Codex maior und Codex minor aus Weingarten, sowie die sogenannten Weingartener Urkundenfälschungen

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Otto-Friedrich-Universität Bamberg Fakultät Geistes-und Kulturwissenschaften Institut für Geschichte Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte Wintersemester 2010/2011 Hauptseminar: Erinnern und Recht in geistlichen Kommunitäten des hohen und frühen Mittelalters „Codex maior und Codex minor aus Weingarten, sowie die sogenannten Weingartener Urkundenfälschungen“ Natascha Kracheel LA Gymnasium Geschichte, Anglistik und Sozialkunde, 3. Fachsemester

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Otto-Friedrich-Universität Bamberg

Fakultät Geistes-und Kulturwissenschaften

Institut für Geschichte

Lehrstuhl für Mittelalterliche Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte

Wintersemester 2010/2011

Hauptseminar: Erinnern und Recht in geistlichen Kommunitäten des hohen und frühen

Mittelalters

„Codex maior und Codex minor aus Weingarten, sowie die

sogenannten Weingartener Urkundenfälschungen“

Natascha Kracheel

LA Gymnasium Geschichte, Anglistik und Sozialkunde, 3. Fachsemester

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung...............................................................................................................................3

1.1 Gegenstand und Zielsetzung.................................................................................................3

1.2 Quellenlage und Forschungsstand........................................................................................3

1.3 Aufbau...................................................................................................................................4

2. Das Kloster Weingarten und seine Geschichte..................................................................4

3. Recht und Schriftlichkeit allgemein....................................................................................6

4. Die Codices aus Weingarten.................................................................................................8

4.1Codex maior...........................................................................................................................8

4.2 Codex minor........................................................................................................................10

5. Die Weingartener Urkundenfälschungen .......................................................................12

5.1 Die Fälschungskriterien......................................................................................................12

5.2 Gründe für das Fälschungsunternehmen.............................................................................12

5.2.1 Brand, Verlust und Zerstörung.....................................................................................12

5.2.2. Gerichtsbarkeit............................................................................................................13

5.2.3 Vogteifrage...................................................................................................................13

5.2.4 Historische Ereignisse und Besitzsicherung................................................................15

6. Zusammenhang zwischen den Codices und dem Fälschungsunternehmen..................19

7. Erfolg und Entwicklung des Fälschungsunternehmens..................................................20

8. Schluss..................................................................................................................................21

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9. Quellen- und Literaturverzeichnis....................................................................................23

1. Einleitung

1.1 Gegenstand und Zielsetzung

„ Wir sagen, dass Urkunden besser sind als Zeugenaussagen. Denn Zeugen sterben; die

Urkunden dagegen bleiben für immer.“1 Urkunden, die ebenfalls eine lange Zeit überdauerten

sind die Urkunden aus dem oberschwäbischen Kloster Weingarten. Inzwischen wurden sie

jedoch als Fälschungen entlarvt. Diese Urkunden und zwei Handschriften entstanden im 13.

Jahrhundert. Ziel dieser Arbeit ist es, zu zeigen, wie die Urkunden im Kontext der Zeit, der

Handschriften und der gesteigerten Bedeutung von Recht und Schriftlichkeit zu verstehen

sind. Für diese Fälschungen aus dem 13. Jahrhundert gilt es daher, unter Zunahme der

Beiüberlieferung, zu klären, welche Gründe zu ihrer Erstellung führten.

