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CHINA: DOSSIER Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten Version August 2013 1 | 19 Chinas Metropole Schanghai. (Bild: Wikipedia) Chinas Wachstums- und Entwicklungsgeschichte der letzten zwanzig Jahre ist historisch einmalig, die Zu- kunftsaussichten sind rein aufgrund der Grösse des Landes einzigartig. China ist heute die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt und wird die USA in ein paar wenigen Jahren von Platz eins verdrängen. Das Land hat die weltweit grösste Bevölkerungszahl, und das Potenzial des aufstrebenden Marktes ist unendlich gross. Deshalb gibt es kaum mehr ein westliches Unter- nehmen, das nicht versucht, im chinesischen Markt Fuss zu fassen und an der Konsumstory teilzunehmen. Doch China ist auch das Land ohne funktionierendes Rechtssystem. Die soziale Ungleichheit ist enorm. Die Bevölkerung fordert mehr Freiheiten und ist nicht mehr bereit, die Machenschaften der politischen Elite einfach so zu akzeptieren. Das investitionsgetriebene Wachstumsmodell stösst an seine Grenzen. Die Umwelt ist vom forcierten Wachs- tum der letzten Jahre zerstört. Schafft China den Schritt zu einer nachhaltigen wirt- schaftlichen Entwicklung und zu einer «harmonischen Gesellschaft», wie sie das oberste Politbüro anstrebt? Wie begegnet die Partei dieser Herausforderung, wie schnell fordert die Gesellschaft ihre nachvollziehbaren Rechte ein? Können strukturelle Reformen wegen der starken Interessengruppen und der engen Verflechtung von politischer Elite und Wirtschaft überhaupt durchge- setzt werden? Bringt Chinas überschuldeter Finanzsek- tor die Wirtschaft zu Fall? Wann platzt die Immobilien- blase? Diese und weitere Fragen behandelt das Blogdossier «China» – und es wirft auch einen Blick auf das ganz alltägliche Leben in China.

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CHINA: DOSSIER Das Land der unbegrenzten Möglichkeiten

Version August 2013 1 | 19

Chinas Metropole Schanghai. (Bild: Wikipedia)

Chinas Wachstums- und Entwicklungsgeschichte der

letzten zwanzig Jahre ist historisch einmalig, die Zu-kunftsaussichten sind rein aufgrund der Grösse des

Landes einzigartig. China ist heute die zweitgrösste Volkswirtschaft der Welt und wird die USA in ein paar

wenigen Jahren von Platz eins verdrängen. Das Land hat die weltweit grösste Bevölkerungszahl, und das

Potenzial des aufstrebenden Marktes ist unendlich gross. Deshalb gibt es kaum mehr ein westliches Unter-

nehmen, das nicht versucht, im chinesischen Markt Fuss zu fassen und an der Konsumstory teilzunehmen.

Doch China ist auch das Land ohne funktionierendes Rechtssystem. Die soziale Ungleichheit ist enorm. Die

Bevölkerung fordert mehr Freiheiten und ist nicht mehr bereit, die Machenschaften der politischen Elite einfach

so zu akzeptieren.

Das investitionsgetriebene Wachstumsmodell stösst an

seine Grenzen. Die Umwelt ist vom forcierten Wachs-tum der letzten Jahre zerstört.

Schafft China den Schritt zu einer nachhaltigen wirt-

schaftlichen Entwicklung und zu einer «harmonischen Gesellschaft», wie sie das oberste Politbüro anstrebt?

Wie begegnet die Partei dieser Herausforderung, wie schnell fordert die Gesellschaft ihre nachvollziehbaren

Rechte ein? Können strukturelle Reformen wegen der starken Interessengruppen und der engen Verflechtung

von politischer Elite und Wirtschaft überhaupt durchge-setzt werden? Bringt Chinas überschuldeter Finanzsek-

tor die Wirtschaft zu Fall? Wann platzt die Immobilien-blase?

Diese und weitere Fragen behandelt das Blogdossier

«China» – und es wirft auch einen Blick auf das ganz alltägliche Leben in China.

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Inhaltsverzeichnis

Nomen est omen – in China noch viel mehr als sonst wo 3

Elektroautos in China – das totale Versagen einer Strategie 5

Minimale Menge an Reformen mit maximaler Menge an Konsens 7

Taxifahren in Schanghai – ein Erlebnis der besonderen Art 9

Hukou (户口) – oder das Problem der Migranten mit dem Wohnsitz 11

Acht Millionen Einwohner und kein Starbucks 13

Macht dank Liberalisierung 15

Chinas Immobilienmarkt als Gradmesser der Weltwirtschaft 17

Glossar 19

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Nomen est omen – in China noch viel mehr als sonst wo

Ausländische Unternehmen müssen in China einen

chinesischen Namen haben. Die Resultate sind zuweilen langweilig, manchmal lustig und ab und zu schlicht

genial.

Der chinesische Name für Coca-Cola – Kekoukele (可口可乐) – ist gelungen. Kekou heisst köstlich und kele bedeutet so viel wie glücklich sein können. (Bild: E. Tester)

Die Chinesen sind ziemlich besessen von ihrer Sprache.

Und diese Sprache ist wohl weltweit einzigartig kom-plex. Primarschüler müssen mehrere Stunden pro Tag

aufwenden, um die 2500 Schriftzeichen, die im Lehr-plan der ersten sechs Schuljahre stehen, zu lernen –

und zu schreiben. Jüngere Mütter monieren, die Kinder sollten lieber denken lernen, statt so viel Zeit mit dem

Schreiben der Schriftzeichen von Hand zu vergeuden, was im Zeitalter der elektronischen Schrift und des

vereinfachten Chinesisch-Pinyin an Bedeutung verloren habe. Doch das ist natürlich tabu. Die Sprache gilt in

China als unantastbares Kulturgut, Identifikationsmerk-mal und Statussymbol gleichermassen.

Waiguoren, also Ausländer, die probieren, die Sprache zu lernen, und sich in den Dschungel der chinesischen

Schriftzeichen wagen, begegnen einem Lächeln, das zwischen anerkennendem Wohlwollen und herablassen-

dem Mitgefühl schwankt. Viele Chinesen sind der Über-zeugung, dass Ausländer die Sprache gar nie richtig

lernen können. Deshalb erstaunt es kaum, dass die Chinesen punkto Sprachchauvinismus noch extremer

sind als die Franzosen, die ja mit einigem Erfolg versu-chen, sämtliche Anglizismen aus ihrem Sprachschatz zu

verbannen.

Klingt der Name, oder bedeutet er etwas?

In Bezug auf die Namensgebung ausländischer Unter-nehmen treibt diese Haltung besonders schöne Blüten.

Drei Varianten stehen dem Unternehmen dabei zur Wahl: Die Bedeutung des Firmennamens möglichst

exakt ins Chinesisch zu übersetzen, einen chinesischen Namen zu finden, der möglichst ähnlich wie der «westli-

che» Name klingt, oder – im optimalen Fall – ein Mix von beidem.

Die Schwierigkeit ist, dass im Chinesischen für jedes Wort oder jeden Wortteil ein Schriftzeichen gebraucht

und gesucht werden muss. Die Variante, den Namen westlich zu belassen, gibt es nicht, weil jedes in China

tätige Unternehmen einen offiziellen Namen in chinesi-schen Schriftzeichen für die Registrierung und den

allmächtigen Firmenstempel braucht. Für die «Finanz und Wirtschaft» sieht das so aus: 金融与经济, die Aus-

sprache ist «Jinrong yu jingji», also eine reine Überset-zung des Namens ohne Rücksicht auf Klang oder Laut-

malerei.

