« oder »sich auf eine als wesentlich definierte sexu­

elle Identität [zu berufen] und Erfahrungen [zu privile­

gieren], die mit dieser Identität in Zusammenhang ste­hen«60.

Cullers Version des feministischen Projekts ist innerhalb

dessen möglich, was Elizabeth Fox-Genovese als »den

Beitrag der bürgerlich-demokratischen Revolutionen

zum gesellschaftlichen und politischen Individualismus

der Frauen« bezeichnet hat. 61 Viele von uns haben das

feministische Projekt zwangsläufig so verstanden, wie

Culler es jetzt beschreibt, als wir noch als US-Akademi­

kerlnnen agitiert haben. 62 Das war sicherlich eine not­

wendige Phase in meiner eigenen Entwicklung in Sachen

»Verlernen« und hat meinen Glauben bestärkt, dass die

Hauptströmung des westlichen Feminismus den Kampf

um das Recht auf Individualismus, der zwischen Frauen

und Männern in einer Situation aufsteigender Klassen­

mobilität stattfindet, sowohl weiterführt als auch ver­

schiebt. Es ist zu vermuten, dass die Debatte zwischen

dem US-amerikanischen Feminismus und der europäi­

schen »Theorie« (bzw. der Vorstellung von Theorie, die

Frauen aus den USA oder Großbritannien gewöhnlich

haben) einen bedeutenden Teil genau dieses Terrains be­

trifft. Im Allgemeinen habe ich Sympathien für die For­

derung, den US-Feminismus »theoretischer« zu machen.

Es hat jedoch den Anschein, dass dem Problem des zum

Verstummen gebrachten Subjekts der subalternen Frau,

wenn es auch durch eine »essenzialistische« Suche nach

verlorenen Ursprüngen nicht gelöst werden kann, durch

einen Ruf nach mehr Theorie in Angloamerika ebenso wenig gedient ist.

Diese Forderung wird oft im Namen einer Kritik am

»Positivismus« vorgebracht, der mit einem » Essenzialis­

mus « identifiziert wird. Hegel, dem modernen Erfinder

der »Arbeit des Negativen«, war die Idee der Essenzen

jedoch nicht fremd. Für Marx bildete die eigentümliche

Beharrlichkeit des Essenzialismus innerhalb der Dialek­

tik ein profundes und produktives Problem. Die strikte

binäre Gegenüberstellung von Positivismus/Essenzialis­

mus (soll heißen, dem US-amerikanischen) und »Theo­

rie« (soll heißen, der französischen oder französisch­

deutschen, die durch die angloamerikanische vermittelt

wird) ist möglicherweise nicht gerechtfertigt. Abgesehen

davon, dass diese Gegenüberstellung die ambivalente

Komplizität zwischen dem Essenzialismus und bestimm­

ten Kritiken am Positivismus unterdrückt (die von Der­

rida in dem Kapitel »Grammatologie als positive Wis­

senschaft« anerkannt wird), liegt sie auch hinsichtlich

der impliziten Behauptung falsch, der Positivismus sei

keine Theorie. Diese Bewegung ermöglicht das Hervor­

treten eines Eigennamens, einer positiven Essenz, näm­

lich der Theorie [Theory]. Einmal mehr bleibt die Posi­

tion des Forschers bzw. der Forscherin unhinterfragt.

Und: Wendet sich diese territoriale Debatte der Dritten

Welt zu, so lässt sich in der Frage der Methode keinerlei

Veränderung feststellen. Diese Debatte vermag dem Um­

stand nicht Rechnung zu tragen, dass sich im Falle der

Frau als Subalterner keine Elemente sammeln lassen, aus

denen sich der Verlauf der Spur eines vergeschlechtlich­

ten Subjekts zusammensetzen lassen würde, um so die

Möglichkeit der Dissemination zu verorten.

Dennoch bleibe ich im Allgemeinen einer Ausrichtung

des Feminismus an Positivismuskritik sowie einer Defeti­

schisierung des Konkreten verbunden. Ich habe auch

keinerlei Abneigung dagegen, von der Arbeit westlicher

Theoretikerlnnen zu lernen, obgleich ich darauf zu be­

stehen gelernt habe, dass ihre Positionalität als Subjekte,

77

Page 34: Can the Subaltern Speak(Dt)

die die Untersuchung durchführen, gekennzeichnet wer­den muss. Unter diesen Voraussetzungen - und als Lite­

raturkritikerin - wende ich mich taktisch dem immensen Problem des Bewusstseins der Frau als Subalterner zu.

Ich habe das Problem in einem Satz neu gefasst und es in

den Gegenstand einer einfachen Semiose umgestaltet. Was bedeutet dieser Satz? Die Analogie verläuft hier zwi­schen der ideologischen Viktimisierung eines Freud und

der Positionalität der postkolonialen Intellektuellen, in­sofern sie als Subjekte, die die Untersuchung durch­führen, auftreten.

Wie Sarah Kofman gezeigt hat, ist die tiefe Ambiguität, die in Freuds Verwendung von Frauen als Sündenbock

liegt, eine Reaktionsbildung auf ein ursprüngliches und anhaltendes Begehren, der Hysterikerin eine Stimme zu

verleihen und sie in ein Subjekt der Hysterie zu verwan­

deln. 63

Die männlich-imperialistische ideologische For­mation, die dieses Begehren in eine »Verführung der

Tochter« umgeformt hat, ist ein Teil derselben Forma­tion, die die monolithische »Frau der Dritten Welt« kon­

struiert. Als postkoloniale Intellektuelle bin ich durch

diese Formation ebenfalls beeinflusst. Ein Teil unseres

Projekts des » Verlernens« besteht darin, diese ideologi­sche Formation in den Gegenstand der Untersuchung einzugliedern - wenn nötig, indem wir das Schweigen

vermessen. Wenn wir also mit den Fragen »Können Sub­alterne sprechen?« und »Kann die Subalterne (als Frau)

sprechen?« konfrontiert werden, dann bleiben unsere Bemühungen, den Subalternen eine Stimme in der Ge­

schichte zu geben, den Gefahren des Freud'schen Diskur­ses doppelt ausgesetzt. Als Resultat dieser Überlegungen

habe ich den ..Satz »Weiße Männer retten braun@ Frauen

vor braunen Männern« zusammengestellt, und zwar in einem Sinn, der demjenigen nicht unähnlich ist, dem wir in Freuds Untersuchungen zu dem Satz »Ein Kind wird geschlagen« begegnen. 64

Die Bezugnahme auf Freud impliziert hier nicht, dass eine isomorphe Analogie zwischen der Subjektformation

und dem Verhalten sozialer Kollektive entworfen würde

- was in dem Gespräch zwischen Deleuze und Foucault, oft von Verweisen auf Reich begleitet, eine wiederkeh­

rende Praxis darstellt. Ich behaupte also nicht, der Satz »Weiße Männer retten braune Frauen vor braunen Män­

nern« verweise auf eine kollektive Fantasie, die für einen kollektiven Verlauf s_adomasochistischer Verdrängung in

einem kollektiven imperialistischen Unternehmen sym­ptomatisch ist. Es liegt eine hinreichende Symmetrie in

dieser Allegorie, aber ich würde die Leserlnnen dazu ein­laden, dies eher als ein Problem »wilder Psychoanalyse«

denn als umfassende Lösung zu sehen.65 So wie Freuds Beharren darauf, die Frau in »Ein Kind wird geschla­

gen« und anderswo zum Sündenbock zu machen, seine

politischen Interessen offen legt - und sei es auf noch so unvollkommene Art und Weise -, genauso legt mein Be­harren auf der imperialistischen Subjektproduktion als

Anlass dieses Satzes meine Politik offen.

Des Weiteren versuche ich die allgemeine methodologi­sche Aura zu entlehnen, die Freuds Strategie gegenüber

diesem Satz umgibt, den er als Satz aus einer Vielzahl von ähnlichen, substanziellen Berichten seiner Patienten konstruierte. Das heißt nicht, dass ich einen Fall von

Übertragung-in-der-Analyse als ein isomorphes Modell

für die Vorgänge zwischen Leserlnnen und Text (meinem Satz) anbieten will. Die Analogie zwischen Übertragung

einerseits und Literaturkritik oder Geschichtsschreibung andererseits ist nicht mehr als eine produktive

Katachrese. Zu sagen, dass das Subjekt ein Text ist, be­rechtigt nicht zur gegenteiligen Aussage: dass nämlich

der sprachliche Text ein Subjekt sei. Ich bin eher davon fasziniert, wie Freud zur Behauptung

einer Geschichte der Verdrängung gelangt, die den Satz schließlich hervorbringt. Es ist eine Geschichte mit einem

79

Page 35: Can the Subaltern Speak(Dt)

doppelten Ursprung, der eine im Erinnerungsverlust des

Kindes versteckt, der andere in unserer archaischen Ver­

gangenheit beherbergt - womit die implizite Annahme

eines vorursprünglichen Bereichs einhergeht, in dem

Menschen und Tier noch nicht unterschieden waren. 66

Wir sehen uns dazu getrieben, eine Homologie dieser

Freud'schen Strategie über die marxistische Erzählung zu

legen, um die ideologische Verschleierung der imperiali­

stischen politischen Ökonomie zu erklären und eine Ge­

schichte der Verdrängung zu umreißen, die einen Satz

wie jenen, den ich skizziert habe, hervorbringen kann.

Auch diese Geschichte hat einen doppelten Ursprung,

der sich zum einen hinter dem Manöver der britischen

Abschaffung des Witwenopfers im Jahr 1829 verbirgt67

und der zum anderen in der klassischen und vedischen

Vergangenheit des hinduistischen Indien, dem ~gveda

und dem DharmaSästra, angesiedelt ist. Ohne Zweifel

gibt es auch hier einen undifferenzierten, vorursprüngli­

chen Raum, der diese Geschichte abstützt.

Der Satz, den ich konstruiert habe, bildet eine unter

zahlreichen Verschiebungen, die die Beziehung zwischen

braunen und weißen Männern (in die mitunter braune

und weiße Frauen eingearbeitet sind) beschreiben. Er fin­

det seinen Platz unter so manchen Sätzen jener »übertrie­

benen Bewunderung« oder frommen Schuld, die Derrida

in Verbindung mit dem »hieroglyphistischen Vorurteil«

anspricht. Die Beziehung zwischen dem imperialistischen

Subjekt [imperialist subject] und dem Subjekt/Untertan

des Imperialismus [subject of imperialism] ist zumindest mehrdeutig.

Die Hindu-Witwe steigt auf den Scheiterhaufen des toten

Ehemannes und opfert sich selbst auf diesem. Das ist das

Witwenopfer. (Die gebräuchliche Transkription des

Sanskritwortes für die Witwe wäre satt. Die frühen kolo­

nialen Briten haben es als suttee transkribiert.) Der Ritus

wurde nicht durchgängig praktiziert, und er war nicht

80

kasten- oder Jdassenspezifisch festgeschrieben. Die Ab­

schaffung des Ritus durch die Briten wurde weithin als

ein Fall von »weißen, Männern, die braune Frauen vor

braunen Männern retten «,verstanden. Weiße Frauen -

von den britischen Missionarregistern des 19. Jahrhun­

derts bis zu Mary Daly - haben kein alternatives Ver­

ständnis hervorgebracht. Dagegen steht das indische na­

tivistische Argument, das eine Parodie auf die nostalgi­

sche Suche nach verlorenen Ursprünge darstellt: »Die

Frauen wollten tatsächlich sterben.«

Die beiden Sätze reichen aus, um einander über weite

Strecken legitimieren. Niemals trifft man auf das Zeug­

nis eines Stimmbewusstseins der Frauen. Ein solches

Zeugnis würde natürlich nicht jenseits der Ideologie ste­

hen oder »völlig« subjektiv sein, aber es hätte die Ele­

mente für die Produktion eines Gegen-Satzes [counter­

sentence] bereitgestellt. Wenn man in den Polizeiberich­

ten der East India Company die auf groteske Weise

falsch transkribierten Namen dieser Frauen, der geopfer­

ten Witwen, durchgeht, so lässt sich daraus keine

»Stimme« zusammensetzen. Allenfalls lässt sich die im­

mense Heterogenität erahnen, die sich selbst durch das

dürre und ignorante Skelett dieser Berichte Bahn bricht

(Kasten werden zum Beispiel regelmäßig als Stämme be­

schrieben). Angesichts der dialektisch ineinander greifen­

den Sätze, die sich als »Weiße Männer retten braune

Frauen vor braunen Männern« und »Die Frauen wollten

sterben« konstruieren lassen, wirft die postkoloniale In­

tellektuelle die Frage nach der einfachen Semiose (die

Frage: Was bedeutet das?) auf und macht sich daran,

eine Geschichte zu entwerfen. Um den Moment zu markieren, in dem aus inneren Wir­

ren eine nicht nur zivile, sondern gute Gesellschaft her­

vorgeht, werden oft einzelne Ereignisse beschworen, die

den Buchstaben des Gesetzes brechen, um dessen Geist

zur Wirkung zu bringen. Der Schutz von Frauen durch

81

Page 36: Can the Subaltern Speak(Dt)

Männer bietet sich oft als ein solches Ereignis an. Wenn

wir uns daran erinnern, dass sich die Briten ihrer absolu­ten Unparteilichkeit und Nichteinmischung in Bezug auf

die einheimischen Bräuche/Gesetze rühmten, so lässt sich eine Beschwörung dieser sanktionierten Transgression

des Buchstaben im Namen des Geistes an der folgenden

Bemerkung J. M. Derretts ablesen: »Die allererste Ge­setzgebung zum Hindu-Gesetz wurde ohne die Zustim­mung eines einzigen Hindu durchgeführt.« Das Gesetz

wird hier nicht genannt. Der nächsten Satz, in dem die

Maßnahme benannt wird, ist ähnlich interessant, wenn man bedenkt, was er für das überleben einer kolonial etablierten »guten« Gesellschaft nach der Dekolonisa­

tion impliziert: »Die Wiederkehr von satt im unabhängi­

gen Indien ist wahrscheinlich ein obskurantistisches Wie­deraufleben, das selbst in sehr rückständigen Teilen des Landes nicht lange überleben kann.« 68

Unabhängig davon, ob diese Beobachtung korrekt ist oder nicht, gilt mein Interesse dem Umstand, dass der

Schutz der Frau (heute der »Frau der Dritten Welt«) zu

einem Signifikanten für die Errichtung einer guten Ge­sellschaft wird, die in solchen inaugurativen Momenten

die reine Legalität oder Unparteilichkeit der Rechtspoli­tik überschreiten muss. In diesem besonderen Fall hat je­

ner Prozess es auch gestattet, etwas, was davor als Ritual geduldet und bekannt war oder gepriesen wurde, als

Verbrechen zu redefinieren. In anderen Worten, dieses eine Element des Hindu-Gesetzes hat die Grenze zwi­

schen privatem und öffentlichem Bereich übersprungen.

