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- Inhalt - 1. Die Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien 2. Typische Deutungsmuster – Attributionstheorien und Rollenzuweisungen 3.Attributionsfehler 4. Christliche Deutungen von Krankheit und Tod 4.1. Theologisch 4.1.1. Altes Testament 4.1.1.1. Krankheit als Strafe für Schuld 4.1.1.2. Schuldübertragung 4.1.1.3. Krankheit als Prüfung und Reifung 4.1.1.4. Ausgleich nach dem Tod 4.1.1.5. Verweigerung einen Zusammenhang zum eigenen Verhalten herzustellen 4.1.2. Neues Testament 4.1.2.1. Paulus - Stellvertretung („um unserer Sünden dahingegeben“) 4.1.2.2. Jesus - lehnt einen Zusammenhang Sünde – Strafe – Leiden ab 4.1.2.3. Dämonen 4.1.3. Tradition 4.1.4. Reformation (Luther) 4.1.5. Bonhoeffer 4.1.6. Folgerungen für theologische Krankheitsdeutungen heute 4.2. christliche Lebenswirklichkeit

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- Inhalt -

1. Die Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien

2. Typische Deutungsmuster – Attributionstheorien und Rollenzuweisungen

3. Attributionsfehler

4. Christliche Deutungen von Krankheit und Tod

4.1. Theologisch4.1.1. Altes Testament4.1.1.1. Krankheit als Strafe für Schuld4.1.1.2. Schuldübertragung4.1.1.3. Krankheit als Prüfung und Reifung 4.1.1.4. Ausgleich nach dem Tod4.1.1.5. Verweigerung einen Zusammenhang zum eigenen Verhalten herzustellen 4.1.2. Neues Testament4.1.2.1. Paulus - Stellvertretung („um unserer Sünden

dahingegeben“) 4.1.2.2. Jesus - lehnt einen Zusammenhang Sünde – Strafe –

Leiden ab4.1.2.3. Dämonen4.1.3. Tradition4.1.4. Reformation (Luther)4.1.5. Bonhoeffer4.1.6. Folgerungen für theologische Krankheitsdeutungen heute

4.2. christliche Lebenswirklichkeit 4.2.1. Schuldkultur in Liturgie, Liedern und Verkündigung4.2.2. Die Deutungen von Patienten

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5. Islamische Deutungen von Krankheit und Tod

5.1 GESUNDHEIT, KRANKHEIT UND HEILUNG5.1.1. Menschenbild 5.1.2. Gesundheits- und Krankheitsverständnis

← 5.1.3. Krankheitsdeutungen ← 5.1.4. Volksglaube und traditionelle Heiler

← 5.1.5. Die Stellung der Medizin

5.2. LEBENSPHASEN5.2.1. Lebensbeginn

← 5.2.2. Kinder ← 5.2.3. Ehe ← 5.2.4. Gynäkologie ← 5.2.5. Altern ← 5.2.6. Sterbebegleitung und Tod

5.2.7. Was ist nach dem Tod wichtig? 5.3. PSYCHIATRIE 5.4. ONKOLOGIE 5.5. KINDER- UND JUGENDMEDIZIN

6. Krankheit und Tod im Buddhismus

6.1. Der Tod – Ein Anlass zur Freude6.2. Wiedergeburt nicht Seelenwanderung6.3. Sterbebegleitung im Buddhismus6.4. Das Begräbnis

7. „Moderne“ Krankheits-Modelle7.1. bio-medizinisches7.2. lebensgeschichtliches7.3. psychoanalytisches7.4. psychosomatisches7.5. Stress-Coping7.6. soziologisches7.7. verhaltenstheoretisches7.8. multifaktorielles7.9. biologisch-physisch-sprituelles

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7.9.1. Das Menschenbild der Logotherapie7.10. teleologische

1. Die Bedeutung subjektiver Krankheitstheorien Es gehört zum Wesen des Menschen, dass wir uns Vorstellungen darüber machen, wie sich die Dinge und Ereignisse, die wir erleben zuordnen lassen. Wir nehmen war, was um uns herum (und in uns) passiert und suchen nach Erklärungen und Zusammenhängen. Wir wollen die Welt nicht nur begreifen, wir wollen sie auch verstehen. Das bloße Registrieren von Ereignissen würde dazu führen, dass an uns ein Strom von Begebenheiten vorbeizieht mit dem wir nichts anfangen können. Um uns in dieser Welt sicher zu fühlen, brauchen wir das Zutrauen, dass Sachverhalte für uns erklärbar sind, dass sie sich vorhersagen und eventuell auch beeinflussen lassen. Der Begriff der „subjektiven Theorie“ meint allgemein den Sachverhalt, dass Menschen ganz individuelle Erklärungsmuster über bestimmte Zusammenhänge ausbilden. Diese lassen sie dann in ihre Einstellungen und ihr Handeln einfließen. Dafür ein einfaches Beispiel: Welche Reaktionen werden Sie Ihrer Tochter gegenüber zeigen, wenn Sie deren Note "mangelhaft" in einer mündlichen Prüfung im Fall A mit mangelnder Anstrengung erklären oder im Fall B damit, dass der Prüfer unangemessen schwere Fragen stellte? Im ersten Fall werden Sie über Ihre Tochter vielleicht verärgert sein und sie auffordern, sich künftig mehr anzustrengen. Im zweiten Fall werden Sie vermutlich auch verärgert sein, jedoch nicht über Ihre Tochter, sondern über den Prüfer, und Sie werden Ihre Tochter vielleicht trösten. Die Zuordnung (Attribution) von wahrgenommenen Ereignissen und angenommen Ursachen gehört zu den Grundhaltungen menschlicher Existenz. Dabei versuchen Attributionstheorien die Frage zu beantworten, aufgrund welcher Wissensbestände, Informationen, Mechanismen und Prozesse wir dazu kommen, einen Sachverhalt einer spezifischen Ursache zuzuordnen. In der Regel ist es so, dass wir bei solchen Zuordnungen auf überlieferte Traditionen zurückgreifen. Traditionen, die uns anfangs über Eltern, Lehrer und Erzieher, später dann über z.T. selbstgewählte Autoritäten bekannt werden. Manche davon entwickeln wir weiter, kombinieren sie miteinander oder entwickeln neue.Natürlich stellen wir nicht unablässig Fragen nach den Ursachen von Ereignissen (Warum-Fragen) und analysieren auch nicht fortlaufend in aktiver und bewusster Weise die kausale Struktur von Ereignissen. Dies zu tun wäre erstens höchst unzweckmäßig. Das beständige Ablaufen solcher bewussten Prozesse, die ja durchaus zeitaufwändig sein

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können, würden dazu führen, dass man vor lauter Nachdenken nur noch selten zum Handeln käme.Weiterhin ist es aber auch gar nicht nötig, dies zu tun. Denn in der Regel haben wir bereits im Gedächtnis gespeicherte implizite – das heißt, momentan nicht bewusste – Annahmen über die Ursachen von Ereignissen. Solche impliziten Annahmen werden als Schemata oder situationsbezogene Theorien bezeichnet. Sie sind das Ergebnis von früher einmal getätigten aktiven Ursachenzuschreibungen.Erst dann, wenn ein Ereignis mit unseren impliziten Theorien nicht übereinstimmt, wenn es also unerwartet ist, entsteht die Frage, warum es eingetreten ist. Denn offenbar stimmt etwas nicht mit unserer Theorie, da sie nicht in der Lage war, das Ereignis vorherzusagen. Möglicherweise ist die Theorie revisionsbedürftig. Sie wird daher, zumindest teilweise, von der nicht-bewussten Ebene, auf der sie sozusagen automatisch die Interpretation von Ereignissen und das Handeln steuerte, auf die bewusste Ebene gehoben; dies geschieht vermutlich deshalb, weil sie nur dort mit Hilfe höherer mentaler Prozesse (wie bewussten Prozessen der Kausalanalyse) einer Überprüfung und, falls notwendig, einer Revision unterzogen werden kann. Diese Prozesse können dazu führen, dass das in Frage stehende Schema verändert wird. Anschließend kann es dann wieder in nicht bewusster Weise die Wahrnehmung und das Handeln steuern. Das geschieht natürlich auch dann, wenn Menschen unverhofft krank werden. In der Regel reagieren wir darauf mit Vorstellungen, Kognitionen und Emotionen. Die jeweils subjektiv ausgelösten Assoziationen und Vorstellungen werden dabei in den Wissenschaften als subjektive Krankheitstheorien bezeichnet.Solche subjektive Krankheitstheorien dienen dazu, Krankheiten zu erkennen und vor allem sie zu bewältigen. Wenn ich weiß wodurch die Krankheit ausgelöst wird, kann ich darauf reagieren. Ich kann Maßnahmen einleiten, um ihre Ursachen abzustellen oder auch um zukünftige Gefährdungen zu minimieren. Krankheitserklärungen können allerdings auch der Rechtfertigung und Selbstwertstabilisierung dienen (so Flick, 1991).Im Wesentlichen enthalten subjektive Krankheitstheorien fünf Dimensionen: 1. Identität (beschreibt die Art und Intensität der Symptome, die der

Erkrankte im Zuge der Krankheit wahrnimmt),2. Kausalattributionen (beschreiben die individuell-subjektiven Ursachen;

diese müssen nicht notwendigerweise mit biologischen oder medizinischen Thesen übereinstimmen.),

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3. Erwartungen zur Dauer (beziehen sich auf die Zeitspanne in Bezug darauf, wie lange die Erkrankung noch andauern wird einschließlich der Annahme, ob die Erkrankung akut oder chronisch einzustufen ist),

4. den Konsequenzen (Theorien über die Folgeerscheinungen einer Krankheit und deren Einfluss auf die eigene Peron sowie das soziale Umfeld.)

5. sowie Kontrollüberzeugung bzw. antizipierte Heilungsaussichten (Hypothesen über Kurabilität und Kontrollierbarkeit).

Diese fünf Dimensionen subjektiver Krankheitstheorien haben sich in umfangreichen Studien bestätigen lassen und gelten als empirisch gesichert (Weinman, Petrie, Moss-Morris & Horne, 1996; Skelton & Croyle, 1991).Herausgestellt hat sich dabei, dass die Suche nach den Ursachen für eine Erkrankung (also Kausalattributionen) den wesentlichsten Schwerpunkt bildet. Für die medizinische Behandlungen sind subjektive Krankheitstheorien wichtig, weil sie: die Mitarbeit bei der Behandlung beeinflussen.

(Ein Patient wird nur dann den Empfehlungen des Arztes folgen, wenn sie auch aus seiner eigenen Sicht plausibel sind.)

das emotionale Befinden beeinflussen. (Kranke, die eine psychosomatische Krankheitstheorie haben und sich selbst eine Mitschuld an der Entstehung ihrer Krankheit zuschreiben, sind depressiver als diejenige, die das nicht tun.)

die berufliche Wiedereingliederung voraussagen. (Die vom Patienten abgegebene prognostische Einschätzung, ob er nach Abschluss der Rehabilitation in der Lage sein wird, seine Arbeit wieder aufzunehmen oder nicht, sagt die tatsächliche Wiederaufnahme der beruflichen Tätigkeit am besten vorher, und zwar unabhängig von der Krankheitsschwere.)

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2. Typische Deutungsmuster – Kausalattributionen und Rollenzuweisungen

Wird einem Vorgang eine Ursache oder eine Reihe von Ursachen zugeschrieben, so spricht man von einer Kausalattribuierung bzw. Kausalattribution. Solche Kausalattribuierungen sind alltäglich und notwendig. Beobachtete Ereignisse werden dabei auf naiv psychologische und naiv wissenschaftliche Art und Weise erkundet und auf eine mögliche Ursache zurückgeführt. Kausalattribuierungen haben somit Strukturierungsfunktionen, die den Ereignissen eine Bedeutung geben, die Ursachen erklären und dadurch versuchen die Ereignisse vorhersehbar zu machen. Trotz aller individueller Unterschiede sind allen Ursachen von Ereignissen drei Dinge gemein: Lokationsdimension oder Personenabhängigkeit

Sie sind entweder innerhalb (internal) oder außerhalb (external) des Handelnden lokalisiert.

Dimension der Stabilität Sie sind über die Zeit stabil oder instabil.

Dimension der KontrollierbarkeitSie sind durch den Handelnden willentlich kontrollierbar und veränderbar oder nicht

Manche Menschen neigen dazu, bei Erfolg eine internale Kausalattribuierung anzuwenden, d.h. sich selbst als Ursache für den Erfolg anzusehen und bei Misserfolg wiederum die externale Kausalattribuierung heranzuziehen, d.h. einer anderen Person oder einem Umwelteinfluss die Schuld an dem Misserfolg zuzuschreiben. Diese Art der Attribuierungen stellen einen guten Schutz für das Selbstwertgefühl dar. Andere Menschen neigen zu umgekehrten Zuschreibungen, also Erfolge external und bei Misserfolgen internal zu attributieren. Diese Art allerdings destabilisiert das Selbstwertgefühl. Der modernen Medizin erscheinen Krankheiten in der Regel als sinnfreie Phänomene. Die vom Patienten als Katastrophe erlebte Krankheit ist für sie beispielsweise „nur“ eine zufällige Überschwemmung durch Mikroorganismen. Aufgrund der Deutungsabstinenz der Medizin bleibt Kranken ihre Krankheit oft unverständlich und so sie greifen auf eingespielte soziale Deutungsmuster zurück. Weitverbreitet sind etwa psychologische Krankheitstheorien, die dem glücklosen Kranken letztlich die Verantwortung für seine Erkrankung zusprechen. Damit lebt eine gängige religiöse Deutung von Krankheit wieder auf: Krankheit wird als Strafe verstanden.

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Was bisher wenig beachtet wurde (Rollenzuweisungen):Der Übereinstimmung bzw. Differenz der Deutungsmuster für Krankheiten von Arzt und Patient kommt eine größere Bedeutung zu als bisher angenommen. Darauf war der Psychologe und Konfliktmanager Gerhard Schwarz im Rahmen eines Beratungs-Projektes1

gestoßen. In diesem Projekt entdecken er und seine Mitstreiter 10 verschiedene Deutungsmuster. Ausgangpunkt des Projektes war das Problem, dass Ärzte davon berichteten, dass sie bei bestimmten Personen erfolgreich waren, bei anderen, unter gleichen medizinischen Vorraussetzung nicht. Eine nähere Analyse hatte ergeben, dass sowohl Patienten als auch Ärzte einen bestimmten, aber doch jeweils verschiedenen Begriff von Krankheit haben können. Mit „Begriff“ ist dabei gemeint, dass Krankheit einen bestimmten Sinn des menschlichen Daseins definiert. Die Studie ergab nun, dass Ärzte umso erfolgreicher Patienten behandeln, je übereinstimmender ihre jeweilige Sinndefinition der Krankheit ist.So empfinden manche Menschen die Krankheit als Folge einer Schuld. Sie kommen niedergedrückt und kleinlaut zum Arzt, der dann auch wirklich mit erhobenem Zeigefinger fragt: "Was haben wir denn wieder angestellt?" Der Patient erlebt dann die schmerzhafte Spritze oder die schwere Medikation (bittere Pillen) als gerechte Strafe für seine Missetat. Er nimmt die Strafe an und wird wieder gesund. Der Sinn der Krankheit (Schuld) und die dazupassende Rolle des Arztes (Richter) entsprechen einander (Heilungsäquivalenz). Völlig anders sieht es aus, wenn für einen Menschen Krankheit nicht die Folge einer Schuld darstellt, sondern als Flucht vor der jeweiligen Situation verstanden wird. Er möchte (bewusst oder unbewusst) für eine Weile aussteigen, Ruhe haben. Ein Medikament braucht er als Alibi, damit alle sehen, dass er krank ist. Mehr Wirkung sollte dieses Medikament nicht haben. Der Arzt wird zum Fluchthelfer, der ihn eine Woche krankschreibt. Die Reaktion des oben beschriebenen bestrafenden Arztes würde dieser Patient als sehr unpassend und

1 Georg Schwarz: Konfliktmanagement, 1999, S. 300-309

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unangebracht empfinden. Eine schmerzhafte Bestrafung wofür? Die Krankheit ist sozusagen schwer erarbeitet und Selbstbelohnung. Der erhobene Zeigefinger des Arztes signalisiert Nicht-Verstehen, der Patient wird künftig anderswo seine Zuflucht nehmen. Sinn der Krankheit und Rolle des Arztes entsprechen in diesem Fall einander nicht. Entspricht der Arzt mit seiner Rolle dem Krankheitsbegriff des Patienten, dann sind beide zufrieden, und sie können mit der Krankheit in der gewünschten Weise umgehen. Entspricht er nicht, dann verschlimmert sich der Zustand subjektiv — und das auch unabhängig vom tatsächlichen Krankheitsstatus. Das Missverständnis zwischen Arzt und Patient rüttelt an dem jeweiligen Welt- und Selbstbildnis beider Beteiligten. Der Patient stellt beim unangebrachten Rollenverhalten des Arztes dessen Autorität in Frage. Im Wiederholungsfall geht dieser Zweifel möglicherweise auf die Ärzteschaft über — der erste Schritt zum Heilpraktiker oder Alternativmediziner ist getan. Auf seitens des Arztes führt dies zu einer Kränkung seiner Kompetenz, was bei Wiederholung im Extremfall zur zynischen Menschenverachtung führen kann. Die Frage, die sich im Rahmen des von Schwarz geleiteten Projektes aufdrängte, war die: Welchen Sinn kann Krankheit für den Menschen haben, und wie viele verschiedene entsprechende Rollen des Arztes gibt es? Eine erste Systematisierung ergab 17 verschiedene Krankheits-begriffe, die wir dann auf zehn reduziert wurde. Die Liste der Krank-heitsbegriffe ist sicher nicht vollständig — aber, die wichtigsten sind beschrieben.

Sinn der Krankheit gesund Heilung Rolle des Arztes Medikament

1 . Krankheit als Normabweichung

normgerecht Reparatur Organmechaniker Ersatzteil Betriebsstoff

2 . Defizit an Symbiose subjektives Krankfühlen

schmerzfrei Symbiose Mutter Vater Droge

3 . Defizit an Selbstbestimmung, Krankheit als Regression

frei selbst-bestimmt

Erziehung Vater Muttermilch

4 . Krankheit als Initiation Reifungskrise

wandelbar stabil Verwandlung MedizinmannSymbol für Ver-wandlung

5 . Krankheit als Organ- schwäche

Funktions- Fähigkeit der Organe

Kompensation Gärtner Kumpan

Krücke Prothese

6 . Krankheit als Flucht„Aussteigen”

kein Bedürfnis nach Aussteigen

Wieder- einsteigen Fluchthelfer Ausgebeuteter

Alibi Austrittskarte

7 . Symptom- träger für soziale Konflikte

funktionsfähige Sozialstruktur

Konfliktmanagement Sündenbock Sozialtherapeut

unnötig bzw. Repräsentanz des Arztes

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8 . Krankheit als Störung des Gleichgewichtes

Gleichgewicht ausbalancieren Priester Ausbalancierungs-mittel

9 . Krankheit als Schuld entsühnt erlöst

Strafe RichterSühneopfer Talisman

10 . Krankheit als Bewältigung der Todesangst

lebend Überleben Totenrichter Nektar und Ambrosia

An erster Stelle steht der Krankheitsbegriff der Schulmedizin: krank ist der Mensch, dessen Werte von den Normalwerten stark abweichen. Dieser Krankheitsbegriff tritt in den Interviews bei Patienten selten auf (und wenn, dann bei Hypochondern, die ständig ihre physiologischen Messwerte kontrollieren). Es gibt auch Patienten, die ihren Körper für eine Maschine halten und mit einem medikamentösen Organservice zufrieden sind. Bei Ärzten wird dieser traditionelle Krankheitsbegriff offiziell hochgehalten, bei längerer Diskussion stellt sich aber heraus, dass viele Ärzte noch zusätzliche Krankheitsbegriffe entwickelt haben. Leider bleiben diese Gedanken meist privat — es gibt wenig öffentliche Diskussion unter Ärzten über die Sinnauffassung von Krankheit.Sehr häufig traten hingegen die an zweiter und dritter Stelle angeführten Krankheitsbegriffe auf: Man ist den ständigen Kampf des Erwachsenendaseins leid und möchte wieder einmal — wie ein Kind — gepflegt werden, sich in ein warmes Bett kuscheln und die längst verlassene Symbiose wieder aktivieren. Diese Bedeutungsdimension der Krankheit ist vermutlich kulturspezifisch (unsere anonyme Industriegesellschaft legt dies nahe) und klimaspezifisch: der kalte Norden zum Beispiel bringt im Winter mehr Krankheiten als im Sommer.Der Arzt muss hier die Rolle der Mutter übernehmen. Der Patient will angenommen werden und das Gefühl haben, dass ihm jemand helfen will. Im Zentrum stehen die Gefühle und Bedürfnisse des kranken Menschen. Die Technik sowie alle rationalen Erklärungen werden als feindselig erlebt. Sie verschlimmern die Krankheit.Krankheit kann auch mit zu großer Infantilisierung des Menschen einhergehen. Heilung steht auch immer in der Dialektik, dass man sich auf der einen Seite selbst nicht mehr helfen kann — auf der anderen Seite kann man nur wieder gesund werden, wenn man sich selbst helfen kann. Vermutlich irgendwann während der Krankheit schlägt dieses Bedürfnis in sein Gegenteil um. Man hat nicht mehr ein Defizit an Symbiose, sondern ein Defizit an Selbstbestimmung. Man ist an ein Bett gefesselt, seiner Umwelt ausgeliefert, ist immobil wie ein Kleinkind, das möglicherweise die Motorik noch gar nicht beherrscht. Man ist