Apple heisst wahrscheinlich überall auf der Welt Apple

– sogar in Frankreich – doch die Chinesen haben ein Pingguo(苹果)-iPhone aus dem Pingguo-Store. Ping-

guos kauft man sonst am Obststand. Weiruan (微软) ist der chinesische Name von Microsoft, Wei = Mikro, ruan

= weich. Im Volkswagen fährt das gewöhnliche Volk herum: Dazhong (大众).

Amazon wird in China Yamaxun (亚马逊) genannt, was Übersetzung (Yamaxun heisst Amazonas) und ähnlicher

Klang zugleich ist. Ein bisschen variiert die chinesische Aussprache immer zu ursprünglichen Namen, da das

Schriftzeichen, das dem Laut entspricht, etwas anders ausgesprochen wird.

Für Google hingegen wurde ein klangnaher Name ge-wählt, ohne Übersetzungsbedeutung: Guge (谷歌). Auch

Maidanglao (麦当劳), Maikenxi (麦肯锡) und Naike (耐克) (McDonald’s, McKinsey und Nike) sind reine Laut-

anpassungen.

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«Juwelenpferd» und «Schnell die Zeit beschützen »

Am interessantesten sind natürlich die Namen, die Klang und Bedeutung erfassen. Ikea heisst Yijia (宜家), was

gemütliches Heim bedeutet. Schnell rennen tut Merce-des-Benz – Benchi (奔驰). Besonders schön ist die

Übersetzung von BMW, sie lautet Baoma (宝马), was Juwelenpferd, Schatzpferd oder Vollblüter bedeutet.

Porsche heisst auf Chinesisch Baoshijie (保时捷): Schnell die Zeit beschützen. Der Name für Coca-Cola –

Kekoukele (可口可乐) – ist zweifach gelungen. Kekou heisst köstlich und kele bedeutet so viel wie glücklich

sein können. Dagegen wirkt Nestlé mit seinem Vogel-nest Que chao (雀巢) recht langweilig.

Die meisten Unternehmen suchen für den chinesischen Markt also einen möglichst guten chinesischen Namen,

dafür wird viel Zeit und Aufwand betrieben. Viele Kon-sumenten sprechen weder Englisch noch eine andere

Fremdsprache und fühlen sich deshalb durch Namen in lokaler Schrift eher angesprochen.

Doch auch die umgekehrte Strategie hat Erfolg: Es gibt Unternehmen, die ihre Marketingstrategie allein mit dem

westlichen Namen betreiben. Niemand in China kennt zum Beispiel den chinesischen Namen der Kaffeekette

Costa, und manche rein chinesische Modemarke gibt sich einen französischen Namen, um besonders chic zu

sein. Koreanische Bäckereien treten als «Paris Ba-guette» auf, Kleidergeschäfte aus Hongkong als «tout à

coup!».

Übrigens: In den Augen der Autorin ist Schindler das

Schweizer Unternehmen mit dem besten chinesischen Namen. Xun da (迅达) – Schin da ausgesprochen – tönt

fast gleich und bedeutet Schnelle Ankunft. Besser geht es nicht.

Elisabeth Tester, 19. August 2013 PERMALINK: www.iconomix.ch/de/blog/808-nomen-est-omen/

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Elektroautos in China – das totale Versagen einer Strategie

Elektroautos werden von Peking angesichts der Ener-

gieprobleme und der Umweltverschmutzung massiv gefördert. Doch niemand kauft sie.

Der Kauf eines Elektroautos wird in China extrem subventio-niert. Doch ohne Aufladestationen nutzt das dem geneigten Käufer nicht viel. (Bild: E. Tester)

Seit März hat China die USA als grössten Rohölimpor-

teur der Welt überholt und ist nach Amerika der zweit-grösste Ölkonsument. Das ist nur zum geringeren Teil

der jüngsten Energierevolution in den USA zuzuschrei-ben und zum Hauptteil dem immer rascher wachsenden

Energiehunger Chinas. Schon seit Längerem ist das Land der grösste Energieverbraucher der Welt: 2012

verschlang China mit 3,5 Milliarden Tonnen SCE (Stan-dard Coal Equivalent) mehr als 20% des gesamten Welt-

bedarfs an Energie. Der Pro-Kopf-Konsum macht erst ein Viertel desjenigen der USA aus, doch gemäss der

Internationalen Energieagentur (IEA) steigt der weltwei-te Energieverbrauch bis 2035 um mehr als ein Drittel:

Für 60% der Zunahme werden Indien, der Nahe Osten und vor allem China verantwortlich sein.

Während fossile Energieträger in den OECD-Ländern an Bedeutung verlieren, steigt ihr Verbrauch in den

Schwellenländern weiterhin rasant. Der Ölverbrauch in China hat sich in der letzten Dekade verdoppelt. Auf das

Konto Autos fallen rund 45% des gesamten Ölbedarfs Chinas. Dabei gelangen jeden Monat 1,2 Millionen neue

Fahrzeuge auf die Strassen. Nimmt der Verkehr im Ausmass der letzten Jahre zu, wird die Energiesituation

Chinas noch prekärer. Und Chinas wichtigste Energie-quelle Kohle stellt ein riesiges Umweltproblem dar.

Extrem subventionierte EV

Kein Wunder, steht die Energiereform ganz oben auf Pekings Prioritätenliste. Neben mehr Markt und einer

flexibleren und kostennäheren Preissetzung der Ener-gieträger will Peking in grossem Stil erneuerbare Ener-

gien fördern und die eigenen entsprechenden Ressour-cen besser nutzen. Zu diesen Bemühungen gehört seit

Jahren schon die massive Förderung von Elektroautos (EV) in Städten wie Schanghai und Peking.

In Schanghai zum Beispiel fahren viele Autobesitzer täglich mit ihrer Karosse zur Arbeit. Die Distanzen sind

relativ kurz – 10 bis 20 Kilometer – und zudem vorher-sehbar. Damit fällt der häufig bemängelte Nachteil von

EV, nämlich die bescheidene Reichweite pro Batteriela-dung, kaum ins Gewicht.

Doch obwohl an den superlativen Autoshows in Schanghai oder Peking die ökologischen Fahrzeuge ins

Scheinwerferlicht gestellt werden, kauft sie kaum je-mand. Das ist auf den ersten Blick umso erstaunlicher,

weil der Erwerb eines Elektroautos mit enormen Ver-günstigungen und Anreizen einhergeht. Der Käufer in

Schanghai erhält sofort und gratis ein Nummernschild. Für kraftstoffbetriebene Autos müssen an der monatli-

chen und zahlenmässig limitierten Nummernschildauk-tion 10‘000 Franken und mehr für eine Autonummer

bezahlt werden. Der EV-Kauf wird landesweit mit einem Regierungszuschuss von bis zu 60‘000 Yuan (9000 Fr.)

subventioniert, bei einem Verkaufspreis von 130‘000 Yuan für die günstigsten Modelle.

Im Nordwesten Schanghais, im Distrikt Jiading, befindet sich Anting, einer der Cluster der chinesischen Auto-

mobilindustrie. Bekannt ist Anting auch wegen des Shanghai Circuit, wo jeweils die Formel-1-Rennen statt-

finden. Ebenfalls in Anting ansässig ist die EV Interna-tional Pilot City, wo in grossem Stil Forschung und

Entwicklung für Elektroautos betrieben wird – zu 80% von deutschen Unternehmen. Doch bislang mit wenig

Markterfolg. Behördlich geplant gewesen waren bis Ende 2015 eine halbe Million Elektrofahrzeuge auf Chi-

nas Strassen, 5 Millionen bis 2020.