Obwohl Foucaults historisches Narrativ, allein auf West­europa konzentriert, lediglich eine Toleranz gegenüber

Kriminellen sieht, die der Entwicklung der Kriminalistik im späten 18. Jahrhundert vorausgeht (Sehr II, S. 917 f.), ist seine theoretische Beschreibung der »Episteme« hier

relevant: »[Die Episteme] ist das Dispositiv, welches

nicht das Wahre vom Falschen, aber das wissenschaftlich

Nicht-Qualifizierbare vom Qualifizierbaren zu trennen gestattet« (Sehr III, S. 396) - das Ritual in seinem Ge­

gensatz zum Verbrechen, das eine durch Aberglauben

fixiert, das andere durch die Rechtswissenschaft. Der Sprung des suttee vom Privaten zum Öffentlichen

unterhält eine klare und komplexe Beziehung zum Über­gang von einer merkantilen und kommerziellen zu einer

territorialen und administrativen britischen Präsenz; dies lässt sich in der Korrespondenz nachvollziehen, die zwi­

schen Polizeistationen, niedrigeren und höheren Gerich­ten, dem Court of Directors der East India Company,

dem Gericht des Prinzregenten und ähnlichen Stellen ge­führt wurde. (Es ist interessant, zu beobachten, dass aus

der Perspektive des einheimischen »kolonialen Sub­

jekts«, das ebenfalls aus dem Übergang zwischen Feuda­lismus und Kapitalismus hervorgeht, satt ein Signifikant

mit umgekehrter sozialer Aufladung ist: »Gruppen, die psychologisch an den Rand gedrängt wurden, weil sie

westlichem Einfluss ausgesetzt waren [ ... ], sahen sich unter Druck gesetzt, anderen wie auch sich selbst ihre ri­

tuelle Reinheit und Treue zur traditionellen Hochkultur zu beweisen. Für viele von ihnen wurde satt ein wichtiger

Beweis für ihre Übereinstimmung mit älteren Normen in einer Zeit, in der diese Normen von innen her ins Wan-

69 ken geraten waren.« Wenn dies der erste historische Ursprung meines Satzes

ist, so geht er offensichtlich verloren in einer Geschichte der Menschheit verstanden als Geschichte der Arbeit, in

der Geschichte der kapitalistischen Expansion und der

langsamen Freisetzung von Arbeitskraft als Ware, in der Erzählung von den Produktionsweisen sowie im Über­

gang vom Feudalismus über den Merkantilismus zum Kapitalismus. Die prekäre Normativität dieser Erzäh­

lung wird jedoch durch den vermeintlich unveränderli­chen Lückenbüßer einer »asiatischen« Produktionsweise

abgestützt, der - um die Erzählung aufrechtzuerhalten -

Page 37: Can the Subaltern Speak(Dt)

jedes Mal dann eingeschaltet wird, wenn uns vor Augen

treten könnte, dass die Geschichte der Kapitallogik die

Geschichte des Westens ist, dass es der Imperialismus ist,

der die Universalität der Erzählung von den Produkti­

onsweisen etabliert, und dass die Subalternen zu ignorie­

ren heute wohl oder übel bedeutet, das imperialistische

Projekt weiterzuführen. Der Ursprung meines Satzes

liegt also in einer Mischung aus anderen, mächtigeren

Diskursen verborgen. Wenn wir davon ausgehen, dass

die Abschaffung von satt an sich zu befürworten ist - ist

es dann dennoch möglich, sich zu fragen, ob eine Ein­

sicht in den Ursprung meines Satzes Möglichkeiten der

Intervention beinhalten könnte?

Das Image des Imperialismus als Begründer der guten

Gesellschaft trägt die Markierung des Eintretens [espou­

sal] für die Frau als Objekt des Schutzes vor ihrer eige­

nen Art. Wie lässt sich jene Verschleierung der patriar­

chalen Strategie untersuchen, die den Frauen dem An­

schein nach die freie Wahl als Subjekt zugesteht? In

anderen Worten, wie lässt sich der Schritt von »Großbri­

tannien« zum »Hinduismus« setzen? Bereits der bloße

Versuch zeigt, dass der Imperialismus nicht mit einer

Farbenlehre oder einem einfachen Vorurteil gegen people

of color identisch ist. Um diese Frage anzugehen, werde

ich kurz das DharmaSästra (die erhaltenden Schriften)

und den f!.gveda (das Wissen um die Lobpreisungen)

streifen. In meiner Homologie zu Freud repräsentieren

sie den archaischen Ursprung. Natürlich ist meine Be­

trachtung nicht erschöpfend. Meine Lektüren sind viel­

mehr die interessierte Laienuntersuchung einer postkolo­

nialen Frau, die sich der Frage widmet, wie Verdrängung

fabriziert wird; sie sind eine konstruierte Gegenerzäh­

lung über das Bewusstsein der Frau, also das Sein der

Frau, also das Gutsein der Frau, also das Begehren der

guten Frau, also das Begehren der Frau. Paradoxerweise

bezeugen wir damit gleichzeitig den nicht-fixierten Ort

l 1

I f

der Frau als ·Signifikant in der Einschreibung des sozia­

len Individuums.

Die zwei Momente im Dharmasastra, die mich interes­

sieren, sind der Diskurs über di~ sanktionierten Selbst­

morde und die Beschaffenheit der Totenriten. 70 In den

Rahmen dieser beiden Diskurse gestellt, erscheint die

Selbstopferung der Witwen als Ausnahme von der Regel.

Die allgemeine Doktrin der Schriften besagt, dass Selbst­

mord verwerflich ist. Es wird jedoch Raum für be­

stimmte Arten des Selbstmordes geschaffen, die als an

Formeln gebundene Handlungen ihre phänomenale

Identität als Selbstmord verlieren. Die erste Kategorie

des sanktionierten Selbstmordes geht aus tattvajiiana,

dem Wissen um die Wahrheit, hervor. Hier erkennt das

wissende Subjekt die Substanzlosigkeit oder reine Phä­

nomenalität (was möglicherweise auf dasselbe hinaus­

läuft wie Nicht-Phänomenalität) seiner Identität. Zu ei­

nem bestimmten Zeitpunkt wurde tat tva als »das du«

interpretiert, aber auch ohne diese Erklärung bezeichnet

tattva die Washeit oder Quiddität. Somit erkennt das er­

leuchtete Selbst wahrhaft die » Was«-heit seiner Identität.

Wenn es diese Identität zerstört, so ist dies nicht

iitmaghiita (eine Tötung des Selbst). Das Paradox eines

Wissens um die Grenzen des Wissens liegt darin be­

schlossen, dass die stärkste Geltendmachung von Hand­

lungsfähigkeit, nä~lich die Negierung der Möglichkeit

von Handlungsfähigkeit, kein Beispiel für sich selbst ab­

geben kann. Merkwürdigerweise wird die Selbstopfe­

rung der Götter nicht durch ein Selbst-Wissen sanktio­

niert, sondern durch eine natürliche Ökologie; sie ist

nützlich, damit die Ökonomie der Natur und des Uni­

versums ihr Werk verrichten kann. In diesem logisch

vorgängigen Stadium jener spezifischen Kette von Ver­

schiebungen, das den Göttern, nicht den Menschen vor­

behalten ist, erscheinen Selbstmord und Opfer (iitma­

ghiita und iitmadana) so wenig unterschieden wie eine

Page 38: Can the Subaltern Speak(Dt)

»innerliche« (Selbst-Wissen) und eme »äußerliche« (Ökologie) Sanktionierung.

Dieser philosophische Raum beherbergt jedoch nicht die

sich selbst opfernde Frau. Was sie betrifft, gilt es heraus­zufinden, wo ein Raum geschaffen wird, der Selbst­

morde sanktioniert, die sich nicht auf ein Wissen um die

Wahrheit berufen können - im Sinne eines jedenfalls leicht überprüfbaren Zustands, der in den Zusammen­

hang von .§ruti (dem Gehörten) und nicht smrti (dem Er­innerten) gehört. Diese Ausnahme zur allgemeinen Regel

bezüglich des Selbstmords hebt die phänomenale Iden­

tität der Selbstopferung auf, sofern diese an bestimmten Orten - und nicht in einem bestimmten Zustand der Er­

leuchtung - durchgeführt wird. Wir gehen also von einer innerlichen Sanktionierung (dem Wissen um die Wahr­

heit) zu einer äußerlichen Sanktionierung (dem Ort der Pilgerfahrt) über. Diese Art von (Nicht-)Selbstmord zu verüben ist Frauen möglich.71

Doch selbst das ist noch nicht der eigenste Ort [proper

place] für Frauen, um den Eigennamen [proper name] des Selbstmordes durch die Zerstörung ihres eigenen Selbst [proper seif] außer Kraft zu setzen. Ihnen allein ist

die Selbstopferung auf dem Scheiterhaufen des toten Ehemannes erlaubt. (Die wenigen männlichen Beispiele

für eine Selbstopferung auf dem Scheiterhaufen eines an­deren, die im hinduistischen Altertum zitiert werden und

den Enthusiasmus und die Hingabe an einen Meister oder eine höhergestellte Person unter Beweis stellen soll­

ten, legen die dem Ritus innewohnende Herrschafts­

struktur offen). Dieser Selbstmord, der keiner ist, kann als Simulakrum sowohl für ein Wissen um die Wahrheit

als auch für eine ortsbezogene Frömmigkeit gelesen wer­den. Im ersteren Fall verhält es sich so, als würde das in einem Subjekt angesiedelte Wissen um seine eigene Sub­stanzlosigkeit und bloße Phänomenalität dramatisiert,

sodass der tote Ehemann zum externalisierten Beispiel

86

und Ort des ausgelöschten Subjekt,s wird und die Witwe zu jener (Nicht-)Handelnden, die dies »ausagiert«. Im

letzteren Fall ist es, als könne die Metonymie für alle hei­ligen Orte nun in jenem brennenden, gemäß einem sorg­

fältigen Ritual aufgebauten Holzbett erblickt werden,

auf dem das rechtmäßig aus sich selbst vertriebene Sub­jekt der Frau aufgezehrt wird. Vermittels dieser tief grei­

fenden Ideologie des dislozierten Ortes des weiblichen Subjekts kommt das Paradox der freien Wahl ins Spiel.

Geht es um das männliche Subjekt, so wird das im Selbstmord liegende Glück vermerkt - eine Glückselig­

keit, die dessen Status als Selbstmord außer Kraft setzt, anstatt ihn festzuschreiben. Für das weibliche Subjekt

bringt die sanktionierte Selbstopferung - selbst wenn sie den Effekt eines »Falles« (pätaka) beseitigt, der uner­

laubten Selbstmorden anhaftet - als selbst gewählter Akt

Lobpreisungen ein, die sich in einem anderen Register halten. Die unerbittliche ideologische Produktion des vergeschlechtlichten Subjekts gibt dem weiblichen Sub­

jekt einen solchen Tod als außergewöhnlichen Signifi­

kanten des eigenen Begehrens zu verstehen, der die allge­meine Regel für das Verhalten einer Witwe überschreitet.

