Castellanos HA, Hertkorn C (2014) Psychologische Sachverständigengutachten im Familienrecht

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1 3 REZENSION Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2014) 8:145–146 DOI 10.1007/s11757-014-0258-3 Das Anliegen der Autorinnen, das psychologische Vorgehen bei der Begutachtung transparenter zu machen und Quali- tätskriterien für familienrechtspsychologische Gutachten darzustellen, ist gelungen. Das Ziel, „einen Beitrag zur Vereinfachung von familiengerichtlichen Fragestellungen zu leisten“, ist dagegen weniger nachvollziehbar, weniger überprüfbar und von geringer Erfolgswahrscheinlichkeit. Im Teil I (Allgemeine Richtlinien) werden in 41 Thesen „Rahmenbedingungen der Begutachtung im familienge- richtlichen Verfahren“ dargelegt. In komprimierter Form und praxisorientiert wird Grundwissen nicht nur über gut- achterliches Vorgehen, sondern auch über Kompetenzen und Interessen anderer Verfahrensbeteiligter, über Kinder- wünsche im Elternstreit, über notwendige Vernetzung von Sachverständigen (bei unkritischer Bezugnahme auf das „Cochemer Modell“) vermittelt. Teilweise werden aller- dings wünschenswerte Zustände als Realität dargestellt, so z. B. wenn behauptet wird: „Als Sachverständige werden vom Gericht Experten benannt, die sich durch besonde- res Fachwissen in einem bestimmten Gebiet auszeichnen“ (S. 11). Eher störend wirken die Appelle an alle Verfahrens- beteiligten, z. B. Eltern zu motivieren oder zur Befriedigung von Konflikten beizutragen. Von den Rahmenbedingungen werden nochmal „Grund- lagen der psychologischen Begutachtung im familienge- richtlichen Verfahren“ unterschieden. Eigenartigerweise ist dabei das Kindeswohl nicht juristischer Ausgangspunkt für die Unterscheidung von psychologischen Kindeswohl- kriterien, sondern eines der kindbezogenen Kriterien selbst neben Kindeswille, Bindungen und Beziehungen sowie Kontinuität. Die Systematik der Kriterien unterscheidet sich teilweise von gängigen Darstellungen, ist aber nach- vollziehbar. Manche Aspekte kommen zu kurz, z. B. die Bindungstoleranz. Das Kapitel zu psychodiagnostischen Verfahren mit seiner differenzierten Aufzählung aller möglichen metho- dischen Zugänge gibt Anlass zu der Frage nach der Ziel- gruppe. Für tätige Gutachter gehört es zum Grundwissen, aber wem sonst dient eine solche Aufzählung? Und wenn schon denn schon: Es fehlen spezielle psychometrische Verfahren für die familienrechtliche Begutachtung wie der Familien- und Kindergarten-Interaktionstest (FIT-KIT), der Familien-Identifikations-Test und auch der wohl am meisten gebräuchliche und inzwischen standardisierte „Family-relations“-Test. Nach Bezug auf Kap. 11 (Psychische Störungen) der 10. Ausgabe der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10) wird ohne jede Begründung behauptet, in Deutschland seien nur Ärzte und approbierte Psychotherapeuten berechtigt, klinische Diagnosen zu stellen. Bei dem Bemühen, möglichst viel Wissen zum Thema zusammenzutragen, ist es zu einer eigenartigen Mischung verschiedener Ebenen von Fach- und Sachkunde gekom- men. Es wird z. B. einerseits der Unterschied zwischen Psychologen und Psychiatern erklärt. Andererseits wird in die Tiefen der Bindungtheorie eingestiegen oder der Ver- lauf psychotischer Erkrankungen ausführlich analysiert. Hier muss der Leser lernen, rasch die Inhalte zu selektie- ren, die seinem Kompetenzniveau förderlich sind. Dies gilt auch für die informativen und umfangreichen Kapitel zur Beurteilung der Sorgerechtsregelung (Teil II), der Erzie- hungsfähigkeit (Teil III) und der Umgangsregelung. Hohen Ansprüchen werden die Autorinnen gerecht bei Themen Castellanos HA, Hertkorn C (2014) Psychologische Sachverständigengutachten im Familienrecht Nomos, Baden-Baden, 196 S., kartoniert, 38 €, ISBN 978-3-8487-0251-0 Harry Dettenborn Prof. Dr. H. Dettenborn () Praxis für Gerichtspsychologie, Berlin, Deutschland E-Mail: [email protected] Online publiziert: 13. März 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Rezension

Forens Psychiatr Psychol Kriminol (2014) 8:145–146DOI 10.1007/s11757-014-0258-3

Das Anliegen der Autorinnen, das psychologische Vorgehen bei der Begutachtung transparenter zu machen und Quali-tätskriterien für familienrechtspsychologische Gutachten darzustellen, ist gelungen. Das Ziel, „einen Beitrag zur Vereinfachung von familiengerichtlichen Fragestellungen zu leisten“, ist dagegen weniger nachvollziehbar, weniger überprüfbar und von geringer Erfolgswahrscheinlichkeit.