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Doch niemand kauft sie

Zurzeit gibt es in ganz China erst 28‘000 EV, die meis-ten davon in öffentlichem Besitz. In Schanghai wurden

2010 anlässlich der Expo 2000 EV-Taxis in Betrieb gesetzt. In privatem Besitz befinden sich heute in

Schanghai nur gerade rund 400 Elektroautos. Auch die EV-Projektleiter von Anting sind enorm enttäuscht und

geben an, froh zu sein, wenn sich diese Zahl bis 2015 auf 2000 erhöht. Zum Vergleich: In Europa sollen 2012

rund 18‘000 EV verkauft worden sein.

Weshalb hat die EV-Strategie der chinesischen Behör-

den bislang so kläglich versagt? Am Strompreis liegt es nicht, denn der wird ebenfalls subventioniert: Ein Kilo-

meter Fahrt im EV kostet nur ein Fünftel der entspre-chenden Kosten für ein Kraftstoffauto. Das Problem

liegt einerseits an den Elektroautos selbst und ander-seits an der Umsetzung der Strategie sowie an der

chinesischen Bürokratie.

Bislang konnte keine EV-Technologie restlos überzeu-

gen. Dazu kommt, dass in China ein Auto einen hohen Stellenwert als Statussymbol hat und Geschwindigkeit

sowie PS diesen Status natürlich erhöhen. Wer sich ein Auto leisten kann, denkt in den wenigsten Fällen an die

Umwelt oder an die Betriebskosten.

Es gibt keine Aufladestationen

Aber deutlich wichtiger für das Versagen der EV-Strategie ist ihre Umsetzung. Aufladestationen für die

EV-Batterien gibt es für das Publikum zwar in Anting, aber sonst fast nirgendwo in Schanghai. Das Laden der

Batterien zuhause ist in den meisten Fällen nicht mög-lich, da es in vielen Garagen gar keine Steckdosen hat.

Man kann zwar für etwa 300 Franken eine eigene La-destation kaufen, aber die Stromabrechnung wirft in den

grossen Wohnkomplexen Schanghais weitere Probleme auf. Oft wird das Aufstellen einer Ladestation erst gar

nicht erlaubt.

Das Fördern von EV ist schön und gut, aber weshalb

baut die Regierung nicht die nötige Infrastruktur dazu? Die Antwort liegt gemäss einer nicht repräsentativen

Umfrage in der chinesischen Bürokratie. Die Gelder, die für Forschung und Entwicklung und Vorzeigeprojekte

munter – auch in die Taschen der Verantwortlichen – fliessen, sind für entsprechende Infrastruktur kläglich

gering. Mit Schein und Pomp können die Funktionäre mehr Geld verdienen als mit der EV-Realität. Schade,

denn Elektroautos wären für eine Stadt wie Schanghai geradezu prädestiniert.

Elisabeth Tester, 15. Juli 2013 PERMALINK: www.iconomix.ch/de/blog/801-elektroautos-in-china/

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Minimale Menge an Reformen mit maximaler Menge an Konsens

Peking muss die Wirtschaft und den öffentlichen Sektor

reformieren sowie gesellschaftliche Ungleichheiten angehen. Doch wie viel Reform ist möglich, ohne die

Wirtschaft abzuwürgen?

Die Urbanisierung, die in Schanghai rasant weitergetrieben wird, ist ein grosses Thema auf der Reformagenda der neuen Regierung. (Bild: E. Tester)

Chinas neue Führungscrew ist jung und reformwillig.

Zumindest jung genug, dass die beiden wichtigsten Protagonisten – Parteipräsident Xi Jinping und Premier

Li Keqiang – auch für eine zweite Amtszeit antreten könnten. Zudem ist mit Li Keqiang erstmals ein Ökonom

Regierungschef, und sämtliche Mitglieder des obersten Politbüros haben ihre prägenden Jahre während der

ersten Öffnungsphase der chinesischen Wirtschaft erlebt.

«Zum ersten Mal hat China eine Regierung, die wirklich an Reformen glaubt», sagt Li Daokui. Er ist Wirt-

schaftsprofessor an der Tsinghua University in Peking sowie Mitglied des Monetary Policy Committee der

People’s Bank of China und des Chinese People’s Politi-cal Consultative Committee – also der zwei wichtigsten

wirtschaftspolitischen Gremien in China.

Reformen werden konkret(er)

Ob der Reformwille der höchsten Politkader innerer

Überzeugung oder der Notwendigkeit zur Sicherung des Machtanspruchs der Partei entspringt, sei trotz der

prominenten Fürsprache einmal dahingestellt. Tatsache ist, dass die Reformagenda der Regierung lang und

umfassend ist. Und Anfang Mai hat die Regierung detail-

lierte Pläne bekannt gegeben. Zu den betroffenen Sek-

toren und Themen gehören unter anderem: öffentliche Verwaltung, Urbanisierung, Landwirtschaft, Wohlfahrt,

Wohnsitz, Steuer- und Finanzsystem, Transportwesen sowie Preise für Wasser, Elektrizität und andere Res-

sourcen. Für viel Aufmerksamkeit haben Punkte wie die volle Konvertibilität des Yuan, die weitere Öffnung der

Kapitalmärkte oder der massive Ausbau des Sozialsys-tems gesorgt.

Der Zeitpunkt der Reformankündigungen war gut ge-wählt: Die chinesische Wirtschaft schwächelt trotz

rekordhoher Kreditvergabe seit Anfang Jahr, und zu-weilen machte sich bereits etwas Enttäuschung über

die neue Regierung resp. deren Reformwille bemerkbar. Doch auch die jüngsten Ankündigungen waren nicht mit

einem konkreten Zeitplan versehen, sondern sind eher als Leitfaden zu verstehen. Das ist nicht als leere Worte

der Regierung zu werten, sondern spiegelt die Komple-xität und die Schwierigkeit der diversen Reformvorha-

ben – denn in vielen Bereichen betritt Peking Neuland und muss einen veritablen ökonomischen und gesell-

schaftlichen Balanceakt meistern.

Drei heikle Themen

Die drei heikelsten Reformthemen – der Machtanspruch

der Partei bleibt natürlich unberührt – betreffen den Immobilienmarkt, die öffentlichen Finanzen und die

Urbanisierung. Gemäss Li sind Reformen und Mass-nahmen, die den Immobiliensektor betreffen, nicht so

sehr ein finanzielles oder wirtschaftliches Thema, son-dern ein soziales und politisches. «Die Regierung will

den Immobilienmarkt abkühlen, um mehr Leuten, vor allem auch in den dritt- und viertrangigen Städten,

Wohneigentum zu ermöglichen. Der Markt boomt zu stark, um sozial verträglich zu sein.»

Gleichzeitig hängen viele andere Branchen und unzähli-ge Arbeitsplätze von der Bauwirtschaft ab. Wird der

Immobilienmarkt zu fest gebremst, leidet die sonst schon stotternde Wirtschaft, was nicht im Interesse

Pekings ist. Zurzeit versucht die Regierung landesweite Massnahmen mit punktuellen Eingriffen zu ergänzen –

bislang jedoch mit wenig Erfolg.

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Zur Reformierung der öffentlichen Finanzen gehört

auch eine Neuregelung der Einnahmen- und der Ausga-benverantwortlichkeit auf Provinzebene. Diese befinden

sich zurzeit oft auf verschiedenen politischen Ebenen. Neue Gesetze stören häufig die Eigeninteressen der

Politiker und werden so weit wie möglich sabotiert. Zielkonflikte der verschiedenen Regierungsebenen

verschärfen das Problem: Während Peking moderate Immobilienpreise wünscht, wollen die Gemeinden mög-

lichst hohe Bodenpreise, da sie durch Landverkauf einen Grossteil ihrer Ausgaben finanzieren.