1.2 Quellenlage und Forschungsstand

Die Urkunden Weingartens bis 1300 sind im Württembergischen Urkundenbuch gedruckt, für

die Zeit vor 1240 sind allerdings wenige erhalten2. Die beiden Traditionscodices sind

allerdings vollständig abgedruckt. Von den erhaltenen Weingartener Urkunden aus der

Stauferzeit, den 70er Jahren des 13. Jahrhunderts, ist der Großteil gefälscht. Insgesamt gilt es

18 Fälschungen zu betrachten, deren Vorlagen und Originale zu größtem Teil vernichtet

wurden3. Sie entstanden während und nach der Regierungszeit Rudolfs von Habsburg und

setzen sich aus zehn Kaiser- und Königsurkunden, vier Papsturkunden, einer

Bischofsurkunde, zwei welfischen Urkunden und einer weiteren, seit 1950 verschollenen,

Urkunde zusammen4. Die meisten Kenntnisse über die Weingartener Urkunden sind im

Württembergischen Urkundenbuch veröffentlicht, das eine der Hauptquellen dieser Arbeit

darstellt. Darüber hinaus stützt sich diese Arbeit hauptsächlich auf Wilfried Krallerts

1 Gildhorn, Antje. Von den Anfängen der Schriftlichkeit. Der mittelalterliche Textbegriff im Spannungsverhältnis von Gedächtniskultur und Literaturgesellschaft. Berlin, 2001. Abrufbar im Internet. URL: http//www.scidok.sulb.uni-saarland.de/volltexte/2004/404/pdf/Von_den_Anfängen_der_Schriftlichkeit.pdf. Stand: 31.03.2011. S. 130. Im Folgenden zitiert als: Gildhorn. Textbegriff. 2001.2 Riechert, Ulrike. Oberschwäbische Reichsklöster im Beziehungsgeflecht mit Königtum, Adel und Städten (12. bis 15. Jahrhundert). Dargestellt am Beispiel von Weingarten, Weißenau und Baindt.(Europäische Hochschulschriften, Reihe 3. Geschichte und Hilfswissenschaften) Bd.301. Frankfurt, 1986. S. 63 Im Folgenden zitiert als: Riechert. Beziehungsgeflecht. 1986.3 Ebd. S. 126.4 Ebd.S.141.

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Veröffentlichung „Die Urkundenfälschungen des Klosters Weingarten“, erschienen 1938 und

die Arbeit Ulrike Riechers über Oberschwäbische Reichsklöster aus dem Jahr 19865. Für

Historiker ist die Betrachtung der Urkunden und der Traditionscodices dennoch interressant,

da Aufschlüsse über die Entwicklung von Recht und Schriftlichkeit des Mittelalters und

dessen Realisierung in Weingarten möglich sind. Beobachtungen am Falle des Klosters

Weingarten sind hier besonders interessant, da das Kloster stets enge Beziehungen zu den

jeweiligen Machthabern pflegte. Die Interessen der mittelalterlichen Klöster dürften in

vielerlei Hinsicht gleich gewesen sein, am Beispiel Weingarten darf man jedoch mit einer

besonders offenen Form der Interessenbekundung gegenüber den Machthabern und Königen

rechnen, da Weingarten-Altdorf der bedeutendste königliche Itinerarort im Ravensburger

Raum war6. Als solcher diente er oft als Aufenthaltsort der Könige und im Kloster, dem Ort

dieser Begegnung, konnten Klöster der Umgebung ihre Anliegen vortragen, so auch

Weingarten und das benachbarte Kloster Weißenau7.

1.3 Aufbau

Zunächst soll ein kurzer Überblick über die Geschichte des Klosters Weingarten und dessen

Bedeutung für die Region Oberschwabens erfolgen. Da Grundkenntnisse über die Bedeutung

der Verschriftlichung für das Verständnis des Fälschungsunternehmens und des Verfassens

der Weingartener Codices sind, erfolgt außerdem ein Überblick über Recht und Schriftlichkeit

im Mittelalter. Im Anschluss folgt die Beschreibung der Weingartener Handschriften und

deren Merkmale, an die sich die Beschreibung der Urkundenfälschungen aus Weingarten

anschließt. Im Folgenden wird geklärt, welche Kriterien dazu führten, dass die Urkunden als

Fälschungen erkannt wurden und welche Gründe das Fälschungsunternehmen hatte.