Im Teil I (Allgemeine Richtlinien) werden in 41 Thesen „Rahmenbedingungen der Begutachtung im familienge-richtlichen Verfahren“ dargelegt. In komprimierter Form und praxisorientiert wird Grundwissen nicht nur über gut-achterliches Vorgehen, sondern auch über Kompetenzen und Interessen anderer Verfahrensbeteiligter, über Kinder-wünsche im Elternstreit, über notwendige Vernetzung von Sachverständigen (bei unkritischer Bezugnahme auf das „Cochemer Modell“) vermittelt. Teilweise werden aller-dings wünschenswerte Zustände als Realität dargestellt, so z. B. wenn behauptet wird: „Als Sachverständige werden vom Gericht Experten benannt, die sich durch besonde-res Fachwissen in einem bestimmten Gebiet auszeichnen“ (S. 11). Eher störend wirken die Appelle an alle Verfahrens-beteiligten, z. B. Eltern zu motivieren oder zur Befriedigung von Konflikten beizutragen.

Von den Rahmenbedingungen werden nochmal „Grund-lagen der psychologischen Begutachtung im familienge-richtlichen Verfahren“ unterschieden. Eigenartigerweise ist dabei das Kindeswohl nicht juristischer Ausgangspunkt für die Unterscheidung von psychologischen Kindeswohl-kriterien, sondern eines der kindbezogenen Kriterien selbst

neben Kindeswille, Bindungen und Beziehungen sowie Kontinuität. Die Systematik der Kriterien unterscheidet sich teilweise von gängigen Darstellungen, ist aber nach-vollziehbar. Manche Aspekte kommen zu kurz, z. B. die Bindungstoleranz.

Das Kapitel zu psychodiagnostischen Verfahren mit seiner differenzierten Aufzählung aller möglichen metho-dischen Zugänge gibt Anlass zu der Frage nach der Ziel-gruppe. Für tätige Gutachter gehört es zum Grundwissen, aber wem sonst dient eine solche Aufzählung? Und wenn schon denn schon: Es fehlen spezielle psychometrische Verfahren für die familienrechtliche Begutachtung wie der Familien- und Kindergarten-Interaktionstest (FIT-KIT), der Familien-Identifikations-Test und auch der wohl am meisten gebräuchliche und inzwischen standardisierte „Family-relations“-Test.

Nach Bezug auf Kap. 11 (Psychische Störungen) der 10. Ausgabe der International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems (ICD-10) wird ohne jede Begründung behauptet, in Deutschland seien nur Ärzte und approbierte Psychotherapeuten berechtigt, klinische Diagnosen zu stellen.

Bei dem Bemühen, möglichst viel Wissen zum Thema zusammenzutragen, ist es zu einer eigenartigen Mischung verschiedener Ebenen von Fach- und Sachkunde gekom-men. Es wird z. B. einerseits der Unterschied zwischen Psychologen und Psychiatern erklärt. Andererseits wird in die Tiefen der Bindungtheorie eingestiegen oder der Ver-lauf psychotischer Erkrankungen ausführlich analysiert. Hier muss der Leser lernen, rasch die Inhalte zu selektie-ren, die seinem Kompetenzniveau förderlich sind. Dies gilt auch für die informativen und umfangreichen Kapitel zur Beurteilung der Sorgerechtsregelung (Teil II), der Erzie-hungsfähigkeit (Teil III) und der Umgangsregelung. Hohen Ansprüchen werden die Autorinnen gerecht bei Themen

Castellanos HA, Hertkorn C (2014) Psychologische Sachverständigengutachten im FamilienrechtNomos, Baden-Baden, 196 S., kartoniert, 38 €, ISBN 978-3-8487-0251-0

Harry Dettenborn

Prof. Dr. H. Dettenborn ()Praxis für Gerichtspsychologie,Berlin, DeutschlandE-Mail: [email protected]

Online publiziert: 13. März 2014© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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wie Einschränkungen der Erziehungsfähigkeit durch psy-chische Störungen und durch Suchterkrankungen oder der Verantwortungszuschreibung auf Eltern bei kindlichen Auffälligkeiten.

Erfreulich sind die klaren Standpunkte zu strittigen Themen wie etwa dem Wechselmodell, dessen Risiko und Störanfälligkeit differenziert dargestellt werden, oder der pauschalen Annahme, dass Umgangskontakte mit den leib-lichen Eltern prinzipiell dem Wohl eines Kindes dienen.

Nicht verständlich ist der fehlende Bezug auf geltende Rechtsnormen so z. B. zur Umgangspflegschaft oder zum begleiteten Umgang, zum Umgang mit anderen Bezugsper-

sonen, zu Zwangs- und Ordnungsmitteln im Gesetz über das Verfahren in Familiensachen und in den Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Familiengesetz, FamFG) oder zur möglichen Anordnung einer Teilnahme der Eltern an einer Beratung durch das Gericht gemäß § 156 Abs. 1 FamFG.

Insgesamt ist das Buch eine Bereicherung der familien-rechtspsychologischen Literatur und spricht einen breiten Leserkreis an, zumal die Inhalte weit über den Buchtitel hinausgehen.

H. Dettenborn (Berlin)