Im Zusammenhang mit der Urbanisierung ist die Wohn-sitz-Reform besonders anspruchsvoll. Unter Urbanisie-

rung versteht Peking nicht nur den Bau von Städten und Infrastruktur, sondern Investitionen in «Lebensräume»

und die Einbindung der Migrantenarbeiter in das Sozial-system. Mehr als 230 Millionen Chinesen leben derzeit

in Städten, besitzen dort jedoch nicht den offiziellen Wohnsitz (Hukou), was sie von vielen öffentlichen

Dienstleistungen wie Schulen und Krankenversicherung ausschliesst.

Beginnt Peking mit der punktuellen Aufnahme der Mig-ranten in einzelnen Städten – was angesichts der riesi-

gen administrativen Aufgabe und der sehr hohen Kosten sinnvoll erscheint –, dürften Proteste aus anderen Re-

gionen nicht lange auf sich warten lassen. Die Hukou-Reform gilt nicht nur als zentrale soziale und gesell-

schaftliche Aufgabe, sondern langfristig auch als positi-ver Treiber für den Konsum. Kurzfristig jedoch wird sie

eine Belastung für die Finanzen von Staat, Unternehmen und Arbeitern sein, da sich alle an den Kosten beteiligen

müssen.

Wirtschaft versus Gesellschaft

Gemäss Li haben diese drei Reformen den grössten Ein-

fluss auf die chinesische Wirtschaft und Gesellschaft – und gleichzeitig soll die Konjunktur kurzfristig nicht zu

fest gebremst werden.

Und mit welchen Reformen ist bis wann zu rechnen? Li

ist sich sicher: «Es wir eine minimale Menge an Refor-men mit einer maximalen Menge an Konsens geben.»

Noch dieses Jahr rechnet er mit dem Beginn der Neustrukturierung der öffentlichen Finanzen und mit

ersten Schritten der sozialen Einbindung der Migranten-arbeiter.

Zudem erwartet er die rasche Liberalisierung des Fi-nanzsektors. Neben grösserem Spielraum bei den

Zinssätzen und einer breiteren Handelsspanne des Yuan zum Dollar sei besonders die angestrebte Konvertibilität

des Yuan für China wichtig: «Dadurch kann jeder Chine-se im Ausland investieren.»

Das bedeute, dass die Sparrate sinken werde, die heute nur mangels Investitionsalternativen so hoch sei. Eine

tiefere Sparquote könnte mehr Konsum nach sich zie-hen – und das wiederum könnte Peking erlauben, ir-

gendwann die schuldenfinanzierten Investitionen zu reduzieren, ohne die Wirtschaft abzuwürgen.

Ein Blick auf die Schwierigkeiten der europäischen Regierungen, Beschlüsse zu fassen und Reformen

durchzusetzen, könnte auch in Bezug auf die Erwartun-gen für die Reformen in China aufschlussreich sein:

Peking ist zwar hinsichtlich der Umsetzung wirt-schaftspolitischer Massnahmen schlagkräftiger und

effizienter als demokratisch gewählte Regierungen im Westen – aber die Themenstellungen sind hier viel kom-

plexer und die Dimensionen sind ungleich grösser. Zudem bremst die ausgeprägte Konsensmentalität. Aber

auch der Druck zu Reformen ist höher.

Elisabeth Tester, 27. Mai 2013 PERMALINK: www.iconomix.ch/de/blog/786-heikle-reformen/

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Taxifahren in Schanghai – ein Erlebnis der besonderen Art

Ein Erlebnis der besonderen Art: Taxifahren in Schang-

hai ist gelinde gesagt gewöhnungsbedürftig. Aber nir-gendwo funktioniert es besser.

Das Strassenbild in Schanghai wird von den farbigen VW-Santana-Taxis geprägt – und lautstark belebt. (Bild: E. Tester)

Schanghai ist in vielerlei Hinsicht eine Stadt der Super-lative. Und ein Erlebnis der extremeren Art ist immer

wieder eine Taxifahrt. Dem Besucher Schanghais, dem zum ersten Mal dieses etwas zweifelhafte Vergnügen

zuteil wird, fällt als Erstes die Plexiglasscheibe auf, die den Chauffeur rundum von den Fahrgästen abschirmt.

Zweck der Installation ist, den Fahrer von Schlägen rabiater Kunden zu schützen – und das ist sehr sinnvoll.

Denn nur allzu oft ist man versucht, den Chauffeur zu schlagen.

Aber der Reihe nach. Ohne Chinesischkenntnisse läuft hier gar nichts. Es sei denn, man will dem Taxifahrer die

Adresse auf chinesisch geschrieben zeigen. Dann kann man Glück haben, und der Fahrer fährt anstandslos und

direkt zum Zielort. Oder man hat – und das ist meistens der Fall – Pech, und der Chauffeur nutzt seine Chance

mit dem Waiguoren und fährt eine etwas originellere Route als die direkteste. Dabei wird zwischen Gaspedal

und Vollbremse munter abgewechselt, und die Hand-bremse ist das liebste Werkzeug des chinesischen Taxi-

fahrers. Der somit vollständig durchgerüttelte Fahrgast ist dann einfach nur froh, am Zielort zu sein, und disku-

tiert, auch wenn er es sprachlich könnte, nicht mehr über den Preis.

Hupe und Hygiene

Wer des Chinesischen etwas kundig ist, fährt jedoch oft auch nicht besser. «Wo renshi lu, wo renshi lu!» ist die

Standardantwort eines jeden Taxifahrers: «Ich kenne den Weg!» Das behauptet er auch noch steif und fest,

wenn er in die entgegengesetzte Richtung eines gut sichtbaren Ziels, wie zum Beispiel des 420 Meter hohen

Financial Tower, fährt. Dann möchte man gerne schla-gen. Helfen tut dann nur die Drohung, nichts zu be-

zahlen.

Das zweitliebste Utensil der Taxifahrer ist selbstver-

ständlich die Hupe. Es wird gehupt, was das Zeug hält, wobei Hupen nicht etwa bewirkt, dass andere Fahrzeu-

ge abbremsen oder gar anhalten, im Gegenteil. Aber da alle immer hupen und jedermann weiss, dass es nur ein

«Auf-sich-aufmerksam-Machen» ist, gibt es erstaunlich wenig Unfälle: Jeder macht zwar auf der Strasse, was

er will, aber alle sind achtsam.

Weniger Positives ist zuweilen dem Hygiene- und ande-

rem Verhalten der Taxichauffeure abzugewinnen. Her-umschreien und laute Selbstgespräche während der

Fahrt sind an der Tagesordnung; Filme schauen, SMS schreiben und telefonieren natürlich auch. Lange Fin-

gernägel werden geschnitten, Nasenhaare ausgezupft und Wäsche gewechselt. Und das Aussondern von Lun-

gen- und anderen Körperflüssigkeiten inner- und aus-serhalb des Taxis erstaunt nur die totalen Schanghai-

Anfänger, bei denen dann wiederum der Schlagreflex ausgelöst wird.