Zu bestimmten Zeiten und in bestimmten Gegenden wurde diese Ausnahmeregel zur allgemeinen Regel in ei­

nem klassenspezifischen Sinn. Ashis Nandy bezieht ihre markante Verbreitung im Bengalen des 18. und frühen

19. Jahrhunderts auf Faktoren, die von Maßnahmen zur

Bevölkerungskontrolle bis zu kommunaler Frauenfeind­lichkeit reichen.72 Zweifelsohne erklärt sich diese Ver­

breitung in früheren Jahrhunderten daraus, dass Witwen in Bengalen - im Unterschied zu anderen Regionen Indi­

ens - Eigentum erben konnten. Wo die Briten arme, zu Opfern gemachte Frauen sahen, die zur Schlachtbank

gingen, haben wir es also in Wirklichkeit mit einem ideo­logischen Schlachtfeld zu tun. Wie P. V. Karre, der große

Historiker des Dharmasastra, zutreffend bemerkt hat:

Page 39: Can the Subaltern Speak(Dt)

»In Bengalen muss [der Umstand, dass] der Witwe eines

sohnlosen Familienmitglieds selbst in einer zusammenge­setzten Hindu-Familie praktisch dieselben Rechte über

gemeinsames Familieneigentum verliehen waren, wie sie ihr verstorbener Ehemann gehabt hätte, [„.] die verblei­

benden Familienmitglieder oft dazu verleitet haben, sich

der Witwe zu entledigen, indem sie in einem besonders schmerzlichen Moment an ihre Hingabe und Liebe zu

ihrem Ehemann appellierten« (HD II.1, S. 635). Dennoch zeigten und zeigen wohlwollende und aufge­klärte Männer Sympathien für den »Mut«, den sie in

dieser Angelegenheit in der freien Entscheidung der Frau erblicken. Sie akzeptieren somit die Produktion des ver­geschlechtlichten subalternen Subjekts: »Das moderne

Indien rechtfertigt die Ausführung von satt nicht, aber es

ist eine verzerrte Mentalität, die moderne Inder dafür verurteilt, dass sie ihrer Bewunderung und Ehrfurcht vor

dem kühlen und unbeirrbaren Mut indischer Frauen Ausdruck verleihen, die satts werden oder den jauhar

durchführen, um ihre Ideale weiblichen Verhaltens in

Ehren zu halten« (HD II.1, S. 636). Was Jean-Frarn;:ois Lyotard als » diff erend «, als »Widerstreit«, bezeichnet hat, nämlich die Unzugänglichkeit oder Unübersetzbar­keit eines im Rahmen einer Auseinandersetzung auftre­

tenden Diskursmodus. in einen anderen, wird hier lebhaft veranschaulicht. 73 Im Zuge der diskursiven Aufhebung

(nicht aber Übersetzung, wie Lyotard argumentieren würde) dessen, was die Briten als heidnisches Ritual

wahrnahmen, in etwas, was die Briten als Verbrechen

wahrnahmen, wurde eine Diagnose des freien Willens von Frauen durch eine andere ersetzt. Natürlich war die Selbstopferung von Witwen keine un­

veränderliche Ritualvorschrift. Wenn die Witwe aller­

dings einmal tatsächlich beschlossen hatte, über den Buchstaben des Rituals auf diese Weise hinauszugehen,

so bedeutete jedes Umkehren eine Transgression, für die

88

eine besondere Art der Buße vorgeschrieben ist.74 In An­

wesenheit eines lokalen britischen Polizeibeamten, der

die Opferung beaufsichtigte, galt es hingegen als ein Zei­chen echter freier Wahl, einer Wahl der Freiheit, wenn eine Frau nach erfolgter Entscheidung wieder davon ab­

gebracht wurde. Die Mehrdeutigkeit der Position der in­

digenen Elite offenbart sich in der nationalistischen Ro­mantisierung der Reinheit, Stärke und Liebe dieser sich

selbst opfernden Frauen. Zwei klassische Beispiele dafür sind Rabindranath Tagores Loblied auf die »Selbstver­

zicht übenden väterlichen Großmütter Bengalens« und Ananda Coomaraswamys Lobrede auf suttee als »diesen

letzten Beweis der vollkommenen Einheit von Körper

und Seele«75•

Natürlich befürworte ich nicht die Tötung von Witwen.

Ich weise darauf hin, dass im Rahmen der beiden kon­kurrierenden Versionen von Freiheit die Konstituierung

des weiblichen Subjekts im Leben der Ort des differend ist. Im Falle der Witwenselbstopferung wird das Ritual

nicht als Aberglaube, sondern als Verbrechen neu defi­

niert. Die Anziehungskraft von satt lag in der ideologi­schen Besetzung als »Belohnung« begründet, genauso wie die Anziehungskraft des Imperialismus in dessen ideologischer Besetzung als »soziale Mission« begründet

lag. Thompsons Verständnis von satt als »Strafe« ist

folglich vollkommen verfehlt:

»Es könnte ungerecht und unlogisch erscheinen, dass die Mo­guln, die unbehindert gepfählt und bei lebendigem Leibe die Haut abgezogen haben, oder europäische Staatsangehörige, deren Länder so grausame Strafgesetzbücher hatten und kaum ein Jahrhundert, bevor Suttee das englische Gewissen zu schockieren begann, Orgien der Hexenverbrennung und reli­giösen Verfolgung gekannt hatten, gegenüber Suttee die Ge­fühle hatten, die sie hatten. Aber der Unterschied schien ihnen folgender zu sein: Die Opfer ihrer Grausamkeiten wurden durch ein Gesetz gefoltert, dass sie als Straftäter ansah, wo-

Page 40: Can the Subaltern Speak(Dt)

hingegcn die Opfer von Suttee nicht hir ein Vergehen hcstrc1ft

wurden, abgc,chcn voll der physischei1 Schwiiche, die sie der

Gnade der Männer [man's mercy] ausgeliefert hatte. Der Ritus schien eine Verdorbenheit und Arroganz unter Beweis zu stel­len, wie sie kein anderes menschliches Vergehen an den Tag gelegt hatte.« 76

Im Geiste der Kodifizierung des Gesetzes haben die Bri­

ten in Indien das gesamte mittlere und späte 18. Jahr­

hundert hindurch mit gelehrten Brahmanen zusammen­

gearbeitet und sich mit ihnen beraten, um zu einem Ur­

teil darüber zu gelangen, ob suttee gemäß ihrer

homogenisierten Version des Hindu-Gesetzes rechtmäßig

war. Die Zusammenarbeit war oft idiosynkratisch, etwa

im Falle der Diskussion darüber, wie es zu beurteilen

war, wenn die Witwe von ihrer Entscheidung abgebracht

wurde. Manchmal, wenn es etwa um das allgemeine fas­

trische Verbot der Opferung von Witwen mit kleinen

Kindern ging, schien die Zusammenarbeit auf britischer

Seite irritiert.77 Am Anfang des 19. Jahrhunderts wiesen

die britischen Behörden und besonders die Briten in Eng­

land wiederholt darauf hin, dass die Zusammenarbeit

den Anschein erwecke, als würden die Briten diese Pra­

xis stillschweigend dulden. Als das Gesetz schließlich

niedergeschrieben wurde, wurde die Geschichte der lan­

gen Periode der Zusammenarbeit ausgelöscht, und die

Sprache feierte nun die edlen Hindus, die sich gegen die

schlechten Hindus richteten, wobei Letztere zu wilden Grausamkeiten tendierten:

»Die Ausübung von Suttee [ ... ] ist für das Empfinden der menschlichen Natur abscheulich. [ ... ] In vielen Fällen wurden Grausamkeiten verübt, die für die Hindus selber schockierend waren. [ ... ] Angetrieben von diesen Überlegungen hat der Ge­neralgouverneur im Council, ohne von den ersten und wich­tigsten Prinzipien des britischen Regierungssystems in Indien abrücken zu wollen, nämlich dass allen Bevölkerungsklassen die Befolgung ihrer religiösen Gebräuche zugesichert wird, so-

lange dem bctrdfendcn S\·stem ohne Verletzung der olwrstcn

Ccbote voll Ccrechtigkeit ulld l lumallitiit Folge geleistet wer­

den kann, es für richtig erachtet, die folgenden Regeln festzu­legen[ ... ]« (HD II.1, S. 624 f.).

Es wurde natürlich nicht verstanden, dass es sich hierbei

um eine alternative Ideologie der abgestuften Sanktionie­

rung des Selbstmordes als Ausnahme handelte, und we­

niger um dessen Kennzeichnung als Sünde. Vielleicht

hätte satt in einen Zusammenhang mit dem Märtyrer­

tum gestellt werden sollen, wobei der verstorbene Ehe­

mann den Platz des transzendentalen Einen einnähme;

oder mit dem Krieg, wobei der Ehemann den Platz des

Souveräns oder des Staates einnähme. In Wirklichkeit

wurde satt in dieselbe Kategorie eingeordnet wie Mord,

Kindestötung und die tödliche Aussetzung der sehr Al­

ten. Der zweifelhafte Ort des freien Willens, über den

das als Frau konstituierte vergeschlechtlichte Subjekt

verfügte, wurde erfolgreich ausgelöscht. Es gibt keinen

Weg, der hier nachvollzogen werden könnte. Da die an­

deren erlaubten Selbstmorde mit der Bühne dieser Kon­

stituierung nichts zu tun hatten, betraten sie weder das

am archaischen Ursprung - der Tradition des Dhar­

masästra - angesiedelte ideologische Schlachtfeld noch

die Bühne der Neueinschreibung von Ritualen als

Verbrechen - also ihrer Abschaffung durch die Briten.

Die einzige verwandte Transformation war Mahatma

Gandhis Neueinschreibung des Begriffs satyägraha, oder

des Hungerstreiks, als Widerstand. Aber das ist nicht der

Ort, um die Details dieser grundlegenden Veränderung

zu besprechen. Ich möchte die Leserlnnen lediglich dazu

einladen, die Aura des Witwenopfers mit jener von

Gandhis Widerstand zu vergleichen. Satt und der erste

Teil des Wortes satyägraha haben dieselbe Wurzel.

Seit dem Beginn der puranischen Periode (ca. 400 n.

Chr.) haben gelehrte Brahmanen über die doktrinäre An-

Page 41: Can the Subaltern Speak(Dt)

gcmcsscnhcit sowohl von s<11! ~ils auch von sanktionier­

ten Selbstmorden an heiligen Orten im Allgemeinen de­

battiert. (Diese Diskussion wird auf akademischer Ebene

noch immer weitergeführt.) Manchmal stand zur De­

batte, aus welcher Kaste die Praxis hervorgegangen war.

Das allgemeine Gesetz für Witwen, das vorsah, dass sie

brahmacarya befolgen sollten, wurde allerdings kaum je

erörtert. Es ist unzureichend, brahmacarya als »Keusch­

heit« zu übersetzen. Man sollte den Umstand anerken­

nen, dass brahmacarya unter den vier Seinsaltern, die in

der hinduistischen (oder brahmanischen) regulativen

Psychobiographie unterschieden werden, jene soziale

Praxis bildet, die der verwandtschaftlichen Einschrei­

bung der Ehe vorausgeht. Der Mann - Witwer oder Ehe­

mann - geht durch vanaprastha (das Waldleben) hin­

durch, um in die reife Keuschheit und Enthaltsamkeit

von samnyäsa (dem Beiseiteliegen) einzutreten. 78 Die

Frau als Ehefrau ist unverzichtbar für garhasthya, die

Haushaltsführung, und darf ihren Ehemann ins Waldle­

ben begleiten. Sie hat (gemäß der brahmanischen Sank­

tionierung) keinen Zugang zur endgültigen Keuschheit

der Askese, dem samnyasa. Die Frau als Witwe muss

laut dem allgemeinen Gesetz der heiligen Doktrin in ei­

nen vorherigen Zustand zurückkehren, der sich in eine

Stasis gewandelt hat. Die mit diesem Gesetz verbunde­

nen institutionellen Übel sind wohlbekannt; meine Über­

legungen hier beziehen sich auf den asymmetrischen Ef­

fekt, den es auf die ideologische Formierung des verge­

schlechtlichten Subjekts hatte. Es ist in dieser Perspektive

von viel größerer Bedeutung, dass es über dieses keine

Ausnahme darstellende Schicksal von Witwen keinerlei

Diskussion gab - und zwar weder unter Hindus noch

zwischen Hindus und Briten -, als dass die Ausnahme­

vorschrift der Selbstopferung aktiv bekämpft wurde. 79

Hier wird die Möglichkeit der Rekonstruktion eines (ge-

92

schlcchtlich) sub~ilternen Subjekts aufs Neue vertan und

überdetermi1liert.

Diese rechtlich programmierte Asymmetrie im Status des

Subjekts, welche die Frau effektiv als Objekt eines Ehe­

mannes definiert, arbeitet ganz offensichtlich im Inter­

esse des rechtlich symmetrischen Subjektstatus des Man­

nes. Die Selbstopferung der Witwe wird somit zum ex­

tremen Fall des allgemeinen Gesetzes, anstatt eine

Ausnahme zu ihm darzustellen. Es überrascht daher

nicht, wenn man von himmlischen Belohnungen für satt

liest, wobei die Eigenschaft, das Objekt eines einzigen

Besitzers zu sein, an der Rivalität mit anderen Frauen de­

monstriert und unterstrichen wird, nämlich mit jenen ek­

statischen himmlischen Tänzerinnen - Ausbünde weibli­

cher Schönheit und männlicher Genüsse -, die die Witwe

lobpreisen: »Sie, die einzig ihrem Ehemann ergeben ist

und von Gruppen von apsaräs [himmlischen Tänzerin­

nen] gepriesen wird, vergnügt sich im Himmel mit ihrem

Ehemann, so lange, wie vierzehn Indras herrschen« (HD

II.1, S. 631). Die gründliche Ironie, die darin liegt, den freien Willen

der Frau in einer Selbstopferung anzusiedeln, wird ein­

mal mehr in einem Vers deutlich, der die zuvor zitierte

Passage begleitet: »Solange die Frau [als Ehefrau: strt]

sich nicht anlässlich des Todes ihres Ehemannes im Feuer

verbrennt, wird sie niemals von ihrem weiblichen Körper

[strisarir - das heißt, im Kreislauf der Geburten] entbun­

den werden [mucyate].« Der speziell für Frauen vorgese­

hene sanktionierte Selbstmord mag von individuellem

Handeln auf subtilste und allgemeine Weise entbinden,

doch bezieht er seine ideologische Kraft daraus, dass er

individuelles Handeln mit dem Überindividuellen identi­

fiziert: Töte dich jetzt selbst, auf dem Scheiterhaufen dei­

nes Ehemannes, und du kannst deinen weiblichen Kör­

per im gesamten Kreislauf der Geburten töten.