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geschwächt, durch Fieber verwirrt, kann sich nicht richtig artikulieren usw.Durch die körperliche Einschränkung ergibt sich auch eine psychische: der Patient hat forderndes Verhalten (wie ein ungezogenes Kind), ist lästig, uneinsichtig und nur auf sich selbst konzentriert. Menschen, die krank sind, werden daher oft von den Pflichten des Erwachsenen entbunden und nicht ganz ernst genommen. Dieser absichtlich oder unabsichtlich herbeigeführte Zustand des unverantwortlichen Kindes wird, wie gesagt, durch besonderes Behütetwerden und Gepflegtwerden, durch größere Aufmerksamkeit von Familie, Umwelt und Arzt belohnt. Selbst wenn in diesem regressiven Zustand die Möglichkeit geboten wird, versäumte Lebensabschnitte nachzuholen, so schlägt dieser Zustand irgendwann in das Bedürfnis um, wiederum erwachsen zu werden.In diesem Fall hat der Arzt seine Mutterrolle gegen eine Vaterrolle zu wechseln. Der Vater ist nicht derjenige, der wie die Mutter auf die Bedürfnisse eingeht, sondern dieser will vom Menschen Leistung. Väterliche Autorität wird in unserem Kulturkreis übersteigert in Gottvater gesehen, und interessanterweise werden auch die Ärzte als Götter in Weiß bezeichnet, als allmächtig erlebt; ihren Anweisungen ist unbedingt Folge zu leisten. Der Arzt weiß, wo es langgeht, und ist in der Lage, die Eigeninitiative des Menschen anzuspornen. Damit wird auch die Quadratur des Kreises dieser Arztrolle ausgesprochen, denn ohne Autorität kann der Mensch nicht gesund werden — mit zuviel Autorität kann er es auch nicht, sofern er die gesamte Heilungskapazität dem Arzt überträgt. Hier ist der erzieherische Aspekt das Zentralproblem des Heilungsprozesses.Wie wir festgestellt haben, zeigt das Medikament bei dieser Krankheitsauffassung Reste von symbiotischer Bedeutung: es wird lieber flüssig als fest eingenommen, was mit der seinerzeitigen Funktion der Muttermilch erklärt werden kann.Die in Punkt 4 angeführte Sinndimension der Krankheit — nämlich Krankheit als Initiation und als Reifungskrise des Individuums ist ein uralter und in allen Kulturen bekannter Sinn von Krankheit. Krankheit wird oft als Todesnähe verstanden — im Volksmund spricht man vom „kleinen Tod". Damit ist nicht gemeint, dass Krankheiten tatsächlich oft zum Tod führen, sondern Krankheit wird als Verwandlung des alten Menschen, der stirbt, aufgefasst, und Gesundung als Wiedergeburt, als kleine Auferstehung gefeiert. Eine Krankheit durchgestanden zu haben macht reifer und stärker. Deswegen ist das Verhältnis von Krankheit und Heilung immer auch ein Symbol für Tod und Auferstehung, und es ist insofern als geeignet für Initiationsriten aufgefasst worden. Der eine

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Zustand stirbt, und ein neuer, besserer wird geboren. Manche Initiationsriten helfen der Krankheit sogar nach. Es werden schmerzhafte Vorgänge wie Beschneidung und künstlich durch Gifte erzeugtes Fieber dem zu Initiierenden zugeführt. Nach der Gesundung sprechen auch viele Kranke in unserem Kulturkreis von den ausgestandenen Schmerzen. Es gibt Fälle, wo ein Wettstreit darüber entbrennt, wer mehr durchgestanden hat bei Operationen usw. Die Anthroposophen vertreten die Theorie, dass Krankheit Kindern und Erwachsenen wertvolle Entwicklungsschübe bringt. Man hat festgestellt, dass geimpfte Kinder, die bestimmte Krankheiten daher nicht bekamen, deutlich in der Entwicklung zurückblieben gegenüber Kindern, die diese Krankheiten durchgestanden haben.Der Arzt ist bei diesem Krankheitsbegriff derjenige, der über die Zeremonien dieser Initiation beziehungsweise dieser Auferstehung verfügt"— somit eine Art Medizinmann. Der Medizinmann ist je nach Kulturkreis ein kleinerer oder größerer Zauberer, der über die geheimnisvollen mystischen Hintergründe und Zusammenhänge der Riten verfügt — meist aufgrund einer langen Tradition. Magisches Denken ist in unseren Tagen keineswegs ausgestorben, und viele Ärzte sind verwundert über die Wirkung ihrer Medikamente, die vom naturwissenschaftlichen Ursache-Wirkungsbegriff her oft gar keine reale Wirkung haben (Placebo, Homöopathie etc.). Für den nicht Eingeweihten ist das ganze Klimbim und Brimborium, die offiziellen Zeremonien der heutigen Medizin von der Untersuchung über die Therapiemethoden — ohnehin nur eine Nachfolge der alten klassischen Priester- und Medizinmanntradition. Die Wissenschaft hat heute die Rolle übernommen, die ehedem die Kirche hatte. („Sie glauben gar nicht, Herr Doktor, wie mir das EKG geholfen hat.")Die Verwandlungshilfe, die der Arzt so wie der Medizinmann früher dem einzelnen angedeihen ließ, gipfelt vor allem darin, dass der Mensch seinem neuen Leben nun einen neuen Sinn gibt. Dieser Sinn kommt aus ihm selbst heraus — allerdings unter der Geburtshilfe des Arztes. Das Medikament wäre Zaubertrank, der in vielen Märchen auftritt, und mit dessen Hilfe man von einer Existenz in eine andere hinüberwechseln kann. Eine solche Zaubertrankfunktion wollen die Patienten sehr oft von den Ärzten mit Hilfe des Medikamentes.Punkt 5: Fast jeder Mensch hat irgendwo Organschwächen, besondere Punkte von Sensibilität und Anfälligkeiten — seien sie vererbt oder erworben. Es ist auch durchaus möglich, dass sich Umwelteinflüsse in bestimmte Empfindlichkeiten umsetzen. Dieser locus minoris resistentiae sollte jedem Menschen bekannt sein. Es ist dies jener Punkt, bei dem sich bei Überlastung oder bei Verlust des Gleichgewichts eine Störung oder eine Organschwäche entwickelt. Der Arzt hat hier die Aufgabe,

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diese Organschwächen dem Patienten darzustellen, mit ihm gemeinsam die Minderwertigkeit des betreffenden Organs zu kompensieren und die Rolle des Gärtners anzunehmen. Er wird nicht nur die Entwicklungsge-schichte des einzelnen Organs und seiner Schwäche durch ausführliche Anamnesen, Lebensskriptvorstellungen usw. analysieren. Er wird auch feststellen, was im Rahmen der übrigen Organabstimmung der Stärkung des betroffenen Organs dient, und er wird auch die Umwelteinflüsse, Dauerbelastungen unter die Lupe nehmen. Insbesondere hat die Vorbeugungsmedizin hier einen wichtigen Ort, nämlich insofern, als man Organschwächen von Haus aus als Krankheiten zu vermeiden trachtet. Ein Medikament hat hier die Funktion einer zeitweiligen oder dauernden Prothese zur Stützung von Organen. …Punkt 6: Die Krankheit als Flucht wurde schon angeführt.Punkt 7: Krankheit als Symptomträger für soziale Konflikte. Am deutlichsten ist dies bei Krankheiten, die in Familien oder in Gruppen auftreten, weil die Konflikte sich an einer bestimmten Person konkretisieren. Hier muss der Arzt, will er Erfolg haben, die Kunst des Konfliktmanagements beherrschen. Die Symptome bloß zum Verschwinden zu bringen gleicht dem Kampf mit der Hydra: sie treten immer wieder auf, wenn auch möglicherweise in anderer Form.Der Verlust der Mehrgenerationsfamilie, die Anonymisierung unserer Gesellschaft scheint dem Arzt eine Reihe von Funktionen zu übertragen, die er früher in diesem Ausmaß nicht gehabt hat und die weder der Medizinmann noch der klassische Arzt früherer Epochen übernehmen konnte. Viele Ärzte der Gegenwart scheinen damit auch ziemlich überlastet zu sein. Insbesondere, wenn der Arzt auch bei strengster Abstinenz in einem Sozialgebilde eine bestimmte Rolle zugewiesen bekommt, wie etwa die Rolle des Sündenbocks, in die man als Sozialtherapeut nur allzu leicht geraten kann. Der Arzt, der sehr oft nicht gelernt hat, als Projektionsfigur dazustehen, versucht nun, sich aus dieser Situation wieder herauszukatapultieren. So bleibt oft das Gefühl bei den Betroffenen zurück, dass die Ärzte die Ursache für die Krankheit sind. Sehr viele Ärzte versuchen hier, an ihrer Stelle dem Medikament die Bedeutung zu geben, die Heilfunktion im Sozialgebilde zu übernehmen. Nicht immer ist dies von Erfolg gekrönt. (Sagt die Schwester zum Arzt: „Heute Nacht ist der Hypochonder von Zimmer 14 gestorben." Darauf der Arzt: „Jetzt übertreibt er aber."Punkt 8: Dass Krankheit auch als Störung der physiologischen wie psychischen Gleichgewichts aufgefasst werden kann, ist Traditionsgut in vielen außereuropäischen Medizinschulen, besonders in der chinesischen. Die europäische Medizin ist dabei, sich dieses Wissen anzueignen.

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Der wesentliche Sinn der Krankheit besteht in der Annahme, dass der Mensch sich in einem dynamischen und daher sehr labilen Gleichgewicht befindet, das ständig durch seine Initiative, durch die Realisierung seiner Freiheit aufrechterhalten werden muss. Dabei sind eine Reihe von Gegensätzen auszubalancieren. Der Mensch hat nicht nur äußere Gegensätze wie Tag und Nacht, Winter und Sommer, Trockenheit und Regenzeit zu bewältigen, sondern auch Gegensätze wie den von Mann und Frau, von männlichen und weiblichen Anteilen in ihm selbst, von Yin und Yang, von alt und jung. Immer dann, wenn die Balance einmal nicht gelingt, tritt eine Über- oder Unterdosierung einer bestimmten Substanz beziehungsweise von Energie auf, die Schwäche und Mangelerscheinungen zur Folge hat. Viele Ärzte sprechen bei Konflikt- oder Stresssituationen von solchen Störungen des Gleich-gewichtes.Diese Auffassung hat auch eine gewisse Nähe zur nächsten Dimension, nämlich zur schon erwähnten Krankheit als Schuld. Auch die Schuld ist eine Form, wie in dem Sozialgebilde etwas aus dem Gleichgewicht gekommen ist. Der Arzt tritt in diesem Zusammenhang als Hüter der Ordnung, als Hüter des Gleichgewichtes auf. Er kennt auch jene Maßnahmen, mit deren Hilfe es möglich ist, das Gleichgewicht wieder auszubalancieren. Krankheit hat allerdings hier einen sehr starken positiven Bezug. Sie führt dazu, eine aus dem Gleichgewicht geratene Lebenssituation wieder einzubalancieren, und die Funktion des Arztes besteht zunächst darin, die Situation akzeptieren zu helfen. Wird die Störung des Gleichgewichtes insbesondere mit einer großräumigen Stö-rung des Sozialgebildes oder gar der kosmischen Ordnung in Zusammenhang gebracht, dann zeigt sich die eigentliche Priester-funktion des Arztes, der den Zusammenhang mit der größeren Ordnung herstellen kann.Punkt 9: Krankheit als Schuld und die entsprechende Rolle des Arztes als Richter wurde schon ausgeführt.Punkt 10: Eine wichtige Funktion haben die Ärzte bei der letzten von uns angeführten Dimension der Krankheit, die für die Bewältigung der Todesangst steht. Zunächst stellt der Versuch, Alter in Krankheit umzufunktionieren, eine Erleichterung für den alten Menschen dar. Denn Krankheit ist heilbar, Alter aber nicht. Der Mensch gewinnt Hoffnung auf Besserung des Zustandes. Langsam wird ihm aber der Arzt beibringen müssen, dass hier ein Alterungsprozess vorliegt, der irreversibel ist. Stellt der Arzt dies zu früh fest, verliert er die Zuneigung und das Vertrauen des Patienten; stellt er es zu spät fest, versäumt er vielleicht kostbare Zeit, in der der Patient noch lernen kann, den Alterungsprozess zu akzeptieren. Der Arzt ist hier in der Rolle des Totenrichters: er entscheidet, ab wann welche Therapie für den alternden Menschen noch

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sinnvoll ist und welche nicht, und letztlich muss er auch entscheiden, wie weit nicht der Tod diesem Leben vorgezogen werden muss.“

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3. AttributionsfehlerBei der Zuordnung von Ursachen besteht die Tendenz, den Einfluss dispositionaler Faktoren, wie Persönlichkeitseigenschaften, Einstellungen und Meinungen, auf das Verhalten anderer systematisch zu überschätzen und äußere Faktoren wie zum Beispiel situative Einflüsse, zu unterschätzen. Das liegt wahrscheinlich daran, dass wenn wir die Ursache für das Verhalten eines Menschen ergründen wollen, wir unsere meiste Aufmerksamkeit auf diesen Menschen richten. Attributionsfehler werden schnell, unbewusst und automatisch begangen. Nur wer Zeit hat und motiviert ist, schaltet von intuitiven Erfassen um auf bewusstes, kontrolliertes Denken und stellt die interne Attribution in Frage. Doch selbst dann unterliegen wir weiteren Urteilsverzerrungen. Eine davon liegt in der Ankerheuristik2. Sie führt dazu, dass wir in der Gegenwart nicht objektiv urteilen, sondern lediglich die erste Fehleinschätzung etwas in Richtung externer Einflüsse verschieben - meist jedoch nicht weit genug. Weiter konnte gezeigt werden, dass im Blickfeld auffällige Objekte einen großen Einfluss darauf haben, welche Ursachenzuschreibungen wir vornehmen. 3 Grundsätzlich kann davon ausgegangen werden, dass wir stark daran interessiert sind, unser Selbstwertgefühl gegen Bedrohungen zu schützen. Ein Weg besteht darin, eigene Erfolge eher intern, Misserfolge eher extern zu attribuieren, insbesondere wenn keine Hoffnung auf Leistungsverbesserung besteht. Diese Art Attributionsfehler wird auch selbstwertdienliche Verzerrung (self-serving bias) genannt.

2 Die Tatsache, dass Menschen bei bewusst gewählten Zahlenwerten von momentan vorhandenen Umgebungsinformationen beeinflusst werden, ohne dass ihnen dieser Einfluss bewusst wird. Die Umgebungsinformationen haben Einfluss selbst dann, wenn sie für die Entscheidung eigentlich irrelevant sind. Es handelt sich also um eine Urteilsheuristik, bei der sich das Urteil an einem willkürlichen „Anker“ orientiert. Die Folge ist eine systematische Verzerrung in Richtung des Ankers. Zwei Beispiele: - Versuchspersonen sollten schätzen, wie groß der höchste Riesenmammutbaum ist. Die Hälfte der Gruppe,

die 1200 ft. als Anker bekommen hatte, schätzte durchschnittlich 844 ft.; die andere Hälfte, deren Ankerzahl 180 ft. war, schätzte durchschnittlich 282 ft. Differenz der Schätzwerte: 562; Differenz der Ankerzahlen: 1020; Quotient: 0,55; Ankerindex: 55 %.

- Besucher des Exploratoriums wurden gefragt, wie viel Geld sie zur Rettung von Seevögeln bei einer Ölpest spenden würden. Eine Gruppe erhielt die Ankerzahl 5 (verpackt in die Frage „Wären Sie bereit, $5 zu geben?“); diese Gruppe wollte durchschnittlich $20 geben. Eine andere Gruppe erhielt den Anker 400; diese Gruppe wollte durchschnittlich $143 geben. Berechnung: (143 - 20) : (400 - 5) = 0,31 → Ankerindex 31 %.

3 Taylor und Fiske (1975): Sie platzierten Beobachter so um zwei diskutierende Akteure, dass sie entweder nur dem einen, nur dem anderen oder beiden gleich gut ins Gesicht sehen konnten. Wer nur einen Akteur sehen konnte, beschrieb ihn anschließend als denjenigen, der die Gesprächsthemen bestimmt und die Diskussion dominiert habe

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Dazu gehört auch, dass wir, um auf andere Menschen einen guten Eindruck zu machen bei der Nachfrage nach den Ursachen für einen Erfolg oder Misserfolg, mit selbstwertdienlichen Attributionen antworten.

4. Christliche Deutungen von Krankheit und TodVor oder parallel zum Judentum wurden bereits im orientalischen wie griechischen Altertum Krankheit und Elend mit Schuld und Strafe in Verbindung gebracht. Wie in vielen anderen Weltkulturen wurden Krankheiten als Geisel angesehen, verursacht von bösen Geistern oder erzürnten Göttern. Um heil zu werden, wurden Gebete gesprochen, Opfer dargebracht und Exorzismen praktiziert. Auf diese Weise sollten die bösen Geister ausgetrieben und die Vergebung der Götter durch Bitten und Opfer erbeten werden.

4.1. TheologischGemäß eines angenommenen Tun-Ergehens-Zusammenhanges, wird körperlich sichtbares Leiden in der Regel mit dem Verhalten des Leidenden in Beziehung gesetzt. Religiöse Deutungsmuster verstehen dabei Krankheiten als selbstverschuldete Folgen von begangenen Sünden. Diese im Alten Orient verbreitete Auffassung, findet sich auch im Alten Testament: „Es ist nichts Gesundes an meinem Leibe wegen deines Drohens und nichts Heiles an meinen Gebeinen wegen meiner Sünde“ (Ps 38, 4). Die rationale Medizin der Antike allerdings distanziert sich entschieden von solcherart religiöser Deutung von Krankheit. Nach ihrem Verständnis haben Krankheiten keinen heiligen oder gar göttlichen Ursprung, sondern alles wird entsprechend den Naturgesetzen hervorgebracht. Freilich sind, und das zeigt nicht nur der sogenannte Hippokratische Eid, im antiken Bewusstsein ärztliche Kunst und göttliche Tradition eng verbunden.Im Gefolge der antiken und der modernen naturwissenschaftlichen Medizin wurden Krankheiten später dann als natürliche Prozesse innerhalb der Schöpfung verstanden. Prozesse, die aber – wie die Krankenheilungen Jesu verdeutlichen – gerade nicht dem Willen des Schöpfers entsprechen. Gerade die ärztliche Zuwendung Jesu zu den Kranken verdeutlicht, dass im Kampf gegen die Krankheit Gott nicht strafend auf Seite der Krankheit, sondern zuwendend auf Seite des Kranken steht. Eine vergleichbare Haltung findet sich in der Theologie des 20. Jahrhunderts bei Karl Barth. Er greift zurück auf die dämonologische Deutung von Krankheit bei Lukas und schlägt vor, Krankheit als „ein

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Moment des Aufstandes des Chaos gegen Gottes Schöpfung“ zu verstehen.4 Angemessen erscheint ihm diese Deutung deshalb, weil sie zum einen festhält, dass wir es bei der Krankheit mit einer uns bedrohenden Macht zu tun haben, zum anderen die Sinnlosigkeit der Krankheit verdeutlicht. Der Widerstand, den die Krankheit eines Menschen seiner Gesundheit entgegensetzt, ist eben keineswegs ein Widerstand, an dem er wachsen soll, sondern ein sinnloser, den es zu überwinden gilt. „Gott will das nicht, was den Menschen plagt, quält, stört und zerstört“.5 Die dämonologische Deutung von Krankheit verdeutlicht, dass es in der Welt naturale Prozesse gibt, die sinnlos sind.

4.1.1. Altes Testament Im Alten Testament wird ein Tun-Ergehen-Zusammenhang nicht mono-kausal verstanden. Vorherrschend ist die Vorstellung, dass der Mensch sich durch sein Tun eine krankmachende Sphäre schafft. Eine Sphäre, die für ihn Heil und Unheil wirkt und damit den Verlust des Gesundseins. Und so kann sich diese Sphäre auf den einzelnen wie auch auf die Gesamtheit der Familie und des Volkes ausdehnen. Auf diese Weise kann die Tat eines einzelnen, Konsequenzen für das ganze Volk haben. Mit dem babylonischen Exil (586-536 v.Chr.) schwächt sich das kollek-tive Denken ab und ein individuell ausgerichtetes Denken breitet sich aus. Die genannten Grundüberzeugungen Israels werden nun auf Ein-zelpersonen übertragen. Im Laufe der Zeit führt das zu einer Individualisierung des Gesundheitsverständnisses, so dass sich der Tun-Ergehen-Zusammenhang im Leben des einzelnen bewahrheiten muss. Das allerdings schafft neue Probleme, weil einfache Schuld-Krankheit-Verbindungen die Entstehung von Leid und Krankheit nicht erklären können. Es sind die Bücher Hiob und Kohelet, die diese Einsicht kritisch aufnehmen. Im Weisheitsbuch des Jesus Sirach (etwa 180-170 v. Chr. verfasst) findet sich - in religiöser Sprache formuliert - eine ganzheitliche Sicht-weise von Kranksein und Gesundwerden (Jes Sir 37,27-31). Alle Aspekte einer ökologischen Sichtweise von Gesundsein und Kranksein treffen wir dort bereits an:Vers 27 »Mein Sohn, prüfe dich ob deiner Lebensweise, beobachte, was dir schlecht bekommt, und meide es!« Dies heißt: Überprüfe deine Lebensdiätetik, also die Lebensweise. Entwickle eine Sensibilität für die Grenzen und Möglichkeiten deines Organismus und seines Lebens-systems.

4 KD III/4, 4175 KD IV/2, § 64, 249

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Vers 28 »Denn nicht alles ist für alle gut, nicht jeder kann jedes wählen.« Jedes Lebenssystem besitzt also seine Individualität, d.h. seine Oiko-Logik und Oiko-Dynamik. Nur in Stimmigkeit mit diesen Realitäten ist Leben möglich.Vers 29 »Giere nicht nach jedem Genuss, stürze dich nicht auf alle Leckerbissen!« Achte auf die Grenzen, überfordere dein organismisches System nicht.Vers 30 »Denn im Übermaß des Essens steckt die Krankheit, der Unmäßige verfällt heftigem Erbrechen.« Überforderung des biologischen Systems führt zum schweren Defekt bis hin zur Krankheit.Vers 31 »Schon viele sind durch Unmäßigkeit gestorben, wer sich beherrscht, verlängert sein Leben.« Das System kollabiert, wenn der Mensch sich nicht diätetisch, balancierend zwischen seinen Möglich-keiten und Grenzen verhält. Krankheit wird somit im wesentlichen als Folge einer verfehlten Lebens-Diätetik, d.h. einer verfehlten Lebenswei-se entsprechend der Oiko-Logik und der Oiko-Dynamik gesehen.Auf die Gesamtheit des Alten Testamentes bezogen, lassen sich fünf Erklärungsmuster finden:

1. Krankheit als Strafe für SchuldPsalm 41,5. Heile mich, denn ich habe gesündigt!“Das grundlegende Erklärungsmuster aller altorientalischen und somit auch alttestamentlichen Leidens- (und damit auch Krankheitsdeutungen) ist, dass ein Zusammenhang von Tun und Ergehen angenommen wird und zwar in der Weise, dass jedem Ergehen ein ursächlicher Grund in einem zurückliegenden Tun zugeschrieben wird. Problematisch wird dieses Erklärungsmuster dann, wenn der unterstellte Zusammenhang nicht aufgeht (siehe Hiob). Es wurde somit notwendig noch andere Erklärungen zu finden.

