Caroline Heinrich - Was denkt ein New Yorker, wenn er in einen Hamburger beißt?

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Caroline Heinrich „Was denkt ein New Yorker, wenn er in einen Hamburger beißt?“ Mikrophänomenologie der Macht am Beispiel des Referendariats Passagen Verlag

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Am Beispiel des Referendariats beschreibt die Autorin die buchstäbliche Verwirklichung des Simulationsprinzips: den Unsinn, den eine solche Denkmacht produziert einerseits, den Zwang, die Entleerung des Denkens als geglückte Versöhnung der Differenz zu verstehen, andererseits. Ein alltägliches Machtverhältnis wird so zur Parabel für die Gewalt der Indifferenz.

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Caroline Heinrich„Was denkt ein New Yorker,

wenn er in einen Hamburger beißt?“

Mikrophänomenologie der Macht am Beispiel des Referendariats

Passagen Verlag

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Inhalt

Vorwort An den Leser 11

Vorrede Das Referendariat und die „philosophische Situation“ 15

Anhang: Entwurf für die 1. benotete Lehrprobe 53

I. Die Perversion der leeren Zeichen 67

II. Das Sprachspiel „Macht“ 89

III. Der normale Wahnsinn 115

Anhang: Das interne Papier 161

IV. Die perfide Strategie 163

Nachwort 195

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Das Referendariat und die „philosophische Situation“

Die entscheidende Frage, die ich mir vor Beginn des Referendariats stellte, war: Wie ist es zu schaffen, es zu keiner Kollision mit der Macht kommen zu lassen? Keine „philosophischen Situationen“1 entstehen zu lassen, in denen die Wahl, sich für das Denken oder die Unterwerfung unter die Macht zu entscheiden, immer zugunsten des Denkens ausfällt? In jedem Fall wollte ich sie verhindern, weil, der Grund ist so banal wie wahr, ich nicht bereit war, mich von ihnen aufzehren zu lassen. So ent schied ich, keine philosophische Haltung an den Tag zu legen. Ich be schloss, nichts anzugreifen und keine Angriffsfläche zu bieten, weder angreifbar noch überhaupt greifbar zu sein, allen Unsinn mitzumachen, mich nicht zum Widerspruch herausfordern zu lassen, nichts ungefragt zu kommentieren und überhaupt möglichst nicht zu reagieren, um nicht an der falschen Stelle Zustimmung zu signalisieren. Ich beschloss ferner, nicht töricht zu sein, aber auch nicht arglistig. Montaigne: „Man braucht nicht allzeit alles zu sagen, denn dies wäre Torheit; aber was man sagt, muß das sein, was man denkt, sonst ist es Arglist.“2 Ich beschloss, nicht offenherzig zu sein, aber auch nicht unaufrichtig. Kant: „Ich kann es einräumen, wie-wohl es sehr zu bedauern ist, daß Offenherzigkeit (die ganze Wahrheit, die man weiß, zu sagen) in der menschlichen Natur nicht angetroffen wird. Aber Aufrichtigkeit (daß alles, was man sagt, mit Wahrhaftigkeit gesagt sei) muß man von jedem Menschen fordern können […].“3 Eben darum entschied ich, um gleichermaßen eine Kollision mit der Macht und die Lüge zu vermeiden, in der Regel zu schweigen. Schließlich gedachte ich, das Ganze auch als ein philosophisches Expe-riment anzusehen: Wie würde es sein, Anweisungen zu befolgen, nur weil sie Anweisungen sind? Würde es möglich sein, über die Dauer von zwei Jahren die Würde zu bewahren? Tagsüber zu „exerzieren“ und abends zu „räsonnieren“, um es in Anlehnung an Kant4 zu sagen? Äußerlich gehorsam und innerlich frei zu bleiben? Das Rückgrat zu bewahren, indem ich mich hüte, ein Wort zu sagen – wie Herr Egge in der Parabel von Brecht?5

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Nicht nur waren diese Fragen mehr oder weniger falsch gestellt, wie sich im Folgenden zeigen wird, sondern weil „bekanntlich […] jede Bemühung, ein Ereignis abzuwenden, nur seine Fälligkeit [beschleunigt]“6, war es letz t lich die Strategie zur Verhinderung philosophischer Situationen, die un erwartet zur Konfrontation führte, zuerst mit dem Fachausbilder für Deutsch, dann mit der Seminarleitung, schließlich mit dem Ministerium. Darin liegt die objektive Ironie der Geschichte. Ich komme später auf sie zurück.

Zunächst ließen bereits die ersten Wochen im Referendariat ahnen, dass die gefassten Beschlüsse nicht verkehrt waren. Da gab es die versteckten Hinweise: „Für Ihre Einstellung sind diese zwei Jahre von entscheidender Bedeutung!“7, die indirekten Drohungen: „Überlegen Sie sich genau, welche Rolle Sie haben und welche wir haben!“, und die indifferenten Drohungen: „Sie haben sicher schon viel Schlimmes über das Referendariat gehört. Ich kann Ihnen nur sagen, das stimmt alles!“ Es gab direkte Hinweise auf die Panoptikumssituation: „Das Schlimmste für Sie wird sein, dass Sie zwei Jahre lang mit Ihrer ganzen Person unter Beobachtung stehen“, kryptische Erläuterungen zur bevorstehenden „außerordentlichen Härte“8 der Situation: „Sie müssen permanent die Rollen zwischen Lehrendem und Lernendem wechseln“ (soll heißen: einmal sagen Sie, wo’s langgeht, einmal wir), und weniger kryptische: „Natürlich ist es ein Problem, schon mal er-wachsen gewesen zu sein und nun wieder zum Schüler zu werden.“ Es gab zweifelhafte Beschwichtigungen: „Das heißt nicht, dass Sie als körperlicher und seelischer Krüppel aus dem Referendariat rausgehen, das ist auch nicht die Regel“, und dazwischen eine unerträgliche Menschelei: „Glauben Sie mir, ich bin genauso aufgeregt wie Sie.“ Feierlich wurde dann doch die Erlaubnis erteilt, „immer zu denken“.9 Aber natürlich nur in natürlichen Grenzen, denn „Achtung! Der Fachleiter kann sich sträuben!“ sollte man immer bedenken. Pathetisch wurde die Ermunterung ausgesprochen, doch bitte den „Mund aufzumachen“, und salbungsvoll festgestellt: „Sie sind ja erwachsene Menschen.“ Aber natürlich nur in natürlichen Grenzen: „Vermeiden Sie die Haltung von Arroganz!“, beweisen Sie „diplomatisches Geschick“, „formulieren Sie eine Kritik als Frage“ und zeigen Sie sich zum „Fingerspitzengefühl“ in der Lage. Was im Klartext heißt: Kein unartiku-lierter Schrei bitte und kleine Klage, kein Scharfsinn und keine geistreichen Kommentare. Oder: Drucksen Sie rum oder bleiben Sie stumm!

