Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8...

22
Chris Marten Todespfad

Transcript of Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8...

Page 1: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

Chris MartenTo d e s p f a d

Page 2: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

Weitere Titel des Autors:Hydra

Titel in der Regel auch als E-Book erhältlich

Page 3: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

C H R I S M A R T E N

TodespfadR O M A N

E H R E N W I R T H

Page 4: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

Lübbe Ehrenwirth in der Bastei Lübbe GmbH & Co. KG

Originalausgabe

Copyright © 2011 by Bastei Lübbe GmbH & Co. KG, Köln

Textredaktion: Lutz Steinhoff, MünchenUmschlaggestaltung: Rolf Hörner, Bergisch GladbachUmschlagmotiv: © shutterstock/Petrov Stanislav EduardovichSatz: Dörlemann Satz, LemfördeGesetzt aus der Weiss AntiquaDruck und Einband: CPI books Ebner & Spiegel GmbH & Co., Ulm

Printed in GermanyISBN 978-3-431-03831-6

5 4 3 2 1

Sie finden uns im Internet unter: www.luebbe.deBitte beachten Sie auch: www.lesejury.de

Page 5: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

Da ist keiner, der gerecht ist,auch nicht einer.

Brief des Paulus an die Römer, Kap. 3, 10

Was immer einem einfallen mag – erfunden ist nichts.Ähnlichkeiten mit lebenden Personen et cetera, bla bla –

sind sie wirklich nur zufällig?Aber wir halten uns an die Gesetze!

Wenn etwas bekannt vorkommt in diesem Buch,dann ist das wohl der Lauf der Dinge.

Wie immer hat er recht, über alle Zeiten hinweg,Hafiz, unser Leib- und Magendichter:Schlimme Zeit, irre Welt, verhexte Sachen …

Page 6: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist
Page 7: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

7

Weiter flussaufwärtswar irgendetwas nicht in Ordnung.Joseph Conrad, Herz der Finsternis

Als die Flughunde erwachten, zischelte und raschelte es in demalten Kapokbaum an der Gabelung des Pfades. In der schnell he-rabsinkenden Dämmerung schlugen sie mit ihren zarten Flug-häuten. Die Hütte des Priesters stand wie eh und je an diesemWeg, der sich Richtung Sonnenuntergang teilte – ein Ort, ge-eignet, die Knöchelchen, die Nussschalen, die Kauris auszuwer-fen, Krabben oder Mäuse laufen zu lassen, um das Orakel zudeuten. Hier war die Stätte der Ahnen, der Sitz Legbas, desMittlers zwischen Göttern und Menschen, über dem das Tu-scheln der Geister im Blattwerk des Baumes nie endete.

Ächzend hockte sich der Babalawo dicht an das Feuer undblickte auf die Sternbilder über dem östlichen Horizont. Vondort war immer die Wahrheit gekommen.

Der Alte, der sich ihm gegenüber niederließ, trug alle Insig-nien eines Würdenträgers, die perlenbestickte Kappe auf demKopf und der kostbare Stoff seines Boubou glänzten im Feuer-schein. Den Stab mit dem Schwanzende eines Bullen hatte erdemütig neben sich auf den Boden gelegt. Auf dem Platz vordieser Hütte endete seine Macht. Seine Stimme war drängend:»Babalawo, höre mich an! Ich erflehe die Hilfe der Ahnen, dennmir ist Unrecht geschehen!«

Der junge Mann hinter dem Alten wagte kaum, den Blick aufdie bullige Gestalt des Trickster-Gottes Legba zu heben, der miterigiertem Penis die Kultstätte schützte. Das Huhn, traditionelldas erste Opfertier, hing bewegungslos in seiner Hand, die Flü-gel halb geöffnet, die Krallen verkrümmt.

Der Priester hielt die Augen geschlossen, die Hände auf denKnien.

Page 8: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

8

Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Friedenzwischen den Dörfern ist in Gefahr!«

Der Babalawo stieß einen rauen Laut aus.Am Eingang der Hütte erschien ein Knabe, einen großen, fla-

chen Korb im Arm. Der Priester nahm den Wahrsagekorb ent-gegen und begann, ihn zu rütteln und zu schütteln. Die Gegen-stände darin sollten sich in einer Weise anordnen, die ihmAufschluss geben würde über das, was geschehen war. Die Pflan-zensamen, die Hörner, die Knochen und Zähne der Tiere derWildnis, die geschnitzten Ahnenfiguren und Fetische, die Glas-perlen und metallenen Fingerringe, sie alle bildeten seinen Kos-mos, und dessen Geschicke würden die Geister ihm offenbaren.Mit dem reich verzierten Orakelklopfer schlug er mehrere Malean den Rand des Korbes. Die Jenseitigen würden sich zeigen.

