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Aufklärung und Kritik 1/2010 292 Christian Niemeyer (Hrsg.), Nietzsche- Lexikon, Wissenschaftliche Buchge- sellschaft Darmstadt 2009, ISBN 978- 3534208449, 472 S., 79,90 EUR Dr. phil. habil. Christian Niemeyer, gebo- ren 1952, ist Professor für Sozialkulturelle Erziehung und Bildung am Institut für Sozialpädagogik und Sozialarbeit der Technischen Universität Dresden, und hat als Herausgeber und wohl wichtigster Autor dieses neuen Nachschlagwerks zu Nietzsches Philosophie eine große Schar von 142 in- und ausländischen Mitauto- ren zu mehr oder weniger ausführlichen Beiträgen versammelt, darunter etwa Mi- cha Brumlik, Hubert Cancik, Steffen Dietzsch, Stephan Günzel, David Marc Hoffmann, Christoph Landerer, Jacques Le Rider, Martin Liebscher, Matthew Mey- er, Enrico Müller, Wiebrecht Ries, Josef Schmid, Pia Daniela Schmücker, Josef Simon, Michael Skowron, Andreas Urs Sommer, Werner Stegmaier, Mario Sznaj- der, Vivetta Vivarelli, Ludwig Wenzler, Erdmann von Wilamowitz-Moellendorff. In 1.300 alphabetisch geordneten Stich- wörtern wird der aktuelle Stand der inter- nationalen Nietzscheforschung dargestellt, ohne dass ein bestimmter „Forschungs- zugang zu Nietzsche privilegiert, aber auch keiner – etwa der psychologische und biographieorientierte – diskriminiert wer- den“ sollte. Laut Pressemitteilung ist es das Anliegen des Buches, Aufklärung zu geben über die wichtigsten der Nietzsche betreffenden Sachverhalte; das Lexikon ist insbeson- dere für denjenigen Leser gedacht, „der nach orientierungsleitenden Gesichtspunk- ten sucht, nach textnah an der Primärlite- ratur orientierter Darstellung unter Nach- weis der relevanten Sekundärliteratur und der über Nietzsche in Kenntnis des Rich- tigen und Triftigen urteilen will“. Letzteres ist gut gesagt – aber auch wahr? Etwa gleichzeitig ist die monumentale Stu- die von Losurdo in deutscher Überset- zung erschienen (Nietzsche. Der aristo- kratische Rebell, siehe die direkt anschlie- ßende Rezension), die einen ganz ande- ren und auf den ersten Blick zu diesem Nietzsche-Lexikon inkompatiblen Nietz- sche vorstellt – in beiden Büchern wird offenbar eine sich jeweils ausschließende Deutungshoheit behauptet. Dies wieder- um legt nahe, dass beide in die von Nietz- sche aufgedeckte Perspektivismusfalle getappt sind und die jeweils eigene Seh- weise für „richtig und triftig“ halten. Nie- meyer tut dies sogar expressis verbis be- reits in Kenntnis der Publikation von Lo- surdo; sogleich in seinem Vorwort rech- net er diesen zu den „von Nietzsche ver- achteten ‚schlechtesten Leser[n]‘“, die eklektisch nur das für sie Brauchbare aus den Schriften Nietzsches herausfiltern. Doch seine Verfahrensweise ist derjenigen Losurdos nicht unähnlich, denn der ge- samte Deutungsansatz Losurdos, der sich auf eine Unmenge Material aus Werk und Nachlass stützen kann, bleibt bei Niemeyer ausgeblendet. Müsste jedoch ein „Lexi- kon“ nicht auch und gerade die verschie- denen Sehweisen der Philosophie Nietz- sches und dessen „Polyperspektivismus“ (und die sich daraus ergebende Wider- sprüchlichkeit) angemessen berücksichti- gen statt sie abzulehnen und auszublen- den? Unabhängig von dieser Frage wird mit der Problematik der Stichwort-Auswahl sicher jede solche lexikalische Begriffszusam-