93

Page 42: Can the Subaltern Speak(Dt)

In einer weiteren Wendung des P,ir,1doxes sch1-ciht diese

Betonung des freien Willens das besondere Unglück fest,

einen weiblichen Körper zu haben. Das Wort für das

Selbst, das eigentlich verbrannt wird, ist der Standard­

ausdruck für den Geist im edelsten Sinn (ätman), während das Verb »entbinden«, aus der Wurzel für Erlö­

sung im edelsten Sinn (muc -> mok~a) gebildet, im Pas­siv steht (mucyate) und das Wort für das, was im Kreis­

lauf der Geburten ausgelöscht wird, der alltagssprachli­che Ausdruck für den Körper ist. Die ideologische

Botschaft liest sich in der wohlwollenden Bewunderung eines männlichen Historikers des 20. Jahrhunderts fol­

gendermaßen: »Der Jauhar [die Gruppenselbstopferung aristokratischer rajputischer Frauen, die Kriegswitwen

waren oder kurz davor standen, es zu werden], den raj­putische Frauen aus Chitor und anderen Orten durch­

führten, um sich vor unaussprechlichen Gräueltaten in

den Händen der siegreichen Muslime zu retten, ist allzu gut bekannt, als dass er längerer Aufmerksamkeit be­dürfte« (HD 11.1, S. 629).

Obwohl jauhar streng genommen kein Akt von satt ist

und obwohl ich nicht der sanktionierten sexuellen Ge­walt männlicher Eroberungsarmeen - ob »muslimische«

oder andere - das Wort reden möchte, stellt die im Ange­sicht solcher Gewalt vollzogene Selbstopferung von

Frauen eine Legitimation von Vergewaltigung als »natürliches« Geschehen dar und bedient auf lange Sicht

das Interesse einer einzigartigen geschlechtlichen Inbe­sitznahme des Weiblichen. Die von den Eroberern be­

gangene Gruppenvergewaltigung ist eine metonymische Feier der territorialen Aneignung. So wie das allgemeine

Gesetz für Witwen unhinterfragt blieb, so behauptet sich dieser Akt eines weiblichen Heroismus unter jenen pa­

triotischen Geschichten, die Kindern erzählt werden,

und tut seine Wirkung auf der plumpesten Ebene ideolo­gischer Reproduktion. Er hat ebenfalls, und zwar präzise

94

<lls Liberdctcrminierter Signifikant, eine enorme Rolle in

der Ausgestaltung des Hindu-Komrnunalisrnus gespielt.

Gleichzeitig wird die breitere Frage nach der Konstitu­

tion des vergeschlechtlichten Subjekts verschleiert, in­dem die sichtbare Gewalt von satt in den Vordergrund

gerückt wird. Die Aufgabe der Rekonstruktion eines (ge­schlechtlich) subalternen Subjekts verliert sich in einer

institutionellen Textualität, die am archaischen Ursprung

angesiedelt wird. Wie oben erwähnt, wurde dann, wenn der Status des Rechtssubjekts als Besitzhalter der weiblichen Hin­

terbliebenen temporär gewährt werden konnte, die Wit­

wenselbstopferung zwingend durchgesetzt. Raghunan­dana, der Rechtsgelehrte des späten 15. und 16. Jahr­

hunderts, dessen Interpretationen in dem Ruf stehen, einer solchen Durchsetzung die größte Autorität zu ver­

liehen zu haben, bezieht sich auf eine merkwürdige Stelle aus dem ßgveda, dem ältesten der heiligen Hindu-Texte,

dem ersten der Srutis. Dabei folgt er einer jahrhunder­tealten Tradition und ruft eine eigentümliche und offen­

kundige Fehllektüre in Erinnerung, die unmittelbar den Ort der Sanktionierung betrifft. Hier ist der Vers, der be­

stimmte Maßnahmen innerhalb der Totenriten umreißt. Selbst bei einfacher Lektüre wird klar, dass er sich »über­

haupt nicht an Witwen richtet, sondern an Frauen im Haushalt des verstorbenen Mannes, deren Ehemänner

am Leben waren«. Warum aber wurde er dann für auto­ritativ gehalten? Dies, der stillschweigende Austausch

des toten Ehemanns für den lebenden, stellt eine Ord­nung des Mysteriums am archaischen Ursprung dar, die

von den bislang diskutierten verschieden ist: »Lasst jene,

deren Ehemänner ehrenwert sind und leben, das Haus mit flüssiger Butter in den Augen betreten. Lasst diese Ehefrauen als Erste ins Haus eintreten, ohne Tränen, ge­

sund und reich verziert« (HD 11.1, S. 634). Aber diese

zentrale Vertauschung ist nicht der einzige Irrtum. Die

95

Page 43: Can the Subaltern Speak(Dt)

Autorit:it ist in einer umstrittenen Passage sowie einer al­

ternativen Lesart angesiedelt. In der zweiten Zeile, hier

übersetzt mit »Lasst diese Ehefrauen als Erste ins Haus eintreten«, lautet das Wort für »Erste«: agre. Manche

haben es als agne, »oh Feuer«, gelesen. Wie Kane indes

deutlich macht, »Stützen sich Apararka und andere selbst ohne diese Veränderung für die Praxis von satt auf diesen Vers« (HD IV, S. 199). Ein weiteres Mal wird

hier ein Ursprung der Geschichte des subalternen weibli­

chen Subjekts verdunkelt. Angesichts einer Aussage wie der folgenden: »Es muss daher zugestanden werden, dass

entweder die Manuskripte falsch überliefert wurden oder aher Raghunandana eine unschuldige Fehlleistung

unterlaufen ist« (HD II.1, S. 634) - sollte da nicht eine historische Traumdeutung unternommen werden? Es

sollte erwähnt werden, dass der Rest des Gedichts ent­

weder mit dem allgemeinen Gesetz von brahmacarya als Stasis befasst ist, dem Witwen unterliegen und zu dem satt eine Ausnahme bildet, oder mit niyoga - also damit,

»einen Bruder oder irgendeinen nahen Verwandten zu

bestimmen, der einem verstorbenen Ehemann Nachkom­men verschafft, indem er dessen Witwe heiratet«80

Wenn P. V. Kane die Autorität bezüglich der Geschichte des Dharmasästra ist, so stellen Mullas Principles of

Hindu Law den praktischen Leitfaden dar. Es ist ein Teil

des historischen Texts dessen, was Freud die »Logik des

Kessels« (die wir hier entwirren) nennt, dass Mullas Lehrbuch in ebenso definitiver Weise behauptet, der fragliche Vers aus dem ßgveda belege, dass »die Wieder­

verheiratung von Witwen und die Scheidung in manchen der alten Texte anerkannt werden« 81

Man kann sich nur wundern über die Rolle des Wortes

yonl. Im Kontext, gemeinsam mit dem lokalisierenden Adverb agre (vorne), heißt es »Wohnstätte«. Aber sein

primärer Sinn als »Geschlechtsteil« (wenn auch vielleicht noch nicht spezifisch: weibliches Geschlechtsteil) wird

dadurch nicht ,1usrndiert. Wie kann als Autoritiit dafür,

dass eine Witwe die Selbstopferung wählt, eine Passage

herangezogen werden, die den Eintritt geschmückter

Frauen in eine Wohnstätte feiert, welche bei dieser Ge­legenheit über ihren yont-Namen beschworen wird,

sodass das ikonische Bild außerhalb des gegebenen Kon­texts fast eines des Eintritts in die das Gemeinwesen be­

treffende Produktion oder die Geburt ist? Paradoxer­weise verleiht der bildliche Zusammenhang von Vagina und Feuer dem Autoritätsanspruch eine bestimmte

Kraft. 82 Dieses Paradox wird durch Raghunandanas

Abänderung des Verses verstärkt, die folgendermaßen lautet: »Lass sie zuerst die fliissige Bleibe [oder den Ur­

sprung, natürlich mit dem yont-Namen bezeichnet - ä

rohantu jalayonimagne] hinaufsteigen, oh Feuer [oder:

des Feuers J «. Warum sollten wir akzeptieren, dass dies

»wahrscheinlich bedeutet: >Möge das Feuer ihnen so kühl sein wie Wasser<« (HD II.1, S. 634)? Das flüssige Geschlechtsteil des Feuers, eine schlechte Formulierung,

könnte eine sexuelle Unbestimmtheit darstellen, die ein

Simulakrum für die intellektuelle Unbestimmtheit von tattvajiiäna (Wissen um die Wahrheit) anbietet.

Ich habe weiter oben von einer konstruierten Gegener­zählung über das Bewusstsein der Frau geschrieben, also

das Sein der Frau, also das Gutsein der Frau, also das Be­gehren der guten Frau, also das Begehren der Frau. Diese

gleitenden Verschiebungen lassen sich an dem Bruch nachvollziehen, der in das Wort satt selbst, die weibliche

Form von sat, eingeschrieben ist. Sat transzendiert jegli­chen genderspezifischen Begriff von Männlichkeit und

erhebt sich in eine nicht nur menschliche, sondern spiri­tuelle Universalität. Es ist das Präsenspartizip des Verbs

»sein« und heißt als solches nicht nur »seiend«, sondern

bezeichnet das Wahre, das Gute, das Richtige. In den heiligen Texten steht es für das Wesen, den universellen Geist. Sogar als Präfix zeigt es die Bedeutungen »ange-

97

Page 44: Can the Subaltern Speak(Dt)

messen", »treffend", »passend« an. Es ist edel genug,

um in den privilegiertesten Diskurs der modernen westli­

chen Philosophie Eingang gefunden zu haben: Heideg­

gers Meditation über das Sein.83 Satt, das Femininum dieses Wortes, heißt einfach: »gute Ehefrau«.

Es ist nun an der Zeit, offen zu legen, dass satt bzw. sut­tee - als Eigenname für den Ritus der Witwenselbstopfe­

rung - das Gedächtnis eines grammatikalischen Fehlers seitens der Briten in sich trägt, ungefähr so, wie die Be­zeichnung »American Indian« (»Indianer«) das Ge­

dächtnis eines faktischen Irrtums von Kolumbus in sich

trägt. Der Ausdruck, der in den verschiedenen indischen Sprachen dafür verwendet wird, lautet: »die Verbren­

nung der satt«, bzw. der guten Ehefrau, die auf diese Weise der regressiven Stasis der in brahmacarya eintre­

tenden Witwe entkommt. Dieser Umstand veranschau­licht die »Rasse«-Klasse-Gender-Überdeterminierungen

der Situation. Er lässt sich vielleicht noch dann erfassen, wenn er glatt gebügelt wird: Weiße Männer, die braune

Frauen vor braunen Männern retten wollen, unterwer­

fen diese Frauen einer größeren ideologischen Veren­gung, und zwar durch die absolute Identifikation inner­halb der diskursiven Praxis des Gute-Ehefrau-Seins mit

der Selbstopferung auf dem Scheiterhaufen des Ehe­manns. Auf der anderen Seite einer solchen Konstitu­

ierung des Objekts, dessen Abschaffung (oder Beseiti­

gung) Gelegenheit zur Errichtung einer guten - im Unter­schied zu einer bloß zivilen - Gesellschaft bieten wird,

steht die hinduistische Manipulation weiblicher Subjekt­Konstituierung, die ich zu diskutieren versucht habe.

(Edward Thompsons Suttee, veröffentlicht im Jahre 1928, habe ich bereits erwähnt. Ich kann diesem Mu­

sterbeispiel für eine Rechtfertigung des Imperialismus als zivilisierende Mission hier nicht gerecht werden. Nir­

gendwo in diesem Buch - das von jemandem geschrieben wurde, der bekennenderweise »Indien liebt« - gibt es ir-

gcndeine lnfragestellung der »nutzbringenden Rück­

sichtslosigkeit« der Briten in Indien, wie sie durch einen

territorialen Expansionismus oder das Management in­

dustriellen Kapitals motiviert wurde.84 Das Problem mit seinem Buch ist in der Tat ein Problem der Repräsenta­

tion, nämlich die Konstruktion eines kontinuierlichen und homogenen »Indien« in Begriffen von Staatsober­

häuptern und britischen Verwaltern, entworfen aus der Perspektive »eines Mannes von gesundem Menschenver­

stand«, der sich als transparente Stimme vernünftiger Humanität ausgibt. »Indien« kann nunmehr im anderen

Sinn repräsentiert - vertreten - werden, nämlich von sei­

nen imperialen Herren. Der Grund für die Bezugnahme auf Suttee hier ist Thompsons geschicktes Manöver, das Wort satt im allerersten Satz des Buches als »treu« wie­

derzugeben, eine ungenaue Übersetzung, die nichtsdesto­

weniger einen englischen Passierschein für die Ein­führung des weiblichen Subjekts in den Diskurs des 20.