Anschließend wird geklärt welcher Zusammenhang zwischen den Codices und den

Urkundenfälschungen besteht. Abschließend folgt eine Betrachtung des Erfolgs und der

Entwicklungsphasen des Fälschungsunternehmens.

2. Weingarten und seine Geschichte

5 Vollständige bibliografische Angabe: Riechert, Ulrike. Oberschwäbische Reichsklöster im Beziehungsgeflecht mit Königtum, Adel und Städten (12. bis 15. Jahrhundert). Dargestellt am Beispiel von Weingarten, Weißenau und Baindt.(Europäische Hochschulschriften, Reihe 3.Geschichte und ihre Hilfswissenschaften) Bd. 301. Frankfurt, 1986.6 Riechert. Beziehungsgeflecht. 1986. S. 136/ 137.7 Ebd. S. 136/ 137.

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Der Ort Weingarten befindet sich im Verwaltungsbezirk Oberschwaben8 und liegt circa drei

Kilometer nordöstlich von Ravensburg9. Das Kloster Weingarten ist Teil des

Benediktinerordens10 und seine Geschichte ist eng mit der des Klosters Altdorf verbunden.

In der früheren historischen Literatur ist nämlich die Rede von einem Brand des

oberschwäbischen Klosters Altdorf, der 1055 stattgefunden und dazu geführt haben soll, dass

Grablegen von fünf Welfen auf den Martinsberg, an den Ort des zukünftigen Klosters

Weingarten, versetzt wurden11. Basierend auf der Brandtheorie gibt es die Annahme, dass

durch Welf III., Herrscher zu Zeiten des Brandes, dem Kloster auf dem Martinsberg der Name

„Weingarten“ verliehen worden war, da der Hügel mit Weinreben bepflanzt gewesen sein

soll. In den Annalen aus Weingarten findet sich schließlich die Angabe, im Jahre 1124 sei

„das Kloster St. Martin“ in Weingarten gegründet und am 12.11.1182 schließlich „vom

ehrwürdigen Bischof Berthold von Konstanz geweiht worden“12. Bis mindestens 1105 wurde

der Ort um das Kloster Weingarten auch noch als Altdorf bezeichnet, das Kloster selbst

mitunter auch als „monasterium Altdorfense“13. Erst zu Anfang des 19. Jahrhunderts scheint

sich der Ortsname Weingarten durchgesetzt zu haben14.

Altdorf-Weingarten war besonders für das Adelsgeschlecht der Welfen von Bedeutung.

Betrachtet man süddeutsche Quellen oder solche aus dem 12. Jahrhundert, die die Welfen

oftmals als Altdorfenses15 bezeichnen und von der sogenannten Weingartener Chronik als

„Welfo Altdorfensis“ berichten, wird dies deutlich16. Zudem nutzten die Welfen das Kloster

Weingarten als Ort der Memoria und Grablege, sowie als geostrategisch wichtigen Stammsitz,

da Weingarten sich an der Königsstraße zwischen Ulm und Konstanz befand17. Über die

Größe des Konvents zu damaliger Zeit sind keine ausreichenden Quellen vorhanden, doch ist

auf Grund der Bedeutung des Klosters für die Welfen und die allgemein enge Beziehung