2. SchuldübertragungSchon sehr früh in der Menschheitsgeschichte werden generationsübergreifende Zusammenhänge hergestellt.6 Ein exemplarisches Beispiel findet sich bei Jer 14,20: „ Wir erkennen, Herr unser Unrecht, die Schuld unserer Väter: Ja, wir haben gegen dich gesündigt.“

3. Krankheit als Prüfung und ReifungEine der möglichen Antworten nach dem Sinn von Krankheiten oder Behinderungen lag im Judentum in der Vorstellung, beides sei eine

6 Götze, A., Die Pestgebete des Mursilis, in KAF 1 (1929) 161-251.

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Prüfung für den gläubigen Menschen, so im Hiob-Buch oder in Sprüche 3,11ff, wo es heißt: "Mein Sohn, verwirf die Zucht des Herrn nicht und sei nicht ungeduldig, wenn er dich zurechtweist; denn wen der Herr liebt, den weist er zurecht, und hat doch Wohlgefallen an ihm wie ein Vater am Sohn....“ Weiter auch Ez 18,2: „Die Ahnen essen sauere Trauben und den Erben werden die Zähne stumpf!“Durch die Krankheit soll so der Glauben zu Gott auf die Probe gestellt werden und sich bewähren. Aber auch diese Vorstellung ist nur das gedankliche Produkt einer bestimmten Zeit.Letztendlich findet Hiob nach unschuldigem Leiden zu einem neuen, vertieften Glauben.

4. nach dem Tod wird ein Ausgleich erwartetLetztendlich kennt auch das Alte Testament keine endgültige Antwort auf die Frage nach dem Sinn schwerer Krankheiten. Was am Ende bleibt, ist die Hoffnung auf die Vorläufigkeit schweren körperlichen und seelischen Leidens, die Zuversicht, dass in Gottes neuer Welt alles ganz anders sein wird. Von dieser Hoffnung spricht der Prophet Jesaja, wenn Gott durch ihn sagen lässt (65, 17ff): „Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird…Man soll… nicht mehr hören die Stimme des Weinens noch die Stimme des Klagens. Es sollen keine Kinder mehr da sein, die nur einige Tage leben, oder Alte, die ihre Jahre nicht erfüllen, sondern als Knabe gilt, wer hundert Jahre alt stirbt …“.

5. Die Verweigerung einen Zusammenhang zum eigenen Verhalten herzustellen

Es gibt eine Reihe von Bespielen, in denen der Beter zwar sein Leid beklagt aber Vertrauensbekenntnis, Bitte und Schuldbekenntnis Gott gegenüber verweigert. So z.B. in Psalm 88 in dem Gott als Verursacher angesehen und angeklagt wird: 2 HERR, Gott, mein Heiland, ich schreie Tag und Nacht vor dir. 3 Laß mein Gebet vor dich kommen; neige deine Ohren zu meinem Geschrei. 4 Denn meine Seele ist voll Jammers, und mein Leben ist nahe dem Tode. 5 Ich bin geachtet gleich denen, die in die Grube fahren; ich bin ein Mann, der keine Hilfe hat. 6 Ich liege unter den Toten verlassen wie die Erschlagenen, die im Grabe liegen, deren du nicht mehr gedenkst und die von deiner Hand abgesondert sind. 7 Du hast mich in die Grube hinuntergelegt, in die Finsternis und in die Tiefe. 8 Dein Grimm drückt mich; du drängst mich mit allen deinen Fluten. (Sela.)   9 Meine Freunde hast du ferne von mir getan; du hast mich ihnen zum Greuel gemacht. Ich liege gefangen und kann nicht

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herauskommen. 10 Meine Gestalt ist jämmerlich vor Elend. HERR, ich rufe dich an täglich; ich breite meine Hände aus zu dir. 11 Wirst du denn unter den Toten Wunder tun, oder werden die Verstorbenen aufstehen und dir danken? (Sela.) 12 Wird man in Gräbern erzählen deine Güte, und deine Treue im Verderben? 13 Mögen denn deine Wunder in der Finsternis erkannt werden oder deine Gerechtigkeit in dem Lande, da man nichts gedenkt? 14 Aber ich schreie zu dir, HERR, und mein Gebet kommt frühe vor dich. 15 Warum verstößest du, HERR, meine Seele und verbirgst dein Antlitz vor mir? 16 Ich bin elend und ohnmächtig, dass ich so verstoßen bin; ich leide deine Schrecken, dass ich fast verzage. 17 Dein Grimm geht über mich; dein Schrecken drückt mich. 18 Sie umgeben mich täglich wie Wasser und umringen mich miteinander.

4.1.2. Neues TestamentDie religiöse Interpretation von Gesundheit und Krankheit, die im Licht der Botschaft des Neuen Testaments entstand, sucht zwei Extreme zu vermeiden, denen das religiöse Krankheitsverständnis im Laufe seiner Geschichte oftmals erlegen ist. So will sie weder die Gesundheit als den höchsten Wert und das immanente Ziel des Lebens ansehen noch die Krankheit als eine äußerste Bedrohung fürchten, die alle Möglichkeiten der Sinnfindung menschlichen Daseins zunichte macht. Ebenso wenig verfällt sie jedoch dem anderen Extrem der Mystifizierung des Leidens, die die Krankheit verklärt oder ihr gar einen eigenständigen Erlösungswert zuschreibt. Dem christlichen Glauben erscheinen vielmehr beide, Gesundheit und Krankheit, als ineinandergreifende Wegabschnitte des irdischen Menschen, die ihn in verschiedener Weise auf seine eigentliche Bestimmung und sein letztes Ziel verweisen. So hat der christliche Glaube für Krankheiten grundsätzlich andere als die bis dahin gültigen Deutungen gefunden. Aus christlicher Sicht widersprechen Krankheiten der Schöpfungsabsicht Gottes. Tertullian bezeichnet sie als „res contra naturam“. Zum Teil werden Krankheiten im N.T. auf den Einfluss dämonischer Mächte oder auf natürliche Ursachen zurückgeführt. Bei aller Veränderung wird dabei nicht völlig ausgeschlossen, dass mitunter ein Gerichtszusammenhang zwischen Sünde und Krankheit vorliegen kann. (Mt 12,22ff par; Lk 13,16; J 5,14; R 8,20; 1 K 11,30; Apk).

4.1.2.2. Jesus Jesus, wie er uns in den Schriften des N.T. bezeugt wird, durchbricht und ersetzt das rein mechanische Vergeltungsdogma, wie es ihm in der zeitgenössischen Tradition vorlag. Als er von Pharisäern gefragt wird, ob

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ein Blinder selbst oder seine Eltern gesündigt haben, sagt er: „Weder er noch die Eltern.“ (Joh 9, 1-12)19 Hier korrigiert Jesus die Verbindung von Krankheit und Sünde ausdrücklich. Auf die Frage der Jünger nach den Verursachern der Krankheit antwortet Jesus: »Weder er noch seine Eltern haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar werden« (J 9,13). Damit ist eine deutliche Kritik am Tun-Ergehens-Zusammenhang eines bestimmten alttestamentlichen Denkens verbunden. In der Regel erklärt und deutet Jesus nicht, sondern spricht Kranken Vergebung und Heilung zu (Mk 2,5ff par).Es darf davon ausgegangen werden, dass Jesus mit seiner letzten Vaterunser-Bitte: »Apo tou ponerou« (»Von dem Bösen« Mt 6,13 diff; Lk 11,4) nicht bloß »der« oder »das« Böse im theologischen Sinne gemeint ist, sondern hier umfassend jene Elemente eingeschlossen hat, die dem Glaubenden das Leben zur Mühsal machen. Die Botschaft, die Jesus jenen bringt, die leiden und krank sind, ist im Gleichnis vom Reichen Mann und Armen Lazarus zusammengefasst: Sie werden gebettet sein in Abrahams Schoß und Trost erfahren für alle Zeit (vgl. Lk 16,19-31). Damit wird das gegenwärtige Leid in Beziehung zur absoluten Zukunft des Menschen in der Gemeinschaft mit Gott gesetzt und dadurch relativiert. In seinem Schicksal lebt Jesus ein Beispiel der persönlichen Bewältigung von Leid und Tod und damit des Krankseins aus innerster Verbindung mit Gott exemplarisch vor.

4.1.2.1. Paulus Die Verkündigung des Paulus ist geprägt von der Botschaft des Kreuzes und der Auferstehung Jesu. Durch diese »Brille« sieht er die Existenz des Menschen. Daraus resultiert die teleologische Sicht von Krankheit und Leid, die so mögliche positive Zukunftssicht setzt Lebensenergien frei und bindet sie nicht wie es die kausale Sichtweise von Kranksein, Leid und Schuld tut.

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4.1.2.3. DämonenEs ist interessant, dass Lukas, der Epilepsie im Sinne der antiken rationalen Medizin versteht und die Heilung des epileptischen Jungen dem ärztlichen Handeln Jesu zuschreibt, in seiner Erzählung dennoch einen Dämon erwähnt: „Jesus aber bedrohte den unreinen Geist und machte den Knaben gesund“ (Lk 9,42). Eine Interpretation dieses Verses muss sich der Doppeldeutigkeit des Begriffes „Pneuma“ bewusst bleiben: Der unreine Geist kann sowohl auf eine dämonische Krankheitsinterpretation verweisen als auch im Sinne der rationalen Medizin als unreine Luft verstanden werden. Deutet man den unreinen Geist als Dämon, wird der Kranke von der Verantwortung für seine Krankheit entlastet. Dies tut Lukas, indem er die Krankheit als Dämon und damit als ansprechbare Person darstellt. Er unterscheidet also zwischen der Person und der Krankheit, die den Menschen gleichsam von außen überfällt. Die Ursache der Krankheit ist nicht im Kranken und dessen vermeintlichen Sünden zu suchen – sie muss als fremdverursacht verstanden werden. Damit ergibt sich der paradoxe Sachverhalt, dass durch die Einführung eines Dämons die Krankheit entdämonisiert werden soll. Vor diesem Hintergrund erschließt sich die Doppeldeutigkeit des Begriffs Pneuma als bewusst gewollt.

4.1.3. TraditionDas frühe Christentum entwickelte sich im Spannungsfeld von religiöser Krankheitsdeutung, rationaler Medizin und religiöser Heiltradition. Wie bereits ausgeführt, wird im Neuen Testament die religiöse Deutung von Krankheit zunächst explizit abgelehnt. Auf dieser Grundlage griff das frühe Christentum Einsichten der rationalen Medizin der Antike auf. Insbesondere im Lukasevangelium finden sich dafür zahlreiche Bezüge. In der Erzählung von der Heilung des Jungen mit den epileptischen Phänomenen (Lk 9,37-43) korrigiert Lukas beispielsweise die vor dem Hintergrund antiker Medizin nicht kohärente Schilderung des Markusevangeliums (Mk 9,14-29): Jesus wird von Lukas als Arzt präsentiert. Anders als in seiner markinischen Vorlage, in deren Zentrum ein Exorzismus steht, spricht Lukas bewusst von „iasato“, was mit „sich kümmern um“ und „ärztlich behandeln“ übersetzt werden sollte. Im Corpus Hippocraticum ist „iasato“ Kennzeichen für einen guten Arzt.

4.1.3.1 Reformation (Luther)Martin Luther bewegt sich im breiten Strom der mittelalterlichen Tradition und knüpft dabei an Augustins Krankenverständnis an, der Krankheit vornehmlich als Folge der Erbsünde versteht. Nach diesem Verständnis

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müssen Krankheiten nicht die direkten Folgen von individuell begangenen Sünden sein, sondern lassen sich zurückzuführen auf den „status corruptionis“ in dem sich die ganze Menschheit befindet. In den Fokus seiner Zuwendung zum Kranken stellt er dann nicht die Auseinandersetzung mit der individuellen Schuld sondern den Zuspruch der Versöhnung. So schreibt er im „Sermon von der Bereitung zum Sterben“: „Die sund wechst und wirt groß auch durch yhr zuvill ansehen und zu tieff bedenken.“7

Zusätzlich kann Luther Krankheiten auch als einen Angriff des Teufels verstehen, wobei dieser von ihm nicht als ein eigenständiges Kraftzentrum sondern als ein von Gott zugelassenes Instrument verstanden wird.8

4.1.3.2 Bonhoeffer - Teilhabe am Leiden GottesBonhoeffer beschreibt Krankheit und Leiden als ein „Hineingerissenwerden in das messianische Leiden Gottes in Jesus Christus“9. So auch in der Strophe 2 im Gedicht Christen und Heiden – „Christen stehen bei Gott in seinem Leiden“

4.1.4. Folgerungen für theologische Krankheitsdeutungen heuteEs gibt bestimmte Krankheitsdeutungen, die sich aus christlich-theologischer Sicht erst einmal nur durch ausschließende Aussagen beschreiben lassen:- „Krankheiten lassen sich nicht als Strafe Gottes für eigene Sünden,

also für persönliches Schuldigwerden an Gott und den Mitmenschen deuten. Wer dieses Krankheitsverständnis vertritt, wendet sich gegen die Texte des Neuen Testamentes.“10

- Krankheit ist keine von Gott auferlegte Probe der Glaubensstärke.- Kranke Menschen sind keine Beispiele an denen die Gesunden

erkennen sollen, wie schön doch ein gesundes Leben ist.- Krankheiten sind keine Chancen, die dem Menschen für neue

Einsichten öffnen wollen. (Wer das behauptet, stellt sich auf die Seite der Freunde Hiobs.) Das schließt nicht aus, das sich dem Leidenden neue Einsichten eröffnen – aber es ist eben nicht deren Absicht.

Krankheit wird in den biblischen Texten als Übel verstanden und es ist falsch zu behaupten, die Krankheit als solche hätte einen Sinn und

7 WA 2, 6878 WA TR 1 Nr. 1579 WE 8.Aufl. 1958 S.245 10 Stephan Schaede: Zur Relevanz alter und uralter Krankheitsdeutungen in: Krankheitsdeutungen in der postsäkularen Gesellschaft, S.306

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selbst wenn es ein noch verborgener wäre. Krankheiten fordern stattdessen zum (heilenden) Handeln heraus und zur Solidarität (Empathie) mit dem Leidenden.

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4.2. christliche Lebenswirklichkeit Nicht unabhängig aber doch in weiten Teilen unterschieden von biblischen Quellen und theologischen Überlegungen, werden im christlichen Alltag Zuordnungen hergestellt. Wichtige Einflussfaktoren für diese, stellen neben der grundsätzlichen Verfasstheit des Menschen (siehe Attributionsfehler) die Inhalte und Haltungen dar, die in den verschiedenen Formen christlicher Vergegenwärtigung vermittelt werden. Dabei sollen hier vor allem beispielhaft Liturgie, Lieder und Verkündigung betrachtet werden.4.2.1. Schuldkultur in Liturgie, Liedern und VerkündigungDer Gottesdienst mit seiner Liturgie, den Liedern und der Verkündigung ist der Ort, in der die Haltungen und Einstellungen der Gottesdienstbesucher wesentlich sowohl direkt als auch indirekt beeinflusst und geprägt werden. Nach protestantischem Verständnis ist der Gottesdienst ein Dienst Gottes am Menschen. Demzufolge ist zu erwarten, dass die Gottesdienstbesucher hier vor allem gestärkt und aufgerichtet werden. Die Realität, so beschreibt es der Praktische Theologe Winfried Engelmann, sieht allerdings nicht selten ganz anders aus: „Zum Problem werden Gottesdienste u. a. dadurch, dass sie dem Menschen sein Menschsein vorwerfen und ihm nahelegen, vom Repertoire seines Menschseins (wozu z. B. ein eigener Wille gehört) keinen Gebrauch zu machen. Statt ihn in der kritischen Auseinandersetzung mit sich selbst zu stärken, wird er mit billigen Schuldvorwürfen konfrontiert. … Der Gottesdienstbesucher hat sich kaum gesetzt, da wird ihm vorgeworfen, dass es wiederum auf der ganzen Linie nicht gereicht habe, und dass er alles, was er hätte an Gutem tun können, „zu wenig“ getan habe: Er war nicht immer freundlich genug, manchmal sogar unfreundlich. Nicht immer geduldig genug, manchmal sogar ungeduldig. Nicht immer hilfsbereit genug, manchmal sogar abweisend. Er habe vor allem weniger geliebt als er eigentlich hätte können.“11

Das Schuldbekenntnis spielt sowohl in den katholischen als auch in den protestantischen Gottesdiensten eine nicht unwesentliche Rolle. Im Unterschied zur individuellen Beichte hat das Schuldbekenntnis im Gottesdienst einen öffentlichen und gemeinschaftlichen Charakter. Im katholischen Gottesdienst wird es zu Beginn nach der Eröffnung

11 Wilfried Engemann in einem Vortrag, der am 12. September 2011 auf dem XIV. Europäischen Kongress der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie in Zürich gehalten wurde. Veröffentlicht in: Wege zum Menschen, 64. Jg., 239–252, 2012 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen

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gesprochen. In der evangelischen Tradition hat es sich an drei verschiedenen Orten entfaltet:

1. in der Ordnung der Messe als Bußgebet der Gemeinde ganz am Liturgieanfang oder vor der Kommunion; 2. im Predigtgottesdienst nach der Predigt als Antwort der Gemeinde; 3. als selbständiger Beicht-Vorbereitungsgottesdienst vor einer Abendmahlsfeier.

katholisch evangelischIch bekenne Gott, dem Allmächtigen, [der seligen, allzeit reinen Jungfrau Maria, dem hl. Erzengel Michael, dem hl. Johannes dem Täufer, den hll. Aposteln Petrus und Paulus, allen Heiligen,] und allen Brüdern und Schwestern, dass ich Gutes unterlassen und Böses getan habe. Ich habe gesündigt in Gedanken, Worten und Werken durch meine Schuld, durch meine Schuld, durch meine große Schuld. Darum bitte ich die selige Jungfrau Maria, [den hl. Erzengel Michael, den hl. Johannes den Täufer, die hll. Aposteln Petrus und Paulus,] alle Engel und Heiligen, und Euch, Brüder und Schwestern, für mich zu beten bei Gott, unserem Herrn.

Allmächtiger Gott, barmherziger Vater, ich armer elender sündiger Mensch bekenne dir alle meine Sünden und Missetaten, die ich begangen habe in Gedanken, Worten und Werken, womit ich dich erzürnt und deine Strafe zeitlich und ewiglich verdient habe.Sie sind mir aber alle herzlich leid und reuen mich sehr, und ich bitte dich um deiner grundlosen Barmherzigkeit und um des unschuldigen, bitteren Leidens und Sterbens deines lieben Sohnes Jesus Christus willen, du wollest mir armem sündhaften Menschen gnädig und barmherzig sein, mir alle meine Sünden vergeben und zu meiner Besserung deines Geistes Kraft verleihen. Amen.

Zwei Beispiele neuerer Bußgebete:Herr, im Licht deiner Wahrheit erkenne ich, dass ich gesündigt habe in Gedanken, Worten und Werken. Dich soll ich über alles lieben, meinen Gott und Heiland; aber ich habe mich selber mehr geliebt als dich. Du

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hast mich in deinen Dienst gerufen; aber ich habe die Zeit vertan, die du mir anvertraut hast. Du hast mir meinen Nächsten gegeben, ihn zu lieben wie mich selbst; aber ich erkenne, wie ich versagt habe in Selbstsucht und Trägheit des Herzens. Darum komme ich zu dir und bekenne meine Schuld. Richte mich, mein Gott, aber verwirf mich nicht. Ich weiß keine andere Zuflucht als dein unergründliches Erbarmen. (EG 800) Ich bekenne vor dir, mein Gott:Ich vergesse dich oft. Oft glaube ich nicht, dass du mich siehst. Ich höre nicht, wenn du mich rufst. Vor deinem Urteil kann ich nicht bestehen. Darum bitte ich dich: Gott, sei mir Sünder gnädig.Ich bekenne vor dir, mein Gott:Ich bin nicht so, wie du mich haben willst. Ich täusche andere. Ich denke schlecht von anderen und rede über sie. Ich übersehe ihre Not und drücke mich, wo ich helfen sollte.Darum bitte ich dich: Gott, sei mir Sünder gnädig.Ich bitte dich, mein Gott:Laß mein Leben nicht verderben, bringe es zurecht. Richte mich auf, wenn ich den Mut verliere. Rette mich, wenn ich verzweifle. Hilf mir, deiner Gnade zu vertrauen. (EG 801)

5. Die Deutungen von PatientenDa Menschen den unterschiedlichsten Einflüssen unterliegen ist es nicht verwunderlich, wenn sich in der alltäglichen Praxis eine Mischung ganz unterschiedlicher Zuordnungen finden. Da subjektive Krankheitstheorien aus mindestens drei (subjektiven) Quellen gespeist werden, müssen sie verständlicherweise ganz unterschiedlich gefärbt sein.

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Als Seelsorger stoße ich in meinen Gespräche immer wieder vor allem auf sechs Deutungsmuster. So wird Krankheit verstanden als ein Weg:

1. der Reparatur, 2. der Bestrafung, 3. der Heimkehr, 4. der Annahme, 5. des legitimen Rückzugs und der ersehnten Annerkennung 6. des Widerstands und Ergebens.

Dabei ist es natürlich so, dass es immer wieder Weggabelungen oder Richtungsänderungen auf den eingeschlagenen Wegen geben kann.

Beispiele aus dem AlltagZu 2. ein Weg der Schuld und StrafeHerr B. interpretiert seine autoimmune Erkrankung als Protest seines Körpers über eine außereheliche Beziehung von der er sich nicht befreien kann, die aber droht, ihn seelisch zugrunde zu richten. Sein Körper straft ihn. Frau C. meint selbst schuldig an ihrem unheilbaren, zerstreuten Hautkrebs zu sein, weil sie über die Jahre zu viel „in sich hineingefressen" hat, anstatt ihren Problemen mit psychischer Stärke stand zu halten. Ihre Psyche, ihre Seele straft sie. Frau D. dagegen fürchtet, dass ihr Brustkarzinom eine verspätete Strafe Gottes ist für eine vor dreißig Jahren vollzogene Abtreibung. Gott straft sie dafür. Auf diesem Weg wird Krankheit als das Resultat psychischer oder moralischer Verfehlungen gesehen, wofür man sich nur selbst schuldig sprechen kann.