Jahrhunderts darstellt.85)

Nehmen wir Thompsons Lobpreis auf General Charles

Herveys Anerkennung des satt-Problems: »Bei Hervey gibt es einen Passus, der das Beklagenswerte an einem

System hervorhebt, das lediglich nach Hübschheit und Standhaftigkeit in der Frau suchte. Er sammelte die Na­

men von Satis, die auf den Scheiterhaufen von Bikanir Rajas gestorben waren; es waren solche Namen wie:

>Strahlenkönigin, Sonnenstrahl, Glück der Liebe, Kranz,

Gefundene Tugend, Echo, Sanftauge, Trost, Mondstrahl, Liebesverlassene, Liebherz, Augenspiel, In-der-Laube­

Geborene, Lächeln, Liebesknospe, Glückliches Omen, Nebelumhüllte oder Wolkenentsprungene - der letzte ist

besonders beliebt<.« Indem er die typischen Ansprüche eines der Oberschicht zugehörigen Viktorianers an

»seine Frau« (seine bevorzugte Formulierung) ansetzt, eignet sich Thompson einmal mehr die Hindu-Frau als

seine eigene an, die vor dem »System« zu retten ist. Bika-

99

Page 45: Can the Subaltern Speak(Dt)

ncr liegt in R<1jasth<rn; und jegliche Diskussion über \V'ir­

wenverbrennungen in Rajasthan, speziell in der herr­

schenden Schicht, war aufs Engste mit der positiven oder

negativen Konstruktion eines hinduistischen (oder ari­

schen) Kommunalismus verbunden.

Ein Blick auf die erbärmlich falsch geschriebenen Namen

der satts aus handwerklichen, bäuerlichen, dorfpriesterli­

chen, Geldverleih betreibende,n, geistlichen und ver­

gleichbaren sozialen Gruppen in Bengalen, wo satts am

meisten verbreitet waren, hätte keine solche Ernte er­

bracht (Thompsons bevorzugtes Adjektiv für Bengalis ist

»schwachköpfig«). Oder vielleicht hätte er es. Es gibt

keinen gefährlicheren Zeitvertreib, als Eigennamen in

allgemeine Begriffe zu transponieren, sie zu übersetzen

und als soziologische Belege zu verwenden. Ich habe ver­

sucht, die Namen auf dieser Liste zu rekonstruieren, und

begann Hervey/Thompsons Arroganz zu empfinden.

Wie zum Beispiel mag der mit »Trost« [Comfort] wie­

dergegebene Name gelautet haben? »Shanti«? Das Wort

erinnert an die letzte Zeile von T. S. Eliots Waste Land.

Dort trägt es die Markierung einer bestimmten Art und

Weise, Indien zu stereotypisieren - durch die Größe der

ökumenischen Upanishaden. Oder »Swasti«? Dies wie­

derum erinnert an die svastika, das rituelle brahmani­

sche Zeichen für. den häuslichen Trost, die häusliche

Ruhe (wie in »Gott segne unser Haus«), das zur krimi­

nellen Parodie arischer Hegemonie stereotypisiert

wurde. Wo zwischen diesen beiden Aneignungen findet

sich unsere hübsche und standhafte verbrannte Witwe?

Die Aura der Namen ist weniger soziologischer Genauig­

keit geschuldet als vielmehr Schriftstellern wie Edward

FitzGerald, dem »Übersetzer« der Rubayyat von Omar

Khayyam, der über die vermeintliche »Objektivität« der

Übersetzung zur Konstruktion eines bestimmten Bildes

der orientalischen Frau beitrug. (Saids Orientalism aus

dem Jahr 1978 bleibt hier der autoritative Text.) Vermit-

100

tels dieser Art von Kalkiil wiirden die übersetzten Eigen­

namen einer beliebigen Anzahl französischer Gcgcn­

wartsphilosophinnen oder der Mitglieder von Direkti­

onsgremien prestigeträchtiger südlicher US-Unterneh­

men einer Furcht erregenden Selbstverschreibung an eine

erzengelhafte und hagiozentrische Theokratie Evidenz

verleihen. Solche Taschenspielertricks können auch über

»gewöhnliche Nomen« weitergeführt werden, aber der

Eigenname ist dafür am anfälligsten. Und es ist der satt

betreffende britische Trick, den wir hier diskutieren.

Nach einer solchen Zähmung des Subjekts kann Thomp­

son, unter der Überschrift »Die Psychologie von >Sati«<,

schreiben: »Ich trug mich mit der Absicht eines Ver­

suchs, dies zu erforschen; aber die Wahrheit ist, dass es

mir nicht länger als Rätsel erscheint.« 86

Zwischen Patriarchat und Imperialismus, Subjektkonsti­

tuierung und Objektformierung, verschwindet die Figur

der Frau, und zwar nicht in ein unberührtes Nichts hin­

ein, sondern in eine gewaltförmige Pendelbewegung, die

in der verschobenen Gestaltwerdung der zwischen Tradi­

tion und Modernisierung gefangenen »Frau der Dritten

Welt« besteht. Diese Erwägungen würden eine Revision

jedes einzelnen Details von Urteilen mit sich bringen, die

für eine Geschichte der Sexualität im Westen Gültigkeit

zu haben scheinen: »Das Eigentümliche der Repression,

das, was sie von den einfachen Verboten des Strafgeset­

zes unterscheidet, soll demnach darin bestehen, dass sie

zugleich als Verbannungsurteil und als Befehl zum

Schweigen funktioniert, als Behauptung der Nicht-Exi­

stenz und - konsequenterweise - als Feststellung, dass. es

bei alledem überhaupt nichts zu reden, zu sehen oder zu

wissen gibt.« 87 Der Fall von suttee als Beispiel für die

Frau-im-Imperialismus würde diese Gegenüberstellung

von Subjekt (Gesetz) und Objekt-des-Wissens (Repres­

sion) in Frage stellen und dekonstruieren; und der Ort

des »Verschwindens« wäre durch anderes gekennzeich-

101

Page 46: Can the Subaltern Speak(Dt)

ner ~1ls durch Schweigen und Nichr-Existc111, n:imlich

eine gewaltformigc Aporie zwischen Subjekt- und Ob­jektstatus.

Satt als Eigenname von Frauen ist in Indien heute ziem­lich weit verbreitet. Ein weibliches Kind »gute Ehefrau«

zu nennen hat seine eigene vorausgreifende Ironie, und die Ironie ist umso größer, als diese Bedeutung des ge­

wöhnlichen Nomens nicht das primäre Element im Ei­gennamen ist.88 Hinter dem Namen, der dem Kind gege­

ben wird, steht die Satt der Hindu-Mythologie, nämlich Durga in ihrer Erscheinungsform als gute Ehefrau. 89 In

einem Teil der Geschichte kommt Satt - sie wird bereits

so genannt - uneingeladen, und sogar in Ermangelung einer Einladung an ihren göttlichen Ehemann Siva, am

Hof ihres Vaters an. Ihr Vater beginnt Siva zu beschimp­fen, und Satt stirbt vor Schmerz. Voller Wut trifft Siva

ein und tanzt mit Satts Leiche auf seiner Schulter über

das Universum. Vi~l).U zerstückelt ihren Körper, und des­sen Teile werden über die Erde gestreut. Um jeden Teil dieser Überreste gibt es einen bedeutenden Pilgerort.

Figuren wie die Göttin Athene - »Töchter eines Vaters,

die nach eigener Erklärung nicht durch den Mutterleib verunreinigt sind« - sind nützlich, um die ideologische

Selbstherabsetzung von Frauen zu etablieren, was von ei­ner dekonstruktiven Einstellung gegenüber dem essen­

zialistischen Subjekt zu unterscheiden ist. Die Geschichte

der mythischen Satt, die jedes Erzählelement des Ritus umkehrt, übt eine ähnliche Funktion aus: Der lebende Ehemann rächt den Tod der Ehefrau, eine Transaktion

zwischen großen männlichen Göttern vollendet die Zer­

störung des weiblichen Körpers und schreibt so der Erde eine heilige Geographie ein. Dies als einen Beweis für

den Feminismus des klassischen Hinduismus bzw. den göttinnenzentrierten und daher feministischen Charakter

der indischen Kultur anzusehen ist ideologisch ebenso sehr durch einen Nativismus oder umgewendeten Ethno-

102

zcnrrisrnus kontaminiert, wie es imperialistisch war. cbs

Bild der glanzvoll kiimpfendcn 1'vluttcr Durga auszu­

radieren und den Eigennamen Satl mit keiner anderen

Bedeutung auszustatten als jener der rituellen Verbren­nung der sich als Opfer darbietenden hilflosen Witwe,

die dann gerettet werden kann. Es gibt keinen Raum, von dem aus das vergeschlechtlichte subalterne Subjekt

sprechen kann.

Wenn die vom sozialisierten Kapital Unterdrückten kei­nen notwendig unvermittelten Zugang zu »korrektem«

Widerstand haben, lässt sich die Ideologie von satt, die aus der Geschichte der Peripherie kommt, dann in ir­

gendein Modell interventionistischer Praxis aufheben?

Da dieser Essay sich auf den Gedanken stützt, dass solch fest umrissene, auf verlorene Ursprünge gerichtete

Nostalgien allesamt verdächtig sind, und zwar insbeson­dere als Grundlage für eine gegenhegemoniale ideologi­

sche Produktion, muss ich anhand eines Beispiels fort­fahren.90

(Das Beispiel, das ich hier anführe, ruft nicht nach einer gewaltförmigen hinduistischen Schwesternschaft der

Selbstzerstörung. Die im Hindu-Gesetz verankerte Defi­nition der britischen Inderlnnen als Hindus bildet einen

der Marksteine des ideologischen Krieges der Briten gegen die muslimischen Moguln, die in Indien herrsch­

ten; eine signifikante Auseinandersetzung in jenem bis heute unbeendeten Krieg war die Teilung des Subkonti­

nents. Im Übrigen sind individuelle Beispiele dieser Art als Modelle für eine interventionistische Praxis meines

Erachtens tragische Fehlschläge, da ich die Produktion von Modellen als solche in Frage stelle. Andererseits

können sie, als Gegenstände einer Diskursanalyse für

nicht selbstabdankende Intellektuelle, einen Ausschnitt des sozialen Texts erhellen, und sei es auch auf unsyste­

matische Art und Weise.)

103

Page 47: Can the Subaltern Speak(Dt)

Als junge Frau von 16 oder 17 Jahren erhiingte sich Bhu­

vaneswari Bhaduri im Jahre 1926 in der bescheidenen

Wohnung ihres Vaters im Norden Kalkuttas. Der Selbst­mord gab Rätsel auf, handelte es sich doch, zumal Bhu­

vaneswari zu dieser Zeit menstruierte, offenkundig nicht

um einen Fall von unerlaubter Schwangerschaft. Fast ein. Jahrzehnt später fand man heraus, dass sie Mitglied ei­

ner der vielen Gruppen war, die in den bewaffneten Kampf für die indische Unabhängigkeit involviert wa­ren. Schlussendlich war sie mit der Durchführung eines

politischen Mordes betraut worden. Da sie sich nicht in

der Lage sah, die Aufgabe zu übernehmen, und sich doch · über das praktische Vertrauenserfordernis im Klaren war, tötete sie sich selbst.

Bhuvaneswari hatte gewusst, dass ihr Tod als Folge einer

verbotenen Leidenschaft beurteilt werden würde. Sie

hatte daher auf den Beginn ihrer Menstruation gewartet. Während sie wartete, schrieb Bhuvaneswari, die brahmacärini, die ohne Zweifel auf ein Dasein als gute

Ehefrau vorausblickte, den sozialen Text des satt-Selbst­

mordes vielleicht auf interventionistische Weise um. (Ein Erklärungsversuch sah ihre unbegreifliche Tat in einer

möglichen Melancholie begründet, hervorgerufen durch die wiederholten Sticheleien ihres Schwagers, sie sei zu

alt, um noch unverheiratet zu sein.) Sie verallgemeinerte das sanktionierte Motiv für den weiblichen Selbstmord,

indem sie immense Anstrengungen unternahm, um

durch die physiologische Einschreibung ihres Körpers eine Verschiebung (und nicht nur Verleugnung) der an einen einzelnen Mann gebundenen Gefangenschaft die­

ses Körpers innerhalb der legitimen Leidenschaft zu be­

wirken. Im unmittelbaren Kontext geriet ihre Handlung zu etwas Absurdem, zu einem Fall von Delirium und

nicht der geistigen Gesundheit. Die Geste der Verschie­bung - nämlich auf die Menstruation zu warten - ist

zunächst eine Umkehrung des Verbots, das menstru-

ierenden Witwen das Recht versagt. sich selbst zu op­

fern; die unreine Witwe muss, und zwar öffentlich, bi, zum reinigenden Bad des vierten Tages, wenn sie nicht mehr menstruiert, warten, um ihr zweifelhaftes Privileg

in Anspruch zu nehmen. In dieser Lesart ist der Selbstmord von Bhuvaneswari Bhaduri eine unausdrückliche, ad hoc erfolgende, subal­

terne Weise, den sozialen Text des satt-Selbstmordes ebenso umzuschreiben wie die hegemoniale Darstellung

der lodernden, kämpfenden, familialen Durga. Die auf­tauchenden Abweichungsmöglichkeiten jener hegemo­

nialen Darstellung der kämpfenden Mutter sind gut dokumentiert und durch den Diskurs der männlichen

Anführer und Teilnehmer an der Unabhängigkeitsbewe­gung im populären Gedächtnis gut verankert. Die Subal­

terne als Frau kann nicht gehört oder gelesen werden.