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Aufklärung und Kritik 1/2010292

Christian Niemeyer (Hrsg.), Nietzsche-Lexikon, Wissenschaftliche Buchge-sellschaft Darmstadt 2009, ISBN 978-3534208449, 472 S., 79,90 EUR

Dr. phil. habil. Christian Niemeyer, gebo-ren 1952, ist Professor für SozialkulturelleErziehung und Bildung am Institut fürSozialpädagogik und Sozialarbeit derTechnischen Universität Dresden, und hatals Herausgeber und wohl wichtigsterAutor dieses neuen Nachschlagwerks zuNietzsches Philosophie eine große Scharvon 142 in- und ausländischen Mitauto-ren zu mehr oder weniger ausführlichenBeiträgen versammelt, darunter etwa Mi-cha Brumlik, Hubert Cancik, SteffenDietzsch, Stephan Günzel, David MarcHoffmann, Christoph Landerer, JacquesLe Rider, Martin Liebscher, Matthew Mey-er, Enrico Müller, Wiebrecht Ries, JosefSchmid, Pia Daniela Schmücker, JosefSimon, Michael Skowron, Andreas UrsSommer, Werner Stegmaier, Mario Sznaj-der, Vivetta Vivarelli, Ludwig Wenzler,Erdmann von Wilamowitz-Moellendorff.

In 1.300 alphabetisch geordneten Stich-wörtern wird der aktuelle Stand der inter-nationalen Nietzscheforschung dargestellt,ohne dass ein bestimmter „Forschungs-zugang zu Nietzsche privilegiert, aber auchkeiner – etwa der psychologische undbiographieorientierte – diskriminiert wer-den“ sollte.Laut Pressemitteilung ist es das Anliegendes Buches, Aufklärung zu geben über diewichtigsten der Nietzsche betreffendenSachverhalte; das Lexikon ist insbeson-dere für denjenigen Leser gedacht, „dernach orientierungsleitenden Gesichtspunk-ten sucht, nach textnah an der Primärlite-ratur orientierter Darstellung unter Nach-

weis der relevanten Sekundärliteratur undder über Nietzsche in Kenntnis des Rich-tigen und Triftigen urteilen will“.

Letzteres ist gut gesagt – aber auch wahr?Etwa gleichzeitig ist die monumentale Stu-die von Losurdo in deutscher Überset-zung erschienen (Nietzsche. Der aristo-kratische Rebell, siehe die direkt anschlie-ßende Rezension), die einen ganz ande-ren und auf den ersten Blick zu diesemNietzsche-Lexikon inkompatiblen Nietz-sche vorstellt – in beiden Büchern wirdoffenbar eine sich jeweils ausschließendeDeutungshoheit behauptet. Dies wieder-um legt nahe, dass beide in die von Nietz-sche aufgedeckte Perspektivismusfallegetappt sind und die jeweils eigene Seh-weise für „richtig und triftig“ halten. Nie-meyer tut dies sogar expressis verbis be-reits in Kenntnis der Publikation von Lo-surdo; sogleich in seinem Vorwort rech-net er diesen zu den „von Nietzsche ver-achteten ‚schlechtesten Leser[n]‘“, dieeklektisch nur das für sie Brauchbare ausden Schriften Nietzsches herausfiltern.Doch seine Verfahrensweise ist derjenigenLosurdos nicht unähnlich, denn der ge-samte Deutungsansatz Losurdos, der sichauf eine Unmenge Material aus Werk undNachlass stützen kann, bleibt bei Niemeyerausgeblendet. Müsste jedoch ein „Lexi-kon“ nicht auch und gerade die verschie-denen Sehweisen der Philosophie Nietz-sches und dessen „Polyperspektivismus“(und die sich daraus ergebende Wider-sprüchlichkeit) angemessen berücksichti-gen statt sie abzulehnen und auszublen-den?