Aber das hier war keine der Anordnungen, die zu sehen undzu deuten er gelernt hatte, für die es einen von den Geisternübermittelten Vers der Prophezeiung gab.

Er holte einen kleinen Spiegel aus den Falten seines Lenden-schurzes und legte ihn in den Korb zu den anderen Teilen. Erwiederholte das Rütteln und Schütteln, rief den Schutzgeist sei-nes Ahnen an, ihm Einsicht zu schenken. Vergeblich. Auch derSpiegel offenbarte ihm keine der ihm bekannten Anordnungen.

»Legba treibt Schabernack mit uns, Dugutigi. Du wirst ihmdas Huhn opfern, um ihn gnädig zu stimmen.«

Der Alte erhob sich und nahm dem Sohn das Tier ab. Dannzog er unter seinem Boubou einen langen Dolch hervor. Miteinem schnellen Stich in den Hals tötete er das kreischend auf-flatternde Huhn und hielt es über die Gestalt Legbas.

Der Babalawo nahm das Blatt einer Staude auf, formte eineTülle daraus und gab aus einem schmalen Tongefäß ein wenigklare Flüssigkeit hinein, die er aus gepressten Pflanzen gewon-nen hatte. Er tröpfelte sich die Medizin in die Augen. Wennschon der Spiegel im Korb nicht in der Lage war zu sehen, dannwürde ihm der glasige Film, der sich nun auf seinen Augäpfelnbildete, Einsicht in die Pläne der Geister verleihen.

Page 9: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

9

Zum dritten Mal schüttelte der Priester den Wahrsagekorb,hielt ihn in alle Himmelsrichtungen und setzte ihn vor demFeuer ab. Er kniff die Augen zusammen und starrte auf die An-ordnung der Teile.

Nichts.Vor ihm lag nur sinnloses Durcheinander. Das, was der Alte

ihm da eröffnet hatte, war nicht auf Weisung der Ahnen, derGeister und der Götter geschehen.

Seine Stimme zitterte: »Etwas Ungeheuerliches hat sich er-eignet. Die Jenseitigen haben das Opfertier nicht angenommen.Ich werde beim Wechsel des Mondes an dieser Weggabelungdas Orakel befragen und in den Geist der Ahnen eindringen, umeine Lösung für dich zu finden.«

Der Dorfälteste und sein Sohn verneigten sich vor der Weg-scheide, traten zurück und verschmolzen mit der Nacht.

Mit feinem Zischen sausten die Flughunde knapp über dasverlöschende Feuer hinweg, zurück in den Schutz des Baumes.

Page 10: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

10

Page 11: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

11

Die erste Kauri

Jeder hat so viel Recht, wie er Macht hat.Spinoza, Politischer Traktat II, 8

MONTAG, 4. FEBRUAR 2008, 14 UHR 25ESSEN-NORD, SIEDLUNGSHAUS, KELLER

Er ballte die Faust. Diesmal würde er es ihnen zeigen. Endlichwürden sie sehen, dass er Manns genug war, dieses ganze dre-ckige Gesocks so richtig fertigzumachen. Weg musste das. DieFotze da sowieso. Auch wenn sie in seine Klasse ging.

Warum hatte die sich plötzlich so angestellt? Sie war dochsofort mitgegangen, als er sie angesprochen hatte. Aber immerschneller war sie gelaufen, und immer wieder hatte sie sich um-gedreht. Die hatte das doch so gewollt, die Schlampe. Aber dannhatte sie sich mit Händen und Füßen und Zähnen gewehrt. EinSchlag in die Magengrube, und schon war sie eingeknickt.

Keuchend kauerte sie vor ihm auf dem stinkenden Strohkis-sen, auf dem schon sein Opa gefickt hatte, widerlich. Aber wohätte er denn sonst hingehen sollen?