Ich weiß von Bhuvaneswaris Leben und Tod durch Fa­milienverbindungen. Bevor ich genauere Nachforschun­

gen anstellte, fragte ich eine bengalische Frau, eine Philo­sophin und Sanskritologin, deren frühe intellektuelle

Produktion mit der meinigen fast identisch ist, ob sie da­mit beginnen könne. Zwei Antworten: (a) Warum bist

du an der unglückseligen Bhuvaneswari interessiert, wenn ihre beiden Schwestern, Saileswari und Raseswari,

so erfüllte und wunderbare Leben geführt haben? (b) Ich

habe ihre Nichten gefragt. Es scheint, dass es sich um ei­nen Fall von unerlaubter Liebe gehandelt hat.

Ich habe versucht, von der Derrida'schen Dekonstruk­tion, die ich nicht als solche als Feminismus feiere, Ge­

brauch zu machen und über sie hinauszugehen. Im Zu­sammenhang der Problematik, die ich behandelt habe,

finde ich seine Morphologie jedoch sehr viel gewissen­hafter und brauchbarer als Foucaults und Deleuze' un­

vermittelte, substanzielle Befasstheit mit klarer »politi­schen« Themen - etwa die Einladung des Letzteren zum »Frau-Werden« -, die ihren Einfluss für US-Akademike-

Page 48: Can the Subaltern Speak(Dt)

rTnnen, die enthusiastische Linke sind, gefährlicher ma­

chen kann. Dcrrida markiert die Gefahr einer Aneignung

des/der Anderen durch Assimilierung, die in linker Kritik

angelegt ist. Er liest die Katachrese am Ursprung. Er ruft

nach einer Neuschreibung des utopischen strukturellen Impulses als Impuls, »die innere Stimme, die Stimme des

anderen in uns, delirieren [zu] lassen«. Ich muss hier ei­nen langfristigen Nutzen im Werk Derridas anerkennen,

den ich bei den Autoren von Sexualität und Wahrheit und den Tausend Plateaus offensichtlich nicht länger finde. 91

Die Subalterne kann nicht sprechen. Es liegt kein Wert in

globalen Endlosaufzählungen, die »Frau« als frommen

Begriff anführen. Repräsentation ist nicht abgestorben. Die weibliche Intellektuelle hat als Intellektuelle eine

klar umrissene Aufgabe, die sie nicht mit Pauken und Trompeten verleugnen darf.

ANMERKUNGEN

1 Ich danke Khachig Tololyan für eine sorgfältige erste Lektüre dieses Essays. 2 Louis Althusser, Lenin und die Philosophie, aus dem Französ. übers. v. Klaus-Dieter Thieme, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1974, S. 43. [Die deutsche Ausgabe übersetzt mit »Philosophie der Negierung«; Anm. d. übers.] 3 Ich habe die englische Version dieses Textes, wie auch anderer englischsprachiger Übersetzungen, modifiziert, soweit Treue zum Original dies zu verlangen schien. [Anm. d. übers.: Entsprechend sind auch die hier verwendeten deutschsprachigen Übersetzungen, orientiert an den Wiedergaben Spivaks sowie unter Berücksichti­gung der französischen Originaltexte, teilweise modifiziert. Spivak zitiert das oben angeführte Gespräch sowie andere Texte Foucaults nach den folgenden beiden Foucault-Sammelbänden: Language, Counter-Memory, Practice: Selected Essays and Inter­views, Ithaca: Cornell University Press 1977, sowie Power/Know­ledge: Selected Interviews and Other Writings 1972-77, New York: Pantheon 1977.]

M106

Fs ist wichtig, anzumcrkrn. cbss der größte "Einfluss« wcsteu­

rupcii;chcT lnrc·lkktuc·lln auf l'rnfc·"'"·l1111c11 und Studicrc11dc i11

den USA durch Aufsatzsammlungen und nicht durch Übersetzun­gen langer Bücher zustande kommt. Und innerhalb dieser Samm­lungen sind es verständlicherweise die stärker mit aktuellen The­men befassten Texte, die eine größere Verbreitung finden (Derri­das »Die Struktur, das Zeichen und das Spiel« ist ein gutes Beispiel dafür). Unter der Perspektive theoretischer Produktion und ideologischer Reproduktion ist das hier betrachtete Gespräch daher nicht notwendigerweise durch andere Texte verdrängt wor­

den. 4 Es liegt hier eine implizite Bezugnahme auf die Welle des Maois­mus im Frankreich nach 1968 vor. Vgl. M. Foucault, »Über die Volksjustiz. Eine Auseinandersetzung mit Maoisten«, in: Sehr II, S. 424-461. Die Explikation dieser Bezugnahme stärkt mein Ar­gument, indem sie den Mechanismus der Aneignung blofüegt. Der Status Chinas in dieser Diskussion ist exemplarisch. Während Foucault sich beharrlich mit der Aussage »Ich weiß nichts über China« unschuldig hält, legen seine Gesprächspartner gegenüber China eine Haltung an den Tag, die Derrida als das »chinesische Vorurteil« bezeichnet hat. 5 Dies ist Teil eines viel weiter reichenden Symptoms, wie Eric Wolf in Europe and the People without History (Berkeley: Uni­versity of California Press 1982) ausführt. 6 Walter Benjamin, Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, in: Ders„ Abhandlungen. Gesammelte Schriften, Bd. I.2, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1991, S. 514 f. 7 Gilles Deleuze / Felix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I, aus dem Französ. übers. v. Bernd Schwibs, Frankfurt/M.: Suhrkamp 71995, S. 36 [die deutsche Übersetzung des Anti-Ödipus gibt das französische »desir« mit »Wunsch« wie­der; wir folgen hier späteren Deleuze/Guattari-Übersetzungen, v. a. der Tausend Plateaus, und übersetzen mit »Begehren«; Anm.

d. übers.]. 8 Der Austausch mit Jacques-Alain Miller in Sehr III, S. 391-429 (»Das Spiel des Michel Foucault«) ist in diesem Punkt aufschlus­

sreich. 9 L. Althusser, »Ideologie und ideologische Staatsapparate (An­merkungen für eine Untersuchung)«, in: Ders„ Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Staats­theorie, aus dem Französ. übers. v. Rolf Loper, Klaus Riepe u. Pe­ter Schottler, Hamburg/Berlin: VSA 1977, S. 108-153, hier:

S.118. 1° Für ein Beispiel unter vielen vgl. VG, S. 39.

Page 49: Can the Subaltern Speak(Dt)

11 F, id1c·1-,-,1,ch1chhl'I'11ichr, d,1" hn1c·'1ulr, \\1crk - eh' f1·iihl' 11ic·

das späte - durch eine allzu simple Vorstellung von Unter­

drückung bzw. Repression [repression] abgestützt wird. Der An­tagonist ist hier Freud, nicht Marx, wenn Foucault etwa davon spricht, »worin und wie dieser Begriff der Unterdrückung, der heute bei der Charakterisierung der Mechanismen und Machtef­fekte so gerne verwendet wird, hinten und vorne zu ihrer Erfas­sung nicht ausreicht« (VG, S. 29). Die Delikatheit und Subtilität von Freuds Vorschlag - nämlich dass unter der Bedingung von Verdrängung [repression] die phänomenale Identität von Affekten unbestimmt ist, weil etwas Unlustvolles als Lust begehrt werden kann, womit das Verhältnis von Begehren und »Interesse« radikal neu verankert wird - scheint hier ziemlich entleert zu sein. Für eine Ausarbeitung dieses Begriffs von Repression vgl. J. Derrida, Grammatologie, S. 157 ff.; sowie J. Derrida, Umited Tnc, aus dem Franz. übers. v. Werner Rapp! unter Mitarbeit v. Dagmar Tavner, Wien: Passagen 2001, S. 121 f. 12 Althussers Version dieser besonderen Situation mag allzu sche­matisch sein, aber sie wirkt in ihrer Programmatik nichtsdesto­weniger sorgfältiger als das hier in Frage stehende Argument. »Der Klasseninstinkt«, schreibt Althusser, »ist subjektiv und spontan. Die Klassenposition ist objektiv und rational. Um zu proletarischen Klassenpositionen zu gelangen, ist es lediglich not­wendig, den Klasseninstinkt von Proletariern zu schulen; der Klas­seninstinkt des Kleinbürgertums, und mithin von Intellektuellen muss hingegen revolutioniert werden.« (L. Althusser, »La philo'. sophie comme arme de la revolution«, in: La Pensee, 138 [März/April 1968], S. 26-34; hier zit. nach: L. Althusser, Lenin and Philosophy and Other Essays, aus dem Französ. übers. v. Ben Brewster, New York: Monthly Review Press 1971, S. 13.) 13 Foucaults anschließende Erklärung (Sehr III, S. 550) dieser De­leuze'schen Aussage kommt der Vorstellung Derridas näher, dass Theorie keine erschöpfende Taxonomie sein kann und stets durch eine Praxis gestaltet wird. 14 Vgl. die überraschend unkritischen Vorstellungen von Reprä­sentation in Sehr III, S. 545 u. 304. Meine kritischen Bemerkun­gen am Ende dieses Abschnitts bezüglich der Repräsentationen subalterner Gruppen durch Intellektuelle sollten streng von einer Koalitionspolitik unterschieden werden, die ihrem Eingefasstsein innerhalb des sozialisierten Kapitals Rechnung trägt und Men­schen nicht deshalb vereinigt, weil sie unterdrückt werden son­dern weil sie ausgebeutet werden. Dieses Modell funktionie~t am besten in einer parlamentarischen Demokratie, wo Repräsenta-

ro8

rinn nicht nur nicht verbannt ist, sondern in ausgeklügelter \'\leise

111~1.c11icrt \\'ird. 15 Karl Marx, Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: Marx/Engels-Werke (MEW), Bd. 8, Berlin: Dietz 1960, S. 198. 16 Vgl. K. Marx, Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, MEW, Bd. 23, Berlin: Dietz 191998, S. 167. [Spivak zitiert sehr frei; Anm. d. übers.] 17 Vgl. ebd., S. 209. 18 Vgl. die exzellente kurze Definition und Diskussion des com­

mon sense bei Errol Lawrence, »Just Plain Common Sense: The •Roots< of Racism«, in: Hazel V. Carby et al., The Empire Strikes Back: Race and Racism in 70s Britain, London: Hutchinson 1982, s. 48. 19 Es lässt sich zeigen, dass der »Gebrauchswert« bei Marx eine »theoretische Fiktion« ist - er hat ebenso viel von einem potenzi­ellen Oxymoron wie der »Austausch mit der Natur«. Ich habe dies auszuführen versucht in »Scattered Speculations on the Que­stion of Value«, einem bei der Zeitschrift Diacritics eingereichten Manuskript. [Der Text erschien in: Diacritics, Winter 1985, 15 (4), S. 73-93; Wiederabdruck in: G. Ch. Spivak, In Other Worlds: Essays in Cultural Politics, New York: Methuen 1987, S. 154-175; Anm. d. übers.] 20 Derridas »Der Genfer Linguistenkreis«, bes. S. 147 f., kann eine Methode bereitstellen, um den irreduziblen Platz der Familie in Marx' Morphologie der Klassenbildung zu beurteilen; in: J. Der­rida, Randgänge der Philosophie, aus dem Französ. übers. v. Günther R. Sigi et al., Wien: Passagen 1988, S. 143-157. 21 K. Marx, Das Kapital. Erster Band, S. 53. 22 Ich bin mir darüber im Klaren, dass das Verhältnis zwischen Marxismus und Neokantianismus politisch befrachtet ist. Ich selbst sehe nicht, wie eine durchgehende Linie zwischen den Tex­ten von Marx und dem Kantischen ethischen Moment gezogen werden kann. Sehr wohl bin ich jedoch der Auffassung, dass Marx' Infragestellung des Individuums als Agent der Geschichte im Kontext des Aufbrechens des individuellen Subjekts gelesen werden sollte, das durch Kants Kritik an Descartes eingeleitet

wurde. 23 K. Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie,

MEW, Bd. 42, Berlin: Dietz 22005, S. 91. 24 Edward W. Said, Die Welt, der Text und der Kritiker, aus dem Engl. übers. v. Brigitte Flickinger, Frankfurt/M.: S. Fischer 1997, s. 288. 25 Paul Bove, »Intellectuals at War: Michel Foucault and the Ana­lysis of Power«, in: Sub-Stance, 36137 (1983), S. 44.

Page 50: Can the Subaltern Speak(Dt)

26 11. V. C1d11 c·t cil .• "fhe /111/>irc Stril~es /l,1cf~. S .. H.

'. Diesn Argurnc:nt wird ncihcr ausgcfohrr in G. Ch. Spivak,

»Scattered Speculations«. Nochmals, der Anti-Ödipus hat den ökonomischen Text nicht ignoriert, auch wenn die entsprechende Auseinandersetzung vielleicht zu allegorisch geraten ist. In dieser Hinsicht war die Bewegung von der Schizo- hin zur Rhizo-Ana­~~se in Tausend Plateaus (Berlin: Merve 1992) unglücklich.