Ich verstummte, hielt mich zurück, machte selten Witze und lachte nicht: Nicht über die Anweisung, in Prüfungen (Lehrproben) so zu tun, als wären

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keine Prüfer da, denn um „objektiv“ zu sein, wollten sie unbeobachtbar sein. Ich lachte nicht über die gänzlich uncharmante Inszenierung der Lehrprobenbesprechung und sprach nicht aus, was alle ohnehin wussten oder ahnten, weil alle brav ihre Rolle übernahmen10, dass sie einzig zur Verlogenheit erzog, weil es nicht darum ging, ehrlich die gehaltene Stunde zu kommentieren, sondern sich „in einem ausgewogenen Verhältnis von Selbstkritik und Eigenlob“ zu präsentieren, weil es nicht darum ging, offen die gesehene Stunde zu reflektieren, sondern die zugewiesene Rolle zu absolvieren: Zwangssolidarisiert mit den anderen Referendaren etwas Nettes über die gesehene Stunde zu sagen, um dem Geprüften nicht die Note zu verhageln, aber niemals das zu benennen, was man eigentlich für wichtig hielt, weil das an Kritik erinnert hätte, die zu erteilen den Prüfern vorbehalten war. Ich sagte nichts und lachte nicht, wenn sie aus einer Nichtigkeit eine ganz große Sache machten, wenn es etwa zur Begrüßung in der Schule hieß: „Was machen Sie schon hier?! Sie sind fünf Minuten zu früh!!“, oder es vorwurfsvoll in der Lehrprobenbesprechung hieß: „Sie haben dafür zu sorgen, dass der Projektor funktioniert!!!“11, und ich auf meine Nachfra-ge, ob ich jedes Mal einen Schraubenzieher mitzubringen habe, da hier offensichtlich eine Schraube locker war, ein ernstes „Ja, das haben Sie!“ zur Antwort erhielt. Da lag er dann, auf dem Pult, anderthalb Jahre lang. Ich lachte nicht über die Anweisung einer Lehrerin: „Nennen Sie die Kinder nicht Kinder!!“, dachte: Mögen Sie keine Kinder?, überlegte: Warum die Kinder nicht triumphieren lassen, da sie gar nicht glauben, dass sie Kinder sind?12, aber ich sagte nichts. Auch nicht, als ein Lehrer mich anwies, nicht durch die Klasse zu laufen, und selbst, als er, nach den Gründen gefragt, zur Antwort gab: „Ihr Rock wippt“, lachte ich nicht. Aber irgendwann verschwand auch der Impuls zu lachen.

Um äußerlich gehorsam, aber innerlich frei zu bleiben, wie Herr Egge in der Parabel von Brecht, wollte ich Anweisungen befolgen und meine Arbeit erledigen – und fertig! –, den gesetzlichen Formalitäten genügen – und gut ist! –, und alles andere an mir vorbeiziehen lassen: mich von Drohungen nicht einschüchtern, von der Situation nicht gefangennehmen, mich in die Macht nicht hineinziehen lassen. Aber so einfach war das nicht. Und als schwierig erwies sich genau das, wovon in der Brecht-Parabel nicht die Rede ist.

Die Geschichte von Herrn Egge ist die folgende: Eines Tages kommt ein Agent zu ihm in die Wohnung und zeigt einen Schein vor, der ihn berech-

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tigt, nach Belieben alles in Besitz zu nehmen, jede Wohnung, jedes Essen, jeden Mann. Herr Egge unterwirft sich ihm fortan in seinen Handlungen, aber niemals in seinen Gedanken und spricht so ein Bekenntnis seiner Unterwerfung während der Dauer seiner Knechtschaft auch nicht aus.

Nirgendwo ist in dieser Geschichte aber davon die Rede, dass der Agent noch Vorgesetzte hätte, dass die Macht funktioniert „in der Art einer Ket-te“13, dass Herr Egge faktisch nicht nur einem, sondern mehreren Herren zu gehorchen und sich zwischen ihnen aufzuteilen hätte, und dass, je mehr der Machtraum sich erweiterte, es desto wahrscheinlicher würde, dass er in ihm scheiterte. Nirgendwo ist davon die Rede, dass der Agent Herrn Egge beobachtet und überwacht hätte, denn Hauptsache, er machte, was man ihm sagte, oder dass sich der Agent für Herrn Egge interessiert hätte: ob er ihn von Weitem grüßt oder wie sehr er sich verliert, wenn er ihn das Fürchten lehrt, oder wann er sich geschlagen gibt, wenn er geschlagen wird. Nirgendwo ist davon die Rede, dass es den Agenten irritiert hätte, dass sein Knecht stets aufrecht geht, oder dass er Vergnügen am Zurecht-weisen gefunden und darum für Herrn Egge immer neue Regeln erfunden hätte14, oder dass überhaupt nur der Knecht ein guter wäre, der einsieht, dass alles, was er tut, voller Makel ist, und er selbst der größte Makel ist. Es fehlt also in der Geschichte die Darstellung der Gewalt, die direkt auf die innere Würde zielt, es fehlt die Beschreibung einer Atmosphäre, in der die Selbstsicherheit verlorengeht, d. h. es fehlt genau das, was die Situation im Referendariat im Kern ausgemacht hat.