8 Müller, Karl Otto. Die oberschwäbischen Reichsstädte. Ihre Entstehung und ältere Verfassung. Stuttgart, 1912. S. 1.Im Folgenden zitiert als: Müller. Reichsstädte. 1912.9 Ebd. S.37.10 Ebd. S.37.11 Eggmann, Ferdinand. Der hochberühmten Welfen Ursprung, Abstammung, Thaten und Ruhestätten. Ravensburg, 1866. S.334-335. Im Folgenden zitiert als: Eggmann, Welfen Ursprung. 1866.12 Anno MCXXIV inceptum est monasterium sancti Martini Wingartin“[...] “A venerabili Bertholdo Constantiensi episcopo“vgl.Mathias Becher ( Hg.). Quellen zur Geschichte der Welfen und der Chronik Burchards von Ursberg. (Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe 18b). Darmstadt, 2007. S. 93 und 97.13 Müller. Reichsstädte. 1912. S.39.14 Eggmann, Welfen Ursprung. 1866. S. 137-138.15 Altdorfer16 vgl. Oexle, Gerhard. Welfische Memoria. Zugleich ein Beitrag über adlige Hausüberlieferung und die Kriterien ihrer Erforschung. In: Die Welfen und ihr Braunschweiger Hof im hohen Mittelalter. Bernd Schneidmüller (Hg.). Wiesbaden, Harrassowitz, 1995.17 vgl. Riechert. Beziehungsgeflecht. 1986.

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zwischen dem Kloster Weingarten und den darauf folgenden Regenten18 anzunehmen, dass es

sich beim Kloster Weingarten um eines der größten in Süddeutschland gehandelt haben

dürfte.

3. Recht und Schriftlichkeit im Allgemeinen

Um die Anfertigung des Traditionscodex und der Urkunden verstehen zu können, sind einige

grundlegende Informationen zum Verhältnis von Recht und Schriftlichkeit in deren

Entstehungszeit unerlässlich. Bis in das 11. und 12. Jahrhundert war das Schriftaufkommen

fast ausschließlich klösterlich19, so ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch in diesem Fall

im Kloster die Handschriften und zahlreichen Urkunden angefertigt wurden. Im Auftrag des

Adels wurden in Klöstern auch Aufzeichnungen der Gründungsgeschichte vorgenommen, die

teilweise auch zu Chroniken der Stifterfamilien ergänzt wurden20. Die schriftliche Form der

Geschichtsüberlieferung begann sich durchzusetzen um Geschichte dauerhafter zu

überliefern21. Dies geschah auch im Fall der Welfen, die ja die Stifter des Klosters Weingarten

im 9. Jahrhundert waren. Erst im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts wuchs die Bedeutung der

Schriftlichkeit auch bei den Adeligen, so dass die Anzahl der Privaturkunden deutlich stieg.

Nutznießer waren jedoch auch in diesem Fall zunächst die Klöster, denn zumeist waren sie

die Empfänger der Urkunden22. Bis zum 14. und 15. Jahrhundert war es zu einer

Verfünffachung der Schriftlichkeit gekommen und Urkunden machten einen Großteil des

gesteigerten Schriftaufkommens aus. Das Mittelalter wird daher mitunter auch als

„Urkundenalter“ bezeichnet23. Der Süden, so auch die oberschwäbische Abtei Weingarten,

war anderen Teilen Deutschlands dabei in der Zunahme der Schriftlichkeit voraus24, über das

Archiv und die Bibliothek in Weingarten sind allerdings nicht viele Informationen erhalten25.

18 vgl. Krallert, Wilfried. Die Urkundenfälschungen des Klosters Weingarten. In: Archiv für Urkundenforschung. Bd. 15/1938. S.300. Im Folgenden zitiert als: Krallert. Urkundenfälschungen. 1938.19 Werner Schröder. Aspekte des 12. Jahrhunderts (Wolfram-Studien,16) Berlin, 2000.20 Gildhorn. Textbegriff. 2001. S. 58.21 Goetz, Hans Werner. Verschriftlichung von Geschichtskenntnissen. Die Historiografie der Karolingerzeit. In: Schriftlichkeit im Frühen Mittelalter. (Hg.) Ursula Schäfer. Tübingen, 1993. S.232.22 Kruppa, Nathalie. Zur Bildung von Adeligen im nord- und mitteldeutschen Raum vom 12. bis zum 14. Jahrhundert. Ein Überblick. In: Kloster und Bildung im Mittelalter. (Hrsg.) Nathalie Kruppa, Jürgen Wilke. (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, 218). Göttingen, 2006. S.157. 23 Meuthen, Erich. Der Quellenwandel vom Mittelalter zur Neuzeit und seine Folgen für die Kunst der Publikation. In: Quelleneditionen und kein Ende? (Hrsg.) Lothar Gall, Rudolf Schieffer. Symposium der Monumenta Germaniae Historica und der Historischen Kommission bei der Bayrischen Akademie der Wissenschaften, München, 22./23. Mai 1998. (Historische Zeitschrift, Beiheft 28). München, 1999. S.17. Im Folgenden zitiert als: Meuthen. Quellenwandel. 1999.24 Ebd. S. 18.25 Löffler, Karl. Die Handschriften des Klosters Weingarten. Leipzig, 1912. S.6 Im Folgenden zitiert als: Löffler. Handschriften. 1912.