Vgl. M. Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft, aus dem Franz. übers. v. Ulrich Köppen, Frankfurt/M.: Suhrkamp 111995, S. 510, 521, 527. 29

Obwohl ich Fredric Jamesons Buch Das politische Unbewusste für einen Text von großem kritischem Gewicht halte, oder viel­leicht gerade weil ich das tue, möchte ich mein Programm hier von einem Ansatz unterschieden wissen, der die Relikte eines pri­vilegierten Narrativs wieder instand zu setzen versucht: »Gerade hierin findet die von mir vorgeschlagene Theorie des politischen Unbewussten ihre Funktion und Notwendigkeit, indem sie die Spuren dieser ununterbrochenen Erzählung ausfindig macht, in­dem sie die unterschlagene und verschüttete Wirklichkeit dieser grundlegenden Geschichte wieder an der Oberfläche des Textes ablesbar werden lässt« (F. Jameson, Das politische Unbewusste. Literatur als Symbol sozialen Handelns, aus dem Engl. übers. v. Ursula Bauer, Gerd Burger u. Bruni Böhm, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988, S. 15 f.). 30

Unter den vielen verfügbaren Werken zitiere ich Bruce Tiebout McCully, English Education and the Origins of Indian Nationa­lism, New York: Columbia University Press 1940. 31

Zit. nach Thomas Babington Macaulay, Speeches by Lord Macaulay: With His Minute on Indian Education, hg. v. G. M. Young, Oxford: Oxford University Press/ AMS Edition 1979 s. 359. ' 32

Keith, der an der Erstellung des Vedic Index beteiligt war, Au­tor von Sanskrit Drama in Its Origin, Development, Theory, and Practice und gelehrter Herausgeber des Krsnayajurveda für Har­vard University Press, war auch der Herausgeber der vier Bände der Selected Speeches and Documents of British Colonial Policy (1763-1937), von International Affairs (1918-1937) sowie von British Dominions (1918-1931). Er schrieb Bücher über die Sou­veränität der britischen Dominions und über die Theorie der Staa­tensukzession, mit besonderer Bezugnahme auf das englische und koloniale Recht. 33 h Ma amahopadhyaya Haraprasad Shastri, A Descriptive Cata-logue of Sanskrit Manuscripts in the Government Collection un-

IIO

der thc Carc of thc Asi,1tic Societv of llc11g,d, l\d .. \. K:ilkurra: .-\siatic Socicry of lkngal ['>25, S. VIII. 34 Dinesh Chandra'Sen, Brhat Banga, Bd. 1, Kalkutta: Calcutta University Press 1925, S. 6. 35 Edward Thompson, Suttee: A Historical and Philosophical En­quiry into the Hindu Rite of Widow-Burning, London: George Allen and Unwin 1928, S. 130 u. 47. 36 Eigenhändig geschriebener Brief (von G. A. Jacob an einen un­genannt bleibenden Adressaten), angeheftet an die Umschlagin­nenseite der in der Sterling Memorial Library (Yale University} befindlichen Ausgabe von Colonel G. A. Jacob (Hg.), The Ma­hanarayana-Upanishad of the Atharva-Veda with the Dipika of Narayana (Bombay: Government Central Books Department 1888); die Kursivsetzung im Zitat stammt von mir. Die dunkle Beschwörung der Gefahren dieses Lernens, die sich an anonymen Glaubensabtrünnigen manifestieren, verstärkt diese Asymmetrie. 37 Ich habe diese Frage detaillierter sowie unter Bezugnahme auf Julia Kristevas Buch Die Chinesin. Die Rolle der Frau in China (aus dem Französ. übers. v. Annette Lallemand, München: Nym­phenburger Verlagsbuchhandlung 1976) diskutiert in: »French Feminism in an International Frame«, in: Yale French Studies, 62 (1981), S. 154-184 [Wiederabdruck in: G. Ch. Spivak, In Other Worlds, S. 134-153; Anm. d. übers.]. 38 Antonio Gramsci, »Einige Gesichtspunkte zur Frage des Sü­dens«, in: Ders„ Zu Politik, Geschichte und Kultur. Ausgewählte Schriften, aus dem Italien. übers. v. Marie-Louise Döring, Erich Salewski et al., Frankfurt/M.: Röderberg 1986, S. 188-218. Ich verwende »Allegorie des Lesens« im Sinne von Paul de Man, Alle­gorien des Lesens, aus dem Engl. übers. v. Werner Hamacher u. Peter Krumme, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1988. 39 Vgl. die von Ranajit Guha herausgegebenen Bände Subaltern Studies: Writings on South Asian History and Society, Delhi: Ox­ford University Press 1982, und Subaltern Studies II: Writings on South Asian History and Society, Delhi: Oxford University Press 1983, sowie Ranajit Guha, Elementary Aspects of Peasant Insur­gency in Colonial India, Delhi: Oxford University Press 1983. 40 E. Said, »Permission to Narrate«, in: London Review of Books, 16. Feb. 1984 [wiederveröffentlicht in: The Edward Said Reader, hg. v. Moustafa Bayoumi u. Andrew Rubin, New York: Vintage 2000, S. 243-266; Anm. d. Übers.]. 41 R. Guha, Studies I, S. 1. 42 Ebd„ S. 4. 43 Vgl. J. Derrida, »Die zweifache Seance«, in: Ders„ Dissemina­tion, aus dem Französ. übers. v. Hans-Dieter Gondek, Wien: Pas-

III

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sagcn I 995, S. 193-322. fDcrridas Text <Hbcitct mir der Homo­

phonie dn fr,rn1.(),i,chl'!l \X\inn ,111/rc idt. „}-löhlc") und c11/rc

(dt. »zwischen«); Anm. d. übers.] 44 R. Guha, Studies I, S. 8 (alle außer der ersten Kursivsetzung stammen vom Autor). 45 Ajit K. Chaudhury, »New Wave Social Science«, Frontier, 16-24 (28. Jan. 1984), S. 10 (Kursivsetzung von mir). 46 Ebd„ S. 10. 47 Pierre Macherey, Pour une theorie de la production litteraire, Paris: Maspero 1966, S. 107 [dt. Teilübers.: Zur Theorie der li­terarischen Produktion. Studien zu Tolstoj, Verne, Defoe, Balzac, aus dem Französ. übers. v. Johanna Wördemann et al., Darm­stadt: Luchterhand 1974; Anm. d. übers.]. 48 Ich habe diese Frage in den folgenden Aufsätzen diskutiert: »Displacement and the Discourse of Woman«, in: Mark Krupnick (Hg.), Displacement: Derrida and After, Bloomington: Indiana University Press 1983, S. 169-195; sowie »Love Me, Love My Ombre, Elle: Derrida's >La carte postale<«, in: Diacritics 14, 4 (1984), S. 19-36. 49

Diese Gewalt im allgemeinen Sinn, welche die Möglichkeit ei­ner Episteme bildet, ist das, was Derrida als »Schrift« im allgemei­nen Sinn bezeichnet. Das Verhältnis zwischen Schrift im allgemei­nen Sinn und Schrift im engen Sinn (Markierungen auf einer Oberfläche) lässt sich nicht sauber zum Ausdruck bringen. Die Aufgabe der Grammatologie (Dekonstruktion) besteht darin, eine Notation bezüglich dieses gleitenden Verhältnisses bereitzustellen. Auf eine bestimmte Weise ist die Kritik des Imperialismus folglich Dekonstruktion als solche. so »Contracting Poverty«, Multinational Monitor, 4, Nr. 8 (Aug. 1983 ), S. 8. Dieser Bericht bildet einen Beitrag von John Cavangh und Joy Hackei, die am International Corporations Project am In­stitute for Policy Studies arbeiten. Die Kursivsetzung stammt von mir. 51 Auf den Mechanismus der Erfindung des Signifikanten »Dritte Welt« lässt sich jene Art von kritischer Analyse anwenden, wie sie in H. V. Carby et al., The Empire Strikes Back, in Bezug auf die Konstituierung des Signifikanten »Rasse« entwickelt wird. 52 Mike Davis, »The Political Economy of Late-Imperial Ame­rica«, New Left Review, 143 (Jan./Feb. 1984), S. 9. 53 P. Bove, »Intellectuals at War«, S. 51. 54 Terry Eagleton, Einführung in die Literaturtheorie, aus dem Engl. übers. v. Elfi Bettinger u. Elke Hentschel, Stuttgart: Metzler 41997, s. 134.

II2

"Pcrr' .\mlcT,011, /11 //Je Tr.1,-/~s u/ / listuri(,/f \l<1/,„1,i/1,111. 1 ,,,, don: Verso 1983, S. 53. 56 Ebd„ S. 52. 57 E. Said, Die Welt, der Text und der Kritiker, S. 206. 58 J. Derrida, »Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie«, in: Ders„ Apokalypse, aus dem Französ. übers. v. Michael Wetze!, Graz/Wien: Passagen 1985. S. 9-90, hier: S. 31. 59 Sogar in so ausgezeichneten Reportage- und Analysetexten wie Gail Omvets We will Smash This Prison! Indian Women in Struggle (London: Zed Press 1980) ist die Annahme nicht unbe­denklich, die Reaktion einer Gruppe von Frauen aus dem urbanen Subproletariat in Maharashtra auf eine linke weiße Frau, die »das indische Schicksal zu teilen beschlossen hatte«, sei repräsentativ für »indische Frauen« oder berühre die Frage des »weiblichen Be­wusstseins in Indien«; eine solche Annahme ist dann nicht unbe­denklich, wenn sie innerhalb eines Gesellschaftsgefüges der Ersten Welt thematisiert wird, in der die Ausbreitung von Kommunika­tion in einer internationalen Hegemonialsprache alternative Be­richte und persönliche Zeugnisse selbst Studierenden im Grund­studium sofort zugänglich macht. Ein typisches Beispiel ist auch die folgende Bemerkung von Norma Chinchilla, geäußert auf einem Panel über »Dritte-Welt­Feminismen: Unterschiede in Form und Inhalt« (»Third World Feminisms: Differences in Form and Content«, UCLA, 8. März 1983): Antisexistische Arbeit im indischen Kontext sei nicht ge­nuin antisexistisch, sondern antifeudal. Definitionen von Sexis­mus könnten demnach erst entstehen, nachdem eine Gesellschaft in eine kapitalistische Produktionsweise eingetreten ist, wodurch Kapitalismus und Patriarchat eine bequeme Kontinuität verliehen wird. Die Bemerkung beschwört zudem die ärgerliche Frage nach der Rolle der >»asiatischen< Produktionsweise« herauf, indem sie die Erklärungsmacht der normativen Narrativisierung von Ge­schichte durch die Beschreibung der Produktionsweisen( auf welch ausgeklügelte Weise eine solche Geschichtschreibung auch kon­struiert wird) aufrechterhält. Die eigenartige Rolle des Eigennamens »Asien« in dieser Ange­legenheit bleibt nicht auf Beweis oder Widerlegung der empiri­schen Existenz der tatsächlichen Produktionsweise beschränkt (ein Problem, das zum Gegenstand heftiger Gefechte innerhalb des internationalen Kommunismus wurde); sie bleibt sogar in theoretisch so subtilen und wichtigen Arbeiten wie Barry Hindess' und Paul Hirsts Pre-Capitalist Modes of Production (London:

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phologie der Produktionsweisen gegenüber jedem Verdacht eines historischen Determinismus gerettet und in einer poststrukturali­stischen Theorie des Subjekts verankert wird, behält die »asiati­sche« Produktionsweise in Gestalt des »orientalischen Despotis­mus« als der entsprechenden Ausformung von Staatlichkeit eine Funktion. Sie spielt auch in der von Grund auf veränderten Erzäh­lung der Produktionsweise im Anti-Ödipus von Deleuze und Guattari eine signifikante Rolle. In der sowjetischen Debatte, die in der Tat weit von diesen gegenwärtigen theoretischen Projekten entfernt ist, wurde die Hinlänglichkeit einer »asiatischen« Pro­duktionsweise in doktrinären Angelegenheiten meist bezweifelt; stattdessen wurden mehrere Versionen und Nomenklaturen der feudalen, auf Sklavenarbeit aufbauenden und kommunalen Pro­duktionsweise geschaffen. (Diese Debatte wird in Stephen F. Dunn, The Fall and Rise of the Asiatic Mode of Production, Lon­don: Routledge 1982, detailliert dargestellt.) Es wäre interessant, dies mit der Verdrängung [repression] des imperialistischen »Mo­ments« in Beziehung zu setzen, die in den meisten der langen De­batten über den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus in­nerhalb der westlichen Linken zu beobachten ist. Noch wichtiger ist hier, dass eine Bemerkung wie jene Chinchillas eine weit ver­breitete Hierarchisierung innerhalb des Feminismus der Dritten Welt (viel mehr als des westlichen Marxismus) widerspiegelt, die diesen in der langen Geschichte des Umgangs mit der imperialisti­schen Konzeptmetapher »Asien« verortet. Ich sollte hinzufügen, dass ich Madhu Kishwar I Ruth Vanita (Hg.), In Search of Answers: Indian Women's Voices from Ma­nushi (London: Zed Books 1984), noch nicht gelesen habe. 60 Jonathan Culler, Dekonstruktion. Derrida und die poststruktu­ralistische Literaturtheorie, aus dem Engl. übers. v. Manfred Momberger, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1988, S. 53. 61 Elizabeth Fox-Genovese, »Placing Woman's History in Hi­story«, in: New Left Review, 133 (Mai/Juni 1982), S. 21. 62 Ich habe diese Idee gewissermaßen autobiographisch zu ent­wickeln versucht in »Finding Feminist Readings: Dante-Yeats«, in: Ira Konigsberg (Hg.), American Criticism in the Poststructura­list Age, Ann Arbor: University of Michigan Press 1981. 63 Sarah Kofman, L'enigme de la femme: La femme dans /es textes de Freud, Paris: Galilee 1980. 64 Sigmund Freud, »>Ein Kind wird geschlagen<: Beitrag zur Kenntnis der Entstehung sexueller Perversionen«, in: Zwang, Pa-