Zu 3. ein Weg der Heimkehr, Besonders hochbetagte, „lebenssatte" Patienten beschreiben ihre Krankheiten als den letzten Weg oder den Heimweg am Ende eines erfüllten Lebens. Krankheit deuten sie dabei als einen Weg, der zur Erlösung führt. „Meine Krankheit bringt mich auf den Weg, den jeder irgendwann gehen muss".

Zu 4. ein Weg der AnnahmeFrau F. findet keine Zusammenhänge in einem Deutungsversuch, weil sie keine Zusammenhänge sucht. „Mir bringt es nichts darüber nachzudenken" behauptet sie. „Die Krankheit ist da und ich muss durch." Dieses fatalistische Schema sieht Krankheit als einen negativ wirkenden Schicksalsschlag. Andersrum, ohne Bitterkeit, sondern von einer

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positiven Demut geprägt, haben andere Patienten es schlichtweg nicht nötig eine Krankheit zu deuten. „Ich hab' sie, halt. So ist es."

Zu 5. ein Weg des legitimen Rückzugs und der ersehnten Annerkennung Frau H., Ende vierzig, arbeitete in leitender Stellung auf einer hohen, verantwortungsvollen Position mit Entscheidungsbefugnis über den weiteren beruflichen Werdegang von vielen Menschen. Nach zahllosen Überstunden und zunehmenden Arbeitsaufwand angesichts betrieblicher Kürzungen, wünschte sie sich heimlich eine Krankheitsphase, als akzeptablen Ausweg aus einer Situation, aus der sie ihr Pflichtbewusstsein sonst nicht entkommen lässt. Ihre Krebsdiagnose übersteigt, auf verheerende Art und Weise, ihre innersten Wünsche. Doch bekommt sie dadurch eine Sabbat-Erlaubnis, die sie sich selbst hätte nicht gönnen können.

Zu 6. ein Weg des Widerstands und ErgebensGehadert mit und gelästert über Gott und Glauben hat Herr G., ein 45-jähriger Leukämie-Patient. Er meint in jeder Hinsicht aufrecht gelebt zu haben und deswegen unverdient von Gott verlassen zu sein. Wenn es überhaupt einen Gott gäbe, dann verfluche er ihn, meint, an einem Tag Herr G. Beim nächsten Besuch beteten wir gemeinsam um Gottes Hilfe und Heilung Hin und her, auf und ab ging es bei Herrn G. einige Wochen lang; ein Wechselbad des Dagegen-Kämpfens und des Loslassens, des Ringens und Sich-Segen-Lassens (wie bei Jakob am Jabok). Seine Krankheit hat er als eine Sinnlosigkeit gedeutet, doch über dem Sterbebett dieses wütenden, verzweifelten Familienvaters hing bis zum Schluss die einfache Skizze eines Engels. Seine Krankheit war wie ein Kampf mit einer verkörperten Sinnlosigkeit, die ihn nicht nur zu Tode verletzte, sondern ihn auch zu einer vertieften Spiritualität führte. In diesem Sinn kann eine Krankheit auch ein Aufruf zum Aufbruch und zur Wandlung sein.

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5. Islamische Deutungen von Krankheit und Tod 5.1. GESUNDHEIT, KRANKHEIT UND HEILUNG5.1.1. MENSCHENBILD Dem Koran zufolge ist Gott der Schöpfer und der Mensch das Geschöpf. Der Mensch wurde in idealer Gestalt erschaffen und mit den besten Weisungen Gottes versehen (Sure 95/4). Als Gott den Menschen erschuf, hauchte er ihm seinen Geist ein (Sure 15/28-9; Sure 38/71-2). Diese Erschaffungsart verleiht zwar dem Menschen einen Sonderstatus unter den Geschöpfen, daraus wird aber keine Gott-Ebenbildlichkeit des Menschen wie in der christlichen und jüdischen Theologie abgeleitet. Der Koran sagt: „Und niemand ist Ihm (Gott) gleich (ebenbürtig).“ (Sure 112/4; vgl. auch Sure 42/11). Die Nähe Gottes zum Menschen und die ontologische Gebundenheit des Menschen an Gott wird im Koran folgendermaßen ausgedrückt: „Wir haben doch den Menschen erschaffen und wissen, was seine Seele ihm einflüstert, und Wir sind ihm näher als die Halsschlagader.“ (Sure 50/16) Der Mensch gilt auf der Erde ‚Statthalter Gottes’ (khalīfa) und nimmt bei Gott unter den Geschöpfen einen hohen Rang ein (Sure 17/70). Seine hohe Stellung bei Gott erhält er demnach, indem er das ihm von Gott anvertraute Gut annimmt. Mit diesem anvertrauten Gut sind unter anderem die von Gott auferlegten Verpflichtungen und Verantwortungen gemeint. Nachfolger bzw. Statthalter Gottes (khalīfa) und Diener Gottes (abd) zu sein, bestimmt damit die Stellung des Menschen auf der Erde. Die lexikalische Definition von Islam ist die völlige Ergebung des Menschen in den Willen Gottes ist, und somit hat der Mensch seine Stellvertreterposition als Diener Gottes zu erfüllen. Als Diener Gottes soll der Mensch sich hier auf der Erde bewähren. Deswegen wird er auch verschiedenen Prüfungen ausgesetzt: „Er (Gott) hat den Tod und das Leben erschaffen, um euch zu prüfen, wer von euch am besten handelt. Und Er ist der, der mächtig und voller Vergebung ist.“ (Sure 67, Vers 2) Alle Menschen gelten nach muslimischer Lehre vor Gott und dem Recht als gleichgestellt, besitzen Willensfreiheit und sind deswegen für ihre Handlungen verantwortlich. Der Gedanke der Erbsünde ist dem Islam fremd: „Wer der Rechtleitung folgt, folgt ihr zu seinem eigenen Vorteil. Und wer irregeht, der geht irre zu seinem eigenen Schaden. Und keine lasttragende (Seele) trägt die Last einer anderen.“ (Sure 17/15) Im Gottesdienst tritt der Mensch nur seinem Schöpfer gegenüber. Diese Eigenverantwortung des Menschen für seine Taten als Individuum wird in vielen Koranversen betont. Jedoch begegnen wir im Koran einerseits der völligen menschlichen Willens- und Handlungsfreiheit und andererseits der Vorherbestimmung und des Wissens aller Ereignisse

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als ein Resultat der göttlichen Weisheit. Das heißt, der Mensch besitzt keine absolute Freiheit, sondern nur eine partielle Freiheit, die es ihm erlaubt, innerhalb der göttlichen Schöpfung in Freiheit zu handeln und deswegen für seine Handlung verantwortlich zu sein. Jeder Mensch wird – dem Koran und den Aussagen des Propheten Muhammad zufolge – mit der Fähigkeit geboren, an einen Gott zu glauben (fitrat Allâh). Dennoch betont der Koran auch die Religions- und Gewissensfreiheit: „Wer will, möge glauben; und wer will, möge ungläubig sein.“ (Sure 18/29). Die Muslime leiten unter anderem die Menschenwürde (karâmat al-insân) aus der Sure 17, Vers 70 ab, in der es heißt: „Und wahrlich, Wir haben die Kinder Adams geehrt und sie über Land und Meer getragen und sie mit guten Dingen versorgt und sie ausgezeichnet – eine Auszeichnung vor jenen vielen, die Wir erschaffen haben.“ Der Begriff „aschrafu mahluqât“ (Edelste aller Geschöpfe), der für den Menschen benutzt wird, bietet sich ebenfalls für einen synonymen Gebrauch für Menschenwürde an. Zwar befindet sich dieser Begriff nicht im Koran, er prägt jedoch die islamische Geistesgeschichte so sehr, dass er für das Leben einen normativen Inhalt erlangt. Das menschliche Leben gehört im Islam zu den fünf elementaren Gütern (maqâsid asch-scharia), die geschützt werden müssen. Dazu zählen auch: die Religion, der Verstand, die Nachkommenschaft und der Besitz. Als Sozialwesen hat der Mensch seine Pflichten zu erfüllen und Frieden in seiner Gemeinschaft und Umgebung zu stiften. Gegenseitige (innerislamische) Akzeptanz und Toleranz gehören zu den Grundüberzeugungen des Islam. Im Koran heißt es dazu: „O ihr Menschen, Wir haben euch von einem männlichen und einem weiblichen Wesen erschaffen, und Wir haben euch zu Verbänden und Stämmen gemacht, damit ihr einander kennenlernt. Der Edelste (Angesehenste) von euch bei Gott, das ist der Gottesfürchtigste von euch. Gott weiß Bescheid und hat Kenntnis von allem.“ (Sure 49/13)

5.1.2. GESUNDHEITS- UND KRANKHEITSVERSTÄNDNISDas muslimische Gesundheits- und Krankheitsverständnis wird durch bestimmte islamische Quellen und Normen geprägt. Auch wenn sie bei allen Muslimen nicht einheitlich vorzufinden sind, gibt es substantielle Ähnlichkeiten. Hinsichtlich der islamischen Quellen und praktischen Wirklichkeiten lassen sich drei Grundsätze feststellen, die das Krankheits- und Gesundheitsverständnis eines Muslims prägen. Diese Grundsätze sind nicht isolierte theologische Einheiten, sondern sie beeinflussen die konkrete Haltung zu einer Krankheit und die

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Entscheidungen zu den medizinischen Maßnahmen im Krankheitszustand. Im Folgenden werden diese Grundsätze kurz dargestellt: GESUNDHEIT UND KRANKHEIT ALS NATÜRLICHES PHÄNOMEN (EBENE DER NATÜRLICHKEIT)Nach muslimischem Weltbild sind Gesundheit und Krankheit natürliche Phänomene, die sich im menschlichen Leben abwechseln. Gesundheit ist im Sinne eines Freiseins von Schmerzen, von Funktionsausfällen der Körperorgane oder Strukturanomalien für ein substantielles Wohlbefinden wichtig. Der islamische Glaube versteht die Krankheit als ein zur menschlichen Natur gehörendes Phänomen, welches mit Leiden auf unterschiedlichen Ebenen verbunden ist. Im Koran heißt es dazu: „Er [Gott] weiß, dass es unter euch Kranke geben würde.“ (Sure 73/20). Deswegen hebt Gott die religiösen Pflichten, die konstitutive Merkmale des Muslimseins sind, für den Krankheitsfall auf. Denn „Gott will für euch Erleichterung, Er will für euch nicht Erschwernis.“ (Sure 2/185) GESUNDHEIT ALS GOTTESGABE (EBENE DER VERANTWORTUNG)Körper und Gesundheit sind nach islamischem Glauben dem Menschen zur Aufbewahrung gegebene Gottesgaben und daher als zu schützendes Gut zu verstehen. Der Mensch ist Inhaber und Nutznießer, Gott hingegen ihr Eigentümer. Die religiöse Überzeugung, welche die Gesundheit als ein dem Menschen anvertrautes Gut deklariert, impliziert gleichzeitig eine menschliche Verantwortung für deren Erhaltung bzw. Wiederherstellung. Somit ist es eine islamische Pflicht, entsprechende hygienische Maßnahmen zu treffen oder sich den erforderlichen medizinischen Maßnahmen zur Bewahrung bzw. Wiederherstellung der Gesundheit zu unterziehen. Jeder Muslim hat im Jenseits Rechenschaft abzulegen, wie er mit seinem Körper umgegangen ist, was mit Belohnung oder Bestrafung im Jenseits verbunden ist. GESUNDHEIT ALS ERFORDERLICHER ZUSTAND FÜR DIE PFLICHTEN (EBENE DER PFLICHTEN)Der Glaube und die Praxis bilden im islamischen Glauben eine untrennbare Einheit, so dass das Wohlgefallen Gottes als Hauptziel des Muslims erst mit einem auf islamischen Handlungsnormen basierenden Habitus möglich wird. Die körperliche und geistige Gesundheit ist für die Erfüllung der sozialen, ethischen und religiösen Verpflichtungen und somit auch für eine freie Entfaltung der eigenen religiösen Identität eine elementare Bedingung. In einem Ausspruch des Propheten Muhammad wird die Gesundheit in diesem Zusammenhang eindeutig bevorzugt, und es wird empfohlen sie optimal im eigenen Leben zu nutzen:

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„Nutze fünf (Zustände) vor fünf (anderen Zuständen): (Nutze) dein Leben vor deinem Tod, (nutze) deine Gesundheit vor deiner Krankheit, (nutze) deine Freizeit vor deiner Geschäftigkeit, (nutze) deine Jugend vor deinem Greisenalter und (nutze) deinen Wohlstand vor deiner Armut.“ Diese drei Grundsätze gelten nicht als untereinander konkurrierende oder in einer bestimmten Hierarchie stehende Prinzipien sondern sie sollen sich gegenseitig ergänzen.

5.1.3. KRANKHEITSDEUTUNGENNeben den Grundsätzen des muslimischen Gesundheits- und Krankheitsverständnisses fließen auch individuelle Interpretationen und Sinndeutungen von Krankheit für Entscheidungen und Haltungen im Krankheitszustand ein. In der Praxis begegnet man so unterschiedliche Sinndeutungen unter den Muslimen, die sowohl auf die islamischen Hauptquellen als auch auf den Volksglauben zurückgeführt werden können. Aus den islamischen Hauptquellen lassen sich zwei elementare Sinndeutungen ableiten: Krankheit als Prüfung Gottes und Krankheit als Gnadenerweis und Sündenvergebung.Das Erdenleben ist nach islamischem Glauben ein Prüfungsort (Sure 67/2). Zu den weiteren vielfältigen Prüfungsformen gehören auch Krankheit und Behinderung. Und so ist nach koranischer Auffassung Krankheit nichts Abscheuliches oder Verwerfliches, sondern ein Zustand, der die Geduld als natürliche Konsequenz des Glaubens und somit auch den Glauben selbst auf die Probe stellt. Die Krankheit ist auch nicht Strafe Gottes oder eine Ausdrucksform des göttlichen Zorns. Vielmehr erklärt das folgende Prophetenwort eine Krankheit als Gelegenheit für die Sündenvergebung: „Keine Müdigkeit und keine Krankheit, keine Sorge und keine Trauer, kein Schmerz und kein Kummer befällt den Muslim, nicht einmal ein winziger Dorn kann ihn stechen, es sei denn, Gott will ihm damit eine Sühne für seine Verfehlungen auferlegen.“In einem Krankheitszustand, wo der Muslim seine Ohnmacht und Grenzen erfährt, soll er eine bestimmte Gemütseinstellung bewahren. Danach sollen für die Krankheit angemessene medizinische Maßnahmen getroffen werden. Klagen darüber, warum gerade man selbst befallen wurde oder gar das Anklagen Gottes gelten mit einem muslimischen Gemüt als nicht vereinbar. Neben diesen theologisch Krankheitsdeutungen begegnet man in der Praxis auch Interpretationen, die zum Volksglauben zurückzuführen sind. Obwohl eine Begründung von Krankheit als Bestrafung Gottes oder Gotteszorn aus den islamischen Hauptquellen nicht ableitbar ist, ist es nicht ausgeschlossen, dass der ein oder andere Muslim einer derartigen

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persönlichen Interpretation den Vorzug gibt. Die Vorstellung, dass eine Krankheit eine göttliche Strafe sei, kann besonders während einer unheilbaren Krankheit auftauchen und von dem Betroffenen auf die eigenen Übeltaten oder auf unterlassene Pflichten zurückgeführt werden. Diese Bestrafung muss nicht unbedingt aus einem Fehlverhalten resultieren und die verantwortliche Person selbst betreffen. So wird nicht selten die schwere Erkrankung des eigenen Kindes oder aber die Unfruchtbarkeit des Ehemannes oder der Ehefrau in diese Richtung interpretiert.Für die Entscheidungs- und Interessenkonflikte in der Praxis ist es wichtig, die Quellen der Deutungsformen (Theologie und Volksglaube) voneinander zu differenzieren.

5.1.4. VOLKSGLAUBE UND TRADITIONELLE HEILER Wenn ein Krankheitszustand naturwissenschaftlich nicht erklärbar (z.B. bestimmte psychische Erkrankungen) oder mit konventionellen Maßnahmen nicht heilbar (z.B. bösartige Krebserkrankungen) ist, so werden nicht selten andere Wege und Praktiken als letzte Hoffnung hinzugezogen. Eine wichtige Figur in solchen Situationen ist der traditionelle Heiler (Hoca). Im Unterschied zum Imâm, der als Prediger und Vorbeter in der Moschee tätig ist, haben Hocas oft keine theologische Ausbildung. Sie schreiben einige arabische Buchstaben oder Koranverse auf ein Stück Papier (Muska), welches der Patient auf seinem Gewand tragen soll. Sie verkaufen oder verschreiben Heilkräuter (kocakarı ilacı, d.h. „Medizin der alten Frauen“), die nach einer bestimmten Anweisung eingenommen werden sollen. Konsultationen dieser Art sind entweder Mittel der letzten Wahl oder werden während der Therapie einer nur schwer behandelbaren Krankheit parallel angewandt, z.B. bei einer schweren psychischen Störung. Obwohl die Bedeutung und der Einfluss der Hocas bei älteren Muslimen nicht zu unterschätzen ist, werden sie von den meisten Muslimen verachtet und als habgierige Scharlatane bezeichnet. Für Ärzte und Pflegepersonal ist es wichtig zu wissen, ob diese Praktiken während einer Krankheitsbehandlung schädlich sein können (z.B.: Die Einnahme süßer Heilmittel bei Diabetes).Die Imâme leisten – abhängig von der jeweiligen Struktur der muslimischen Gemeinde – in deutschen Krankenhäusern und Gefängnissen seelsorgerische Dienste. Für eine angemessene Seelsorge der muslimischen Patienten scheinen nur die Imâme und nicht die traditionellen Heiler geeignet zu sein. Zu beachten ist dabei, dass die muslimischen Patientinnen von weiblichen muslimischen Theologinnen

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(Hoca Hanım) besucht werden, deren Anzahl in Deutschland im Unterschied zu den männlichen Imâmen sehr niedrig ist. DSCHINN (GEISTWESEN), BÜYÜ (SCHADENSZAUBER) UND NAZAR (DER BÖSE BLICK)Der Koran spricht von der Existenz der aus einer Feuerflamme erschaffenen Dschinnen (Sure 55/15). Die Botschaft des Korans richtet sich, ähnlich wie bei den Menschen, auch an diese für die menschlichen Sinne nicht wahrnehmbaren Wesen (Sure 51/56). Ihre spezielle Rolle bei der Entstehung einer Krankheit ist jedoch nur im Volksglauben und dort in unterschiedlichen Ausprägungen zu finden. Besonders für psychische Symptome wie Halluzinationen, „Stimmen-Hören“ etc., für spontan eingetroffene unerklärliche Krankheiten, Epilepsie oder Unfruchtbarkeit werden Dschinnen verantwortlich gemacht. Ebenso können einige Krankheiten auf den Schadenszauber (Büyü) oder den bösen Blick (Nazar) zurückgeführt werden. Auch in diesen Situationen wird oft ein traditioneller Heiler konsultiert. Vorbeugend wird dann ein Amulett, ein Talisman (Muska) oder ein kleiner blauer Stein (Nazar Boncuğu), der auf der Kleidung getragen wird, empfohlen. Diese Praktiken werden allerdings von Gelehrten als islamwidrige Handlungen kategorisch abgelehnt. Der Volksglaube allerdings lässt sich davon wenig beeindrucken.

5.1.5. DIE STELLUNG DER MEDIZINIhre besondere Stellung unter den Wissenschaften verdankt die Medizin ihrem unmittelbaren Verdienst am Menschen. Das menschliche Leben gehört im Islam zu den fünf Gütern, die geschützt werden müssen. Dazu zählen auch: die Religion, der Verstand, die Nachkommenschaft und der Besitz. Da der Muslim, um seine Pflichten zu erfüllen und seinem Schöpfungsauftrag nachzukommen, auf eine gesunde körperliche Verfassung angewiesen ist, gilt die Medizin als wichtigste und edelste aller Künste. Basierend auf diesem Menschenbild und spezifischem Wissenschaftsverständnis haben die Muslime in der Geschichte nicht gezögert, von den anderen Kulturen die medizinische Wissenschaft zu übernehmen, zu assimilieren und weiterzuentwickeln. In den klassischen Werken der islamischen Geistesgeschichte werden die Wissenschaften zumeist in zwei Gruppen gegliedert: in die Wissenschaft des Körpers (die Medizin) und in die Wissenschaften der Religion. Das Studieren und Praktizieren der Medizin galt als eine hoch geachtete Tätigkeit und wurde von vielen Gelehrten zur religiösen Pflicht erklärt. Als Grundlage für das Verständnis und die Erklärung von Naturereignissen dient das monotheistische Glaubenskonzept des Islam. Alle Ursachen und ihre Wirkungen finden demnach mit dem Wissen und

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der Erlaubnis Gottes statt. So werden die wissenschaftlich feststellbaren Ursachen der Krankheiten durch Gottes Erlaubnis und Kenntnis hervorgerufen. Gott, der absolute und unbedingte Wille, gibt Stoffen krankmachende Eigenschaften und ebenso verleiht er medizinischen Maßnahmen heilende Kräfte. Therapeutischen Maßnahmen gelten somit nicht die erste Ursache der Heilung, sondern lediglich deren Vermittler. Dieses Verhältnis zwischen Gott und Heilwirkung wird auf einem Koranvers durch die Aussage des Propheten Abraham zurück geführt: „Wenn ich krank bin, so heilt er mich“ (Sure 26/80). Parallel dazu hat der Prophet Muhammad sowohl für die Krankheit als auch für die Heilung Gott die erste Ursächlichkeit zugeschrieben: „Gott hat keine Krankheit auf die Erde herabgesandt, ohne zugleich auch für das entsprechende Heilmittel zu sorgen.“ Gott allein als primären Grund für die Heilung zu nennen, schließt jedoch die von einem Arzt empfohlene Behandlung nicht aus. Muslime sind sogar dazu angehalten, sich dieser Mittel zu bedienen, um die von Gott kommende Heilung zu erlangen.