Doch alles in allem ist Taxifahren in Schanghai genial. Meist muss man nicht einmal eine Minute warten, bis

einer der farbigen VW Santana anhält – in keiner ande-ren Stadt der Welt gibt es so viele Taxis, die durch die

Strassen fahren und überall Fahrgäste auflesen. Und Taxifahren ist auch sehr günstig. Die Grundgebühr

beträgt 14 Yuan, also rund 2 Franken. Eine vierzig-minütige Fahrt durch das Stadtzentrum kostet etwa

7 Franken.

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Santana über alles – auch gefälscht

Probleme, ein Taxi zu finden, gibt es höchstens spät in der Nacht, wenn der Taxifahrer partout nur zu sich nach

Hause fahren will oder wenn es regnet. Taxis in Schanghai haben die erstaunliche Eigenschaft, sich

schon bei wenigen Regentropfen in Luft aufzulösen. Dabei handelt es sich wahrscheinlich um eine «Vor-

schrift» von der Regierung, damit es bei nasser Fahr-bahn wegen der total abgefahrenen Pneus keine Unfälle

gibt.

Gemäss offiziellen Angaben gibt es in Schanghai 70‘000

Taxis. Fünf grössere Gesellschaften teilen sich den Markt, erkennbar an den verschiedenen Farben der

Fahrzeuge – blau, grün, rot, weiss, gelb. Bei allen Fahr-zeugen handelt es sich um VW Santana – die zum Teil

500‘000 Kilometer und mehr auf dem Zähler haben.

Eine Ausnahme sind die Expo-Taxis, die 2010 in Betrieb

genommen wurden: Sie sind neu, meist sauber, und es handelt sich dabei um VW Touran, die im Vergleich zu

den Santana einen unglaublichen Komfort bieten. Grund für das VW-Monopol ist die Regierung, die an VW

Shanghai beteiligt ist.

Neben den offiziellen gibt es unzählige kleinere Taxiun-

ternehmen sowie Privatleute, die Gäste herumchauffie-ren wollen. Und wie fast alles in China, werden auch

Taxis kopiert. Jüngst war in der Presse zu lesen, dass die Polizei in Schanghai Hunderte von perfekt als Taxis

getarnten Fahrzeugen, die aber keine offizielle Lizenz besassen, aus dem Verkehr gezogen hat – zumindest

für ein paar Stunden.

Elisabeth Tester, 2. Mai 2013 PERMALINK: www.iconomix.ch/de/blog/776-taxifahren-in-schanghai/

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Hukou (户口) – oder das Problem der Migranten mit dem Wohnsitz

Geisterstädte, wenig befahrene Autobahnen und riesige

Flughäfen in kaum entwickelten Provinzstädten. China erlebte über die vergangenen Jahre im Immobiliensek-

tor einen enormen Boom. Geht es nun abwärts?

In Pudong in Schanghai entsteht der Shanghai Tower, der mit einer Höhe von 632 Meter das voraussichtlich zweithöchste Gebäude der Welt sein wird. Ohne Migrantenarbeiter wäre das ein unrealisierbares Projekt. (Bild: Wikipedia)

Personenfreizügigkeit ist zurzeit in vielen Ländern ein

aktuelles Thema. Deutschland fragt sich, ob vermehrt Roma-Familien aus Rumänien und Bulgarien nach

Deutschland umsiedeln werden. In den USA erhitzt die Immigration aus Zentralamerika die Gemüter. In der

Schweiz ist alles rund um die Personenfreizügigkeit ohnehin seit Jahren ein politischer Dauerbrenner. Dabei

geht es letztlich immer um die – zunehmende – Mobilität von Personen über nationale Grenzen hinweg.

Um restriktiv gehandhabte bzw. nicht genehmigte Mobi-lität von Personen innerhalb nationaler Grenzen geht es

in China. Das berühmte Hukou-System bindet einen grossen Teil der Bevölkerung nach wie vor an die

Scholle. Unter Hukou wird die in China 1958 eingeführte Wohnsitzkontrolle verstanden, mit der Mao die Bevölke-

rung immobil und auf dem Lande hielt – dort, wo sie gemäss den kommunistischen Machthabern eines Ag-

rarstaates hingehört.

Heute ist China gemäss offiziellen Statistiken bereits zu

mehr als 50% urbanisiert, das heisst, 51% der Chinesen lebten 2012 in Städten. Den offiziellen Wohnsitz (Hukou)

in einer Stadt besitzen jedoch nur rund 35% der Bevöl-kerung. Gemäss dem asiatischen Brokerhaus CLSA

leben etwa 220 Millionen Menschen «illegal» in den Städten.

Hukou bedeutet Privilegien

Hukou ist nicht nur ein administratives Papier, sondern die Basis, aufgrund derer die lokalen Regierungen und

Städte ihren Einwohnern Privilegien wie Zugang zu medizinischer Versorgung und Schulen zuteilen, und

ohne Hukou können zum Beispiel kaum Liegenschaften gekauft werden. Hukou ist vererbbar und diskriminiert

vor allem die Kinder von Migrantenarbeitern, da diese den Wohnsitz des Vaters oder der Mutter erhalten, auch

wenn sie in den grossen Städten geboren wurden.

Hunderte von Millionen von Migranten gehen also fern

vom Ort ihres Hukous ihrer beruflichen Tätigkeit nach, verdienen dort Geld und wohnen an ihrem Arbeitsort.

Ohne diese Arbeitskräfte wären die meisten Bauprojek-te in China schlicht nicht realisierbar. Sobald es aber

um Fragen wie Schulausbildung für die Kinder dieser Migranten, Rentenansprüche oder Spitalversorgung

geht, tritt das Hukou-System in Kraft: Die Kinder können keine oder nur die schlechten Schulen am Arbeitsort

besuchen, und staatliche Pensionsansprüche hat der Migrantenarbeiter auch nur an seinem Hukou-Wohnort.

Nur Personen mit speziellen und von Peking definierten beruflichen Fähigkeiten erhalten die offizielle Erlaubnis,

ihren und den Wohnsitz ihrer Familie zu verlegen. Es ist etwa so, wie wenn ein Churer zwar in Zürich arbeiten,

Steuern zahlen und wohnen darf, sein Kind aber eigent-lich nur in Chur zur Schule gehen kann und er in Grau-

bünden seine staatlichen Rentenzahlungen abholen muss.

Stadt gegen Land

Massive Proteste mehrten sich in letzter Zeit auch wegen der Zulassungsexamen für die Universitäten: Schüler

ohne Peking-Hukou müssen die Aufnahmeprüfungen (Gaokao) an ihrem registrierten Wohnort ablegen – auch

wenn sie immer in Peking zur Schule gegangen sind. Das Curriculum kann dabei deutlich variieren, und die

Prüfungen auf dem Lande gelten als schwieriger. Aber auch wenn die aspirierenden Studenten alle akademi-

schen Hürden meistern, ist es sehr ungewiss, dass sie einen Studienplatz erhalten, da Peking – wo sich die

besten und beliebtesten Universitäten befinden – über-

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proportional viele Studienplätze an Peking-Hukou-

Halter verteilt. Für Schanghai ist die Situation ähnlich.

Der jüngste Versuch, auch Schüler ohne Peking-Hukou

in der Hauptstadt die Prüfungen schreiben zu lassen, resultierte in weiteren heftigen Protesten, diesmal von-

seiten der «Einheimischen». Diese tendieren gerne dazu, die Migranten für alles, was in der Stadt schief-

läuft, verantwortlich zu machen, und sie wollen die Konkurrenz vom Lande natürlich nicht.

Komplexe Reform ist nötig

Die von der Regierung im letzten Jahr angekündigte Liberalisierung des Hukou-Regimes wird schrittweise

erfolgen. Vielleicht beschränkt sie sich auch auf einzel-ne Regionen. Mit dem Verlegen des Wohnsitzes durch

das physische Umziehen der Personen ist es nämlich nicht getan: Die Anrechte auf staatliche Dienstleistun-

gen müssen ebenfalls verschoben werden – und somit auch die Gelder, die diese Dienstleistungen finanzieren.

