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CARTE BLANCHE 32 kulturtipp 26 l 13 Der Herzigkeitsfaktor Beate Rothmaier Warum Behinderung nicht erzählt werden kann A ls ich nach zahllosen ärztli- chen Untersuchungen erfah- ren hatte, dass mein zweites Kind mit einer genetischen Veränderung geboren worden war, von der keiner wusste, welchen Namen sie hatte, noch welche Auswirkungen sie auf unser Leben haben würde, stand ich am Fenster und betrachtete die Passanten. Es war ein trüber Februartag am Ende des 20. Jahrhunderts, die Menschen gingen mit gleichgültigen Gesichtern umher, sie waren alle dunkel gekleidet, und ich dachte, war- um ich? Warum nicht einer von denen da unten? Warum ich? In den darauffolgenden 16 Jahren, während wir miteinander lebten, die Kleine, das Syn- drom und ich, stellte sich die Frage so nicht mehr, sondern sie weitete sich aus auf die Su- che nach der Bedeutung behinderter Men- schen für die Gesellschaft. Warum wir? War- um gibt es Behinderungen? Warum ist die Natur unvollkommen? Und was heisst voll- kommen, wer definiert Perfektion? Ausgehend von einer Verstörung der sprach- lichen Begriffe – Menschen waren an Roll- stühle gefesselt, Kinder litten unter ihrem Syndrom, hatten einen Defekt oder eine Stö- rung, waren nicht gesund – begann ich mich zu fragen, wie geistige Behinderung erzählt werden kann. Zunächst: der Ausnahmezustand. Er wurde nicht durch das Kind verursacht, sondern durch die Zuschreibungen der anderen. Die Blicke der Passanten, wenn ich das durch Stürze und blaue Flecken verunstaltete Mäd- chen im Buggy durch die Strassen schob, die tastenden Fragen in der Notfallstation des Kinderspitals, wenn wieder ein Kopfschwar- «Warum ist die Natur unvollkommen?» CHRISTINE STRUB

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CARTE BLANCHE

32 kulturtipp 26 l 13

Der HerzigkeitsfaktorBeate Rothmaier Warum Behinderung nicht erzählt werden kann

Als ich nach zahllosen ärztli-chen Untersuchungen erfah-ren hatte, dass mein zweitesKind mit einer genetischenVeränderung geboren worden

war, von der keiner wusste, welchen Namensie hatte, noch welche Auswirkungen sie aufunser Leben haben würde, stand ich amFenster und betrachtete die Passanten. Es war ein trüber Februartag am Ende des20. Jahrhunderts, die Menschen gingen mitgleichgültigen Gesichtern umher, sie warenalle dunkel gekleidet, und ich dachte, war -um ich? Warum nicht einer von denen daunten? Warum ich?

In den darauffolgenden 16 Jahren, währendwir miteinander lebten, die Kleine, das Syn-drom und ich, stellte sich die Frage so nichtmehr, sondern sie weitete sich aus auf die Su-che nach der Bedeutung behinderter Men-schen für die Gesellschaft. Warum wir? War -um gibt es Behinderungen? Warum ist dieNatur unvollkommen? Und was heisst voll-kommen, wer definiert Perfektion?

Ausgehend von einer Verstörung der sprach-lichen Begriffe – Menschen waren an Roll-stühle gefesselt, Kinder litten unter ihremSyndrom, hatten einen Defekt oder eine Stö-rung, waren nicht gesund – begann ich mich

zu fragen, wie geistige Behinderung erzähltwerden kann.

Zunächst: der Ausnahmezustand. Er wurdenicht durch das Kind verursacht, sonderndurch die Zuschreibungen der anderen. DieBlicke der Passanten, wenn ich das durchStürze und blaue Flecken verunstaltete Mäd-

chen im Buggy durch die Strassen schob, dietastenden Fragen in der Notfallstation desKinderspitals, wenn wieder ein Kopfschwar-

«Warum ist die Naturunvollkommen?»

CHRISTINE STRUB

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tenriss oder offener Bruch versorgt werdenmusste, bis hin zu Bemerkungen wie die desGastwirts in meinem Roman «Atmen, bis dieFlut kommt» angesichts der geistig behin-derten Lio: «So etwas müsste es doch nichtmehr geben heutzutage.» Nicht die Chro-mosomenveränderung war die Ursache derBehinderung. Transitive und intransitiveWortbedeutung: behindert sein und behin-dert werden.

«Bird wartete, bis die sich eifrig unterhal-tenden Frauen mit dem Baby herangekom-men waren, und blickte dann seinem vomArm der Mutter behüteten Sohn ins Ge-sicht. Er wollte versuchen, ob er in den Pupillen des Babys sein eigenes Gesicht ge-spiegelt fände. Der Spiegel dieser Augen warvon einem ausserordentlich klaren und tie-fen Dunkelgrau, und wirklich tauchte Birdaus ihm herauf, so winzig freilich, dass ersein neues, verändertes Gesicht nicht zu er-kennen vermochte.» Am Ende seines Ro-mans «Eine persönliche Erfahrung», in dem

ein junger Mann sich nach einer existenziel-len Erfahrung dazu entschliesst, sein mit einer Gehirnhernie geborenes Kind anzu-nehmen, formuliert der NobelpreisträgerKenzaburo Oe, worin Chance und Sinn jeder Auseinandersetzung mit dem emaBehinderung liegen: sich selbst zu spiegelnin den Augen des behinderten Menschen.Sich und das eigene im Auge des behinder-ten Menschen verkleinerte Ich zu sehen.Und zu verstehen, dass das Geheimnis nichtim geschärften Blick auf das Andersartigeenthüllt wird, sondern in den Mühlen destäglichen Zusammenlebens. «Sobald wir zuHause sind, werde ich sofort in den Spiegelschauen, dachte Bird. Gleich danach dannwollte er, nahm er sich vor, in dem Wörter-buch (…) als erstes die Vokabel für das Wort‹Geduld› nachschlagen.»