Er hatte sich Kondome besorgt, so viel Geld hatte er nochgehabt. Und wenn er das jetzt brachte hier, dann würde er diePackung in null Komma nichts aufbrauchen, dann war allesmöglich, alles, Alter …

Trotzdem, er ekelte sich vor ihr. Bestimmt war sie ein biss-chen jünger als er, mit ihren vielen perlenverzierten Zöpfchensah sie fast noch aus wie ein Kind, aber – wusste er, was dieseNutte für Krankheiten mitgebracht hatte von ihren vielen Frei-ern? Die anderen hatten die wildesten Geschichten losgelassen,alle waren sie schon mal dran gewesen, Ilja, Hamid, Amr, Boris –alle, nur er nicht …

Sein Vater würde ihn totschlagen, wenn er das erfuhr. Aber

Page 12: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

12

eigentlich konnte nichts schiefgehen. Er hatte alles genau ge-plant. Die anderen warteten schon auf die Vollzugsmeldung …

Hitze schoss ihm ins Gesicht. Was für ein Gefühl, sie vorsich hocken zu sehen, zitternd, halb nackt schon! Er hatte ihrdie Bluse zerrissen, als er sie die Treppe hinuntergedrängt undihr gleichzeitig den Mund zugehalten hatte. So große Augenhatte er noch nie gesehen. Grellweiß leuchteten die Augäpfel imHalbdunkel des Kellers.

Da, da war sie doch! Wie immer hing sie an ihrem Hals. Daswar eine der Sachen, die er hinterher vorzeigen musste. Mit ei-nem Ruck riss er die Kette mit der seltsam geformten Muschelab.

Das Mädchen fasste sich erschrocken an den Hals und be-gann zu wimmern. »Sakpata, Sakpata …«

Es war einfach megageil. Noch nie hatte jemand Angst vorihm gehabt.

»Sakpatas Bruder, a bь na, er wird kommen …«Was redete die da für einen Scheiß.Er hatte das Gefühl, sein Schwanz würde jeden Augenblick

explodieren. Aber wieso tropfte plötzlich Blut auf das Laken?Scheiße. Jetzt erst spürte er den brennenden Schmerz auf

seinem Gesicht, etwas Warmes lief ihm über die Wange. DieFotze da unter ihm hatte doch tatsächlich ihre Fingernägeldurch sein Gesicht gezogen.

Dafür würde sie büßen. Für alles. Sie war schuld. Alle hattenauf ihm rumgehackt, hatten sich lustig gemacht über ihn, weil ersich noch nicht getraut hatte. Dein Pimmel hat noch nirgendwo drin-gesteckt, höchstens in deiner hohlen Hand, du Wichser … Ausgelacht hat-ten sie ihn. Dafür sind die ja schließlich da, und die von da unten ganzbesonders … Die da vor ihm, das war auch so eine, die überhauptnicht hierher gehörte. Seine Faust schlug ein zweites Mal zu.

Der Kiefer des Mädchens knirschte, fast flog ihr Körpernach hinten auf das Stroh. Reglos lag sie da, mit ausgebreitetenArmen.

So.

Page 13: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

13

Eigentlich war es viel leichter gewesen, als er gedacht hatte.Er nahm die kleine Digitalkamera aus der Jackentasche und

sah durch den Sucher. Alles sollten sie zu sehen bekommen.Alles. Dann würden sie endlich aufhören.

Er nestelte am Reißverschluss, schob die Jeans ein Stück hin-unter, griff in die Boxershorts, holte seinen Schwanz heraus.Stöhnend kniete er sich über sie, gleich war es so weit, er hieltdie Luft an, riss die Kamera hoch und drückte auf den Auslöser.Der Blitz tauchte den staubigen, mit Gerümpel vollgestelltenVerschlag für einen Moment in grelles Licht.

Das Mädchen fuhr auf, riss die Arme hoch und schlug wildum sich. Als sie seinen Schwanz traf, schrie er auf vor Schmerz.Diese Hurenratte! Er beugte sich vor und schlug auf ihr Gesichtein, immer wieder. Sie spuckte ihn an, er zerrte sein Taschen-tuch aus der Hose und stopfte es ihr in den Mund, sie spuckte esaus, schrie irgendwas. Wieder schlug er zu.

Plötzlich war sie still. Ihr Kopf fiel zur Seite.Endlich.Er musste sie ausziehen, das war der zweite Beweis. Er zog

die Fetzen der aufgerissenen Bluse auseinander, riss ihren BH auf.Kleine Brüste, die aussahen wie Birnen, und große dunkle Brust-warzen … Das war besser als die Fotos aus Iljas Heften, besserals die Bilder im Internet. Los, schneller. Er zerrte und zerrte anihrem Rock, endlich, jetzt der Slip … Wo waren die Gummis …

Die Kleine regte sich nicht, gut so. Mühelos spreizte er ihrdie Beine, hielt dabei die Kamera hoch. Dann legte er sich aufsie und versuchte, in sie einzudringen.