114

ranoia 1111d Pcrl'crsion. St11dic11a11sgabe, ßd. VII, Frankfurt/1\!l.:

S. Fiochn l '17.), S. 22'1-254. 65 S. Freud, »Über >wilde< Psychoanalyse«, in: Schriften zur Be­handlungstechnik. Studienausgabe, Ergänzungsband, Frank­furt/M.: S. Fischer 1989, S. 133-143. 66 S. Freud, »Ein Kind wird geschlagen«, S. 239 f. 67 Für eine brillante Darstellung der Art und Weise, wie die »Wirklichkeit« des Witwenopfers während der kolonialen Peri­ode konstituiert oder »textualisiert« wurde, vgl. Lata Mani, »The Production of Colonial Discourse: Sati in Early Nineteenth Cen­tury Bengal« (M.A.-Abschlussarbeit, University of California at Santa Cruz 1983). Ich habe von Diskussionen mit Frau Mani am Beginn dieses Projekts profitiert. 68 J. D. M. Derrett, Hindu Law Past and Present: Being an Ac­count of the Controversy Which Preceded the Enactment of the Hindu Code, and Text of the Code as Enacted, and Some Com­ments Thereon, Kalkutta: A. Mukherjee and Co. 1957, S. 46. 69 Ashis Nandy, »Sati: A Nineteenth Century Tale of Women, Violence and Protest«, in: V. C. Joshi (Hg.), Rammohun Roy and the Process of Modernization in India, Delhi: Vikas Publishing House 1975, S. 68. 70 Die folgende Darstellung stützt sich stark auf Pandurang Va­man Kane, History of Dharmasastra (im Folgenden als HD zitiert [vgl. Siglenliste; Anm. d. übers.]). 71 Upendra Thakur, The History of Suicide in India: An Introduc­tion (Delhi: Munshi Ram Manohar Lai 1963), S. 9, enthält eine nützliche Liste von Sanskrit-Primärquellen über heilige Orte. Die­ses angestrengt anständige Buch verrät alle Zeichen der Schizo­phrenie des Kolonialsubjekts: bourgeoisen Nationalismus, patri­archalen Kommunalismus sowie eine »aufgeklärte Vernünftig­keit«. 72 Vgl. A. Nandy, »Sati«. 73 Jean-Frarn;:ois Lyotard, Der Widerstreit, aus dem Französ. übers. v. Joseph Yogi, München: Fink 1987. 74 HD II.1, S. 633. Es gibt Behauptungen, dass über diese »vorge­schriebene Buße« in der sozialen Praxis weit hinausgegangen wurde. In der untenstehenden Passage, 1938 publiziert, verdienen die hinduistisch-patristischen Annahmen über die weibliche Wil­lensfreiheit Beachtung, die etwa in Ausdrücken wie »Mut« und »Charakterstärke« am Werk sind. Die ungeprüften Vorannahmen des Absatzes könnten darin bestehen, dass die völlige Objektivie­rung der Witwen-Konkubine nur eine Strafe für den Verzicht auf das Recht zum Mut war, das den Subjektstatus kennzeichnet: »Ei­nige Witwen jedoch hatten nicht den Mut, durch diese Feuer-

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probe zu gehen: noch h<ittcn sie gcniigend Ccistcs- und Char:1k­

Lcrsr:irkc, um dc111 hohen asketischen lclccil !l,r,i/m1c1,·,1ry<11 gerecht

zu werden, das ihnen vorgeschrieben war. Traurigerweise ist fest­zuhalten, dass sie dazu getrieben wurden, das Leben einer Konku­bine oder avaruddha stri [eingesperrten Frau] zu führen.« A. S. Altekar, The Position of Women in Hindu Civilization: From Pre­historic Times to the Present Day, Delhi: Motilal Banarsidass 1938, s. 156. 75 Zit. nach D. Sen, Brhat Banga, Bd. 2, S. 913 f. 76 E. Thompson, Suttee, S. 132. 77 Vgl. zu diesem Punkt sowie zur brahmanischen Debatte über satt: L. Mani, »The Production of Colonial Discourse«, S. 71 f. 78 Wir sprechen hier von den regulativen Normen des Brahmanis­mus und nicht davon, »wie die Dinge gewesen sind«. Vgl. Robert Lingat, The Classical Law of India, aus dem Französ. übers. v. J. D. M. Derrett, Berkeley: University of California Press 1973, S.46. 79 Sowohl die minimale Möglichkeit einer Wiederverheiratung, die Witwen im alten Indien blieb, als auch die rechtliche Ein­führung der Wiederverheiratung von Witwen im Jahr 1856 waren eine Angelegenheit unter Männern. Die Wiederverheiratung von Witwen bildete eine große Ausnahme, vielleicht weil sie das Pro­gramm der Subjektformierung unberührt ließ. In der ganzen »Lehre« von der Wiederverheiratung der Witwen waren es Vater und Ehemann, die den Beifall ernteten - für ihren reformistischen Mut und ihre Selbstlosigkeit. 80 Sir Manier Manier-Williams, Sanskrit-English Dictionary, Ox­ford: Clarendon Press 1899, S. 552. Historikerinnen sind oft un­geduldig, wenn Modernistinnen den Versuch zu unternehmen scheinen, »feministische« Urteile in alte Patriarchate zu importie­ren. Die eigentliche Frage ist natürlich, warum Strukturen patriar­chaler Herrschaft unhinterfragt festgehalten werden sollten. Hi­storische Sanktionierungen eines nach sozialer Gerechtigkeit stre­benden kollektiven Handelns können nur dann entwickelt werden, wenn Menschen außerhalb der Disziplin Standards von »Objektivität« befragen, die als solche von der hegemonialen Tra­dition konserviert werden. Es scheint nicht unangemessen zu sein, darauf hinzuweisen, dass ein so »objektives« Instrument wie ein Wörterbuch den zutiefst sexistisch-parteiischen Ausdruck »einem verstorbenen Ehemann Nachkommen verschaffen [raise up issue to a deceased husband]« zur Erklärung verwenden kann. 81 Sunderlal T. Desai, Mulla: Principles of Hindu Law, Bombay: N. M. Tripathi 1982, S. 184.

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''Ich cLrnkc l'rol'c"or :\lison Finlcv vo111 Tri11i11 l oll,-_,:,· 1 l l.111

ford, Cunn.) dafür, die Passage mit mir diskutiert zu haben. l'ru­

fessor Finley ist eine Expertin für den ]J.gveda. Ich füge schnell hinzu, dass sie meine Lesarten wohl so unverantwortlich »litera­turkritisch« fände, wie Althistorikerinnen sie für »modernistisch« halten würden. 83 Vgl. Martin Heidegger, Einführung in die Metaphysik, Tübin­gen: Niemeyer 41976, S. 54. 84 E. Thompson, Suttee, S. 37. 85 Ebd„ S. 15. Für den Status des Eigennamens als »Marke« vgl. J. Derrida, Meine Chancen. Rendez-vous mit einigen epikurei­schen Stereophonien, aus dem Französ. übers. v. Elisabeth Weber, Berlin: Brinkmann & Base 1994. 86 E. Thompson, Suttee, S. 137. 87 M. Foucault, Der \X/ille zum Wissen. Sexualität und Wlahr­heit 1, aus dem Französ. übers. v. Ulrich Raulff u. Walter Seitter, Frankfurt/M.: Suhrkamp 1983, S. 12. 88 Der Umstand, dass das Wort auch als eine Form der Anrede für Frauen aus vornehmer Familie verwendet wurde (»Lady«), kom­pliziert die Angelegenheit. 89 Man sollte sich daran erinnern, dass diese Beschreibung ange­sichts ihrer vielen Erscheinungsformen innerhalb des Pantheons nicht erschöpfend ist. 90 Eine Position, die sich gegen Nostalgie als Grundlage für eine gegenhegemoniale ideologische Produktion wendet, kann ihre ne­gative Verwendung nicht gutheißen. Innerhalb der Komplexität der gegenwärtigen politischen Ökonomie wäre es beispielsweise in hohem Maße fragwürdig, darauf zu dringen, dass das aktuelle indische Arbeiterklassenverbrechen der Verbrennung von Bräu­ten, die unzureichende Mitgiften einbringen, sowie der an­schließenden Verschleierung des Mordes als Selbstmord entweder ein Gebrauch oder ein Missbrauch der Tradition des sati-Selbst­mordes sei. Das Äußerste, was behauptet werden kann, ist, dass es sich um eine Verschiebung auf einer Kette der Semiosis handelt, mit dem weiblichen Subjekt als Signifikant, was uns zu dem von uns entwirrten Narrativ zurückführt. Klarerweise ist daran zu arbeiten das Verbrechen der Brautverbrennung zu beenden, und zwar auf jegliche Art und Weise. Wenn sich diese Arbeit jedoch über ungeprüfte Nostalgie oder ihr Gegenteil vollzieht, wird sie aktiv dazu beitragen, dass » Rasse«/Ethnos oder ein schierer Geni­talismus als Signifikant anstelle des weiblichen Subjekts eingesetzt wird.

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''1 Ich hatte Peter Dcws, „J'm\Tr and Suhjccti,·it\' in Fouc1ult" (in:

New Left Review, 144 [1984J), nicht gelesen, bis ich diesen Essay fertig gestellt hatte. Ich freue mich auf sein Buch zum gleichen Thema. Es gibt viele Punkte, die seine und meine Kritik gemein­sam haben. Allerdings schreibt er, soweit ich dies ausgehend von dem kurzen Essay einschätzen kann, aus einer Perspektive, die un­kritisch bleibt gegenüber der kritischen Theorie sowie der inter­subjektiven Norm, die in ihrer Verortung des »epistemischen Sub­jekts« allzu leicht »Individuum« für »Subjekt« austauschen kann. Dews' Lesart der Verbindung zwischen »marxistischer Tradition« und dem »autonomen Subjekt« ist nicht die meine. Des Weiteren wird seine Darstellung »der Sackgasse der gesamten zweiten Phase des Poststrukturalismus« dadurch beeinträchtigt, dass er Derrida nicht berücksichtigt, der sich von seiner frühesten Arbeit an, der Einleitung zu Edmund Busserls »Ursprung der Geome­trie« (J. Derrida, Husserls Weg in die Geschichte am Leitfaden der Geometrie, München: Fink 1987), gegen die Privilegierung der Sprache gewandt hat. Was seine exzellente Analyse von mei­nen Anliegen ziemlich weit absetzt, ist natürlich, dass das Subjekt, in dessen Geschichte [History] er Foucaults Werk stellt, das Sub­jekt der europäischen Tradition ist.

Ein Gespräch über Subalternität 1

D 0 N NA LAND R Y und GERA L D MAC L E AN:

Wie verstehen Sie die unterschiedlichen Reaktionen, die

»Can the Subaltern Speak?« ausgelöst hat?

GAYATRI CHAKRAVORTY SPIVAK: Ichhabe

nicht alle Reaktionen gelesen, die der Aufsatz provoziert hat. Der allgemeine Tenor der Reaktionen war, glaube

ich, ich hätte nicht erkannt, dass die Subalternen doch sprechen. Von einigen wurde sogar behauptet, ich er­laube es dem Widerstand nicht, zu sprechen. Nun, ich glaube doch, dass mein Aufsatz zu kompliziert ist. Als

ich ihn fertig geschrieben hatte, hielt ich ihn für so un­kontrolliert, dass nur jemand anderer ihn kürzen konnte.

Ich habe ihn den Herausgebern mit dieser Bitte ge­

schickt. Ich war erstaunt zu sehen, dass die gedruckte Version ungekürzt herausgekommen ist. Andererseits

denke ich, dass er, so wie er dasteht, etwas von dem in­neren Kampf widerspiegelt, den ich durchlebt habe, als

ich den Text zu schreiben versuchte. Ich war lange Zeit blockiert, bevor ich wirklich daran weiterschreiben

konnte. Ich hatte das Gefühl, dass ich die Lehre, die aus dem Suizid dieser jungen Frau [Bhubaneswari Bhaduri]

zu ziehen war, über Foucault und Deleuze stellte. So habe ich das damals wahrgenommen, und ich war da­

mals noch nicht genug in mein momentanes Projekt in­volviert, um für meine Überzeugungen einzustehen. Ich

stand am Anfang von etwas. Es hatte davor bereits eine Art Anfang gegeben, über den ich mehrfach gesprochen

habe: als ich von den Herausgeberinnen einer dem fran­

zösischen Feminismus gewidmeten Nummer der Yale

ll9