Wer sich wie Bird einlässt, erfährt, dass derBlick in die Augen des behinderten Kindeseinen selbst bis zur Unkenntlichkeit verän-

dert: Unsicherheit, Angst, Fluchtreaktion –Umkehr des Selbstverhältnisses. Die Psycho-login Marlis Pörtner, die mit geistig Behin-derten arbeitet und sich einem personenzen-trierten erapieansatz verschrieben hat,schildert den Fall einer Frau, die sich ver-meintlich sprachlich nicht äussern konnteund, auf dem Boden liegend, wimmerndeLaute ausstiess, die keiner zu deuten wusste.Mit ‹Vernunft› und ‹Sprache› war dieser Frauhelfend nicht beizukommen. Häufig kam eszu heftigen Ausbrüchen. Erst als die Betreue-rin sich zu ihr auf den Boden legte und ähn-liche Laute auszustossen begann, konntendie beiden in Kontakt treten und eine Ver-ständigung darüber beginnen, was die Fraubrauchte.

Wie aber kommt Sprachlosigkeit in einen li-terarischen Text? Lio, das Mädchen mit geis-tiger Behinderung, in meinem Roman «At-men, bis die Flut kommt» kann nicht erzähltwerden. Sie entzog sich während des Schrei-bens durch ihre Andersartigkeit, vor der jedeEinfühlung kapituliert. Es gibt fachsprachli-che Beschreibungsmöglichkeiten wie «dis-tinktes Dysmorphiesyndrom unbekannterÄtiologie» und so fort, und es gibt die Worteder Eltern, die das Kind beschreiben wie je-des andere: Es ist emsig, es trotzt, es machtuns Freude. Das beschreibt nicht das Beson-dere. Den Ausnahmezustand. Es brauchtezuerst den Augenblick, den Einblick und dieEinsicht, dass das behinderte Mädchen michin meiner Kleinheit spiegelt und die Verhält-nisse sich umkehren. Das zu sehen, ist derAuftrag, der an uns ergeht: Vater Konrad «er-zieht» Lio nicht. Er lebt einfach mit ihr undwundert sich ab und zu. Spät erst, an der

Steilküste, als er sich vor der herannahendenFlut retten muss, versteht er, dass sie es war,die ihn erzogen hat, die ihm durch ihre An-wesenheit dazu verholfen hat, der zu werden,der er ist. Nicht zuletzt als Zeichner. Für Liokonnte ich keine Figurenbeschreibung fürdie Schreibarbeit am Roman verfassen, undihr die Erzählperspektive aufzubürden, wäreein Gewaltakt gewesen. Sie war einfach auf

eine kreatürliche Weise da, sie füllte und be-schattete den Text wie eine Wolke, und in-dem sie mit ihrer Andersartigkeit auch dasLeben ihres Comic zeichnenden VatersKonrad ausfüllte, forderte sie ihn heraus,

mit ihr zu leben ohne Fallnetz und doppel-ten Boden, ohne Gewissheit und im Grundeohne Zukunft. Die beiden existieren nur imAugenblick. Sie lebt es ihm vor und verlangtes ihm ab: ohne Bedingung zu lieben. Dasist die Aufforderung an uns, die in der Exis-tenz jedes Menschen mit Behinderung liegt.Zu akzeptieren, dass er ist, wie er ist, ihm zu begegnen mit einer Liebe, die an keineLeistungserwartung geknüpft ist, und:schwieriger noch. Sich auf dieselbe Weisewiederlieben zu lassen.

«Wer sich wie Bird einlässt,erfährt, dass der Blick indie Augen des behindertenKindes einen selbst bis zurUnkenntlichkeit verändert»

«Sie entzog sich währenddes Schreibens durch ihreAndersartigkeit, vor derjede Einfühlung kapituliert»

«Sie war einfach auf einekreatürliche Weise da, siefüllte und beschattete denText wie eine Wolke»

Beate Rothmaier

Beate Rothmaier studierte

Germanistik und Romanistik in

München und Tübingen. 1990

erlangte sie den Magister mit

einer Arbeit über Gottfried von

Strassburgs «Tristan». Roth -

maier arbeitete für verschiede-

ne Theater und Verlage und in

einer Werbeagentur als Texterin.

Sie lebt als freie Schriftstellerin

mit ihren beiden Kindern in

Zürich.

Im Text erwähnte BücherKenzaburo Oe«Eine persönl iche Erfahrung» 240 Seiten (Suhrkamp 1991).Marlis Pörtner«Brücken bauen. Menschen mit geist iger Behinderung verstehen und begleiten» 240 Seiten (Klett Cotta 2007).Beate Rothmaier«Atmen, bis die Flut kommt» 400 Seiten (DVA 2013).