Aber irgendwas passte nicht. Wieso ging das nicht? Dasmusste doch jetzt … Er stieß und drückte, dann richtete er sichauf. Was war da los?

Er erstarrte. So was hatte er noch nirgendwo gesehen, nichtmal im Internet.

Hatten die ihn verarscht?Als er sah, dass Samen von seinem Schwanz tropfte, überkam

ihn Übelkeit wie eine riesige Welle, und er kotzte auf den Un-

Page 14: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

14

terleib des Mädchens. Taumelnd kam er auf die Beine, zog sichinstinktiv die Hose hoch und griff nach seiner Jacke.

Wenigstens hatte er die Beweise.

DIENSTAG, 5. FEBRUAR 2008, FRÜHER MORGEN

BERLIN, TREPTOWER PARK

Als Beate aus der Halle der S-Bahn-Station Treptower Park insFreie trat, legte sich Nieselregen wie ein Film über ihr Gesicht.Kälte zog in ihr hoch. Mussten die beiden Tage bei ihren Elternso enden? Es war ein Elend, genau wie diese Gegend hier vor ihr,öde und still wie ein verlassener Friedhof. Verärgert zerrte sieihren Trolley durch Furchen und Pfützen hinter sich her. Siehatte ihn geschnappt und war einfach gegangen, mitten in derNacht, das war immer noch besser, als sich stundenlang schlaf-los im Bett ihres einstigen Kinderzimmers zu wälzen.

Wie wütend sie immer noch war! Ihr Vater hörte nur aufihren Bruder, diesen Aufschneider, dessen Geschwätz sie nochnie hatte ertragen können. Einmal im Jahr, zwischen Weihnach-ten und Neujahr, fiel der Bruder mit seiner Familie in die elter-liche Wohnung in Potsdam ein, jedes Mal hinterließ er Chaos.

Beate sah sich um. Morgennebel hing in den Bäumen. IhrZiel musste irgendwo dort drüben liegen. Sie war so früh aufge-brochen, um dem Vater nicht mehr begegnen zu müssen. Kurzhatte sie erwogen, ihre Mutter zu wecken, um sich zu verab-schieden, doch sie hatte es nicht getan. Sie hatte von Potsdamaus die Bahn zum Westkreuz genommen und war dort in dieRingbahn gestiegen, die sie zu diesen riesigen dunklen Klötzenda vorn im Dunst gebracht hatte, den Treptowers. Jedes Mal dieserÄrger, dabei musste sie gleich hoch konzentriert sein.

Ihr Bruder hatte sich dem Vater bei seinem Besuch zwischenden Jahren als Finanzberater angedient. Schließlich war er jaFilialleiter einer großen Handelskette in der Dresdener Innen-stadt, der jeden Abend sechsstellige Einnahmen zur Bank brachte.

Page 15: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

15

Völlig antiquiert sei das, sein Geld auf mickrigen Sparbüchernschrumpfen zu lassen. In Papieren amerikanischer Finanzgigan-ten, da steckten zweistellige Erträge … Sie hatte ihren Vater ge-beten, es sich noch einmal zu überlegen, das Risiko wenigstensauf verschiedene Papiere zu verteilen. Wie immer war er in Ragegeraten.

Jedes Mal diese Streiterei mit ihrem Vater, wenn sie nachHause kam! Es war im Grunde gar nicht mehr um den Brudergegangen. Die alten Wunden würden sich wohl nie schließen.Er hatte ihr nicht verziehen, dass sie damals geflohen war, ein-fach so, von heute auf morgen, ohne vorher mit ihm zu spre-chen.

Über zwanzig Jahre war das jetzt her, und ihr Vater hatte esimmer noch nicht verwunden! Seit fast zwölf Jahren lebte siejetzt schon in Essen am Baldeneysee mit ihrer großen LiebeRainer, einst schüchterner Freund aus dem Westen, den sie wäh-rend einer Friedenswache in der Leipziger Nikolaikirche ken-nengelernt hatte. Er war über sich hinausgewachsen, um ihr beider Flucht zu helfen.