Unabhängig von dieser Frage wird mit derProblematik der Stichwort-Auswahl sicherjede solche lexikalische Begriffszusam-

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menstellung zu kämpfen haben, aber imvorliegenden Fall ist nicht recht klar, wel-ches Kriterium („wichtigste Sachverhal-te“?) dafür zugrunde liegt. Warum sindetwa die Orte Röcken und Naumburgwichtiger als Bonn, Leipzig und Genua,welch letztere man vergebens sucht? Na-türlich werden viele für Nietzsche wichti-ge (geistes-)geschichtlich bedeutsame Na-men erörtert, warum aber z.B. nicht The-ognis, Thukydides, Beethoven, Napole-on? Oder warum fehlen im Hinblick aufNietzsches Zeitgenossenschaft solche Na-men wie Stendhal, Ludwig Feuerbach (ei-ner der frühesten philosophischen Stich-wortgeber Nietzsches), Ernst Ortlepp (zudem die neuesten Forschungen von H.J.Schmidt nicht einmal in der Bibliographieauftauchen), und aus dem BekanntenkreisHans von Bülow (legendär sein Kommen-tar zu Nietzsches Musik: „Notzucht anEuterpe“), Carl von Gersdorff (wichtigerFreund und Helfer in mancherlei Hinsicht),Wilamowitz-Moellendorf (einer der pro-minentesten deutschen Philologen undGegenspieler Nietzsches bei der „Geburtder Tragödie“)?Namentlich aufgeführt werden neben vie-len für Nietzsche wichtigen Denkern aucheine große Zahl seiner bedeutenden Rezi-pienten aus dem deutschsprachigen Raum(von Adorno bis Wittgenstein) und Aus-land (von Bataille bis Foucault), was dennauch die bis heute anhaltende fruchtbareWirkung seines Denkens aufweist.Die sachbezogenen Artikel stellen erstensnatürlich die meisten Werke Nietzschesvor, die unter ihrem Titel (bzw. Siglen)gefunden werden können. Zwei weitereRubriken widmen sich einmal den Haupt-gesichtspunkten der Philosophie Nietz-sches (z.B. „ewige Wiederkunft“, „Nihi-lismus“, „Wille zur Macht“ – letzterer al-

lerdings ist sehr kurz ausgefallen, und diegerade heute und auch für Nietzsche nichtunwichtige „Willensfreiheit“ sucht manvergebens), zum anderen einzelnen wich-tigen Begriffen innerhalb derselben (von„Affekt“ bis „Zufall“).Um dem Leser dieser Rezension eine kon-krete Vorstellung zu geben, hier als Bei-spiel die Stichworte des Buchstaben „M“:M: Morgenröthe, MA: Menschliches,Allzumenschliches; MA II: Menschliches,Allzumenschliches II; Machiavelli, Nic-colò; Macht; Mann, Thomas; Marxismus;Maske, Schauspieler; Masse; Meer; Mensch;Menschheit; Metapher; Metaphysik; Mey-senbug, Malwida von; Mitleid; Mittelmä-ßigkeit; Modernität; Montaigne, MichelEyquem de; Montinari, Mazzino; Moral;Müdigkeit; Musil, Robert Edler von; Mu-sik; Mussolini, Benito; Mutter; Mythos/Mythologie – insgesamt umfasst dieserBuchstabe „M“ damit knapp 30 Seiten.