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Erkennbar ist nur, dass am Ende des 12. Jahrhunderts der Höhepunkt der Weingartener

Schreib- und Malschule bereits erreicht war26.

Die Schriftlichkeit war im 12. Jahrhundert unter anderem angestiegen, da es nicht nur ein

geltendes Gesetz gab, sondern Recht regelmäßig in Urkunden bestätigt werden musste. Dies

war besonders für Streitfälle und Auseinandersetzungen vor Gericht wichtig27. In diesen

Urkunden wurde häufig Gewohnheit festgehalten und die Urkunden mussten auch deshalb

ständig erneuert werden, da die Gewohnheitsrechte durch das schriftliche Festhalten oft

schnell veraltet waren28. Der Zusammenhang von Recht und Schriftlichkeit ist auch insofern

gegeben, dass die schriftlich fixierten Urkunden, beschriebene Wirklichkeiten, so an

Bedeutung zugenommen hatten, dass Urkunden vor Gericht auch den entscheidenden

Ausschlag boten29. Vor Mitte des 12. Jahrhunderts wurden Gerichtsurteile noch mündlich

verkündet und Gebärden reichten zum Abschluss eines rechtsbindenden Geschäftes30.

Begünstigt wurde der Anstieg der schriftlichen Erzeugnisse bereits durch das

Reformpapsttum im 11. Jahrhundert, denn zu dieser Zeit hatte die Kirche erstmals erkannt,

dass es notwendig war, Recht in Form von ungeschriebenen Gesetzen, Ritualen und

Verhaltensspielregeln niederzuschreiben und aufzubewahren31. Ein weiterer Grund für die

Steigerung der Schriftlichkeit war deren Rolle in der Stadtentwicklung des Mittelalters. Durch

schriftliche Administration war planvolleres Handeln möglich. Zudem versuchte man mit

Hilfe der Schrift, das vorhandene Wissen zu systematisieren und zu ordnen32. Mitte des 12.

Jahrhunderts begann man auch Bücher zu editieren und die Überlieferung zusammenzufassen.

Die Anzahl der Schriftstücke und Autoren war jedoch unübersichtlich, so dass sich durch

diese Tätigkeiten auch Hilfsmittel, Ordnungskriterien und das Kanzleiwesen

weiterentwickelten. Man begann zudem juristische Entscheidungen zu ordnen und dauerhaft

aufzubewahren33. Die lateinische Sprache war hierbei rechtsverbindlich, auch Lehnsbücher,

Urbare und Besitzverhältnisse zum Zwecke der Verwaltung wurden in ihr verfasst34. Obwohl

diese Werke scheinbar hauptsächlich der Verwaltung und Organisation von Dokumenten