Mittlerweile waren sie verheiratet und hatten Kinder. Mela-nie und Madeleine, Zwillinge, elf schon, mussten wieder einmalfür einige Wochen auf ihre Mutter verzichten, aber sie akzep-tierten es, genauso wie Rainer, der es von Anfang an verstandenhatte.

Übermorgen schon würde sie in eine andere Welt aufbre-chen und in den Dörfern des Tschad, in Niger, in Mali, im Sene-gal und in Mauretanien die Familien aufsuchen, die ihre Söhneauf gefährlichsten Wegen ins Gelobte Land schickten. Sie würdedie Transporte mit den jungen Leuten begleiten, sie wollte tei-len, was jene erlebten, auch deren Schmerz, deren Misserfolg …

Von irgendwoher kam ein lang gezogener Signalton. DieSpree war ganz in der Nähe.

In den Treptowers war sie mit Mitarbeitern des GASIM verabre-det. Hinter dem komplizierten Namen des Gemeinsamen Analyse-und Strategiezentrums illegale Migration verbarg sich ein politischer

Page 16: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

16

Sprengsatz, so kommentierten es nicht nur etliche Flüchtlings-hilfsorganisationen. Bundesnachrichtendienst und Verfassungs-schutz waren im GASIM vertreten, die Bundespolizei, das Bundes-kriminalamt, das dafür seine Räume in den Treptowers zur Ver-fügung stellte, dazu der Zoll, das Nürnberger Bundesamt für Mi-gration und Flüchtlinge und schließlich das für die Visa-Vergabezuständige Auswärtige Amt. Sie hatte schon mit vielen anderenOrganisationen gesprochen, politischen wie karitativen. Ihr Be-such beim GASIM bildete den Abschluss der Vorbereitungen,bevor sie für ihre Reportagen-Serie zum Thema Migration in undaus Afrika, über Bootsflüchtlinge im Besonderen, auf große Reiseging. Sie hatte die Fahrt nach Berlin mit einem Besuch bei ihrenEltern in Potsdam verbinden können, um dort nach dem Rech-ten zu sehen.

Es war nicht leicht gewesen, den Termin beim GASIM zu be-kommen. Jens Anders persönlich, der Herausgeber des berühm-ten MAGAZIN, hatte ihr mithilfe des zuständigen Staatssekretärsdes Innern diesen Besuch möglich gemacht. Ihre bevorstehendeReise war ein Auftrag, ein gut bezahlter noch dazu. Lange schonschätzte Jens Anders ihre journalistische und literarische Arbeit,ihr Engagement für diesen so schwierigen Kontinent.

Sie spürte die Nässe durch ihren Mantel dringen. Irgendwomusste sie sich aufwärmen. Vielleicht war das Stehcafé, das sieam S-Bahnhof gesehen hatte, jetzt geöffnet?

Sie wandte sich um und stolperte. Herrje, der Trolley hakte,er hing an der Bordsteinkante fest. Beate zog und zerrte. Auchdas noch, jetzt war eines der kleinen Rädchen abgebrochen.Seufzend nahm sie den Koffer in die Hand.

Die Sache mit der Geldanlage ging ihr nicht aus dem Kopf,gerade jetzt, wo sie für Wochen weg sein würde. Mit hochrotemKopf hatte der Vater sie angeschrien. Misch dich nicht inDinge, von denen du nichts verstehst, kümmere dich lieber umdeine Schreiberei!

Der Hieb hatte gesessen.Nie hatte er ihre schriftstellerischen Projekte ernst genom-

Page 17: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

17

men. Dabei war sie mittlerweile eine der gefragtesten Reporte-rinnen in Deutschland, mit Aufträgen, die sie in den Irak, nachAfghanistan oder Nepal geführt hatten. Für ihre Serien etwaüber 9/11 oder über den Tsunami in Südostasien an Weihnach-ten 2004 hatte sie sogar Preise bekommen. Und sie war eineanerkannte Lyrikerin: Ihre Veröffentlichungen wurden nicht nurin Insiderkreisen gehandelt …

Trotzig riss Beate die Tür zu dem Stehcafé auf. Ein starkerKaffee würde ihren Kopf frei machen.