Der Grund ist einfach: Im Zentrum des Brechtschen Herr-Knecht-Verhältnisses15 steht, dass, weil dem Agenten alles gehört und Herrn Egge nichts, die Verfügungsgewalt über die Sachen auf die Personen ausgedehnt ist. Da allerdings das Ziel des Agenten, ein bequemes Leben zu führen und Herrn Egge die Arbeit zu überlassen, sein einziges Ziel ist – was nicht zuletzt daran ersichtlich ist, dass er von ihm nicht nachdrücklich erzwingt, seine Unterwerfung zu bekennen –, geht die Entwürdigung Herrn Egges über die Grenze, die dieses Ziel markiert, auch nicht hinaus. Sie endet damit, die Arbeit für ihn mitzumachen und für sein leibliches Wohl zu sorgen, damit, für ihn zu kochen, zu putzen und die Wäsche zu waschen, damit, ihn mit der Decke zuzudecken, die Fliegen zu vertreiben und seinen Schlaf zu bewachen.

Das Herr-Knecht-Verhältnis im Vorbereitungsdienst ist völlig anders. Weder gehört die Schule den Ausbildern noch profitieren sie von der

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Arbeit der Referendare noch herrscht auf irgendeiner Seite ein Mangel an Betriebsamkeit. Weder wurde groß befohlen noch viel angewiesen und Anweisungen, deren Sinn so klar war, dass sie befolgt werden konnten, waren seltene Glücksfälle. Damit wird aber die Überlebensstrategie, die Brecht in der Egge-Geschichte entwirft, in Frage gestellt. Denn die Stra-tegie, äußerlich gehorsam und innerlich frei zu bleiben, funktioniert nur, weil der Agent genügend Befehle erteilt, hinter deren Befolgung Herr Egge sich verstecken kann, sie funktioniert nur, weil zwischen beiden Distanz herrscht, weil der Agent der Person Herrn Egges gleichgültig gegenübersteht (Knecht ist Knecht), weil der Agent ein hedonistisches Interesse, aber kein disziplinarisches hat, das Platz für sadistisches Begehren lässt. Weil die Unterwerfung ihren Bezugspunkt im Begehren des Agenten nach einem von jeder Mühe enthobenen Leben findet und nicht in der Dis ziplinierung selbst, ist in der Parabel von Brecht der Blick für die Technik der Disziplinarmacht und ihre Wirkung verstellt.

Der Vorbereitungsdienst, wie die amtliche Bezeichnung lautet, ist die Ableistung eines Dienstes16, bei dem, wie es bei Baudrillard heißt, die „Leistung […] vom Leistenden nicht trennbar“ ist.17 Ein staatliches Studienseminar ist eine Disziplinaranstalt18, in der es kaum darum geht, die Kunst der didaktischen Reduktion zu lehren, sondern darum, heraus-zufinden, wie man reagiert, wenn man an die physische und psychische Grenze getrieben wird, indem man permanent beschäftigt und in Beschlag genommen, begutachtet, überwacht, geprüft und getestet wird. Es geht gleichermaßen darum, eine „unbedingte Fügsamkeit“19 hervorzubringen wie sich ihrer zu versichern.20

Deshalb wirkten tolle Tipps wie „Lösen Sie Disziplinschwierigkeiten mit Humor!“ oder die oft wiederholte Losung Hartmut von Hentigs „Die Sachen klären, die Menschen stärken!“ wie schlechte Scherze. Und wenn in den unzähligen Veranstaltungen21 für wenige Minuten verwertbarer Information mehrere Stunden abgesessen wurden, konnte ihnen eben nicht die Überlegung zugrunde gelegen haben: Welche Zeit brauchen wir, um das, was wir vermitteln wollen, zu vermitteln?, sondern musste auf die Überlegung geschlossen werden: Was können wir alles machen, um die Sitzungen irgendwie vollzukriegen?22 Wenn sich solche Veranstaltungen also nicht durch die Inhalte rechtfertigen ließen, dann nur durch die Zeit, die sie raubten, und die Räume der Beobachtung, die sie schufen.

Die Wirkung der panoptischen Situation, „Das Schlimmste für Sie wird sein, dass Sie zwei Jahre lang mit Ihrer ganzen Person unter Beobachtung

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stehen“, war dabei tatsächlich beträchtlich. Denn Unter-Beobachtung-Stehen bedeutet, wie die Ratte im Labor zu sein, deren Verhalten die Forscher erforschen, es bedeutet, wie der Patient zu sein, den man zur Beobachtung in der Klinik behält, um seine körperlichen und sonstigen Funktionen zu überwachen. Und wie diese im Hinblick darauf überwacht werden, ob sie sich normalisieren, so interessierten in der „Verhaltens-forschung Referendar“ nur die Abstände, die ihn von der Norm trennen. Die Norm des Referendars? Er ist unfrei und sich seiner selbst nicht bewusst, aber der Tatsache, auf der untersten Stufe der Hierarchie zu stehen.23 Er ist zurückhaltend bis unsicher, immer fleißig, stets bemüht, den Ausbildern zu gefallen, und bereit, für eine gute Note alles zu tun. Abstände von der Norm sind dabei immer negativ, da absteigend indi-vidualisiert wird.24 Foucault:

Der Diskurs des Königs kann verschwinden und ersetzt werden durch den Diskurs dessen, der die Norm angibt, dessen, der überwacht, der die Scheidung in das Normale und das Anormale vornimmt, das heißt durch den Diskurs des Lehrers, des Richters, des Arztes, des Psychiaters, schließlich und vor allem den Diskurs des Psychoanalytikers.25