26 Ebd. S. 7.27 Pilch, Martin. Die Rahmen der Rechtsgewohnheiten. Kritik des Normensystemdenkens entwickelt am Rechtsbegriff der mittelalterlichen Rechtsgeschichte. Böhlau, Wien, 2009. S.221. Im Folgenden zitiert als: Pilch. Rechtsgewohnheiten. 2009.28 Ebd. S. 221.29 vgl. Gildhorn. Textbegriff. 2001.30 Ebd.S. 58/59.31 Roetgers, Ingo. Verstädterung im Mittelalter. Die Stadt als neuer Kulturträger. Hannover, 2007. S.4.32 Rauschert, Jeanette. Herrschaft und Schrift. Strategien der Inszenierung und Funktionalisierung von Texten in Luzern und Bern am Ende des Mittelalters. Berlin, 2006. Im Folgenden zitiert als: Rauschert. Funktionalisierung. 2006.33 Gildhorn. Textbegriff. 2001. S. 55.34 Ebd.S. 58.

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dienen, bieten sie grundlegende Einsichten in die Rechtsgeschichte und die Ereignisse ihrer

Entstehungszeit. Analysiert man die Traditionsbücher und Urkunden Weingartens vor diesem

Hintergrund des Rechts und der Schriftlichkeit, lassen sich, wie im Folgenden erläutert

werden wird, viele Schlüsse über Machtkonstellationen, Rechtsverstehen und Einschnitte im

mittelalterlichen Oberschwaben ziehen.

4. Die Codices aus Weingarten

4.1 Codex maior

Aus dem Kloster Weingarten sind zwei Handschriften erhalten35. Ihre Entstehung scheint in

der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts durch das Anliegen des Abts Hermann von

Biechtenweiler veranlasst worden zu sein, der die Rechte und Besitzungen des Klosters in

übersichtlicher Form zusammengestellt wissen wollte36. Die größere der beiden

Handschriften, der sogenannte „Codex maior traditionum Weingartensium“, war im Kloster

auch als „Membrana“37 bekannt. Der Codex ist eine Pergamenthandschrift in Großfolio im

Format 40 x 29 cm38. In der Originalhandschrift sind weder Seitenzahlen noch Spaltenzahlen

oder Titelaufschriften vorhanden39. Ob der Codex einst gebunden und in der heutigen

Reihenfolge vorlag wird in der Literatur nicht erwähnt. Da die drei Teile aus denen der Codex

besteht jedoch von unterschiedlichen Autoren verfasst wurden, ist anzunehmen, dass die Teile

aufeinander abgestimmt verfasst wurden und eine bestimmte Intention durch die Abfolge

vermittelt werden sollte. Die bereits erwähnten drei Teile sind ein Traditionscodex, ein

Abtsverzeichnis und das Verzeichnis der „Gefälle und Gerechtigkeiten des Klosters“40

Der erste Teil, der Traditionscodex, umfasst die ersten zwei Blätter und enthält eine Liste der

Erwerbungen und Schenkungen des Klosters. Die Listen sind chronologisch verfasst,

Zeitangaben sind jedoch eher selten und müssen aus den Beiüberlieferungen erschlossen

werden41. Aus den Erwerbsdaten und dem genannten Abt Hermann, kann auf einen

Entstehungszeitraum zwischen 1266 und 1299 geschlossen werden42. Die Erwerbslisten sind,

wie bei der Betrachtung anderer Besitznennungen deutlich wird, nicht vollständig, besonders

im Hinblick auf die Besitzungen des Klosters in Tirol43. Die Eintragungen über Tirol hätten

35 Württembergisches Urkundenbuch Bd. IV Anhang, S.6.36 Ebd. S. 41.37 Ebd. S. 37.38 Ebd. S. 35.39 Ebd.S. 35.40 Ebd. S. 35.41 WUB. Band IV., Nr. A1, Seite A6-A15. URL: http://www.wubonline.de/?wub=48. Stand: 04.04.201142 Ebd.43 WUB. Band IV., Nr. A1, Seite A6-A15

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wohl in Rechtsstreitigkeiten des Klosters um die Tiroler Besitzungen, die im Jahr 1266

begannen, Probleme bereitet und werden daher nicht erwähnt44. Der Traditionscodex

funktioniert also als Rechtsmittel für Situationen, in denen das Kloster die Rechtmäßigkeit

seiner Ansprüche und Besitzungen demonstrieren muss und gleichzeitig als Festigung der

Klosterstellung allgemein.