5.2. LEBENSPHASEN 5.2.1. LEBENSBEGINN Die Frage: „Wann beginnt das menschliche Leben?“ ist auch für Muslime sehr zentral für die Beurteilung mehrerer ethischer Fragen. Man findet in der islamischen Geistesgeschichte relativ früh, schon etwa im 8., 9. und 10. Jahrhundert eine umfangreiche Diskussion über diese Fragen. Diese Diskussionen haben nicht zuletzt so früh angefangen, weil sie für die Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs maßgeblich waren. Im Koran, der wichtigsten Hauptquelle der Muslime, werden das menschliche Leben im Mutterleib, das Auf-die-Welt-Kommen, das Sterben nach einer gewissen Lebenszeit sowie die Wiederauferstehung im Jenseits als Komponenten eines Kontinuums mit unterschiedlichen Seinsqualitäten erklärt: „Und wahrlich, Wir schufen den Menschen aus einem entnommenen Ton. Dann machten Wir ihn zu einem Tropfen in einem festen Aufenthaltsort. Dann schufen Wir den Tropfen zu einem Embryo, und Wir schufen den Embryo zu einem Fötus, und Wir schufen den Fötus zu Knochen. Und Wir bekleideten die Knochen mit Fleisch. Dann ließen Wir ihn als eine weitere Schöpfung entstehen. Gott sei gesegnet, der beste Schöpfer! Dann werdet ihr nach all diesem sterben. Dann werdet ihr am Tag der Auferstehung auferweckt werden.“ (Sure 23/12-16) Obwohl es im Koran keine konkreten Angaben über den genauen Zeitpunkt der Beseelung gibt, gewinnt er in den Diskussionen über den Beginn des menschlichen Lebens eine zentrale Bedeutung. Mittlerweile hat sich die folgende Berechnung durchgesetzt: Basierend auf einem

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Prophetenausspruch werden für alle in den oben zitierten Versen genannten Entwicklungsstadien bis hin zur Einhauchung der Seele, also vom Wassertropfen zum Embryo bis hin zum Fötus, jeweils 40 Tage berechnet. Insgesamt sind es somit 120 Tage bis zum Zeitpunkt der Beseelung. Es gibt jedoch andere Prophetenaussprüche, durch die man jeweils andere Zeitpunkte (40., 42., 43., 45. oder 80. Tag) als den Beginn des menschlichen Lebens erklärt hat. SCHWANGERSCHAFTSABBRUCHEs gibt zwischen, aber auch innerhalb der verschiedenen muslimischen Rechtsschulen unterschiedliche Meinungen über die Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs, die hier nicht alle detailliert behandelt werden können. Man kann grob von drei Hauptpositionen bei der Beurteilung des Schwangerschaftsabbruchs sprechen: Ein Schwangerschaftsabbruch ist auch ohne triftigen Grund bis zum

Zeitpunkt der Beseelung (je nach Interpretation s.o.) erlaubt. Er ist nur mit triftigem Grund bis zum Zeitpunkt der Beseelung erlaubt. Er ist nach der Befruchtung der Eizelle verboten. Die Rechtsgelehrten sind sich über die Vertretbarkeit eines Schwangerschaftsabbruchs für den Fall einig, wenn das Leben der Mutter durch eine Schwangerschaft gefährdet ist. Dann kann ein Schwangerschaftsabbruch unabhängig vom Zeitpunkt der Schwangerschaft durchgeführt werden. Abgesehen von dieser Notlage ist ein Abbruch nach dem 120. Tag der Schwangerschaft durch kein anderes Argument (Lebensplanung, soziale und finanzielle Gründe etc.) legitimierbar. Aufgrund dieser rechtsethischen Diskussionen, aber auch aufgrund soziopolitischer Gegebenheiten wird der Schwangerschaftsabbruch in den muslimischen Ländern juristisch unterschiedlich geregelt. Eine neue und immer stärker werdende Tendenz unter den muslimischen Intellektuellen und Gelehrten setzt den Schwerpunkt auf die Befruchtung der Eizelle. Ab diesem Zeitpunkt beginne das menschliche Leben und dem Embryo komme volle Schutzwürdigkeit zu. Danach sei ein Schwangerschaftsabbruch nur dann vertretbar, wenn das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet wird.

5.2.2. KINDER Für Muslime bedeuten Kinder Lebensglück und sie zählen sie zu den schönsten Gottesgaben. Deswegen gilt die Geburt eines Kindes als ein einzigartiges Erlebnis und Anlass großer Freude für Familie und Verwandtschaft. Im islamischen Glauben kommt das Kind als Muslim auf

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die Welt und somit ist keine Zeremonie nötig, um es in die Religionsgemeinschaft aufzunehmen. Unmittelbar nach der Geburt wird der Gebetsruf (arab. Adhân; türk. Ezan) in das Ohr des Kindes rezitiert. Empfohlen wird, den Eltern im Kreißsaal für dieses Ritual einen ruhigen Ort zu verschaffen. Entweder unmittelbar nach der Ezan-Rezitation oder am siebten Tag nach der Geburt findet die Namensgebung statt. Nach einer bestimmten Zeit nach der Geburt werden Verwandte und Nachbarn zum Gastmahl (Aqiqa) eingeladen und den Armen wird Geld gespendet. STILLEN Das Stillen eines Säuglings gilt als eine wichtige Verpflichtung der Mutter, welches auch in den islamischen Grundquellen (Sure 2/233) große Achtung findet. Das durch das Stillen entstehende Verhältnis zwischen Kind und Mutter (bzw. Kind und Amme) hat für das spätere Familien- und Sozialleben Konsequenzen. Nach islamischem Recht dürfen z. B. von derselben Frau gestillte Jungen und Mädchen – auch wenn sie nicht Geschwister sind – später miteinander nicht heiraten. Die Bereitschaft zum Stillen ist unter muslimischen Frauen relativ hoch. Es lässt sich jedoch innerhalb dieser Bevölkerungsgruppe ebenso eine leichte Beeinflussung durch Werbung für Babynahrung und dadurch frühzeitiges Abstillen feststellen. BESCHNEIDUNG Die Beschneidung (arab. Khitân; türk. Sünnet) gilt als eines der wichtigsten religiösen Rituale für einen muslimischen Jungen in seiner Kindheit und wird auf den Propheten Abraham zurückgeführt. Obwohl die Beschneidung im Koran explizit nicht genannt wird, gibt es zahlreiche Prophetenaussprüche, die darauf hinweisen. Bei der Beschneidung die Vorhaut (Präputium) des männlichen Glieds vollständig entfernt, so dass die Eichel des Penis völlig entblößt ist. Über den angemessenen Zeitpunkt für die Beschneidung des Knaben gibt es in den Rechtsschulen unterschiedliche Meinungen. Sie kann vom siebten Tag nach der Geburt an bis zur Volljährigkeit stattfinden. Sowohl für den Beschneidungstermin als auch für die Art und Weise der Feierlichkeiten vor und nach der Beschneidung sind geographische, soziokulturelle und finanzielle Bedingungen entscheidend. Die Mädchenbeschneidung wird in der islamischen Welt als eine geographisch und traditionell bedingte Sitte ohne jegliche religiöse Verbindlichkeit gesehen und abgelehnt. Die Mädchenbeschneidung ist den Türken beispielsweise unbekannt, sie wird jedoch in Ost- und Westafrika und bei Angehörigen der Süd-Sahara-Völker von Muslimen und Christen praktiziert. VOLLJÄHRIGKEIT

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Die Volljährigkeit wird in der islamischen Geistesgeschichte nicht mit einem bestimmten Lebensalter gleichgesetzt, sondern nach körperlicher und geistiger Entwicklung der Person bestimmt. Auch wenn man für die Volljährigkeit bestimmte Jahresangaben macht, wie neun bis dreizehn Jahre bei Mädchen und elf bis fünfzehn Jahre bei Jungen, ist die körperliche, aber vielmehr geistige Entwicklung entscheidend. Diese Grenzen gelten eher für die Übernahme bestimmter familiärer Verantwortungen oder religiöser Pflichten. Um Adressat dieser Pflichten zu sein, ist Mündigkeit bzw. Volljährigkeit eine elementare Voraussetzung. Gewöhnlich werden Kinder in diesem Lebensabschnitt mit islamischen Handlungsnormen und Pflichten vertraut gemacht, damit diese ihnen später nicht schwer fallen.

5.2.3. EHE ROLLENVERTEILUNG Das islamische Menschenbild erklärt Mann und Frau vor Gott einander ebenbürtig und gleichwertig. Aufgrund ihres Wesens kommt ihnen eine Wertgleichheit zu. Dasselbe Menschenbild unterstreicht jedoch die unterschiedliche Natur von Mann und Frau und leitet daraus eine differenzierte Aufgabenverteilung bzw. verschiedene Rechte und Pflichten im Familienleben ab. Nach dieser Rollenverteilung hat der Mann die Unterhaltspflicht und ist verantwortlich für die Versorgung der Familie. Die Frau ist für die Kindererziehung und den Haushalt zuständig. Diese Rollen werden nicht als konkurrierend, sondern als ergänzend betrachtet. Bedingt durch die Umstände des modernen Lebens lässt sich in Deutschland allerdings auch in muslimischen Familien ein Wandel in dieser Rollenverteilung feststellen.In vielen muslimischen Ländern besteht jedoch eine Diskrepanz zwischen dieser Lehre und der alltäglichen Wirklichkeit. Benachteiligung und Diskriminierung der Frauen in vielen Lebensbereichen, heutzutage eine unverkennbare Realität, lassen sich eher auf die ethnisch bedingten Sitten und traditionellen Gesellschaftsstrukturen zurückführen als auf religiöse Grundsätze. EHESCHLIEẞUNG Die islamischen Quellen machen für die Stabilität der gesellschaftlichen Struktur die Familie verantwortlich. Deswegen beinhalten sie zahlreiche soziale und rechtliche Regulierungen und Handlungsprinzipien, die für die Stabilität dieser wichtigsten Lebensgemeinschaft sorgen. Ist eine Muslimin oder ein Muslim geistig und körperlich in der Lage, die erforderlichen Voraussetzungen und Verpflichtungen der Ehe zu erfüllen, so obliegt ihr oder ihm die Gründung einer Familie. Während der

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Geschlechtsverkehr in einer außerehelichen Beziehung sowohl für den Mann als auch für die Frau verboten ist, ist er in der Ehe legitimiert. Ein Verzicht auf das Sexualleben wie im Mönchtum oder Zölibat wird von den islamischen Grundquellen verpönt. Neben der Schaffung einer stabilen Gesellschaftsstruktur und der legitimen Befriedigung des Sexualtriebs gilt auch die Zeugung von Nachkommenschaft ein elementarer Zweck der Ehe.

5.2.4. GYNÄKOLOGIE Die Konfliktfelder bei der Behandlung der muslimischen Patientinnen in der Gynäkologie sind vielfältig und heterogen. Unterschiedliche Religiositätsformen, aber auch andere Wirklichkeiten wie Bildungsgrad, sozialer Status, Alter und individuelle Erfahrungen spielen bei der Wahrnehmung und dem Erleben von Krankheit sowie bei Entscheidungen im Krankheitsfall eine bedeutende Rolle. SCHAMGEFÜHLEin elementares Thema im Umgang mit muslimischen Patientinnen in der Gynäkologie ist das Schamgefühl und seine Erscheinungsformen. Dieses im modernen Leben oft unterschätzte menschliche Gefühl kann bei muslimischen Patientinnen und Patienten viele individuelle Handlungs- und Entscheidungsformen beeinflussen. Wissenschaftliche Studien innerhalb verschiedener religiöser Gruppen belegen, dass das Schamgefühl unter den muslimischen Patientinnen am stärksten ist. Diese Situation sollte nicht nur auf traditionell sittliche Handlungsformen reduziert werden, denn das in den Hauptquellen der islamischen Religion vorzufindende Verständnis von körperlicher Unversehrtheit und Intimität prägt auch dieses Schamgefühl und die damit verbundenen Handlungsformen eindeutig (Sure 24/30-1). Aus diesem religiösen Kontext lassen sich die charakteristische Bedeckung des Körpers und der distanzierte körperliche Umgang zwischen Personen unterschiedlichen Geschlechts, wenn sie nicht verwandt oder verheiratet sind, ableiten. Solche Handlungsformen weisen somit eine islamisch-moralische Dimension auf (Sure 24/30-1 und Sure 33/59). Das führt dazu, dass viele muslimische Patientinnen auf die Untersuchung und Behandlung von gleichgeschlechtlichem medizinischem Personal großen Wert legen. Auch die Intensität und Qualität des medizinisch erforderlichen Körperkontakts ist nicht unwichtig. So hat eine gynäkologische Untersuchung durch einen männlichen Arzt für eine muslimische Patientin nicht denselben Stellenwert wie eine Blutdruckmessung durch denselben Arzt.

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Der islamische Glaube erkennt den Krankheitsfall als Ausnahmezustand an und deswegen wird der körperliche Kontakt in der medizinischen Praxis nicht gleichgesetzt mit dem Körperkontakt im alltäglichen Leben. Dabei sind Muslime genauso wie andere Bevölkerungsgruppen keineswegs eine homogene Gruppe. So lassen sich im gesellschaftlichen Leben unter den Muslimen auch unterschiedliche Religiositätsformen und damit verbundene unterschiedliche Haltungen feststellen. KOMMUNIKATIONWie in vielen anderen medizinischen Fachbereichen, so ist auch in der Gynäkologie und Geburtshilfe die Kommunikation ein zentrales Problemfeld. Nicht selten ist eine Dolmetschertätigkeit erforderlich, um einen Mindestmaß an Verständigung zu erreichen. Dabei sollte darauf geachtet werden, ob zwischen den Patientinnen und den übersetzenden Person ein gewisses Autoritätsverhältnis existiert, da dadurch die freie Entscheidung der Patientinnen gefährdet werden kann. Ebenso sollte nicht vergessen werden, dass der Einsatz eines männlichen fremden Dolmetschers während einer gynäkologischen Untersuchung für viele muslimische Patientinnen ein Problem darstellt. EMPFÄNGNISVERHÜTUNGAls ein weiteres zentrales Thema in der Gynäkologie gelten Fragen, die die Empfängnisverhütung betreffen. Aufgrund der zustimmenden Haltung des Propheten Muhammad zur damaligen Verhütungspraxis (den Coitus Interruptus) werden Verhütungsmaßnahmen im Rahmen einer Familienplanung als erlaubt erklärt. Erlaubt sind Methoden, die eine Befruchtung der Eizelle nur vorübergehend verhindern, wie der Coitus Interruptus, ovulationshemmende Medikamente, chemische oder mechanische Mittel (Vaginalschaum, Scheidendiaphragma, Kondome etc.). Dagegen wird die Spirale (IUP: Intrauterines Pessar) von manchen Gelehrten abgelehnt, weil sie nicht die Befruchtung, sondern die Einnistung der befruchteten Eizelle verhindert und mit einer Abtreibung verglichen werden. Eindeutig abgelehnt werden die irreversiblen Verhütungsmethoden wie Sterilisation, Kastration und Samenstrangdurchtrennung – es sei denn, dass eine schwerwiegende medizinische Indikation vorliegt.

5.2.5. ALTERN Das Altern gilt nach islamischem Menschenbild als Abschnitt des menschlichen Lebens, der zur Natur des Menschen gehört. Betont wird immer wieder, dass dieser natürliche Lebensabschnitt nicht auf einen bloßen biologisch-organischen Vorgang des Körpers reduziert werden

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darf. Zwar gilt das Jugendalter aufgrund der körperlichen Fähigkeiten und des gesunden Zustandes wertvoll; es führt jedoch nicht dazu, dass das Altern nicht wünschenswert sei und deswegen mit allen Möglichkeiten verschoben oder verheimlicht (z. B. durch Schönheitsoperationen) werden soll. Auch für Muslime gelten, eigene Mobilität, die Fähigkeit alltäglichen Bedürfnissen selbst nachzukommen und nicht pflegebedürftig zu sein, als wichtige Güter.

WÜNSCHE UND FAMILIÄRE VERPFLICHTUNGEN IM ALTER Die Versorgung und Pflege der hilfebedürftigen Eltern gehören im islamischen Glauben zu den wesentlichen Aufgaben der Kinder. Im Koran heißt es dazu: „Und zu den Eltern (sollst du) gut sein. Wenn einer von ihnen (Vater oder Mutter) oder (alle) beide bei dir (im Haus) hochbetagt geworden (und mit den Schwächen des Greisenalters behaftet) sind, dann sag nicht ‚Pfui!’ zu ihnen und fahr sie nicht an, sondern sprich ehrerbietig zu ihnen, und senke für sie in Barmherzigkeit den Flügel der (Selbst-)Erniedrigung und sag: ‚Herr! Erbarm dich ihrer (ebenso mitleidig), wie sie mich aufgezogen haben, als ich klein (und hilflos) war!’“ (Sure 17/23-24). Auch in vielen Aussprüchen des Propheten Muhammad wird die Versorgungspflicht der Kinder gegenüber ihren Eltern in den Vordergrund gestellt. Aus unterschiedlichen Gründen kann diesen Verpflichtungen im modernen Leben allerdings nicht immer nachgekommen werden. Die Arbeitsbedingungen und die auf die Kernfamilie ausgerichteten, in der Regel relativ kleinen Wohnungen lassen oft kaum Möglichkeiten für das Zusammenleben in einer Großfamilie zu. Die Tatsache, die eigenen Eltern nicht selbst versorgen bzw. pflegen zu können und sie in einem Altersheim wohnen zu lassen, wird jedoch in einer muslimischen Bevölkerung oft als verantwortungslose Haltung und Vernachlässigung der elementaren familiären Pflichten gegenüber den Eltern verurteilt. Mit dem Altern, einem unmittelbar vor dem Tod liegenden Lebensabschnitt, ist bei den Muslimen oft eine Intensivierung der religiösen Sensibilität festzustellen. Sowohl der ambulanten Pflege als auch den für diese Menschen gedachten Altenheimen obliegt es, dieser Sensibilität nachzukommen. Eine für den muslimischen Alltag geeignete Raumgestaltung und einige organisatorische Maßnahmen in der Küche wären für solche stationären Einrichtungen von zentraler Bedeutung. Neben der Berücksichtigung der islamischen Speisevorschriften (z. B. Schweinefleisch- und Alkohol-Verbot) sollte eine flexible Umordnung während des Fastenmonats Ramadan in der Küche möglich sein. Ebenso, dass besondere Räumlichkeiten wie ein Gebetsraum und ein

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Besuchsraum, der für eine größere Besucherzahl ausgelegt ist, vorhanden ist. Wichtig wäre es auch, für den Tod und die damit verbundenen Rituale geeignete Räume zur Verfügung zu stellen. Gerade auf Palliativstationen und in Hospizen sollten diese Gesichtspunkte berücksichtigt werden.

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5.2.6. STERBEBEGLEITUNG UND TODDurch das Älterwerden der Muslime steigt die Anzahl der Sterbenden in Deutschland stetig. Mittlerweile sterben jährlich Tausende von Muslimen in Deutschland, und ihre Leichen werden mehrheitlich in die Heimat überführt. Viele Muslime verbringen ihre letzten Tage in deutschen Krankenhäusern, wo sie sich mit zahlreichen Problemen unterschiedlicher Art konfrontiert sehen. Hier sollen nun einige grundlegende Informationen über das muslimische Todesverständnis, die damit verbundene Sterbebegleitung und die spezifischen Rituale vermittelt werden. ISLAMISCHE ESCHATOLOGIEDer Tod als existenzielle allgemeinmenschliche Erfahrung betrifft im islamischen Glauben sowohl die Leiblichkeit als auch die Geistigkeit des Menschen. Der Glaube an das Jenseits, an die Auferstehung nach dem Tod sowie an das Jüngste Gericht gehört zu den wesentlichen Glaubenssätzen des Islam. Der Koran versteht den Tod nicht als das Ende des Menschen, sondern als Tor vom Diesseits zum Jenseits. Der Tod wird als Heimkehr zum Schöpfer zu verstanden, denn im Koran heißt es: „Wir gehören Gott und zu Ihm kehren wir zurück.“ (Sure 2/156). Nach muslimischer Vorstellung verlässt die Seele nach dem Sterbeprozess den Körper bis zum Tag der Auferstehung, an dem sich beide wieder miteinander vereinen werden. Dort, so der Koran, wird der Mensch über seine Taten vor Gott Rechenschaft ablegen und schließlich wird über die Belohnung oder Bestrafung des Menschen entschieden. DER LETZTE BESUCHNach islamischem Glauben sollen zwischenmenschliche Angelegenheiten unter den Betroffenen geregelt werden. Wenn ein Muslim gegenüber anderen Menschen einen Fehler begangen hat, so soll er diese mit ihm regeln und nicht die Verzeihung von Gott erwarten. Deswegen hat der letzte Besuch für jemanden, der kurz vor dem Sterben steht und für seinen Bekanntenkreis eine zentrale Bedeutung. Durch einen Besuch seinen Beistand zum Ausdruck zu bringen und erforderliche Maßnahmen für eine Sterbebegleitung gehören zu den religiösen Pflichten der Familienangehörigen und der Bekannten eines Sterbenden. Solch ein Besuch, der auch eine Möglichkeit ist, über das eigene Leben nachzudenken und sich selbst zur Rechenschaft zu ziehen, wird in den Prophetenaussprüchen nachdrücklich empfohlen. Aufgrund dieser Bedeutung kommt es in der medizinischen Praxis oft vor, dass die sterbenden Muslime von einer großen Anzahl von

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Bekannten besucht werden. In solchen Situationen wäre es gut, wenn es zwischen dem medizinischen Team und der Familie zu Kompromissen käme. So könnten z.B. den Besuchern einzelne und kurze Besuche gestattet werden. STERBEBEGLEITUNG, RITUALE BEIM VERSTORBENEN UND TRAUERFür eine Sterbebegleitung eines Muslims hat die Koranrezitation und Artikulation des islamischen Glaubenssatzes eine zentrale Bedeutung. Der Koran und ebenso der Glaubenssatz können von einem Vorbeter (Imâm), aber auch von einem Muslim, der Arabisch lesen kann, rezitiert und vorgesprochen werden. Bei einer solchen Koranrezitation wird oft die 36. Sure (Yâ Sîn), die über das wahre Wesen des menschlichen Lebens den Sterbenden als auch den Trauernden unterweist, gewählt. Durch die Vorlesung dieser Sure soll auch der Sterbende in Ruhe und Frieden, seine Seele seinem Schöpfer übergeben. Auch wenn die Koranrezitation von außen als Belastung für den Sterbenden wahrgenommen werden kann, wird immer wieder darauf hingewiesen, dass sie für den muslimischen Sterbenden als ein beruhigender Akt gilt. Die Sterbebegleitung ist in der islamischen Kultur nicht professionalisiert und wird oft von den Angehörigen übernommen. Wenn aber der sterbende Muslim niemanden hat oder die Familie sich überfordert fühlt, so kann ein Imâm – wenn möglich nach Rücksprache mit dem im Sterben liegenden Patienten oder der Familie – eingeladen werden. Für ein Krankenhaus kann es deshalb sinnvoll sein, sich vorher die Telefonnummern einiger Moscheegemeinden zu notieren. Ebenso empfehlenswert ist es, für die ganze Sterbebegleitung ein Einbettzimmer zur Verfügung zu stellen. Nach dem Sterbeprozess sollen die Hände des Verstorbenen gekreuzt, die Augenlider geschlossen und das Kinn mit einem Stück Stoff festgeknotet werden. Dann wird die Kleidung ausgezogen und der Körper in drei oder fünf Stoffbahnen gehüllt. Der Verstorbene gehört – nach islamischen Glauben – der Erde, weswegen die Beisetzung schnell, möglichst am selben oder am nächsten Tag stattfinden sollte. Davor wird eine rituelle Waschung des gesamten Körpers durchgeführt. Bei der Waschung, die von einer Person gleichen Geschlechts durchgeführt werden muss, soll das Wasser weder zu heiß noch zu kalt sein – wie bei einem lebendigen Menschen. Nach der Ganzwaschung wird der Verstorbene dann mit einem weißen Tuch (türk. Kefen), dem Totentuch, umhüllt und in einen einfachen Sarg gelegt. Auch dieses Tuch soll einfach sein und keinen Saum haben, genauso wie das weiße Tuch von Pilgern in Mekka. Die sanfte körperliche Behandlung des Verstorbenen impliziert, dass der verstorbene Körper im islamischen

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Glauben eine gewisse Unversehrtheit besitzt. Auch die körperliche Sauberkeit durch die Ganzwaschung weist auf die symbolische Vorbereitung – wie beim täglichen Gebet – dem Schöpfer zu begegnen, hin. Die Waschung des muslimischen Verstorbenen ist eine zentrale Pflicht der Hinterbliebenen. Sie kann nicht in allen Krankenhäusern problemlos durchgeführt werden, weil dafür ein Raum nötig ist, der bestimmte Anforderungen dieses Rituals erfüllen muss. Als Notlösung können die Obduktionstische in Pathologiesälen empfohlen werden, da dort auch die Möglichkeit besteht, dass das für die Waschung benutzte Wasser abfließen kann. Eine der wichtigsten Pflichten der muslimischen Gemeinde dem Verstorbenen gegenüber ist die Verrichtung des Totengebets durch einen Vorbeter (Imâm). Der muslimische Verstorbene wird im Grab auf die rechte Seite gelegt und das Gesicht nach Mekka gerichtet wie beim fünfmaligen Gebet. Eine Trauer mit Schreien und Wehklagen wird vom Propheten nicht empfohlen. Es wird statt dessen nahegelegt, den Verstorbenen mit seinen guten Taten in Erinnerung zu rufen. In der Praxis kommt es allerdings nicht selten zu dramatische Szenen, die als Ausdruck der Liebe der Hinterbliebenen zu dem Verstorbenen interpretiert werden können. Für solche Situationen ist ein möglichst glaubensneutraler Abschiedsraum sehr empfehlenswert.