Das Dilemma war, dass gegen Kontroll- und Beobachtungsblicke kein Kraut gewachsen ist, dass die beklemmende Situation, als Objekt der Beobachtung unfrei wie das Tier unter der gläsernen Glocke im Labora-torium zu sein, nicht abzuschütteln war. Das heißt, natürlich habe ich die Kontrolle kontrolliert, die Beobach-tung beobachtet, denn gegenüber dem Gefangenen im Gefängnismodell von Bentham, der nicht sieht, ob ein Aufpasser im Turm in der Mitte des Gefängnisses sitzt und ihn beobachtet oder nicht26, bestand hier ein Vorteil.27 Aber die dauernde Analyse und Selbstvergewisserung der zwanghaften Situation lockerte das Zwangskorsett, in dem man steckte, keineswegs, sondern schnürte es nur enger zu. Denn um Kontrolle zu kont rollieren, Beobachtung zu beobachten, war es notwendig, den Raum unter dem Gesichtspunkt der Beobachtungsmöglichkeiten zu betrachten, sich Gesten anzugewöhnen, die eine möglichst unauffällige Vergewisserung der Beobachtung ermöglichten, Körperhaltungen anzunehmen, die das Scheel-aus-dem-Augenwinkel-heraus-Schauen ermöglichten usw., kurz: es war notwendig, das zu tun, was sie28 tun, nur, wenn möglich, perfekter, ihre Technik zu übernehmen, nur, in der Kontrolle der Kontrolle und der Selbstkontrolle der Selbstkontrolle, auf die Spitze zu treiben, und dabei Foucaults These: „die Macht wird nicht auf das Individuum angewandt,

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sie geht durch es hindurch“29, lediglich zu bestätigen, anstatt sie handelnd umzukehren.

Aber was hätte ich gegen die kontrollierenden Beobachtungsblicke – Guckt sie auf den Vertretungsplan? Guckt sie in ihr Fach? Sieht sie den Zettel am Schwarzen Brett? Tut sie dies? Tut sie das? – auch tun können? Einfach mal blöd zurückgucken? Das wäre in einer Situation, in der es nur einseitige Gaben gab, in der es die Rolle der Referendare war, alles anzunehmen, aber nichts zurückzugeben, natürlich eine unerhörte Geste der Souveränität gewesen. Denn die „Gabe ist die Wurzel und das Wesen der Macht“, und „die Gegengabe hebt die Macht auf […].“30

Oder hätte ich sagen sollen, dass ich nicht an Alzheimer litte und sie deshalb darum bitte, so zu tun, als sei ich nicht da? Aber unsichtbar zu sein, war ihrer Rolle vorbehalten, und ins Visier genommen wurde man ja nicht allein, um auf die reibungslosen Abläufe des Schulbetriebs hin zu konditionieren, sondern ebenso, um ein „umfassendes Bild der gesamten Person“ zu erhalten.

Natürlich gelingt es kaum, dieses Bild zu erhalten, denn was beobachtet wird, ist zunehmend das, was die Beobachtungssituation im Beobachteten bewirkt: eine immer weiter greifende Selbstkontrolle. Irgendwann wird jede Handlung unter dem Gesichtspunkt möglicher Beobachtung vollzo-gen, keine Idee einfach so zur Realisierung gebracht, weil sich irgendwann automatisch bei jeder Regung, etwas zu tun, etwas zu sagen, ein Schalter im Kopf umlegt, der den Impuls zur Spontaneität blockiert und in der Frage besteht, ob das, was man soeben tun oder sagen wollte, noch der Norm entspricht. Zugleich liegt aber in der Fragwürdigkeit der Beobachtungsergebnisse die Effektivität der Beobachtungssituation. Denn in der Regel musste ich die Frage, ob das, was ich soeben tun oder sagen wollte, noch im Rahmen der Norm liegt, verneinen – und unterließ es. Und was die Norm war und wie eng sie gefasst war, wurde genau dort deutlich, wo ich sie durch eine unbedachte Geste verletzte: Einen listig dreinschauenden Hegel als Deckblatt des Lehrprobenentwurfs? Eine Katastrophe. Es entsprach nicht dem Reglement.31 Einen Lehrer einfach in den eigenen Unterricht einladen?32 Ein Debakel. Es gab nichts, bei dem man nicht um Erlaubnis fragen musste.

Die Konsequenzen: Um unauffällig zu sein, musste ich mich in jeder Regung kontrollieren, um Ärger zu vermeiden, immer stärker normieren.

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Aber je mehr ich mich normierte, desto stärker konnte das „moderne System der Zwänge gegen die Körper, die Gesten, die Verhaltensweisen“33 seine Spuren hinterlassen und mich für die „außerordentliche Härte“ der Situation empfänglich machen. Erst spielte ich ein bisschen aufgeregt bei einer Lehrprobe, schließlich war ich es. Erst verkniff ich mir das Lachen, wenn sie in einer Lächerlichkeit die heraufziehende Apokalypse sahen, schließlich verging mir das Lachen. Warum? Der Mechanismus ist klar: Wenn man schweigt und nie sagt, was man denkt, und nie widerspricht, bleibt alles so stehen, wie es ist. Wenn man ein Mal nicht lacht und zwei Mal nicht lacht und überhaupt nicht lacht, ist irgendwann auch nichts mehr wirklich lustig. Weil ich also diese Situationen nicht durch mein Verhalten brach, ihnen etwas zurückgab: einen Blick, ein Lachen, einen bösen Kommentar, wirkten sie in ihrem Sosein, einer beklemmenden Bedrohlichkeit auf der Nulllinie geistiger Bedeutsamkeit, auf mich zurück. Anders gesagt: Solche Situationen nur anzunehmen und nicht umgewertet und dadurch abgewehrt zurückzugeben, bedeutete, die Macht anzuneh-men und sich mit ihr zu infizieren.

Die Frage war also nicht mehr, ob es möglich wäre, äußerlich gehorsam und innerlich frei zu bleiben, sondern, wie diese Infektion in Grenzen gehalten werden könnte, ob es etwas gäbe, was in diesem Fieber der Normierung einer „vernünftigeren Bahn“34 folgte, ob es möglich wäre, Momente der Gesundheit herzustellen.