DIENSTAG, 5. FEBRUAR 2008, AM FRÜHEN MORGEN

MALI, PAKOTOMONI

Diakaridia hatte sich mit den anderen hinter seinen Vater, denDorfältesten, gestellt. Der Babalawo, Orakelpriester und Heilerihres Dorfes, hatte zur nächtlichen Zeremonie gerufen und au-ßer ihm noch fünf andere junge Männer aus seinem Initiations-jahrgang herbestellt, je einen gesunden, kräftigen Mann für jededer sechs Kauris. Sie waren die Stärksten ihrer Gemeinschaft, einunauflösbarer Bund, seit sie als Knaben nach der Beschneidung indie Gesetze ihrer Gemeinschaft eingeführt worden waren.

Ein Versprechen musste eingehalten werden, so lautete dasGesetz, zumal wenn es dem Oberhaupt der Gemeinde von Dial-lassagou gegeben worden war, zur Ehre ihrer beiden Dörfer, zurFestigung des Friedens untereinander. Sie hatten überall ge-sucht, im Dorf, in jedem der Höfe, auf den Feldern, in den um-liegenden Weilern. Sie hatten keine Spur gefunden. Krank warder Dugutigi durch diese Schande. Krank war das Dorf durchdieses Unglück. Doch sie wussten nicht, wofür sie bestraftwurden.

Der Priester holte das Orakelbrett hervor und streute etwasvon dem weißen Holzmehl des heiligen Baumes darüber. Vorihm im Sand lagen sechs Kaurischnecken. Er nahm sie auf undhielt sie dem Dorfältesten auf seiner offenen Hand hin.

Page 18: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

18

»Erzähle mir die Geschichte dieser Kauris, Dugutigi. Dannwerde ich die Ahnen befragen.«

»Wir leben in Angst, Babalawo!« Die Stimme des Dorfältes-ten klang gepresst. »Ich kann dir nicht sagen, was geschehen ist.Meine einzige Tochter ist dem Würdenträger einer verwandtenFamilie versprochen. Seit alter Zeit besteht Vetternschaft zwi-schen den Coulibaly und den Haïdara.« Wild tanzten die Schat-ten seiner Hände um das Feuer. »Diese Kaurischnecken in dei-ner Hand, Babalawo, Zeichen von Macht und Fruchtbarkeit,haben Mädchen auf dem Pfad zum Brunnen vor dem alten Bao-bab gefunden, daneben den Gürtel, an dem sie befestigt waren.«Der Alte zog ein breites Band aus Leder unter dem Boubou her-vor. »Er ist geschmückt mit den Zeichen unseres Volkes. Siehnun den Frevel: Der Gürtel, der einen unschuldigen Leib be-schützen sollte, ist zerrissen!«

Diakaridia seufzte. Was hatten sie in den letzten Tagen nichtalles versucht, um herauszufinden, was geschehen war! Sie hat-ten die Wahrsagetafel, yurugu goro, in den Sand geformt, Samenund Aststücke ausgelegt und Erdnüsse gestreut, um den Fuchsanzulocken. Der Fuchs irrte nie. Sie würden seine Spuren zu le-sen wissen. Sie hatten die Verse gesprochen, aber der Fuchs warnicht gekommen.

Er sah, wie der Priester jetzt die sechs Kauris auf das Orakel-brett warf und versunken auf die Anordnung starrte, die sich ihmbot. Alle Kauris lagen mit dem gezähnten Schlitz nach unten aufdem Brett.

»Sind die Götter durch Blut beleidigt worden?«Der Dugutigi schüttelte den Kopf. »Nein, Babalawo, unter

dem Baobab war kein Zeichen von Gewalt zu sehen, keine Spur,die uns erklären könnte, was geschehen ist. Und es gibt ein nochgrößeres Rätsel …«

Der Priester fachte mit dem Palmwedel das Feuer an, warf ge-trocknete Pflanzenteile hinein und starrte wieder auf die Anord-nung der sechs Kauris.

»Die siebte Kauri, größer noch als die anderen, durch ein

Page 19: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

19

Opferzeichen der Gnade der Götter übergeben und somit alsZeichen künftiger Macht über dem Nabel am Gürtel getragen –sie ist nicht mehr da. Nur die sechs Kauris lagen im Sand, dazuder vom Leib gerissene Gürtel. Die siebte, die geweihte Kaurifehlt. Sage uns, Babalawo, ist das ein Zeichen – für das Leben?Für den Tod? Für den Verfall der Macht?«