5.2.7. WAS IST NACH DEM TOD EINES MUSLIMS WICHTIG?Nach dem Sterbeprozess gehört der Verstorbene der Erde, weswegen die Beisetzung schnell, möglichst am selben oder am nächsten Tag stattfinden sollte. Davor wird von einer gleichgeschlechtlichen Person eine rituelle Waschung des gesamten Körpers unter fließendem Wasser durchgeführt und anschließend das Totengebet unter Leitung eines Imâms verrichtet, an der viele Gläubige teilnehmen sollten. Sowohl die schnelle Beisetzung des Toten als auch die rituelle Waschung sind in Deutschland mit mehreren, eher organisatorischen Schwierigkeiten verbunden. Zwar gibt es z. B. in Deutschland mehrere muslimische Grabfelder, allerdings kann man die verstorbenen Muslime auch dort nicht nach islamischen Riten begraben.

5.3. PSYCHIATRIEUnter den medizinischen Fächern nimmt die Psychiatrie eine gewisse Sonderstellung ein, da nicht nur die Ausgestaltung des Krankheitsbildes selbst, sondern auch die Verarbeitung der Erkrankung in hohem Maße

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von der Persönlichkeit des Patienten und seinem kulturellen Hintergrund beeinflusst wird. Bei Muslimen existiert hierbei ein deutlicher Überschneidungsbereich zwischen Kultur und Religion, da für praktizierende Muslime ihre Religion eine (geheiligte) Lebensweise darstellt. Sie lassen Gott in allen Dingen des Alltags wirken: Gebet, Speiseregeln, finanzielle Belange, Befolgen gewisser Verhaltensregeln nach dem Vorbild des Propheten etc. Und so bewegen sich sowohl praktizierende Muslime als auch Therapeuten quasi immer auf religiösem Gebiet. Eine schwere psychische Krankheit wie zum Beispiel eine Schizophrenie, in der die „natürlichen Selbstverständlichkeiten“ des Alltags verloren gehen, oder eine schwere Depression kann zu großen religiösen Verunsicherungen führen, besonders wenn sie noch mit einer stationären Aufnahme verbunden sind, bei der sich der Betreffende an eine anonyme, öffentliche Institution ausgeliefert sieht. Auch muslimische Patienten neigen dazu, sich ihre Krankheiten zu erklären und greifen dabei auf kulturelle und ggf. religiöse Grundmuster zurück. Oft besteht die Vorstellung, von einem bösen Dschinn besessen zu sein, einer Art Geistwesen aus dem Koran (Sure 15/27; Sure 46/29-31; Sure 6/130), die zu den Geschöpfen Gottes und zu den so genannten verborgenen Dingen zählen, von denen wir nicht viel wissen. Dennoch hat der islamische Volksglaube die Existenz von Dschinnen stark ausgestaltet und ihnen spezielle Gestalten gegeben und Einflusssphären zugeordnet. Während Dschinne Bestandteil des islamischen Glaubens sind, lehnt der Islam Zauber und Magie mit Bezug auf den Koran scharf ab (Sure 27/65). Trotzdem sind sie aber im Volksislam weit verbreitet. Viele muslimische Patienten, die psychisch erkrankt sind suchen daher nicht selten auch einen traditionellen Heiler auf, zumeist heimlich, da sie eine Ablehnung durch ihren Arzt befürchten. Therapeuten könnten hier eine Ressource ihrer Patienten wahrnehmen und dieses Thema taktvoll ansprechen, allein schon um alle wichtigen Einflüsse auf ihren Patienten zu kennen. An dieser Stelle ist es wichtig zu wissen, ob dieser traditionelle Heiler wirklich dem Patienten in seiner schwierigen Situation helfen will oder ob dahinter eher eine finanzielle Ausnutzung/Ausbeutung des Patienten steckt. Weiterhin, ob der traditionelle Heiler die psychiatrische Behandlung hintertreibt (z. B. von der Medikamenteneinnahme abrät oder solche Therapieformen verbannt etc.) oder unterstützt. Aus islamischer Sicht bestehen Einschränkungen für die Medikamenteneinnahme nur insofern, dass Tropfen mit alkoholischen Lösungen verboten sind und während des Ramadan die Fastenregeln möglichst eingehalten werden, was bei neueren Medikamenten durch die

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tägliche Einmalgabe oder Retardpräparate ohne Schwierigkeiten möglich ist. Darüber hinaus benötigen muslimische Patienten natürlich dieselben Maßnahmen zur Sicherung von Compliance und Therapiemotivation wie alle anderen auch. Bei psychiatrischen Patienten, denen es schwer fällt, ihren Tag zu organisieren, sollte die Pflege die Beibehaltung des religiös geprägten Tagesablaufes in dem Maße unterstützen, wie er vor der Erkrankung bestand, auch wenn er aus der persönlichen Sicht der Helfenden nicht zeitgemäß oder unverständlich scheint. Ist der Patient Mitglied einer Moscheegemeinde, so kann eine Kontaktaufnahme mit dem Imâm hilfreich sein, allerdings nur nach Rücksprache und mit Erlaubnis des Patienten, da viele die nicht unberechtigte Befürchtung hegen, dass in der Gemeinde viel geredet und noch mehr hinzugedichtet wird, und der Patient um seinen Ruf fürchten muss. Bei stationären Aufenthalten in der Psychiatrie ist darauf zu achten, dass praktizierende Muslime in vielen Fällen Schwierigkeiten damit haben, Bewegungstherapie, Wassergymnastik, Krankengymnastik o. ä. gemischtgeschlechtlich durchzuführen. Die Situation sollte ebenfalls taktvoll angesprochen und nach Ersatzmöglichkeiten gesucht werden. Auch kann es in der Ergotherapie, z. B. bei der Modellierung mit Ton, zu Problemen kommen, da der Islam die Herstellung von Skulpturen ablehnt. Des Weiteren ist es nicht selbstverständlich, dass in Stationsrunden oder Gruppentherapien Männer und Frauen zusammensitzen und über ihre persönlichen Probleme berichten. Entscheidend für einen möglichst konfliktfreien und angemessenen Umgang mit muslimischen Patienten in der Psychiatrie ist ein echtes Interesse an deren Lebenswelt und die Akzeptanz ihres Andersseins. Die individuellen Unterschiede in den religiösen Auffassungen und kulturellen Prägungen der Patienten sind zum Teil so groß, so dass man nach den Wünschen und Bedürfnissen fragen sollte (Gelegenheit zum Gebet, Vorhandensein eines Teppichs, Wissen um die Gebetsrichtung usw.). Erfahrungsgemäß wirkt sich schon die höfliche und ehrlich gemeinte Frage positiv aus und beweist eine Anteilnahme, die dem Patienten ein Vertrauen ermöglicht, ohne das eine Therapie nur schwerlich gelingen kann. Die oben genannten Informationen können nur Empfehlungen sein, da die spezifischen Bedürfnisse von der individuellen Religiosität des muslimischen Patienten abhängen. Bekanntermaßen sind diese – wie auch bei christlichen Patienten – nicht homogen.

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5.4. OnkologieEs ist bekannt, dass die Diagnose „Krebs“ für alle Menschen und ihre Betroffenen eine schlagartige Veränderung in ihrem Leben bedeutet. Genauso wie bei anderen Menschen werden auch bei muslimischen Patienten die Familie und das soziale Umfeld bei einer solchen Situation mit involviert. Der Verarbeitungsprozess findet oft unter der Einflussnahme der religiösen Prägungen statt. Neben der medizinischen Behandlung erfordert dieser Prozess auch einen sozialen Beistand sowie eine seelische Betreuung. In der medizinischen Versorgung der muslimischen Patienten kommt in der Onkologie der kultursensiblen kommunikativen Kompetenz des medizinischen Teams eine besondere Bedeutung zu. Leider gibt es in Deutschland bis jetzt keine spezifischen Konzepte und psychosoziale Versorgungsstrukturen für die muslimischen Patienten. Es wäüre ein krankenseelsorgerisches Konzept nötig, das auf das muslimische Verständnis von Krankheit und Tod basiert. Außerdem sind die Behandlung und der Umgang mit muslimischen Patienten auf onkologischen Stationen mit mehreren kulturspezifischen Konfliktfeldern verbunden. Die eigenartige Wahrnehmung der Krankheit „Krebs“ prägt unter dieser Bevölkerung zugleich auch eine Einstellung zu dieser Krankheit. Die soziale Schichtzugehörigkeit und der damit verbundene Informationsdefizit zum Thema Krebs und deren Entwicklungsstadien bzw. Therapiemöglichkeiten führen oft dazu, dass eine Krebsdiagnose – auf Türkisch Kanser – mit einem Todesurteil gleichgesetzt wird und zu einer Paniksituation führt. Die enormen Fortschritte bei der Krebsbehandlung in den letzten Jahren sind oft unbekannt und man geht deswegen bei der Diagnose Krebs von einer schnell zum Tode führenden Krankheit aus. Die Mitteilung der Diagnose Krebs erweist sich – wie bei anderen Menschen – bei der medizinischen Versorgung der muslimischen Patienten als ein konfliktträchtiges Feld. Aufgrund der oben genannten Wahrnehmungsformen ist ein äußerst vorsichtiges Vorgehen geboten. Eine kultursensible Kommunikation ist zwar mühsam und schwierig, es kann sich jedoch bei einer erfolgreichen Durchführung mit einer besseren Compliance (Therapiebefolgung) zurückzahlen. Die Erfahrungen aus der medizinischen Praxis zeigen, dass eine andere Wortauswahl z. B. „Tumor“ anstatt „Krebs“ bei der Patientenaufklärung – falls das medizinisch und ethisch vertretbar ist – noch nützlicher sein kann. Dabei können die aufbereiteten Informationsbroschüren über Krebs für Muslime in ihren Muttersprachen bei der Patientenaufklärung hilfreich sein. Manche davon sind jedoch mit Vorsicht zu genießen, weil viele

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Übersetzungen ins Deutsche das Bildungsniveau und den kulturell-religiösen Hintergrund der Patienten nicht berücksichtigen. Diese Broschüren sollten von professionellen Übersetzern, die kulturspezifisch-medizinische Kenntnisse besitzen, mit einer einfachen Sprache didaktisch und inhaltlich gut aufbereitet werden. So sollte mehrsprachiges für Patienten verständliches Informationsangebot in allen Einrichtungen des Gesundheitswesens verstärkt werden. In der Praxis wird von den Angehörigen eines muslimischen Patienten oft der Wunsch geäußert eine infauste Diagnose und Prognose der betroffenen Person nicht mitzuteilen. Durch das Vorenthalten einer schlechten Diagnose und Prognose möchten die Familienangehörigen den Patienten schonen und sein Wohlbefinden nicht beeinträchtigen. Diese Praxis ist in den muslimischen Ländern – anders als in Deutschland – eine weit verbreitete Vorgehensweise. Wie soll aber ein deutscher Arzt mit dieser Situation umgehen? Wie soll das Recht auf Wissen als natürliche Konsequenz der Patientenautonomie in solchen Situation realisiert werden? Kann das Recht auf Nicht-Wissen allein durch den Wunsch der Familienangehörigen bevorzugt werden? Wie sollen und können die ethischen Implikationen der Patientenautonomie in einem interkulturellen Arzt-Patienten-Angehörigen-Verhältnis konkretisiert werden? Was ist die Reichweite der kulturbedingten Präferenzen im Gesundheitswesen einer wertpluralen Gesellschaft? Es dürfte ersichtlich sein, dass eine auf die Routine reduzierte Vorgehensweise in solchen Situationen kaum eine Lösung anbieten kann. Die wesentliche Herausforderung besteht in diesen Fällen darin, herauszufinden, ob der Patient dem geäußerten Wunsch der Familienangehörigen zustimmt. Es soll aber zugegeben werden, dass die Feststellung dieser Einstellung aufgrund der sprachlichen und kulturellen Barrieren sehr schwierig sein kann. Eine weitere Schwierigkeit besteht in der Durchführung bestimmter medizinischer Maßnahmen. Der Erfolg solcher medizinischen Einsätze erfordert eine Einwilligung des Patienten, die wiederum ohne Aufklärung nicht entstehen kann. Deswegen darf die Weitergabe oder das Vorenthalten einer Krebsdiagnose in der Onkologie nicht auf das Recht auf Wissen und Nicht-Wissen reduziert werden. Ähnliche Problemfelder sind auch bei der Krebsbehandlung der Kinder muslimischer Eltern vorstellbar. Die allgemeine Schwierigkeit den Kindern die Diagnose Krebs mitzuteilen, gewinnt in einem interkulturellen Kontext eine zusätzliche Komplexität. Dabei ist nicht außer Acht zu lassen, dass ein Therapieerfolg unmittelbar mit der gelungenen Aufklärung der Eltern verbunden ist. Diese erfordert wiederum Überwindung der sprachlichen und kulturellen Barrieren.

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Die praktischen Erfahrungen zeigen, dass die unterschiedlichen Krebsfrüherkennungsuntersuchungen von muslimischen Patienten signifikant wenig genutzt werden. Durch dezidierte und zielgerichtete Aufklärungskampagnen können in diesem Bereich sehr viel erreicht werden.

5.5. Kinder- und JugendmedizinIn der Kinder- und Jugendmedizin ist das klassische Arzt-Patienten-Verhältnis oft durch die Eltern erweitert. Abhängig vom Alter des Kindes verändert sich auch die Rolle und Einflussnahme der Eltern bei der medizinischen Versorgung. Nicht selten entstehen in der medizinischen Praxis Probleme und Konflikte bei der Behandlung der Kinder ausländischer Eltern, die zu sprachlichen und kulturellen Barrieren zurückzuführen sind. Berücksichtigt man den ständig ansteigenden Anteil der ausländischen bzw. muslimischen Kinder in der gesamten Bevölkerung in Deutschland, so erreichen diese Probleme in der Kinder- und Jugendmedizin eine signifikante Größe. In manchen Kinderkliniken und Kinderarztpraxen steigt sogar der Anteil der ausländischen Kinder bis zu 50 %, wo die Ärzte und das Pflegepersonal sich in vieler Hinsicht überfordert fühlen. Eine fundierte Analyse zeigt, dass diese Probleme nicht nur auf die religiösen Überzeugungen zurückzuführen sind, sondern auch zu sozialen und traditionell sittlichen Einstellungen. Deswegen erfordert eine Konfliktlösung in der Kinder- und Jugendmedizin oft eine differenzierende Analyse des Problems. Die Kommunikation stellt in der Kinder- und Jugendmedizin – wie in anderen medizinischen Bereichen auch – ein wichtiges Problemfeld dar. Oft ist eine gelungene Verständigung vor allem mit der Mutter nötig, um einen Mindestmaß an medizinischer Versorgung zu gewährleisten. Sie beherrschen wiederum oft die deutsche Sprache nicht und benötigen deswegen eine Übersetzungshilfe von außen. Die Dolmetschertätigkeit alleine darf jedoch nicht immer als Lösung der ganzen Kommunikationsprobleme betrachtet werden. Nicht selten führt eine Übersetzungstätigkeit selbst zu ethischen Schwierigkeiten.Der islamische Glaube legt einige Rechte und Verpflichtungen im Eltern-Kind-Verhältnis fest. So sind die Eltern verantwortlich für die Durchführung erforderlicher Maßnahmen, um die Gesundheit ihres Kindes zu bewahren und im Krankheitsfall wiederherzustellen. Das Kind hat einen Anspruch auf körperliche Unversehrtheit und auf präventive und kurative Gesundheitsfürsorge. Vater und Mutter sind dem Koran zufolge verpflichtet, für den Lebensunterhalt und die Kleidung ihrer Kinder zu sorgen (Sure 2/233). Sicherlich werden diese elterlichen Verpflichtungen nicht isoliert vom eigenen Glauben und den eigenen

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Wertvorstellungen wahrgenommen und praktiziert. Aus der Perspektive der muslimischen Eltern wird oft der Wunsch nach Achtung der islamischen Speisevorschriften – z. B. schweinefleischfreie Kost für ihr Kind – geäußert. Ebenso besteht häufig der Wunsch, dass Mädchen ab der Pubertät von einer Ärztin untersucht und von einer Krankenschwester betreut werden. Neben diesen Konfliktbereichen beeinflussen andere traditionell sittliche Einstellungen der muslimischen Eltern den Umgang mit ihren kranken Kindern. Oft werden die somatischen Symptome (Fieber, Husten, Appetitlosigkeit, Schmerzen, Hautausschlag etc.) der Kinder mit einer besonderen Aufmerksamkeit wahrgenommen und danach wird sofort ein Arzt aufgesucht. Dagegen werden psychische Symptome (Lernschwierigkeiten, Aggression, Depression etc.) oder seelische Entwicklungsstörungen oft verkannt, übersehen oder verdrängt. Deswegen gewinnen bei den Kindern solcher Familien die regelmäßigen Kontrolluntersuchungen (U1-9) eine zusätzliche Bedeutung. Es ist oft Aufklärungsarbeit nötig, um die Familien von der Wichtigkeit dieser Untersuchungen zu überzeugen. Wahrscheinlich führt die allgemeine Vorstellung, dass man erst nach Ausbruch einer Erkrankung einen Arzt besucht dazu, dass die Bedeutung präventiver Untersuchungen verkannt und unterschätzt wird. Eine besondere Schwierigkeit erlebt man in der Praxis, wenn es um chronische Kinderkrankheiten und die damit verbundenen medizinischen Maßnahmen geht. Eine optimale medizinische Versorgung dieser Kinder hängt von einer intensiven Aufklärung der Eltern ab. Sie sollten über den Charakter der chronischen Krankheit, die damit verbundenen medizinischen Maßnahmen, Umgangsformen und Diätvorschriften ausführlich und gegebenenfalls in ihrer Muttersprache informiert werden.

6. Krankheit und Tod im BuddhismusIm Buddhismus geht es um die Erkenntnis, dass man nicht der eigene Körper ist, sondern diesen hat und ihn darum möglichst sinnvoll - wie ein Werkzeug - nutzen sollte. Was man als "Selbst" erlebt, sei in Wirklichkeit nichts anderes als ein unzerstörbarer und unbegrenzter Strom von Bewusstsein.

6.1. KrankheitsdeutungDie buddhistische Lehre besagt, dass für die Entstehung von Krankheit und Leid zweierlei Arten von Ursachen verantwortlich sind: die inneren und die äußeren.