Es gab diese Momente. Jeden Abend reflektierte ich den Tag, prüfte mich, maß mich an meinem Maß und urteilte: Wie unwürdig es war, instrumentell zu denken35 und mich taktisch zu verhalten – je angepasster bezogen auf den ungefährlichen Unsinn, der die philosophische Haltung nicht dauerhaft betrifft, desto größer der Handlungsspielraum dort, wo es anders ist. Wie ausgekocht es daher war, gezielt gegen Unsinnsanwei-sungen zu verstoßen, nur um mich anschließend zu korrigieren und als „kritikfähig“ zu präsentieren. Wie verwerflich es war, wenn ich mich, wie es meine Gewohnheit war, im Allgemeinen Seminar kurz ein, zwei Mal meldete, um zu zeigen, dass ich noch anwesend war, und bei denen, die es so erwarteten, weil die Philosophen ja die „Exoten“ waren, „kritische“ Anmerkungen machte und mir so eine kritische Attitüde gab. Wie un-philosophisch, da ich etwas diskutierte, wo doch das Ganze im Ganzen nicht zu diskutieren war. (Hier zeigte sich die Grenze zur Verlogenheit, die Montaigne und Kant ziehen, in ihrer ganzen Problematik. Denn eine Äußerung musste weder arglistig noch unwahrhaftig sein, um im Zusam-

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menhang dieses ganzen Zinnobers eine einzige Schwindelei zu sein. Ich komme später darauf zurück.)

Die Situation lässt sich treffend kennzeichnen, wenn man Hölderlins Vers, „Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch“36, umkehrt: Wo das Rettende ist, wächst die Gefahr.37 Das Rettende lag in jeder Form der Distanzierung. In dem Maß, in dem mir der Normierungsprozess, auch wenn er mich ergriff, als Taktik noch bewusst blieb, „renormalisierte“ ich mich, in dem Maß, in dem ich die Situation analysierte, entfernte ich mich von ihr und gewann an Souveränität zurück. So wuchs mit jedem Schritt der reflexiven Distanzierung die Abwehrkraft gegen die Macht und setzte die Hemmschwelle herab, ihr doch mal was zurückzugeben: doch mal blöd zurückzugucken, doch mal laut aufzulachen, doch mal in der Wut die Wahrheit zu sagen. Je schärfer die Reflexion am Abend, desto gefährlicher der nächste Tag. Ich wanderte auf schmalem Grat.

Alles, was darüber hinaus Rettung versprach, vergrößerte die Distanz so weit, bis ich die Gefahr überhaupt nicht mehr sah. So ereignete es sich mit dem Roman Der Dekan38 von Gustafsson, der ein einziges rettendes Unglück war. Weil Der Dekan, wie der Schüler T. in seinem Kommentar resümierte, „wahrscheinlich die Weltanschauung der meisten Leser buch-stäblich auf den Kopf“ stellt und „dem Lesenden die Sicherheit [nimmt], mit der er seine Umwelt bis dahin betrachtet hat“39, und ich gefordert war, ein theoretisches Gerüst zu konstruieren, das den Schülern erlauben würde, den Roman zu dekonstruieren, war ich nicht mehr bereit für irgend welche Spielchen, hatte keine Aufmerksamkeit mehr übrig für die panoptische Situation, sie war mir total egal, und das erste Mal wurde ich „Objekt“, da ich, von mir abwesend, ganz in Gedanken war. Und all das machte es unmöglich, einen Lehrprobenentwurf zu schreiben, der keine Provokation war.

Die Provokation kam an. Nicht auf der Ebene des Denkens, sodass Gustafs-sons Gedanke der Illusion von absoluter Wahrheit und Realität oder seine nihilistischen Figuren oder die Auffassung einer verlogenen Gesellschaft Sprengstoff für eine intellektuelle Auseinandersetzung gewesen wäre, son-dern sie kam an auf der Ebene der Macht: als empfindliche Störung im disziplinarischen Wahrnehmungsapparat. Es war die philosophische Hal-tung, die sich in der Tatsache manifestierte, dass ich den ZEIT-Redakteur Ulrich Greiner40 kritisierte, die sie provozierte.

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Der Fachausbilder schäumte.41 Der Schulausbilder tobte: „Als Referendarin sind Sie nicht befugt, den Redakteur einer angesehenen Wochenzeitung zu kritisieren!!!“

Eine typische philosophische Situation. Es gibt keine Möglichkeit der Dis kussion. Denn die Frage war ja nicht, ob ich ihn zu Recht kritisierte oder nicht. Der Stein des Anstoßes war, dass ich ihn überhaupt kritisierte und damit zum Ausdruck brachte, dass ich mich für seine Rangordnung, Redakteur steht über Referendarin, nicht interessierte, was ihn natürlich in seiner eigenen Stellung tangierte. Da die Prinzipien inkommensurabel sind – für das Denken fällt die Grenze der Kritik mit der Stichhaltigkeit des Arguments zusammen, für die Macht fällt die Grenze der Kritik mit der Grenze der Macht zusammen –, gab es theoretisch nur die Wahl, mea culpa zu sagen und die philosophische Haltung zu verraten oder dagegenzuhalten. Praktisch erwog ich diese Wahl nicht und entschied lediglich, nicht das zu sagen, was mir auf der Zunge lag: Darf ich Sie höflich fragen, ob Sie, wie ich, die Verfassung unterschrieben haben?!, sondern schlicht „Das sehe ich anders“ zu erwidern, um die Situation nicht ganz zur Explosion zu bringen. Dabei machte die Reaktion des Schulausbilders, „Sie sind ja arrogant!!“42, zweifelsfrei offensichtlich, was es bedeutet hätte, wenn ich die „Haltung von Arroganz“, wie empfohlen, tatsächlich vermieden hätte: das Denkver-mögen selbstdiszipliniert zu regressieren, um nicht unbedacht die Eitelkeit der Macht zu attackieren.

Nun gut. Nun war sie da, die philosophische Situation, die ich zu ver-hindern suchte, aber zu diesem Zeitpunkt fiel das schon fast nicht mehr ins Gewicht, da meine Strategie längst gescheitert war. Ich komme gleich darauf zurück. Vor allem ist diese philosophische Situation nicht weiter erstaunlich. Das heißt, sie stellt insofern keine Herausforderung für das Denken dar, als sie so typisch, so klar, so oder so ähnlich erwartbar war, d. h. nur den gewöhnlichen Abstand zwischen dem, was man sich vorstellt und dem, was tatsächlich passiert, enthält, somit einfach eine Erfahrung ist, aber als Erfahrung kein Ereignis darstellt.