Das Abtsverzeichnis, der zweite Teil des Codex, umfasst das dritte Blatt. Ursprünglich scheint

allerdings ein größerer Umfang für diesen Teil ins Auge gefasst worden zu sein, da leere

Seiten auf die Absicht der Fortführung deuten45. Das Abtsverzeichnis enthält die Geschichte

von 12 Äbten des Klosters bis 1265 und wurde vermutlich gleichzeitig zum Traditionscodex

verfasst46. Das Abtsverzeichnis scheint bereits eine Fortsetzung eines früheren

Abtsverzeichnisses, das die Äbte bis zum 9. Jahrhundert auflistet, zu sein47. Das

Abtsverzeichnis beinhaltet neben den Einträgen über die Klostervorsteher außerdem Bildnisse

der Äbte in verschiedenen Stellungen. Die Äbte sind dabei nicht persönlich portraitiert

worden, sondern werden stereotyp dargestellt, wobei sakrale Symbole und Kirchen im

Hintergrund auf die Verbindung zu Kirche und Spiritualität hinweisen48. Dieser Teil des

Traditionscodex dient wohl nicht nur der Festigung der Stellung des Klosters, die eine

ausführliche Darstellung der Klostergeschichte mit sich brachte, sondern spiegelt auch die

Bedeutung der Äbte für mittelalterliche Klöster wider. Äbte galten damals als Stellvertreter

Christi und funktionierten gleichzeitig als „Vater der Gemeinschaft“49. So wird durch diesen

Teil des Codex also die herausragende Rolle der Äbte und die Rechtmäßigkeit des Klosters

demonstriert.

Der dritte Teil des Codex, das Einkommensverzeichnis, füllt den Rest der Handschrift aus50

und stellt den umfangreichsten Teil des Codex dar. Wie im Abtsverzeichnis sind auch in

diesem Teil des Codex Zeichnungen enthalten. Sie bilden den Stifter des Klosters ab und

wurden mit Bibelsprüchen verziert51. Die Ordnung erfolgte in diesem Teil des Codex nicht

chronografisch sondern topografisch, nach einzelnen Klosterämtern angelegt. Es handelt sich

um die Einkommenssummen der einzelnen Klosterämter. Enthaltene Additionsfehler machen

44 Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S. 240.45 WUB. Band IV., Nr. A2, Seite A16-A1946 Ebd. (WUB, A2)47 Pergamentschrift aus dem Anfang des 13. Jahrhunderts. „Liber Litanarium et Benedictionum“. vgl. Ebd. (WUB)48 vgl. Löffler. Handschriften. 1912. S. 34.49 vgl. Schwaiger, Georg. Mönchtum, Orden, Klöster. Von den Anfängen bis zur Gegenwart - Ein Lexikon. München. 1994. S.45. 50 Seite 8 und 9.51 WUB. Band IV., Nr. A3, Seite A19-A29

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eine praktische Verwendung dieser Listen jedoch unwahrscheinlich52. Der Nutzen dieses

Teiles des Traditionscodex dürfte also wieder hauptsächlich in der Festigung der

Klosterstellung und der Verwendung in Rechtsstreitigkeiten gedient haben.

4.2 Der Codex minor

Die zweite Handschrift aus dem Kloster, der Codex minor traditionum Weingartensium,

besteht aus 18 Pergamentblättern im Format 19 x 14 cm. Wieder sind Titelaufschriften und

Seitenzahlen erst in neuerer Zeit hinzugefügt worden53. Der Codex enstand ebenfalls im 13.