Der Priester hob den Kopf und sah den Alten an. »Siehhier die Lage der Kauris auf dem Brett – ich sehe darin ein Bild.Wenn ein Vogel durch die Wolken stößt, fällt auf manches Geschick hellesLicht. Ein bislang verborgenes Unrecht ist wie dieser Vogel insLicht gerückt. Sage, Dugutigi, wofür erbittest du die Hilfe derAhnen?« Er nahm die Kauris hoch und schüttelte sie auf sei-ner Handfläche. »Für dich, der du ein Versprechen, das dueinem verwandten Würdenträger gegeben hast, nicht einhaltenkannst? Für diesen Würdenträger aus Diallassagou, der auf Ra-che drängt und dir den Frieden aufkündigt? Für eure Gemein-schaft, die die Regeln der Verwandtschaft nicht einhaltenkann? Für den Menschen, der in Gefahr ist, weil er den Schutzder Reinheit verloren hat? Für das Recht deines Volkes, das ver-letzt wurde?«

»Das, was geschehen ist, hat mein Leben und das unsererGemeinschaft vollständig verändert. Die Geister haben michgeschlagen. Es gelingt mir nicht mehr, die Frauen meines Hofesmit meiner Männlichkeit zu bannen. Mir droht der Fluch derKraftlosigkeit.«

Diakaridia senkte den Blick vor Scham.Zischend sog der Priester die Luft ein und warf die sechs

Kauris ein zweites Mal in das Mehl auf dem Orakelbrett. »DieKauris werden uns sagen, warum deine Schwäche Teil dieseszerrissenen Gürtels ist. Gab es im Dorf etwas, das die Gemein-schaft verwirrt hat?«

Was würde der Vater sagen? Als der sich fragend zu ihm um-wandte, antwortete Diakaridia für ihn: »An der Grenze des Dor-fes, Babalawo, haben Bauern vor einigen Tagen einen Mann ge-sehen, der uns wohlbekannt ist, der aber geächtet das Dorf

Page 20: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

20

verlassen musste. Er hat die Ehre meines Vaters verletzt und da-mit die Ehre der Familie und des ganzen Dorfes.«

»Berichte diesen Fall, Dugutigi, damit ich die Geister befra-gen kann.«

Der Vater richtete sich auf, seine Stimme klang trotzig: »Un-ter dem Baobab habe ich als Dorfältester Gericht gehalten überIssa, den Sohn von Mamadou Tolofoudié. Er hatte sein Auge aufSata geworfen, meine jüngste Frau, die schönste Blüte meinesGehöftes. Nichts hielt ihn von Sata fern, nein, er ließ nicht abvon ihr. Das, Babalawo, hat mich beleidigt! Ich habe mit derHärte des Gesetzes unserer Gemeinschaft geurteilt: Ich habeihn verstoßen. Er hat meine Macht angezweifelt und meinenFrieden gestört.«

Der Priester wiegte den Oberkörper vor und zurück, Diaka-ridia hörte ihn murmeln: »Du hast streng geurteilt, Dugutigi,weil dein Nebenbuhler dir zu nahe kam. Hat nun Issa Tolofou-dié an der Grenze des Dorfes den bösen Blick auf dich gewor-fen, um sich zu rächen? Hat er das Dorf krank gemacht, indemer dich kraftlos gewünscht hat? Das Urteil unserer Ahnen istdeutlich: Du hast das Gesetz für dich missbraucht und Unrechtgesprochen.«

Der Dugutigi beugte demütig den Rücken vor dem Priesterund bat: »Zeige uns einen Weg, Babalawo, damit Ehre, Friedenund Ordnung wieder in die Seelen unseres Dorfes einkehrenkönnen.«

Die fünf jungen Männer drängten sich um ihn. Für Diakari-dia gab es keinen Zweifel: Sie alle würden bedingungslos jedeihnen auferlegte Pflicht erfüllen. Fruchtbarkeit war Leben, ihrVerlust war der Tod. So war das Gesetz.

Der Priester hob die Hände über das Orakelbrett. »Dugutigi,die Ahnen haben ein Bild geschickt. Erst wenn der Gürtel wie-der zusammengefügt ist, wird dein Leiden aufgehoben werden,denn du selbst hast Unrecht an den Ahnen verübt. Höre dieAntwort des Orakels: Das Wasser, das nicht strömt zurück oder vor, wirdzum Pfuhl, der stinkt. Doch das Wasser, das weiterzieht, trägt fort ein jedes

Page 21: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

21

Ding, und das Wasser, das zurückströmt, bringt es wieder mit neuen Farben.Der odu des Lebens, Dugutigi – oder des Todes.«

Dann wandte sich der Babalawo den auserwählten Brü-dern zu.