Erstaunlich war etwas ganz anderes. Um das Erstaunliche, das Grund zu dieser Mikrophänomenologie der Macht gegeben hat, zu schildern, zunächst zurück zu Gustafssons Roman Der Dekan.

Der Dekan endet in einem Rätsel, das nicht aufgelöst werden kann: Spen-cer ist verschwunden, aber die Frage, ob er tot ist oder nicht, ermordet

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wurde oder nicht, und wenn ja, von wem und warum, lässt sich nicht be antworten. Greiner sieht darin einen Mangel und spricht angesichts der Verweigerung eines „konsistenten Zusammenhangs“ von einer „dreisten Unbekümmertheit“43 Gustafssons, ich nicht (siehe Anhang). Aber das Faktum der rätselhaften Ungewissheit bestreiten wir beide nicht. Natür-lich nicht. Anders der Fachausbilder, der es besser wusste: „Es gibt eine Lösung des Rätsels am Ende der Geschichte! Der Dekan ist der Dekan!“44

Erstaunlich. Der Satz löst das Rätsel nicht, sondern ist selbst ein Rätsel. Denn entweder der Satz will einfach nur sagen, dass das Verschwinden Spencers irgendetwas mit dem Dekan zu tun hat. Dann ist das Rätsel des Romans aber nicht gelöst, weil es nur dann gelöst wäre, wenn sich das „Irgendetwas“ in einem „Was genau“ explizieren ließe (dort ist die Leiche, das ist die Mordwaffe, das ist das Mordmotiv etc.). Oder der Satz sagt, was er sagt: Was mit Spencer passierte, ist, dass der Dekan mit sich selbst identisch ist. Dann sagt er gar nichts. Denn ein Zusammenhang, in dem die Sichselbstgleichheit der einen Figur die Frage, was mit der anderen Figur passiert ist, selbstredend beantworten soll, ist kein Zusammenhang. Er determiniert keine Lösung, sondern ist in sich indeterminiert. Er erklärt nichts, sondern ist in höchstem Maße selbst erklärungsbedürftig. Oder spricht aus dem Satz lediglich, dass A = A die Lösung für alles ist, womit er ein tolles Beispiel für die Realität des verschwundenen Differenz-prinzips ist? Oder spricht aus ihm, dass A ist A die Lösung für alles ist, womit er ein unheimliches Beispiel für die Realisierung des Herrschafts-prinzips ist?45 Oder impliziert er schlicht, dass der Dekan der böse Grund für alles ist, weil dem Sprechenden die Indifferenz des Bösen geläufig ist, nach dem Motto: Ist das Verbrechen perfekt, gibt es nichts, was man ent-deckt, und ich weiß, wovon ich spreche, denn nur ein Anfänger hinterlässt seine Spuren, während der Meister des Prinzipienlosen versteht, dass das Böse sich nicht setzt, sondern aus dem Nichts des Hinterhalts erschreckt?46 Aber das Rätsel des Romans wäre auch in diesen Fällen nicht gelöst.

Was der Satz also meint, ist unentscheidbar. Wie man ihn auch dreht und wendet, in all seinen Varianten kommt nichts dabei heraus. Er bezeichnet weder ein wahr noch ein falsch gelöstes Rätsel, sondern ist die Simulation eines gelösten Rätsels47, dessen „Lösung“ durch eine x-beliebige andere hätte ersetzt werden können, z. B.: Es gibt eine Lösung… Spencer ist Spencer! Es gibt eine Lösung… Hurz ist da! Es gibt eine Lösung… L’état c’est moi!

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Baudrillard:

Vorbei ist es […] mit [den] Inhalten, die dem Zeichen noch so etwas wie eine Nutzlast und Schwere gaben […]. Die andere Bahn des Werts setzt sich durch: die der totalen Beziehbarkeit und Austauschbarkeit, Kombinatorik und Simulation. Simulation in dem Sinne, daß sich alle Zeichen untereinander austauschen, ohne sich gegen das Reale zu tauschen (und sie lassen sich nur unter der Bedingung untereinander leicht austauschen, perfekt austauschen, daß sie sich nicht mehr gegen das Reale tauschen).48

Vergleichen wir nun die beiden Situationen, die „Aufklärung über das Nichtbefugtsein zur Kritik an Redakteuren angesehener Wochenzei-tungen“ mit dieser. Beide sind lachhaft. Aber während die erste Situation lachhaft ist, weil die Aussage nach rechtsdrohender Gewalt klingt, ohne zur Demonstra-tion bürokratischer Macht tauglich zu sein, da es nun mal kein Gesetz gibt, das die Kritik von Referendarinnen an Redakteuren angesehener Wochenzeitungen verbietet49, ist die zweite lachhaft, weil die Aussage nach theoretischer Gewalt klingt, ohne zur Demonstration intellektueller Macht tauglich sein, da es nun mal kein Gesetz des Denkens gibt, nach dem der zusammengebastelte Zusammenhang ein Zusammenhang ist. Beide fordern das Denken heraus. Aber während die Herausforderung in der ersten Situation im Inhalt des Ausgesagten liegt, liegt sie in der zweiten Situation darin, dass es gar keinen Inhalt gibt. (Beim ersten Satz dachte ich so auch als erstes: Was für ein Satz! Ein Dinosaurier der Macht!, beim zweiten nur: Wie bitte? Was? – Was hätten Sie gedacht?) Die erste Situation ist, gemessen an Badious Definition, klar eine philo-sophische, weil hier das Denken der Forderung der Macht und umgekehrt nicht entsprechen kann. So muss das Machtwort der Macht: Sie sind nicht befugt…, weil ich sage, dass Sie nicht befugt sind!, am Argumentations-anspruch des Denkens: Nennen Sie mir einen Grund, warum meine Kritik nicht treffend ist, alles andere interessiert mich nicht!, abprallen. Die zweite Situation hingegen ist in dieser Hinsicht undurchschaubar, und die Frage ist, ob sie überhaupt eine philosophische Situation ist.