Die städtische Infrastruktur muss ausgebaut und die öffentlichen Dienste müssen bereitgestellt werden. Um

das zu bewerkstelligen, werden eine tief greifende

Steuerreform sowie eine Reform der öffentlichen Aus-

gaben nötig sein. In einem Land der Grösse und der Bevölkerungszahl Chinas ist das eine enorm komplexe

Aufgabe, die nur im Laufe vieler Jahre und schrittweise erfüllt werden kann.

Die Lebensbedingungen der Mehrheit der chinesischen Bevölkerung, und insbesondere der in den Städten

lebenden Migranten, dürfen auf keinen Fall schöngere-det werden. Niemand in der Schweiz lebt in nur annä-

hernd ähnlich engen und lieblosen Verhältnissen. Aber dank Hukou, das die Land-Stadt-Migration dämpft, ist es

China immerhin gelungen, das unkontrollierte Entstehen von slumähnlichen Wohngebieten, wie es sie in anderen

Schwellenländern gibt, zu unterbinden. Doch nun muss die Regierung den neuen Gegebenheiten und den nach-

vollziehbaren Ansprüchen der Migranten Rechnung tragen und das Hukou-System nachhaltig reformieren.

Elisabeth Tester, 27. Februar 2013 PERMALINK: www.iconomix.ch/de/blog/737-hukou-oder-das-problem-der-migranten-mit-dem-wohnsitz/

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Acht Millionen Einwohner und kein Starbucks

Der Kohleabbau und die Schwerindustrie machen Jining

in der Provinz Shandong zu einer der verschmutztesten Städte Chinas. Ein Bericht aus einer Stadt, die noch

weit vom Westen entfernt ist.

Verbotstafel in Shandong. (Bild: E. Tester)

Nur Platz neun! Zuerst bin ich fast ein bisschen ent-täuscht, obschon ich ja froh sein sollte – denn Platz neun auf der Liste der verschmutztesten Städte Chinas ist nichts Erstrebenswertes, und eine bessere Rangie-rung noch viel weniger. Im Hotelzimmer in Jining, in dem meine Vorgänger jahrelang geraucht haben, reisse ich die Fenster auf, um frische Luft hereinzulassen. Doch damit verschlimmere ich die Situation bloss – man kann die Luft, die ins Zimmer strömt, richtig anfassen, man riecht sie und schmeckt sie, es gibt kein Auswei-chen. Die unglaubliche Luftverschmutzung lässt die Sonne hinter einem schwarzen Schleier scheinen. Es ist um zwölf Uhr mittags schon dunkel.

Jining liegt in der Provinz Shandong, rund 150 Kilometer von der Hauptstadt Jinan entfernt, die auf der Schmutz-liste Platz eins belegt, so die Aussage eines Regie-rungsvertreters. Shandong ist bekannt für den Kohle-abbau und andere nicht gerade umweltfreundliche Schwerindustrie, was vieles erklärt. Schon die Fahrt von Schanghai nach Shandong verhiess nichts Gutes: Entlang des Trassees des Hochgeschwindigkeitszugs scheint viel Land brachzuliegen – und das liegt nicht nur an der Jahreszeit –, Schutt verunstaltet Felder und Dörfer, Fabriken und Häuser sind von einer braunen Schmutzschicht bedeckt.

Wohnquartiere verdrängen Industrie

Die Reise nach Jining mitten im Winter und zum Zeit-punkt der schlimmsten Luftqualität Chinas seit Mes-sungsbeginn überhaupt scheint plötzlich keine so gute Idee mehr zu sein. Was mache ich hier bloss? Viel Zeit zum Grübeln bleibt mir nicht, denn schon werde ich für die Besichtigung der Industriezone abgeholt. Die Anla-gen sind riesig und wirken an vielen Stellen etwas selbst gebastelt. Der Gestank einiger Fabriken ist uner-träglich, und ich wundere mich, wie die Belegschaften hoch konzentriert ihrer Arbeit nachgehen – und das mit viel Erfolg. Die Unternehmen beliefern wichtige Indust-riefirmen weltweit und besitzen in ihrem Segment teil-weise einen globalen Marktanteil von mehr als 50%. Sie liegen in einem riesigen Industriepark; Schwerindustrie, Textil- und Chemieindustrie herrschen vor, unterbro-chen von Bankkomplexen.

Beim Bau der Fabrikanlagen vor zehn bis zwölf Jahren befanden sich die Wohnquartiere Jinings noch in weiter Ferne. Wie überall in China wurde der Industriepark weit ausserhalb der Stadt gebaut. Doch die Realität der rasanten Entwicklung und Urbanisierung der Region hat die Planung überholt und die Wohnquartiere immer näher an die Industriestandorte rücken lassen. Die lokale Regierung hat als Folge ihren Druck schrittweise erhöht, um den Umzug einiger Fabriken zu veranlas- sen – offiziell aus Umweltgründen (Schutz der Wohnbe-völkerung vor Immissionen). Aber natürlich lockt auch der bedeutende Mehrwert, sobald die Areale von Indust-rie- in Geschäftszonen umgewandelt werden können.

Sich dem Druck der lokalen Regierung zu beugen, ist so chinesisch wie die Nudelsuppe zum Frühstück – somit werden manche Fabriken geschlossen und an einem anderen Ort aufgebaut. Die Eigentümer haben nichts dazu zu sagen, sie können höchstens darauf hoffen, für das freigegebene Land einen Preis zu erhalten, der die Umzugs- und Neubaukosten mehr oder weniger deckt. Wenn nicht – Pech gehabt. Was im Westen als unvor-stellbare Willkür und Verletzung von Eigentums- und anderen Rechten gälte, ist in China regelmässig zu beobachten. Willkür und Unsicherheit sind feste Be-standteile des Geschäftens.

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Der Westen ist (noch) weit weg

Verwirrt und von der Vorstellung überfordert, wie die riesigen Tanks und Anlagen abgebaut, wegtransportiert

und an einem neuen Ort wieder aufgebaut werden, verabschiede ich mich, um auf eigene Faust die Stadt zu

erkunden. Und die fängt gleich neben der Industriezone an. Ich fahre an neuen Wohnsiedlungen vorbei und an

der High-Tech Park International School. Ihrer Grösse nach zu urteilen, gibt es in Jining nicht wahnsinnig viele

westliche Manager, zumindest nicht solche, die ihre Kinder mitbringen. Das Stadtzentrum schliesslich erin-

nert mich mehr an meinen ersten Chinabesuch 1986 als an meinen jetzigen Wohnort Schanghai. Zweiräder und

kleine dreirädrige Lieferwagen dominieren die Strassen.

Bei langen Fussmärschen durch die Strassen Jinings

und dem Spaziergang im «Vergnügungsviertel» gibt es nur gerade vier Anschriften zu sehen, die nicht chine-

sisch geschrieben sind: Dumpling King, Yabaobao, Kiss-baby und Schöne Mama. Bei den letzteren zwei handelt

es sich übrigens um Bekleidungsgeschäfte. Auch eine

Strassentafel mit der Aufforderung «Waste Discarding

Prohibited» ist auf Englisch verfasst – wie wenn Eng-lisch sprechende Autofahrer für die Umweltverschmut-

zung Jinings verantwortlich wären.

Starbucks-Filialen, die in Tier-1- und Tier-2-Städten ein

fester Bestandteil des Strassenbilds sind, gibt es in Jining nicht. Selbstverständlich auch keine Ableger

westlicher Modeketten, geschweige denn Luxusmarken. Jining ist eine Tier-3-Stadt mit 8 Millionen Einwohnern.