Die Länge der einzelnen Artikel variiertnaturgemäß stark von wenigen Zeilen biszu einigen Seiten. Die meisten der länge-ren und damit die gesamte Darstellungprägenden Artikel, insbesondere Werk-Vorstellungen (insgesamt 42 Artikel), sindvom Herausgeber Christian Niemeyer ver-fasst, der zu Recht ein „entnazifiziertes“Nietzsche-Bild vertritt und insbesondereauf die unheilvolle Rolle der Schwesterhinweist, die als Hüterin des Nietzsche-Archivs selbst vor Fälschungen nicht zu-rückschreckte, um im Kaiserreich wie inder Zeit des Nationalsozialismus die Phi-losophie ihres Bruders mit den Ansichtender jeweiligen Machthaber kompatibel zumachen. Allerdings stimmt es nicht mit derFaktenlage überein, ausschließlich derSchwester diese Anschlussfähigkeit derGedanken Nietzsches an diejenigen des

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Faschismus in die Schuhe zu schieben;sowohl im von Nietzsche selbst veröffent-lichten Werk wie im Nachlass finden sichdiverse eindeutige Äußerungen Nietzsches,die auf Züchtung, Eugenik, Versklavungbzw. Vernichtung „Minderwertiger“ zielenund unter Verleumdung der 2.500jährigenEntwicklung der menschlichen Vernunftdie mitmenschliche Empathie diskreditie-ren.1

Das Nietzsche-Bild Niemeyers scheint di-rekt an dasjenige von Walter Kaufmann(WBG Darmstadt 1982) anzuschließen,der Nietzsche hauptsächlich als Philoso-phen des Individuums auffasst und dieproblematischen Äußerungen Nietzschesmeist metaphorisch innerhalb dieser Indi-vidualperspkektive zu deuten versucht.Dies ist sicher nicht falsch, aber jeden-falls nach Meinung des Rezensenten wohlnur die eine Hälfte der einen Seite derMedaille; dazu andere Auffassungen zukennen wie etwa die von Losurdo („deraristokratische Rebell“), von Janz („ge-fährlich“ ...) oder von Ross („der ängstli-che Adler“) erhöht sicherlich die Wahr-scheinlichkeit, das „Richtige und Triftige“herauszuarbeiten.So ist dieses Lexikon, das gut lesbar ge-schrieben ist, sicherlich für eine erste Ori-entierung in der Gedankenwelt Nietzschesgut geeignet, indem es neben Überblickenüber die verschiedenen Werke auch dieEntwicklung und den Zusammenhang derNietzscheschen Hauptbegriffe vermitteltsowie den schnellen Zugriff auf wichtigePersonen und Orte aus Nietzsches Lebenerlaubt; auch die bis heute anhaltende Wir-kung seines Werkes insbesondere im deut-schen Sprachraum wird anhand vieler be-deutender Rezepienten desselben gut ge-würdigt. Hervorzuheben sind auch die je-weiligen Literaturangaben innerhalb der

einzelnen Artikel sowie eine ausführlicheBibliographie (55 Seiten!), die eine weite-re Vertiefung ermöglichen – und so kanndieses neue Nachschlagwerk an Philoso-phie und Person Nietzsches Interessier-ten bestens empfohlen werden.

Nachbemerkung: Laut Internetmeldung derSächsischen Zeitung Ende Dezember2009 ist bereits eine neue Auflage desBuches geplant: Es soll „ausführlicher dar-gestellt werden, wie das Werk FriedrichNietzsches (1844–1900) editorisch ver-fälscht worden sei. Die Forschung könneim Detail belegen, „dass sich die größtenFälschungen nicht nur auf das vermeintli-che Hauptwerk ‚Wille zur Macht‘ be-schränken; man kann sogar nachweisen,dass die von Nietzsche selbst zum Druckgegebenen Werke im Nachhinein von sei-ner Schwester sinnentstellend verändertwurden“, sagte Niemeyer.

Helmut Walther (Nürnberg)

1 Im Sonderheft 14/2008 von Aufklärung & Kritik,Schwerpunkt „Glück und Lebenskunst“, bin ich inmeinem Beitrag „Nietzsche und das Glück“ auf die-se Zusammenhänge eingegangen, s. S. 140, 142,143, 151, 152, im Internet unter www.f-nietzsche.de.