Wer vom Rätsel eines Romans spricht, spricht doch kein Machtwort! Er befiehlt nichts, verbietet nichts, droht mit nichts. So ist man zunächst anzunehmen versucht. Wenn jedoch das Verschwinden einer Romanfigur sich selbstredend dadurch erklären soll, dass eine andere Figur mit sich selbst identisch ist,

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dann ist das Unsinn. Und diese Art Unsinn kann auch nicht dem Bereich des geregelten Denkens entsprungen sein. Was aber ist die Aussage dann? Wenn sie weder als Position der Macht noch als Ausdruck eines Gedankens eindeutig identifizierbar ist? Eben das. Keines von beiden. Gar nichts. Aber ein Garnichts mit Repressions-funktion.

Um das zu verstehen, ist zu sehen, dass das simuliert aufgelöste Rätsel für folgende Begründung herangezogen wurde: Da die Referendarin das Rätsel des Romans („Der Dekan ist der Dekan!“) nicht zu lösen vermochte, konn-te, angesichts dieses Mangels im Gesamtverständnis, auch die gehaltene Stunde nicht ohne Mangel sein. „Wegen falscher Lesart gebe ich nur…“ so und so viel Punkte, lautete die Formulierung des Fachausbilders in der Urteilsbegründung.50 Es ging lediglich darum, irgendeinen Mangel festzustellen. Das mag die praktische Entwicklung erhellen, die der Lehrprobe vorausgegangen war: Verweigerung der Unterschrift unter den Antrag zur Verkürzung des Referendariats („zu große Bedenken“), Drohung in der „Niederschrift zum ,Verhalten‘“ (siehe Anhang zu Kapitel III). Zwingend ergibt sich das allerdings schon aus der theoretischen Analyse der Situation. Denn da nun mal „Der Dekan ist der Dekan!“ nicht die Lösung, sondern der helle Wahnsinn ist, bleibt zwangsläufig von der Aussage „wegen falscher Lesart gebe ich“ nur die Machtaussage übrig: Was hier richtig und was falsch ist, entscheide ich! Oder, in Form der Unsinnsaussage ausgedrückt: Es gibt eine Lösung, A = A, Ich ist Ich oder: Ich bin der Staat, die Wahrheit und das Licht! Wer vom Rätsel eines Romans und seiner Lösung spricht, ohne dass ein Gedanke, der diesen Gegenstand betrifft, ersichtlich ist, vielmehr in der „Lösung“, die eine Simulation ist, Denken vernichtet ist, spricht also sehr wohl ein Machtwort. Er tauscht die vom Denken geforderte Begründung durch einen tautologischen Imperativ aus, um sich als Macht zu präsen-tieren und Repression zu etablieren. Barthes:

In der Tautologie liegt ein doppelter Mord: man tötet das Rationale, weil es einem Widerstand leistet, und man tötet die Sprache, weil sie einen verrät. Die Tautologie ist […] ein Tod, oder wenn man so will, eine Komödie […]. Da sie magisch ist, kann sie sich nur hinter einem autoritären Argument verschanzen.51

Somit handelt es sich also auch um eine philosophische Situation, die allerdings, im Vergleich zur „Aufklärung über das Nichtbefugtsein zur

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Kritik an Redakteuren angesehener Wochenzeitungen“, außergewöhnlich ist. Denn während sich dort die Macht offen als Macht zu erkennen gibt, verschwindet hier die Erkennbarkeit der Macht in ihrer Operation, Denken zu simulieren. Während sich dort die Macht des Denkens bemächtigen will, indem sie es extern begrenzt, bemächtigt sich hier die Macht des Denkens, indem sie es intern in einer Denksimulation auflöst. Während es in der ersten Situation eine klare Grenze gibt: die Macht will als Macht die Grenze des Denkens sein, fehlt diese Grenze hier. Die Macht will als „Denkmacht“ die Grenze für alles sein.52

Die Konsequenzen sind gewaltig. Während die klare Grenze impliziert, dass das Denken aufrechterhalten wird – mit der Grenze zum Denken begrenzt sich die Macht letztlich selbst –, führt die fehlende Grenze dazu, dass das Denken vernichtet wird. Denn die „Denkmacht“ gibt dem Den-ken nichts, auf das es sich beziehen kann, nichts, an das es anknüpfen, nichts, das es angreifen kann.53 Sie lässt es nur in Watte greifen und in die Leere stürzen, in eine Leere, in der es sich von selbst verliert. Gleichzeitig führt die fehlende Grenze, durch die das Denken zerstört wird, dazu, dass die Macht allmächtig wird. Sie ist überall und nirgendwo54, in jedem Satz, der Denken simuliert, präsent, als Macht aber nicht greifbar. Die fehlende Grenze impliziert somit, dass mit jedem Denksimulationssatz eine philosophische Situation gegeben ist.

Genau das erkannte ich aber lange nicht. Ich arbeitete mich am Unsinn ab, aber sah nicht seine Verbindung zur Macht, begriff so eben lange nicht, dass die ganze Fachausbildung Deutsch von Anfang an eine einzige philosophische Situation war. Und wie auch? Wenn die Macht in ihrer Operation der Denksimulation verschwunden war? Wie auch? Wenn als Macht nicht greifbar zu sein, zu ihrer Strategie gehörte? Die Macht musste sich selbst verraten, um sie mehr als nur zu ahnen, wie in der Urteilsbegründung, in der sie das Denken dem logischen Nichts des Machtworts unterwirft. Sie musste sich zeigen, um sie zu begreifen, wie in der „Niederschrift zum ,Verhalten‘“, in der sie das Denken dem logischen Nichts der reinen Drohung unterwirft.