Das Wachstumspotenzial ist riesig, der Mittelstand – und mit ihm die Begehrlichkeit nach westlichen und anderen

Konsumprodukten – ist erst ganz am Anfang seines Entstehens. Doch auch ohne Latte macchiato versöhne

ich mich langsam mit Jining, denn das Shandong-Essen ist fantastisch. Und die Menschen, mit denen ich mich

auf den Strassen und in den Parks immer wieder unter-halten konnte, sind sehr herzlich. Eine Eigenschaft, die

in Schanghai zwischen Gucci und Cartier eher selten zu finden ist.

Elisabeth Tester, 25. Januar 2013 PERMALINK: www.iconomix.ch/de/blog/703-acht-millionen-einwohner-und-kein-starbucks/

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Macht dank Liberalisierung

Die Kommunistische Partei Chinas hat keine Wahl: Will sie

an der Macht bleiben, muss sie die Reformen in Wirt-schaft, Politik und Gesellschaft vorantreiben.

Auf dem «Platz des himmlischen Friedens» ist das Parlaments-gebäude der Volksrepublik. (Bild: Wikipedia)

Der 18. Nationalkongress der Kommunistischen Partei Chinas ist vorbei: Die hiesige Presse berichtet zuweilen auch wieder über andere Themen, und an den Kiosken werden zur Legendenbildung rote Broschüren mit den Portraits der neuen Führungscrew verkauft. Im Westen und hierzulande analysieren die Experten nun die Reden der Spitzenpolitiker – und versuchen Schlüsse für die Zukunft zu ziehen.

Wirtschaftspolitik, Korruptionsbekämpfung und soziale Belange stehen dabei im Vordergrund. Die Welt rätselt, ob und wie schnell neue Reformen eingeführt und umgesetzt werden, da die neue Führung eher für Kontinuität denn für aggressive Reformen steht. Doch ist das schlecht? Eine Frage, die kaum gestellt wird, lautet nämlich, ob die Partei sich bewusst ist, weshalb sie überhaupt noch an der Macht ist. Falls die Antwort darauf «Ja» ist, wird die wirtschaftliche und politische Öffnung weitergehen und werden der persönliche Freiraum und die individuelle Freiheit der Bevölkerung rasch fortschreiten. So wie das in den letzten zwanzig Jahren bereits geschah.

Enormer Fortschritt

Vor wenigen Jahren noch mischte sich die Partei in fast alle Bereiche des persönlichen Lebens der Bevölkerung ein, heute hält sie sich weitgehend zurück. Seit Mitte der

Neunzigerjahre hat die Kommunistische Partei Schritte unternommen, die noch nie ein autoritäres Einparteien-regime gewagt hat. Nach dem Tiananmen-Massaker 1989 und der Entwicklung in der Sowjetunion und in Osteuropa hat die Partei freiwillig entschieden, sich aus vielen Be-reichen der Wirtschaft und der Gesellschaft zurückzuzie-hen – und die Art und Weise, wie sie das Land regiert, grundlegend geändert, um an der Macht zu bleiben.

In den Achtzigerjahren gab es keine privaten Unterneh-men, und sämtliche Preise wurden staatlich festgelegt. Heute stammt ein grosser Teil der Wirtschaftsdynamik vom Privatsektor, der zudem zu einem enorm wichtigen Arbeitgeber wurde. Weil die Partei diesen Richtungs-wechsel einschlug, ist sie immer noch an der Macht. Und weil das Regime ein Einparteiensystem ist, hat es keine andere Wahl, als diese Anpassungen weiterzuführen.

Noch grösserer Handlungsbedarf

Ein Gebiet, das jedoch noch reformfrei ist, und das unbe-dingt angepasst werden muss, ist das Rechtssystem. Dazu gehört die Bekämpfung der für das Wirtschaftssys-tem inzwischen unerträglichen Korruption. Um die Wirt-schaft am Laufen zu halten, muss der private Sektor gestärkt werden: Staatsunternehmen müssen reformiert, vorhandenes Potenzial freigesetzt und Effizienzgewinne erzielt werden. Das geht nur, wenn ein Rechtssystem, das diesen Namen verdient, in Kraft ist. Sonst verhindern Unsicherheit und Angst vor Willkür die so notwendigen Innovationen und strukturellen Reformen.

Die Reportage von David Barboza von der «New York Times» über die Anhäufung eines mehrfachen Milliarden-vermögens der Familie von Premier Wen Jiabao und die Zuteilung der Aktien vor dem Börsengang des Versiche-rers Ping An führte zur Blockierung der NYT-Webseite. Diese Geschichte ist zutiefst verstörend und lässt erah-nen, wie tief der Regulator und Staatsbetriebe in die Korruption verstrickt sind.

Auf den ersten Blick betrifft sie kleinere Unternehmen in China wenig. Auf den zweiten Blick sind die Parallelen frappierend: Diese Betriebe leiden unter der Tatsache, dass Gerichtsurteile, Bewilligungen und Staatsgelder denen zugutekommen, die über persönliche Beziehungen

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zu den Entscheidungsträgern verfügen. Was heute un-möglich ist, kann morgen plötzlich bewilligt werden – und umgekehrt. Das erzeugt kein gutes Investitionsklima. Und Investitionen in innovative marktorientierte Unternehmen sind in China bitter nötig.

Elisabeth Tester, 29. November 2012 PERMALINK: www.iconomix.ch/de/blog/678-china-macht-dank-liberalisierung/

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Chinas Immobilienmarkt als Gradmesser der Weltwirtschaft

Geisterstädte, wenig befahrene Autobahnen und riesige

Flughäfen in kaum entwickelten Provinzstädten. China erlebte über die vergangenen Jahre im Immobiliensektor

einen enormen Boom. Geht es nun abwärts?

Blick von oben auf die Baustelle Schanghai. (Bild: E. Tester)

Chinas Wirtschaft stockt, das ist bekannt und das belegen

die Fakten. Aber ob sie eine harte oder eine weiche Lan-dung erfahren wird, darüber sind sich die Experten un-

einig. Manche hoffen auf die Durchschlagskraft und das durchaus noch vorhandene wirtschaftspolitische Instru-

mentarium Pekings, andere warnen vor weiteren investi-tionsorientierten Stimulierungsmassnahmen, die die

strukturellen Probleme nur noch verschärften und die Blase definitiv zum Platzen brächten.

Ein Sektor, der immer wieder für Schlagzeilen sorgt und als Paradebeispiel für die Übertreibungen in der chinesi-

schen Wirtschaft gilt, ist der Immobilienmarkt. Geister-städte und wenig befahrene Autobahnen sowie riesige

Flughäfen in kaum entwickelten Provinzstädten werden aufgeführt und als Beweis für fehlgeleitete Investitionen

genannt. Über das ganze Land gesehen, besteht immer noch weniger Wohnraum, als in 10 bis 20 Jahren genutzt

werden wird, die Urbanisierung schreitet rasant fort. Aber der leere Wohnraum steht heute nicht immer dort,

wo er in nächster Zeit nachgefragt werden wird. Zudem ist der Immobiliensektor ein gewichtiger Teil der Wirt-

schaft – er ist für 10% von Chinas Bruttoinlandprodukt und 25% der Anlageinvestitionen verantwortlich – und

somit für das Wirtschaftswachstum wichtig.

Nicht nur ein Markt

Doch wie steht es wirklich um den chinesischen Immobi-liensektor? Als Erstes sollte beachtet werden, dass es

sich in China nicht um einen einzigen grossen Immobili-enmarkt handelt, sondern um eine Vielzahl von völlig

verschiedenen Regionen und Märkten. Es macht auch in Europa wenig Sinn, aus leer stehenden Wohnungen an der

spanischen Mittelmeerküste auf ein Überangebot an Lie-genschaften im Ruhrgebiet oder in Zürich zu schliessen.