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Die inneren Ursachen gingen dabei den äußeren voraus, denn ohne der Anhaftung und den daraus resultierenden unheilvollen Handlungen könnten die äußeren Ursachen und Bedingungen gar nicht erst entstehen. Alles entstehe aus dem Geist und sei durch den Geist bedingt. Hier liegt denn auch der Schlüssel zu Heilung und Gesundheit, und dies meint nicht nur die Genesung von Erkrankungen, sondern auch das Bestreben, keine neuen Krankheitsursachen zu schaffen.Die eigentliche Lösung der Frage nach den Ursachen liegt für die buddhistische Lehre in den inneren Ursachen, im Geist selbst und seinen negativen Eindrücken aus unheilsamen Handlungen. Äußere Umstände gelten nur als die Bedingungen und nicht die Hauptverursacher der Erkrankung.Deshalb würde auch jemand, der die innere Ursache für eine Krankheit nicht in sich trägt, auch dann gesund, wenn er infiziert wird. Die innere Ursache, der negative karmische Eindruck im Geistesstrom, sei bei diesem Menschen nicht vorhanden. Wer sich hingegen die innere Ursache geschaffen hat, würde mit Sicherheit erkranken, solange er nichts tut, um diesen Umstand zu verändern.Erst dann, so lautet die Botschaft des Buddhismus, wenn wir klar verstehen, dass es neben äußeren Gründen auch innere gibt, können wir unsere Lebensprobleme überwinden. Ein (äußeres) Problem entstehe nämlich immer wieder neu, wenn die Ursachen dafür immer wieder aufs neue geschaffen werden. Deshalb, selbst wenn eine Krankheit durch Medikamente oder chirurgische Eingriffe geheilt wird, könne die Person, wenn sie danach erneut die krankmachenden Ursachen und Bedingungen erschafft oder beibehält, wieder erkranken und muss erneut behandelt werden.Für den Heilungsprozess sei auch die Überwindung von festgefahrenen Vorstellungen über die Erkrankung selbst wichtig, etwa in der Form: „Weil ich Krebs habe, werde ich sterben" oder „Wenn ich keinen Krebs habe, werde ich noch lange leben". Solche Auffassungen würden in die Irre führen, denn die Gesundheit, das Leben und das Glück würden davon abhängen, ob und wie gut wir diese falschen Vorstellungen durchbrechen.Schwere Krankheiten sind lebensbedrohlich, wenn es keine Arzneien gibt, durch die man (vollständig) geheilt werden kann. Dennoch zählen Alter, Krankheit, Tod und viele andere Probleme zu unserem Leben, zu seinen grundsätzlichen Bedingungen überhaupt. Das Verschließen vor dieser Realität und das Verleugnen der eigenen Sterblichkeit führe in eine Sackgasse und erzeuge negative Gefühle wie beispielsweise Angst, die in der Folge wieder Erkrankungen nach sich ziehen.

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Ganz im Gegenteil, so legt es der Buddhismus nahe, sollten wir die Einstellungen zu unserem Lebens verändern und mit Vorbereitungen beginnen, um letztlich, nach einem erfüllten Leben, eines glücklichen Todes zu sterben.Selbst wenn wir nur einem Wesen Frieden und Glück bringen, erfüllt sich nach buddhistischer Lehre der Sinn unseres Lebens. Im Buddhismus ist es das letztendliche Ziel unseres Daseins, eins zu werden mit allem und darum auch, Probleme und Krankheiten anderer auf uns zu nehmen, unser Leben für andere hinzugeben, so wie es unzählige Bodhisattvas (aber auch Jesus am Kreuz) taten. Diese Haltung zerstöre die falsche Vorstellung von einem aus sich selbst heraus existierenden Ich und die daraus folgende Selbstsucht. Dadurch könne sich das Potential unseres Geistes entfalten und wir könnten erfahren, dass nicht Gesundheit das Wichtigste im Leben ist. Gleich ob man gesund oder krank ist, ob das Leben leicht oder schwierig ist, wichtig sei, dass man nicht anhaftet. Die Anhaftung nämlich mache den Geist unklar und verwirrt - und mache noch unzufriedener.Das falsche Ich wird als den Urheber aller Probleme, aller Krankheiten und Fehlschläge im Leben betrachtet. Und die Selbstsucht, die aus dem falschen Ich erwächst, als die folgenschwerste Erkrankung. Denn nicht der Tod an sich sei bedrohlich, bedrohlich mache den Tod nur eine selbstsüchtige Haltung. Menschen verleugneten deshalb den Tod und klammerten sich an das Leben an, möchten es nicht loslassen. Die selbstsüchtige Haltung erachte das eigene Ich als kostbarer und wichtiger als ein anderes Lebewesen und will nicht akzeptieren, dass alle durch den Tod gehen müssen. Die Angst vor ihm ist nach buddhistischer Lehre aber nur eine Projektion, eine falsche Vorstellung des - verwirrten - Geistes. Die tiefe Wertschätzung anderer nimmt dem Tod deshalb, wie es buddhistische Lehrer unermüdlich verkünden, alles Beängstigende und Schwierige.Die Selbstsucht hingegen schade Tag für Tag. Sie sei die Ursache von Erkrankungen und die Wurzel negativer Handlungen. Sie bringe Menschen dazu, einander weh zu tun und Probleme zu bereiten. Eine Veränderung dieser Einstellungen sei deshalb das Wichtigste. Der Geist müsse von jener Haltung befreit werden, die all die Krankheiten und Probleme schafft. Das ist Ziel und Aufgabe von Heilmeditationen, wie etwa der Meditation des Nehmens und Gebens (tong len) des tibetischen Buddhismus, in der man selbstlos das Leid von anderen Menschen auf sich nimmt und sein eigenes Glück und seine Verdienste voll Güte an andere Wesen weitergibt.Man geht davon aus, dass Heilmediationen zur Linderung und Auflösung negativen Karmas und zur Stärkung des Mitgefühls kräftigen zugleich

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den Körper gesund erhalten. Wichtig sei aber auch die entsprechende Disziplin, Meditationen und Reinigungsübungen auch dann konsequent durchzuführen, wenn man im gewohnten Alltagsleben mit seinen vielfältigen Anforderungen und Schwierigkeiten steht (um nicht wieder ins Chaos zu versinken).Empfohlen wird, Heilmeditationen (wie die des Nehmens und Gebens) während der morgendlichen und abendlichen Mediationspraxis zu üben. Doch auch sonst sei es wichtig, den Kreislauf der negativen Gedanken zu durchbrechen. Dazu soll man seine Aufmerksamkeit, sobald der Gedanke an ein Problem entsteht (ganz gleich, womit wir im Moment gerade beschäftigt sind) auf eine altruistische Vorstellung lenken, wie „Ich bin hier, um anderen zu dienen" oder „Ich erfahre diese Erkrankung anstelle aller Lebewesen". Diese Haltung ließe, so z.B. Lama Zopa Rinpoche, die Anspannung im Herzen verschwinden, die aufgrund von Selbstsucht entsteht. Und sie fördere die Entwicklung. Für ein langes Leben, Gesundheit und Erfolg, weltliches und letztendliches Glück, so die buddhistische Überzeugung, brauchen wir Verdienst, positive Energie. Das sei das Gesetz des Karmas, das Gesetz von Ursache und Wirkung. Je mehr Verdienst anhäuft würde, desto mehr „Zinsen" (langes Leben, Gesundheit und Glück) ließen sich auch erwerben - letztlich um damit auch wieder das Glück und das Wohl der Wesen zu erwirken, in Harmonie mit allen und mit der Welt.

6.2. Der Tod Nach buddhistischer Überzeugung verlässt das Bewusstsein im Moment des Todes den sterbenden Körper, um sich - gesteuert durch unbewusste Eindrücke im Geist, also Karma - nach einer bestimmten Zeit wieder mit einem neuen Körper zu verbinden. Daher ist Sterben für einen Buddhisten in letzter Konsequenz etwas ähnliches wie "Kleider wechseln". Erleuchtete seien dann nicht mehr von diesem Prozess abhängig. Sie könnten ihren Sterbevorgang bewusst steuern, um eine Wiedergeburt zu erlangen, in der sie für möglichst viele Menschen nützlich sind. Im Diamantweg wird eine Möglichkeit empfohlen, sich zusätzlich durch die Meditation des bewußten Sterbens (tibetisch: Phowa), die während des natürlichen Sterbeprozesses durchgeführt wird, das Bewusstsein in einen befreiten Zustand überführen. Wenn in vielen Religionen der Tod der endgültige Abschluss des Lebens gilt, so gilt das nicht für den Buddhismus. Hier ist der Tod nichts weiter, als ein Schritt auf dem Weg ins Nirwana.

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6.2.1. Der Tod – Ein Anlass zur FreudeAuf den ersten Blick mag es verwunderlich wirken, dass im Buddhismus um einen Toten nicht getrauert wird, sondern er viel mehr als ein Anlass zur Freude gilt. Der Kern der buddhistischen Lehre ist davon geprägt, dass es kein beständiges Ich, keine Seele gibt. Aus dieser Überzeugung heraus erscheint es logisch und sinnvoll den Tod nicht zu betrauern, denn der Körper ist danach lediglich eine Leihgabe um dem Karma zu folgen, der Lehre von Ursache und Wirkung. Nach dem Tod wird der Körper verlassen und der Mensch wird in einem neuen Körper wiedergeboren. Dieser Leidenskreislauf, wie er zum Beispiel auch im buddhistischen Rad des Lebens dargestellt wird, hält so lange an, bis der Weg zur Erleuchtung vollendet ist. Der Edle Achtfache Pfad gilt dabei als Weg, der zum Austritt aus dem Leidenskreislauf führt.

6.2.2. Wiedergeburt ist keine SeelenwanderungHäufig wird das buddhistische Konzept der Wiedergeburt mit der Seelenwanderung verwechselt oder gleichgesetzt. Da es in Buddhas Lehre aber keine Seele gibt, kann eine Wanderung selbiger auch nicht stattfinden. Die Wiedergeburt im buddhistischen Sinne ist ein Bedingungszusammenhang, in welchem das Karma vollends zur Entfaltung kommt und ein bestimmter Zustand einen späteren bestimmt. Die Wiedergeburt erfolgt direkt nach dem Tod, so wird beispielsweise auch das Geschlecht des Kindes nicht etwa durch das Zusammentreffen von x- und y- Chromosomen bestimmt, sondern viel mehr durch die Lehre von Ursache und Wirkung.

6.2.3. Sterbebegleitung im BuddhismusDas Phowa ist eine Meditationspraxis, welche besonders im tibetischen Buddhismus Anwendung findet und den Sterbenden in seinen letzten Stunden begleiten soll. Es handelt sich dabei um eine Bewusstseinsübertragung, die zu den Sechs Yogas von Naropa gezählt wird, eine zusammenfassende Bezeichnung für ein in sich geschlossenes Curriculum fortgeschrittener, tantrischer Meditationstechniken des Vajrayana-Buddhismus. Gemäß dieser Lehre verlässt das Bewusstsein nach dem Tod den Körper durch eine von neun Körperöffnungen, welche auch als Tore zu den sechs Bereichen der Wiedergeburt gelten. Eine zehnte Öffnung, die auch Brahmanische Öffnung genannt wird, liegt auf dem Mittelpunkt des Scheitels, der Fontanelle. Mit Hilfe der Phowa Meditationspraxis soll dieses zehnte Tor geöffnet werden.

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6.2.4. Das BegräbnisEine konkrete Form des Begräbnisses gibt es im Buddhismus nicht. Die Art und Weise der Beisetzung ist stark von regionalen Einflüssen abhängig und kann je nachdem, ob die Zeremonie beispielsweise in Japan, Tibet oder China stattfindet, vollkommen anders aussehen. Oftmals gelten Stupas, die von ihrem Ursprung her als Grabhügel dienten, als Begräbnisort und Stätte der Ehrerbietung für besondere Menschen, oft auch solche, welche die Buddhaschaft erreicht haben.

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7. „Moderne“ Erklärungsmodelle7.1. Bio-medizinisches ModellUnter Ärzten hier in Deutschland gilt das bio-medizinische Modell als das derzeit grundlegende und dominierende Erklärungsmuster. Historisch entwickelte es sich seit dem Ausgang des Mittelalters, der Etablierung des Ärztestandes und dem Aufkommen der wissenschaftlichen Ausbildung der Ärzte. Seit dieser Zeit geriet der Umgang mit Krankheiten immer mehr in den Zuständigkeitsbereich des Arztes. Gleichzeitig wurden diese immer weniger als eine Angelegenheit der Kirche, der Seelsorge, der Familie oder des Individuums betrachtet. Besonders durch die Erfolge der wissenschaftlich begründeten Medizin bei der Bekämpfung der Infektionskrankheiten im 19.Jhd. setzte sich dieses Krankheitsmodell bis zum letzten Viertel des 20. Jahrhunderts in den westlichen Industrienationen fast konkurrenzlos durch. Das bio-medizinische Erklärungsmodell basiert auf der Annahme, dass jede Erkrankung auf bestimmte und erkennbare biologische Ursachen zurückgeführt werden kann. Diese Ursachen führen danach zu einer Schädigung von Zellen oder Gewebe oder zu einer Disregulation von mechanischen oder biochemischen Prozessen. Aufgrund der äußeren Anzeichen einer Krankheit( Symptome ), erstellen wissenschaftlich ausgebildete Ärzte eine Diagnose und sprechen darauf hin Therapieempfehlungen aus. Aus dieser Sicht heraus lassen sich Krankheitsverläufe beschreiben und vorhersagen. Die angebotenen Therapien basieren vor allem auf Maßnamen mechanischer Korrekturen, strahlentechnischer Interventionen, biochemischer Bekämpfung von Erregern, der Substitution von körpereigenen Stoffen und der Beeinflussung des Stoffwechselgeschehens durch Zuführung von bestimmten Substanzen. Dieses Erklärungsmodell beschreibt den Ursache-Wirkungs-Zusammenhang grundsätzlich auf einer rein körperlicher Ebene. Als Ursachen werden dabei, abgeleitet aus der Erforschung der Infektionskrankheiten, vor allem das Eindringen oder die Einwirken äußerer Ursachen (Mikroorganismus, Verletzung) verstanden. Später wurde dann, im Zuge der Erforschung von Stoffwechselerkrankungen, auch Fehlfunktionen interner Steuerungsmechanismen als Erkrankungsursache angesehen. Seit der zunehmenden Verbreitung der sog. Zivilisationskrankheiten sowie chronischer Erkrankungen in den Industrienationen gegen Ende des 20 Jahrhunderts regt sich nun allerdings immer mehr Kritik an diesem Erklärungsmodell. Einerseits kämpften die Vertreter der "Alternativmedizin" um eine Erweiterung der Sicht von Krankheit und um ein seriöses Image ihrer alternativen Heilweisen. Anderen wiederum

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erscheint besonders die Verknüpfung der "Schulmedizin" mit der Pharma- und medizinischen Geräteindustrie und ihr staatlich sanktionierter Alleinvertretungsanspruch verdächtig. Die Schulmedizin hat nun allerdings, im Zuge der sich entwickelnden medizinischen Forschung und angesichts des vermehrten Auftretens chronischer und altersbedingter Krankheitsbilder, zusätzliche Erklärungsansätze in ihr Modell integriert. In den Grundannahmen allerdings bleibt das bio-medizinische Modell für die Schulmedizin das dominierende Paradigma. Kritiker bemängeln vor allem, dass:

– das bio-medizinische Krankheitsmodell in seiner Sichtweise beschränkt sei und nur einen Teil der Krankheitsursachen berücksichtigt. Problematisch sei dabei das Übertragen des beschränkten Ursache-Wirkungs-Schemas auf funktionelle und psychische Störungen sowie die gegenwärtigen chronischen Zivilisationskrankheiten (Arthrose, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Krebs usw.) die nur teilweise erklärt und behandelt werden können. Ebenso blieben psychosoziale Einflussfaktoren auf den Verlauf von Krankheiten auf Gesundung und Rehabilitation außer Betracht.

– das medizinische Krankheitsmodell ineffektiv in der Heilung von Erkrankungen sei. Zur Begründung werden statistisch signifikante Zusammenhänge zwischen der allgemeinen Gesundheitsverbesserung im letzten Jahrhundert und den Verbesserungen in der Ernährung den Umwelt - und Lebensbedingungen sowie im individuellen Gesundheitsverhalten angeführt.

– die Möglichkeiten der Prävention außerhalb des Blickfeldes blieben. Medizinische Interventionen würden erst dann als notwendig erachtet, wenn eine Erkrankung bereits manifest geworden sei.

– das bio-medizinische Modell der Krankheit die Dominanz der Ärzte im Gesundheitswesen festige. Andere Gesundheitsberufe wären weisungsabhängig oder würden verdrängt.

– das bio-medizinische Krankheitsmodell zur Medikalisierung sozialer und gesellschaftlicher Probleme führe.

– die Vorherrschaft des bio-medizinischen Krankheitsmodells zur Ausblendung und Inkaufnahme vielfältiger Nebenwirkungen von medizinischen Maßnahmen führe.

– die bio-medizinische Krankheitssicht zu Verdeckung und Stützung der Allianz zwischen Ärzten Krankenkassen, Staat und der

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Pharma- und geräteproduzierende Industrie führe und so Gewinnmaximierung und nicht Heilung als Systemziel anstrebe.

– die durch dieses Modell seine Institutionalisierung und Legitimierung geschaffenen Verhältnisse zu einer unbeherrschbaren Kostenexplosion im Gesundheitswesen führe, die zu Lasten der Betroffenen geht.

7.2. lebensgeschichtliches ModelleHier in diesem Deutungsrahmen werden eintretende Phänomene (wie eben auch Krankheiten) als Folgen lebensgeschichtlicher Ereignisse erklärt. Dabei können die Ereignisse sowohl weit (Kindheit), als auch erst kurz zurückliegen. So hält man dann die Depression als die Folge von Vernachlässigungen in der Kindheit, einer Ehekrise oder eines Berufskonfliktes

7.3. psychoanalytisches ModellNach diesem Modell liegt der Entstehung von Krankheit ein Konflikt zwischen Triebimpulsen und sozialen Normen zugrunde. Das Ich könne keine Einigung zwischen Über-Ich und Es erzielen und infolgedessen gerieten körperliche und seelische Homöostase aus dem Gleichgewicht.

7.4. psychosomatisches Modell In diesem Erklärungsmodell werden seelische Konflikte als Ursachen für körperliche Erkrankungen des Menschen angesehen. Dabei gibt es unterschiedliche Auffassungen darüber, wie sich psychische Faktoren konkret in organische Beschwerden umsetzen. Obwohl sich die Psychosomatik vorrangig mit den sog. psychosomatischen Krankheiten (z.B. Ulcus Duodeni, bestimmte Hauterkrankungen, Bluthochdruck, Asthma usw.) befasst, besteht der Anspruch diesen Erklärungsansatz auf alle Erkrankungen anwenden zu können. Zunehmend werden heute psychosomatische begründete Therapien auch im Rahmen der Onkologie- Nachsorge angewendet. Als Ursachen für psychosomatische Erkrankungen gelten vor allem unbewältigte Konflikte, Kindheitstraumata und aktuelle Belastungen durch bedrohliche und existenzielle Erfahrungen. Die Therapienformen umfassen die gesamte Bandbreite der psychotherapeutisch begründeten Interventionen. Auch die psychosomatischen Erklärungen von Krankheit beruhen wie alle anderen Krankheitsmodelle auf der Annahme einer erkennbaren

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Ursache-Wirkungsbeziehung. Im Gegensatz zu dem bio-medizinischen Modell wird hier nun die äußere Einwirkung oder physische Fehlregulation durch psychische Variablen wie psychische Konflikte oder unbewältigte Traumata ersetzt. Kritiker bemängeln, dass sich auch dieses Modell überwiegend an individuellen Faktoren orientiert und soziale Zusammenhänge dabei außer Acht lassen. Weiterhin wird auch darauf hingewiesen, dass hier die Gefahr bestünde, psychische Einflussfaktoren übermäßig zu bewerten. Hinsichtlich der Effizienz wird bemängelt, dass die meisten Therapieformen sehr aufwendig und zeitintensiv seien und auch sprachlich eine deutliche Mittelschichtorientierung aufweisen. Damit würde die Gruppe der gering Verdienenden und durch ihre Lebenslage besonders Belasteten nicht erreicht.

7.5. Stress-Coping-Modell Dieses Modell kann als eine Weiterentwicklung des psychosomatischen Modells angesehen werden und lässt sich zwischen den psychosomatischen und den soziologischen Krankheitsmodellen einordnen. Das Besondere ist, dass hier der organische Krankheitsverlauf zu sozialen und umweltbezogenen Faktoren in Beziehung gesetzt wird. Als Krankheitsursachen werden dabei soziale psychische und umweltbedingte Stressoren ins Blickfeld genommen. Zu diesen lassen sich z.B. schichtspezifische Benachteiligungen, langandauernde Belastungen und Konflikte sowie akute Belastungen sog. „life events“ zählen. Allerdings spielen die Möglichkeiten des Einzelnen mit den Belastungen umzugehen (Stress-Coping) eine große Rolle für die Ausprägung des somatischen Geschehens. So haben die spezifischen Bewältigungsmöglichkeiten einen großen Einfluss auf Vermeidung, Entstehungszeitpunkt, Verlauf und Heilungschancen von Erkrankungen.12 Dabei können Bewältigungsmechanismen sowohl persönlicher wie kollektiver Natur sein:

– individuelle Copingmechanismen: individuelle Fähigkeiten und Strategien der Problemlösung; umgekehrt können ungeeignete Bewältigungsstrategien krankheitsverursachend sein (z.B. Alkoholmissbrauch ).

– Kollektive Copingmechanismen: ausreichende Unterstützung in positiven primären (Ehepartner, Familie, enge Freundschaften) und sekundären (Arbeitskollegen, Nachbarschaft, Vereinsmitglieder usw.) sozialen Beziehungen. Durch diese sozialen Bindungen

12 Siehe die Ergebnisse der Resilienzforschung

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können Stressoren neutralisiert und die Gesundheit erhalten werden bzw. wird positiv auf die Gesundung eingewirkt.

Die Hilfeleistungen mobilisieren die Bewältigungsressourcen des Betroffenen und unterstützen ihn bei der Bearbeitung der anstehenden Konflikte. Sie können darüber hinaus praktische Unterstützung im Alltag finanzielle Zuwendungen und Orientierungshilfen beinhalten. Die Therapieformen orientieren sich an denen des medizinischen und psychosomatischen Modells. Obwohl die Bedeutung von Stressfaktoren, zumindest für die Auslösung von Erkrankungen, auch in der Schulmedizin immer mehr anerkannt wird, gibt es dennoch Vorbehalte. So wird betont, dass persönliche und soziale Belastungen immer nur dann relevant werden, wenn sie subjektiv als Stress erlebt werden. Auch sei es fraglich, ob im Forschungslabor gewonnene Testergebnisse zum Einfluss von Stressoren ohne weiteres auf Lebenssituationen übertragbar seien. Außerdem wird immer wieder betont, dass physiologische Zusammenhänge zwischen sozialer Situation - Stress - Krankheit ist nicht eindeutig nachweisbar seien.

7.6. soziologisches ModellIm soziologischen Modell stehen die Lebensverhältnisse eines Individuums im Mittelpunkt. Nach diesem Modell können Krankheiten entstehen, wenn ein Mensch unter Problemen im sozialen Bereich (z. B. Verlust des Arbeitsplatzes) leidet. Ein Mensch ist nach diesem Modell krank, wenn er die eine seine soziale Rolle gestellten Anforderungen nicht mehr erfüllen kann.