Ich kann es auch so sagen: Es war praktisch schwierig, aber theoretisch nicht überraschend, in einer Grauzone des Rechts, auf der Mikroebene der Macht im Verhältnis Ausbilder/Auszubildende mit einer Machtform konfrontiert zu sein, die absolutistische Herrschaft imitierte (und die ich in der Auseinandersetzung mit der Brecht-Parabel bereits reflektierte), die nicht primär auf den Schulbetrieb hin konditionierte, sondern den

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störungsfreien Betrieb des eigenen inneren Gesetzes kontrollierte, bei der man nur zwischen Bewunderung und Furcht wählen konnte, und der man sich, um sich mit ihr zu verstehen, freiwillig unterwerfen sollte – wie in Orwells 1984, wo der Bürokrat zu Winston sagt:

Sie stören das Gesamtbild. Sie sind ein Makel, der ausgemerzt werden muß. Habe ich Ihnen nicht eben erst gesagt, daß wir uns von den Inquisitoren der Vergan-genheit unterscheiden? Wir geben uns nicht mit unfruchtbarem Gehorsam, ja nicht einmal mit der hündischsten Unterwerfung zufrieden. Wenn Sie sich uns schließlich ergeben, dann muß es freiwillig geschehen.55

Es war praktisch schwierig, aber theoretisch nicht überraschend, mit einer Macht konfrontiert zu sein, die systematisch willkürlich war, die erst lobte: „Sie sind ein Naturtalent! Ein Zauber lag in der Stunde!“56, dann tadelte: „Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen die Schüler nicht verzaubern!!“57, und einen schließlich zum ohnmächtigen Scheitern verurteilte, weil immer das, was man gerade tat, das Falsche war. Schwierig, weil ich dieses Schicksal nicht annehmen, sondern das Spiel der Macht auf Abstand halten wollte. Schwierig, weil dieser Abstand die Macht rasend machte, da sie nun mal partout dieses Schicksal sein wollte, an dem niemand vorbeikommen sollte. Es war eine praktische Erfahrung, aber keine theoretische Überraschung, einer Macht ausgeliefert gewesen zu sein, die unbegrenzt war, weil „sich zu sträuben“ das Privileg der Fachausbilder war, und es nichts gab, was einen schützte, weil keine übergeordnete Macht ein Machtwort sprach.58 Und was sollte sie auch gegen eine Macht einzuwenden haben, die weni-ger diszipliniert als terrorisiert, wo doch die Frage, ob konditioniert oder traumatisiert, für die Fügsamkeit des zukünftigen Beamten keine Rolle spielt?

Überraschend war allein, dass diese Macht auch insofern unbegrenzt war, als sie sich auf das Gebiet des Denkens erstreckte und sich hier im theo-retischen Unsinn ausdrückte; dass sie sich auch gegenüber dem Denken entgrenzte und es in Nichts auflöste, mit der Folge, dass in jeder Aussage, in der es keinen Inhalt gab, eine Machtaussage lag, mit jeder Frage, die nach nichts fragte, die Machtfrage gestellt war, und die Aufforderung, zu kommunizieren, implizierte, einen Tausch von Gedanken zu simulieren.

Um das Überraschende zu präzisieren: Natürlich bin ich nicht davon aus-gegangen, dass es im Referendariat darum gehen würde, „wahre Aktivität“59 zu produzieren, sondern darum, das aktive Subjekt zu reproduzieren, nicht

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darum, kritisch und mündig zu sein, sondern das kritische und mündige Subjekt zu imitieren, das im Idealfall nur meint, dass die Meinungsfrei-heit prima ist, weil jeder dann meinen darf, was er meint; nicht darum, zu partizipieren, sondern das Modell der Partizipation zu zelebrieren, d. h. nett und adrett einen unwichtigen Beitrag hinzuzufügen, der um so schöner für den schönen Schein des Ganzen ist, wenn er sich gleich wieder vergessen lässt. Dementsprechend hatte ich auch damit gerechnet, dass sprachliche Interaktion in der Regel nicht den Zweck hat, sich über etwas ganz Bestimmtes zu verständigen, sondern im Hin und Her zwischen irgendetwas sachlich Unbestimmtem seinen Zweck auch in sich selbst zu finden; damit, dass es weniger darum gehen würde, über einen Inhalt zu kommunizieren, als darum, ununterbrochen Kommunikation zu spielen.60 Ich hatte also durchaus mit dem „operationellen Paradox“ der Kommu-nikation gerechnet, dass es „am besten ist, nichts zu sagen zu haben, um besser zu kommunizieren.“61 Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass dieses Nichts ganz und gar wörtlich zu verstehen ist. Und weiter: Ich hatte damit gerechnet, dass es „am besten ist, nichts zu sagen zu haben, um besser zu kommunizieren“, aber nicht damit, dass nicht zu kommunizieren ein Verbrechen ist. Um von diesem Verbrechen zu berichten, kehre ich zum Anfang zurück.

So richtig es ist, dass die Geschichte des Referendariats, im Ganzen be-trachtet, ironisch ist, weil sie die Regel bestätigt, dass „jede Bemühung, ein Ereignis abzuwenden nur seine Fälligkeit [beschleunigt]“62, so wenig verrät das Wiedererkennen dieser Regel etwas über die besondere Kon-stellation, in der ich mit dem Bemühen, im Normalfall zu schweigen, um gleichermaßen eine Kollision mit der Macht und die Lüge zu vermeiden, scheiterte. Und eben diese Konstellation ist interessant. Denn ich scheiterte mit meiner Strategie nicht dort, wo die Macht noch dinosaurierhafte Züge trug, und auch nicht dort, wo die Macht noch ge-wöhnlich kommunizierte, selbst wenn sie hier an ihre Grenze stieß, weil der Glaube an Methode auf Unsinn hinauslief. Erläuterte z. B. ein Referendar im Lehrprobenbesprechungszirkus, was er beobachtet hatte, und kom-mentierte: „Sehr gut, hat keine rhetorischen Fragen gestellt“, waren alle zufrieden, erklärte ein anderer: „Sehr gut, das Tafelbild war übersichtlich“, ebenso, und wenn im so beschriebenen Tafelbild eine lineare Entwicklung nicht horizontal, sondern vertikal angelegt war, gab es keinen, den das störte, denn übersichtlich war es ja. Die Folge: Selbst wenn ich nur sagte: „Mein Beobachtungsauftrag beinhaltete die Streuung der Schülermeldungen, fast alle sind mal drangekommen“, was dann eben falls „sehr gut“ war, kam bereits

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