Konnte man bei der Insel Hainan von einer ausgewachse-nen Immobilienblase sprechen – die bereits platzte –, so

ist die Lage in Schanghai und Chengdu oder anderen Städten grundlegend anders. Auch in dritt- und viert-

rangigen Städten, den sogenannten Tier-3- und Tier-4-Cities, besteht noch ein enormer Bedarf an Investitionen

in Wohn- und Geschäftsimmobilien. Dort steht die Urbani-sierung noch ganz am Anfang.

Allgemein hat sich der Markt für Wohnimmobilien in den letzten Monaten erholt. Die Einführung von Restriktionen

zum Erwerb von Immobilien im letzten Jahr führte vor allem in den grossen Städten an der Ostküste zu einer

deutlichen Abkühlung des Marktes und zu teils markant tieferen Preisen. Zu den Restriktionen gehörten unter

anderem die Anhebung der Eigenkapitalanforderungen sowie eine Beschränkung der Anzahl Immobilien pro

Familie. (Das führte zu der Nebenerscheinung, dass in Schanghai die Scheidungsquote hochschnellte, um das

Gesetz zu umgehen.) Landesweit beträgt die Eigenkapital-anforderung für Erstwohnungen 40%, für Zweitwohnun-

gen mindestens 60%. Peking hatte sich zu diesen Mass-nahmen entschlossen, um sozialen Unruhen entgegenzu-

wirken und Wohnraum auch für die Mittelschicht er-schwinglich zu halten. Zudem wurde der soziale Woh-

nungsbau massiv gefördert und ausgedehnt. In dritt- und viertrangigen Städten fiel die Preiskorrektur viel modera-

ter aus, da diese auch nicht im Fokus von Spekulanten standen und das Preisniveau viel tiefer war.

Tier-1-Städte wieder top

Heute führen aber gerade die grossen Städte den neuerli-chen Aufschwung des Immobilienmarktes an. Es werden

hier deutlich mehr neue Wohnungen und bestehende

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Immobilien gekauft als im Rest des Landes. Bislang hat

die Regierung diese Entwicklung zugelassen, wahr-scheinlich weil eher kleinere Wohneinheiten und weniger

Luxusobjekte als in früheren Jahren gekauft werden. Gemäss dem Immobilienberater Soufun, der die Woh-

nungspreise in hundert chinesischen Städten erhebt, waren die durchschnittlichen Hauspreise im September

2012 in Tier-1-Städten nur gerade 0,4% tiefer als im September 2011. In Tier-2-Städten betrug der Rückgang

1%, in Tier-3-Städten 2%. Auch die vom National Bureau of Statistics (NBS) in Peking publizierten Zahlen zeigen

eine deutliche Erholung der Hausverkäufe in den grossen urbanen Zentren. In Tier-1-Städten stieg die verkaufte

Bruttowohnfläche gemäss NBS von Januar bis August 2012 im Vergleich zur Vorjahresperiode um 11%. China-

weit war ein Rückgang von 5% zu beobachten.

Die jüngsten Erhebungen von China Confidential, einem

auf China spezialisierten Informationsdienst der «Finan-cial Times», bestätigen diesen Trend: In erst- und zweit-

rangigen Städten stiegen die Verkäufe in den letzten Monaten um 20%, landesweit um 6%. Die Dynamik in den

grossen Städten scheint den Immobilienmarkt wieder anzutreiben, so wie vor Einführung der staatlichen Rest-

riktionen – mit dem Unterschied, dass eben nicht Speku-lanten von Luxusobjekten, sondern die Erstwohnungskäu-

fer die Nachfrage dominieren.

Interessant ist, dass Peking und die Provinzregierungen

vermehrt über das Instrument der Landverkäufe gezielt in den Immobilienmarkt eingreifen. In Guangzhou, Schang-

hai, Peking und weiteren Städten wurden allein im Sep-tember des letzten Jahres mehrere Landflächen vom

Markt genommen oder deren Verkauf untersagt, da die Auktionspreise zu hoch waren. Somit reagiert die Regie-

rung auf die Tatsache, dass die Restriktionen nicht flä-chendeckend und in gewünschtem Ausmass greifen, und

versucht, die regionalen Unterschiede und Bedürfnisse des Immobilienmarktes anzugehen.

Gefahr Bankensystem

Aber von einer Gemeinsamkeit hängt der gesamte chine-sische Immobilienmarkt ab: von den hoch verschuldeten

Banken. Verschärft sich die Situation im Finanzsektor aus wirtschaftlichen oder politischen Gründen, und sind die

Banken gezwungen, auf der Rückzahlung der auch auf Anweisung Pekings generös gesprochenen Kredite zu

beharren, werden viele Immobilienentwickler und Speku-lanten Konkurs gehen. Auch wenn private Haushalte von

solch einer Entwicklung nicht gravierend betroffen wären, weil sie die Wohnungen oft vollständig mit Eigenkapital

finanzieren, würde die baulastige Wirtschaft einen schar-fen Dämpfer erleiden.

Die Preisbildung im Immobiliensektor hängt also teilweise von den selben Faktoren ab, die auch andere Wirtschafts-

bereiche stark beeinflussen: staatliche Lenkungsmass-nahmen und die Verfügbarkeit von Bankkrediten. Insofern

ist dieser Sektor ein Gradmesser der Gesamtwirtschaft. Dass Fehlallokationen von Ressourcen vor dem Immobili-

ensektor nicht Halt machten, ist Tatsache. Aber sowohl die weiter fortschreitende Urbanisierung als auch die

letzten Preis- und Nachfrageentwicklungen am Immo-bilienmarkt lassen einen starken Rückgang der Preise in

naher Zukunft unwahrscheinlich erscheinen.

Elisabeth Tester, 29. Oktober 2012 PERMALINK: www.iconomix.ch/de/blog/661-chinas-immobilienmarkt-als-gradmesser-der-wirtschaft

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Glossar

Aufstrebende Märkte Märkte in Schwellenländern, wie z. B. Brasilien, China oder Indien, die sich durch ein hohes Wirtschaftswachstum auszeichnen (auf Englisch: Emerging Markets).

Hukou Wohnsitzkontrolle der Bevölkerung in der Volksrepublik China.

Konvertibilität (des Yuan) Eigenschaft, dass eine Währung von In- und Ausländern ohne staatliche Be-schränkung unbegrenzt in andere Währungen umgetauscht werden kann.

Politbüro Zentrales Machtorgan der Volksrepublik China. Der Präsident des Politbüros ist

gleichzeitig auch Staatspräsident.

Schwellenländer Entwicklungsländer, die sich durch ihren technischen Fortschritt dem Stand

eines Industriestaates nähern (auf Englisch: Newly industrialized country, NIC).

Schwerindustrie Schwerindustrie ist ein Sammelbegriff für Bergbau, Eisen- und Stahlindustrie und auch Tagebau sowie die «Schwerchemie».

Tiananmen-Massaker Gewaltsame Niederschlagung eines Volksaufstandes, bei dem der Platz des

himmlischen Friedens (Tiananmen) in Peking durch eine ursprünglich studenti-sche Demokratiebewegung besetzt wurde.

Tier-x-Stadt Einteilung der Städte (x zwischen 1 und 4) nach wirtschaftlicher Entwicklung und

Grösse. Zu den Tier-1-Städten gehören Städte mit den grössten Einkommen und hoher Bevölkerungszahl.

Waiguoren Chinesische Bezeichnung für Ausländer.

Yuan Einheit der offiziellen Währung Renminbi der Volksrepublik China (1 Yuan = 10 Jiao = 100 Fen).