7.7. verhaltenstheoretisches Modell (Risikofaktoren Modell)Dieses Modell stellt Lernvorgänge (operante Konditionierung, klassische Konditionierung, Lernen am Modell) bei der Entstehung von Krankheiten in den Mittelpunkt. Als Krankheit definiert man nach diesem Modell fehlerhaftes Verhalten oder auch die Auswirkungen eines Verhaltens. Dieses Modell, dem auch als „Risikofaktoren Modell“ zugeordnet werden kann, entwickelte sich in Reaktion auf den Vormarsch der sog. Zivilisationskrankheiten. Die medizinischen Forschungen ergaben einen wesentlichen Zusammenhang zwischen vermehrt auftretenden Erkrankungen wie Herzinfarkt, bestimmten Krebsarten wie z.B. Lungenkarzinom u.a. und bestimmten Vorerkrankungen und einer zivilisationstypischen Lebensweise. Als Risikofaktoren wurden vor allem Rauchen, Alkoholkonsum, Bewegungsmangel, Bluthochdruck Übergewicht aber auch vermehrter

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Stress identifiziert. Dabei wird in diesem Modell die gesellschaftlich bedingte Dimension von Krankheiten deutlich hervorgehoben. So wird auch darauf hingewiesen, dass Menschen, die sich gesellschaftskonform verhalten, gerade dadurch zu Risikoträgern werden. Gerade in den letzten Jahren wurden die Erkenntnisse über Gesundheitsrisiken durch ungesunde Lebensweisen, vor allem in der Rehabilitation nach speziellen Erkrankungen berücksichtigt. Dabei fanden diese, z.T. auch in sehr verkürztender Darstellung, in den Medien starke Beachtung. So sind diese, gerade auch auf diese Weise, in wenigen Jahren zum Teil des Allgemeinwissens geworden und hatten einer neuen "Bewegungskultur" ( Joggen, Walken, Volksläufe aber auch andere Sportarten) starken Auftrieb gegeben. Allerdings ist der Zusammenhang zwischen einer bestimmten Lebensweise und einer Erkrankung ein statistischer und bezieht sich somit auf Gruppen und lässt sich nicht gültig für das einzelne Individuum ableiten. So eignet er sich auch nicht für Prognosen im Einzelfall sondern kann auf der Ebene des Individuums nur Wahrscheinlichkeiten annehmen. So kann dieses Modell letztendlich auch nicht das Auftreten oder Ausbleiben von Krankheiten beim einzelnen Menschen erklären. Riskant bei diesem Modell ist, dass andere mögliche Erklärungs- und Bewältigungsstrategien nicht berücksichtigt, schnell aus dem Blickfeld geraten und vernachlässigt werden.

7.8. multifaktorielles Modell In den letzten Jahren hat sich als Ergebnis der fachlichen und öffentlichen Diskussion ein Trend herausgebildet, in dem die verschiedenen Ansätze in der Krankheitsdefinition und -beschreibung miteinander kombiniert werden. Hintergrund dafür ist die Erkenntnis, dass ein einfaches Verständnis von Krankheit nicht ausreicht um Ursachen, Verläufe und Heilungsbedingungen zu klären. So wurden vor allem auch die Erkenntnisse der Stress-Coping-Forschung und des Riskofaktoren-Modells aber auch Teile des psychosomatischen Krankheitsmodells in das bio-medizinische integriert und so etwas wie ein multifaktorielles Krankheitsmodell generiert. Die Grundgedanken dieses multifaktoriellen Krankheitsmodells lassen sich wie folgt zusammenfassen:

– Es gibt genetisch vorgegebene und umweltbezogene Rahmenbedingungen innerhalb derer sich ein Krankheitsgeschehen manifestiert. Hier spielen sowohl körperliche Beeinträchtigungen am Arbeitsplatz z.B. durch Schadstoffbelastungen wie durch ungesunde Wohnverhältnisse

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beispielsweise mit starker Lärmbelästigung oder sonst ein Kontakt mit gesundheitsgefährdenden Stoffen eine Rolle. Soweit es sich nicht um Unfälle oder solchen direkten äußeren Einwirkungen handelt ist ein komplexes Geschehen am Ausbruch einer Krankheit beteiligt.

– Als Auslöser von Erkrankungen müssen innerhalb dieses Rahmens psychosomatische Faktoren stressbedingte Belastungen Riskoverhalten und Belastungsreaktionen durch aktuelle Ereignisse durch life events in Betracht gezogen werden.

– Selbst beim Vorliegen der genannten Belastungen ist eine Manifestation der Erkrankung noch nicht unausweichlich. Individuelle und kollektive Coping-Strategien können die Krankheitsreaktion noch immer verhindern oder abschwächen.

– Das manifeste Krankheitsgeschehen steht schließlich am Ende eines komplexen Prozesses in dem indivuelle Belastungen und Ressourcen gesellschaftliche Bedingungen kollektive Bewältigungsmuster und aktuelle Ereignisse zusammen wirken.

Ausgehend von den Annahmen eines multifaktorielle Krankheitsmodells ist es notwendig in jedem Fall die besonderen Bedingungen zur Auslösung einer Erkrankung zu rekonstruieren um die bestmöglichen Heilungschancen zu realisieren. So wird es nicht viel nützen wenn zur Linderung von Krankheitssymptomen bestimmte Medikamente zu Einsatz kommen das soziale Umfeld oder die belastende familiäre Situation des Patienten außer Acht bleibt die evt. einen bedeutenden Anteil am Ausbruch der Erkrankung hatte. Ebenso kommt die Notwendigkeit einer gezielten Gesundheitsprävention und -vorsorge bei bekannten Belastungsfaktoren in das Blickfeld. Durch Erweiterung und Veränderung der Leistungen im Gesundheitssystem wurde in den letzten Jahren versucht z.B. durch die systematische Ausweitung von Vorsorgeuntersuchungen auf diese Einsichten zu reagieren. Allerdings hat auch dieses Modell Grenzen:

– Zwar werden hier wesentliche Elemente einer ganzheitlichen Sicht von Krankheit zusammengefasst, doch geschieht dies im Wesentlichen additiv. Eine wirklich ganzheitliche Herangehensweise wäre dabei mehr als nur die Summe verschiedener Aspekte.

– Die Addition der Faktoren ergibt eine im Rahmen des bestehenden Gesundheitssystems nicht zu finanzierende Liste an möglichen Leistungen. Dabei führt die Ausweitung der Leistungen bereits jetzt an die Grenzen des Finanzierbaren.

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– Die Vielzahl von Faktoren ist in keiner entwickelten einheitlichen Diagnostik berücksichtigt. Jeder behandelnde Arzt kann, aufgrund seiner eigenen Perspektive, die sich aus seiner Ausbildung und persönlichen Sichtweise ergibt, immer nur einen Teil der Faktoren erfassen und vernachlässigt andere Gesichtspunkte.

– Die angesprochenen gesellschaftlichen Teilbereiche in denen gesundheitsgefährdende Faktoren auftreten können, sind nicht in einer Weise vernetzt dass eine abgestimmte Handlungsstrategie entwickelt werden könnte. Vielmehr gehorchen die Teilsysteme (Arbeitsmarkt, Bildung, Sozialsystem, Wirtschaft usw.) eigenen Gesetzmäßigkeiten und sperren sich gegen eine Querschnittsplanung.

– Eine umfassende Handlungsstrategie ließe sich konsequent nur auf der individuellen Ebene entwerfen. Hierzu wäre eine Fallsteuerung vonnöten, die in einer Hand läge. Der Patient wird zum Gegenstand von Casemanagement wie man es bereits in Teilbereichen der Rehabilitation und beruflichen Wiedereingliederung umzusetzen versucht. Auch der Vorschlag den Hausärzten wieder eine größere Entscheidungs- und Steuerungsbefugnis zu geben geht in diese Richtung. Umfassendes querschnittsbezogenes Fallmanagement ist ein sehr aufwendiges Verfahren und stößt sehr schnell an die Grenzen der (Teil-) Systemlogiken und der eingeschränkten Finanzierungsmöglichkeiten.

7.9. biologisch-physisch-spitituelles Ganzheitskonzept

In der WHO-Definition (2002) von „Palliative Care“ wird zum ersten Mal in der neueren Medizingeschichte Spiritualität auf eine Ebene gestellt mit physischen und psychosozialen Bedürfnissen. In der Version von 2002 heißt es:

Palliative Care: ist „…ein Ansatz zur Verbesserung der Lebensqualität von Patienten und deren Familien, die mit Problemen konfrontiert sind, die mit einer lebensbedrohlichen Erkrankung einhergehen: durch Vorbeugen und Lindern von Leiden, durch frühzeitiges Erkennen, untadelige Einschätzung und Behandlung von Schmerzen sowie anderen belastenden Beschwerden körperlicher, psychosozialer und spiritueller Art.“

Wenn wir von Spiritualität reden, dann gebrauchen wir einen Begriff, der sehr unterschiedlich gefüllt wird. Aus meiner Erfahrung sind es vor allen

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zwei Traditionslinien, die hier in Deutschland immer wieder (zumeist unreflektiert) aufeinandertreffen.

Spiritualität, so wie sie im Umfeld von Palliativ-Care verwendet wird, ist verständlicherweise aus dem anglo-amerikanischen Kontext heraus zu verstehen. Im weitesten Sinne wird sie als eine Form von Geistigkeit und Lebendigkeit als Gegensatz zum rein rationalen Denken und der Vorstellung von einer rein materiellen Körperlichkeit aufgefasst. In diesem Sinne liegt das Wesen der Spiritualität hinter dem Materiellen verborgen und schließt Aspekte des Lebens wie Bedeutung, Sinn, Verbundenheit und Hoffnung mit ein (Borasio et al. 200513). Sie lässt sich als die Art und Weise verstehen, in der Menschen ihr Leben deuten und angesichts seiner ultimativen Bedeutung und seines Wertes leben (Muldoon und King 199514). Mit dem Begriff Spiritualität wird im Allgemeinen eine nach Sinn und Bedeutung suchende Lebenseinstellung bezeichnet, bei der sich der Suchende seines „göttlichen“, die empirisch fassbare Wirklichkeit transzendierenden Ursprungs bewusst ist und eine Verbundenheit mit anderen Menschen, mit der Natur, mit dem Göttlichen spürt (Büssing und Ostermann 200415). Aus diesem Bewusstsein heraus bemüht sich der Suchende um die konkrete Verwirklichung der Lehren, Erfahrungen oder Einsichten im 13 Borasio, G.D., Fegg, M.J., Wasner, M., Longaker, C. (2005): Effects of spiritual care training for palliative care professionals. Palliative Medicine 19, 99-104.14 Muldoon, M., King, N. (1995): Spirituality, health care, and bioethics. J Relig Health 34, 329-349.15 Büssing, A., Ostermann, T. (2004): Caritas und ihre neuen Dimensionen- Spiritualität und Krankheit. In: Patzek, ed. Caritas plus...Qualität hat einen Namen. Butzon&Bercker, Kevelaer, pp 110-133.

Spiritualität in doppelter Traditionslinie:

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Sinne einer individuell gelebten Spiritualität, die konfessionell oder auch nicht-konfessionell sein kann (Büssing und Ostermann 2004 [Anm.3]). Es gibt eine wachsende Überzeugung, dass Spiritualität gegenüber der Religion mehr elementare und grundlegendere Aspekte beinhaltet (NICE 200416), ist sie doch „eine subjektive Erfahrung, die sowohl inner- als auch außerhalb traditionell religiöser Systeme existiert“ (Brady et al. 199917). Spiritualität kann in Unterscheidung zu Religiosität als ontologisch motivierter Impuls zur Erlangung einer Einheit oder einer Beziehung mit Gott gesehen werden (Hodge 200618). Bewusstes religiöses Erleben ist demnach eine Form des Spirituellen. Spiritualität ist daher sowohl inner- als auch außerhalb von Religionen zu finden und hat unmittelbare Auswirkungen auf die Lebensführung und die ethischen Wertvorstellungen. Spiritualität kann als Kombination von religiösem und existentiellem Wohlbefinden umschrieben werden (Laubmeier et al. 200419, Paloutzian und Ellison 198220). Existentielles Wohlbefinden als nicht religionsgebundene Form des Wohlbefindens ist auch verwandt mit Sinn und Zweck im Leben (Laubmeier et al. 2004, Paloutzian und Ellison 1982).Es gibt einen zunehmenden Konsens darüber, dass Spiritualität gegenüber der Religiosität das breitere Konstrukt ist, das alle Bedürfnisse, Einstellungen, Werte, Überzeugungen und Praktiken mit einschließt, die unsere materielle und objektive Welt übersteigen, besonders was die Bedeutung des Lebens und die Hoffnung betrifft. Spiritualität kann in Unterscheidung zu Religiosität als ontologisch motivierter Impuls zur Erlangung einer Einheit oder einer Beziehung mit Gott gesehen werden (Hodge und 2006). Sie ist trotz messbarer religiöser Eigenschaften, wie z.B. der institutionellen Zugehörigkeit oder der Gottesdienstbesuche nicht dichotom (entweder an- oder abwesend in einer Person). Eckhart Frick beschreibt Spiritualität in moderner Diktion als eine Systemeigenschaft des lebendigen Menschen, die sich durch Subjektivität, Kommunikation und Selbsttranszendenz auszeichnet (Frick 16 NICE (2004): Guidance on Cancer Services. Improving Supportive and Palliative Care for Adults with Cancer. The Manual. National Institute for Clinical Excellance, London, UK. Available at http://www.nice.org.uk.17 Brady, M.J., Peterman, A.H., Fitchet, G. (1999): A case for including spirituality in quality of life measure-ment in oncology. Psychooncology 8, 417-428.18 Hodge, D., (2006): A Template for Spiritual Assessment: A Review of the JCAHO Requirements and Guidelines for Implementation. Social Work 5119 Laubmeier, K.K., Zakowski, S.G., Bair, J.P. (2004): The role of spirituality in the psychological adjustment to cancer: a test of the transactional model of stress and coping. Int J Behav Med 11, pp. 48-55.20 Paloutzian, R., Ellison, C. (1982): Loneliness, spiritual well-being, and the quality of life. In: Peplau L, Perl-man D, eds. Loneliness: a source book of current theory, research, and therapy. Wiley, New York, pp 224-237, pp

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200221). Sie ist also weder eine eigentlich esoterische noch eine religiöse Praktik, sondern primär eine grundlegende Dimension des Menschseins. Daraus lässt sich schlussfolgern: Es ist nicht die Frage, ob ein Mensch spirituell ist oder nicht, sondern vielmehr ob er diese Eigenschaft wahrnimmt und sich dieser bewusst ist!

7.9.1. Das Menschenbild der Logotherapie

Die Erkenntnis, dass die spirituelle Dimension des Menschen für die Entstehung, den Verlauf und die Heilung von Krankheiten bedeutsam ist, wurde in der Moderne vor allem von dem österreichischen Neurologen und Psychiater Viktor Frankl betont und in die klinische Praxis integriert. Für ihn leben Menschen in drei Dimensionen:

1. der physischen Dimension (Leib)2. der psychische Dimension (Psyche)3. der noetischen Dimension (Geist).

Während für ihn die physische und die psychische Dimension in engem Zusammenhang stehen (psychophysischer Parallelismus), kann sich der Mensch nach seiner Ansicht aufgrund seiner geistigen Dimension über sein Psychophysikum erheben. Nur das Psychophysikum kann demnach erkranken; die noetische Dimension des Menschen bleibt gesund und steht nach Auffassung Frankls jenseits jeder Krankheit. Dieser philosophisch-theoretische Unterbau der Logotherapie wird von ihm Logotheorie genannt. Sie unterstützt dabei, Lebenslagen sinnvoll auszufüllen oder umzubewerten. Ein Extremfall der Anwendung sind nach Frankl „noogene Neurosen“, bei denen der Lebenssinn gänzlich fehlt.In seiner Methodik22 geht Frankl von der Annahme aus, dass der Mensch existenziell auf Sinn ausgerichtet ist und nicht erfülltes Sinnerleben zu psychischen Krankheiten führen kann sowie psychische Erkrankungen von einem eingeschränkten individuellen Sinnbezug begleitet werden. Der freie WilleDie Logotherapie geht davon aus, dass der Mensch einen freien Willen hat. Menschen sind nicht frei von (Bedingungen aller Art, die unser Leben mitbestimmen), aber sie sind frei zu (unendlich Vielem, was für uns persönlich im Bereich des Möglichen liegt). Menschen sind frei, sich

21 Frick, E. (2002): Glaube ist keine Wunderdroge. Hilft Spiritualität bei der Bewältigung schwerer Krankheit? Herder Korrespondenz 1/2002, 41-46.22 Sie ist als eigenständiges Therapieverfahren in Österreich anerkannt, in Deutschland wird sie nicht von den gesetzlichen Krankenkassen finanziert.

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im Rahmen des Gegebenen immer wieder neu nach bestem Wissen und Gewissen für bestimmte Handlungs- oder Sichtweisen zu entscheiden.Der Wille zum SinnMehr als nach Lust oder Macht strebe der Mensch nach Sinnerfüllung. Menschliche Motivation sei dort am höchsten, wo Sinnvolles bewirkt werden kann.Der Sinn des Lebens Der Sinn des Lebens als solchen lässt sich nach Frankl Auffassung nicht ergründen. Aber wir könnten ihn erfüllen – und zwar dann, wenn wir jeweils den Sinn des Augenblicks erspüren und danach handeln. Das Leben selbst behält nach Frankl seinen Sinn unter allen Umständen (auch wenn wir ihn in einer verzweifelten Lebensphase vielleicht nicht mehr spüren). Es bleibt für uns gestaltbar bis zuletzt, und sei es im Kleinen und Kleinsten. Wenn der äußere Handlungsspielraum durch Krankheit oder andere Schicksalsschläge sehr eingeschränkt ist, könne der Mensch noch die ungeahnte Größe seines geistigen und seelischen Freiraumes entdecken und sein Leben durch seine innere Einstellung zu den Dingen und den Menschen, die ihn umgeben, mit Sinn und Licht durchfluten.Die Verantwortlichkeit des Menschen Die Freiheit, die wir haben, bedinge auch, dass wir Verantwortung für unser Leben tragen. Mit der Art, wie wir leben, wie und wofür wir uns entscheiden, könnten wir auf die Fragen, die das Leben uns stellt antworten. Je mehr Herzensentscheidungen wir treffen, desto stärker wandle sich Verantwortungsbewusstsein in Verantwortungsfreude. Die Aufgaben, die das Leben für uns bereithält, sind persönliche. Eine mir persönlich gestellte Aufgabe kann nur ich erfüllen, niemand sonst. Die Lebensleistung des schöpferischen, liebenden und leidenden  Menschen Die Logotherapie hat ein Verständnis von „Leistung“, das sich nicht dem gängigen Leistungsbegriff unserer Gesellschaft messen lässt. Zwar erkennt sie die schöpferische Leistung eines Menschen, der sich tatkräftig seinen Aufgaben widmen kann – sei es im Beruf, in der Familie oder durch andere Formen aktiven Engagements – in vollem Maße an. Doch sie sieht die größere Leistung dort, wo ein Mensch für einen anderen sich selbst überwindet und ihm einen Liebesdienst erweist. Und sie geht davon aus, dass der leidende Mensch, der bemüht ist, ein unabwendbares Schicksal aufrecht zu tragen, die höchste Leistung vollbringt.

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7.10. teleologische ModelleTeleologischer Erklärungsansätze orientieren sich nicht an den Ursachen, sondern unterstellen Krankheiten einen Sinn, ein Ziel auf das hin sie angelegt sind. Krankheiten werden dabei verstanden als eine Krise (Katharsis), eine Erfahrungs- und Erkenntnismöglichkeit zum Zwecke der Weiterentwicklung der Persönlichkeit. Unterstellt wird dabei ein Evolutionsprinzip das in der Regel in Richtung einer selbst bestimmten autonom handlungsfähigen Persönlichkeit wirkt die moralische und ethische Grundnormen in ihrem Leben als Selbstausdruck verwirklicht. Krankheit tritt in diesem Verständnis auf, wenn ein Entwicklungsschritt in diesem Sinne nicht erkannt worden ist. So soll also gefragt werden: was bedeutet mir diese Krankheit zu diesem Zeitpunkt und welche Lernaufgabe enthält sie im Rahmen meiner persönlichen Entwicklung? Dieses Krankheitsverständnis unterstellt damit eine karmische Verursachung einer Erkrankung, die als Folge von Verhalten auftritt, dass gegen ein angenommenes Evolutionsprinzip verstößt. In ihrer extremen, dogmatische Ausprägung kann diese Variante als moderne Version der mittelalterlichen Vorstellung von Krankheit als "Bestrafung" für schlechte Taten und Gedanken gesehen werden. Allerdings enthält sie in der komplexeren Ausgestaltung eher Elemente östlicher Religionen, die das karmische Prinzip mit einer Sinnkonstruktion verbinden. Das Karma als Erfahrung generierendes Gesetz für noch nicht erwachte Seelen. Heilung wird in diesem Modell primär als Erkenntnisprozess verstanden, in dem die unangemessenes Verhalten verursachenden seelischen Behinderungen, psychischen Einschränkungen und negativen mentalen Muster erkannt und überwunden werden. Therapeutische Maßnahmen können hier höchstens unterstützend eingesetzt werden und eine Symptombehandlung verbietet sich aus dieser Sicht vollkommen. Das teleologische Krankheitsmodell liegt einigen streng esoterisch orientierten Lebensweisen zugrunde, wobei die Konsequenzen in Bezug auf Therapiemöglichkeiten mehr oder weniger eng interpretiert werden. Einige Aspekte dieses Erklärungsansatzes finden sich auch in Therapieansätzen der systemischen Krankheitssicht wieder und werden hier wie das psychosomatische Erklärungsmodell in Bezug auf das medizinische Paradigma ergänzend herangezogen. Da der unterstellte Zusammenhang sowohl einer karmischen/göttlichen Verursachung wie auch einer Zweckgebundenheit im Hinblick auf ein Evolutionsprinzip, wissenschaftlich nicht nachvollziehbar ist, bleibt dieses

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Modell im Rahmen persönlicher Glaubensvorstellungen und hat keine Chance ärztlicherseits anerkannt zu werden. Es ist allerdings wichtig, dieses Modell zu kennen, weil deren Grundgedanken einigen extrem denkenden religiösen Gruppierungen und Sekten zur Begründung von gesundheitsgefährdenden Verhaltensnormen für ihre Mitglieder dienen. Lebensnotwendige Eingriffe Therapien und Präventivmaßnahmen wie Impfungen werden abgelehnt (z.B. bei den Zeugen Jehovas aber auch einigen anderen modernen Sekten).

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