»Geht hinaus. Sucht den, der euer Recht verletzt hat. Holtdas Unrecht zurück in euer Dorf, damit Recht gesprochen unddie Ordnung wiederhergestellt werden kann. Lasst uns prüfen,ob die Ahnen das Opfer annehmen und so unseren Beschlussgutheißen.«

Diakaridia ging zu dem schwarzen Widder, der an dem Ka-pokbaum an der Weggabelung festgebunden war, und stach miteinem Dolch in die Halsschlagader. Die gebrochenen Hörnerlegten sie auf Legbas Haupt. Dann hockten sie sich nieder undwarteten. Knaben zogen das Fell ab und teilten das Fleisch.

Orion stand über ihnen, das Schwert in der Scheide. Als nurnoch eine dünne weißliche Rauchsäule vom Feuer aufstieg, hobder Priester sein Haupt. »Die Götter haben das Opfer angenom-men. Reinigt euch von dem, was euch an eurer Pflicht hindernkönnte.«

Frauen trugen Kalebassen herbei, in denen heißer Kräuter-sud dampfte. Sie tauchten Ballen aus trockenem Gras hinein, rie-ben Diakaridia und seine Brüder ab und wuschen ihnen die Au-gen mit einem Sud aus Samen aus. Diese Reinigung würde ihnenden klaren Blick bewahren, der sie Gefahren erkennen ließ.

Der Priester mischte unterdessen aus mit Blut verschmierterErde, Lehm und zerkochten Kräutern einen schwärzlichen Breiund knetete ihn in seiner Hand. Er nahm die sechs Kauris auf,ritzte mit einem schmalen Dolch Linien neben den gezähntenSchlitz und füllte die rückseitigen Öffnungen der abgeschlage-nen Höcker mit der Masse. Dann griff er eine Hühnerfeder undstrich damit mehrere Male über die sechs Schnecken.

Knaben brachten die große Trommel und die kleinen Djem-bés, um mit ihrer Hilfe die Nachricht zu verbreiten. Der Priesternahm aus dem Ahnenkorb eine kleine hölzerne Figur, die mitPfeilschäften umwickelt war, und hielt sie in die Höhe.

Page 22: Chris Marten Todespfad - ecx.images-amazon.comecx.images-amazon.com/images/I/81N-lnfmTvS.pdf · 8 Beschwörend erklang die Stimme des Alten: »Der Frieden zwischen den Dörfern ist

22

»Wie hier die bösen Mächte eingeschlossen sind, damit dieAhnen sie vernichten können, so soll auch euer Bund den Feindstellen.«

Die Alten des Dorfes traten aus dem Schatten des Haines,griffen zu den Trommeln und begannen, mit einem gekrümmtenStab einen schnellen, harten Takt zu schlagen.

Diakaridia nahm seine Brüder bei der Hand. Sie bildeteneinen Kreis und schritten um das Feuer, wurden mit dem An-schwellen der Rhythmen immer schneller und stampften dieBotschaft in den lehmigen Boden:

Die Jagd war eröffnet.

DIENSTAG, 5. FEBRUAR 2008, 9 UHR 33BERLIN, TREPTOWERS, KONFERENZRAUM DES GASIM

Beate saß in dem kahlen Konferenzraum mehr als einem halbenDutzend Männern in unauffälligen grauen und blauen Anzügengegenüber. Was für ein Aufwand um ihre Person!

In der letzten halben Stunde hatte man ihr eine PowerPoint-Präsentation über die wichtigsten Flüchtlingsströme auf derWelt und Diagramme von zu erwartenden künftigen Migrati-onsverläufen gezeigt und die Probleme erläutert, die damit ver-bunden waren. Nach seriösen Schätzungen wurde in Europadurch Menschenschmuggel inzwischen ein höherer Jahresum-satz erzielt als im internationalen Drogenhandel. Hier ging esum zweistellige Milliardensummen. Unter den weltweit ope-rierenden Schleuser-Syndikaten war ein harter Kampf um Ein-flussbereiche und nützliche Migranten entbrannt. In Deutschlandhatte die Schleuserkriminalität bereits einen Anteil von zehnProzent an der gesamten organisierten Kriminalität, Tendenzsteigend.

Der stellvertretende Leiter der Behörde, der sich als Dr.Rü-diger Mittwald vorgestellt hatte, las mit neutraler Stimme vor-bereitete Antworten auf ihre Fragen ab: »Es sind ja nicht nur