Jahrhundert und enthält Urkundenauszüge, Einkommenslisten der Tiroler Besitzungen und

Klostergeschichte. Er ist jedoch weniger umfangreich als der Codex maior und die

Urkundenfälschungen schließen inhaltlich eher an den Codex maior an. Anders als vom

Codex maior ist überliefert, dass der Codex minor aus drei getrennten Teilen

zusammengebunden wurde54.

5. Die Weingartener Urkundenfälschungen

5.1 Fälschungsindizien

Die Weingartener Urkunden wurden auf innere und äußere Kriterien zur Feststellung der

Echtheit geprüft. Es galt festzustellen, ob „die Quelle wirklich das ist, wofür sie auf Grund

von Form und Inhalt gehalten werden will.“55 Um auszuschließen, dass es sich um

Flüchtigkeitsfehler oder Versehen handelte, musste man außerdem prüfen, ob es zu

fehlerhaftem Verbessern, Lesefehlern oder zu Kontamination56 kam57. Dass auch die

Beiüberlieferung58 zur Klärung der Authentizität der Urkunden herangezogen wurde, ergibt

sich bereits aus der Betrachtung der möglichen Fälschungsgründe. Daher wendet sich dieser

Abschnitt bewusst stärker den äußeren Fälschungskriterien der Urkunden zu.

Wie auch in anderen Fällen der mittelalterlichen Urkundenfälschung entsprachen auch in

Weingarten Siegel und Siegelbefestigung nicht der in den Urkunden angegebenen Zeit59 und

zogen die Echtheit der Urkunden in Frage. Die Urkunden weisen Löcher auf, die eine

Anbringung von Hängesiegeln nahelegen. Zu der Zeit, auf die die Urkunden datiert sind, war

52 WUB. Band IV. Nr. A3.....53 Band IV., Nr. A4, Seite A48-A49.54 vgl. Krallert. Urkundenfälschungen. 1938.55 Quirin, Heinz. Einführung in das Studium der mittelalterlichen Geschichte. 5. Aufl. Stuttgart, 1991. S.162. Im Folgenden zitiert als: Quirin. Einführung. 1991.56 Verflechtung von Textteilen.57 Ebd. S.166.58 z.B. zugrundeliegende Originale, Sachkomplex bestimmter Aktengruppen. vgl. Ebd. S. 87.59 Ebd. S.75.

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es allerdings noch üblich, die Siegel auf das Pergament aufzudrücken. Selbst für die

Urkunden um 1155 ist ein Hängesiegel durch die königliche Kanzlei noch unwahrscheinlich,

da sich diese Art der Besiegelung nur langsam durchsetzen konnte60. Die Fälschungen

erfolgten aber nicht gänzlich ohne Vorlage. Zwar sind aus der Stauferzeit nur ein Privileg

Friedrichs II und zwei Urkunden Heinrichs VII als Originale erhalten, die Fälschungen

wurden jedoch in Weingarten mit echten Siegeln versehen61. Weingarten hat somit von allen

Stauferkönigen Privilegien erhalten, diese wurden jedoch aus Gründen, die es im nächsten

Abschnitt der Arbeit zu erläutern gilt, vernichtet und in veränderter Form, als Fälschung,

verfasst und aufbewahrt. Auffällig ist zudem, dass die abgetrennten Siegel mit einer Schicht

aus Wachs auf ihren Rückseiten versehen wurden, um zu verschleiern, dass die Siegel von

ihrer ursprünglichen Urkunde abgetrennt wurden62. Dies geschah unter dem Vorwand einen

„besseren Zusamenhalt“63gewähren zu wollen. Bei einigen der anderen Urkundenfälschungen

wurden Bullen nachträglich an die Urkunde angenäht oder falsche Siegelstempel hergestellt64.

In Weingarten entfernte man außerdem auch eine kennzeichnende Aufschrift auf einem Siegel

Heinrich VII, weil im Prozess des Fälschungsunternehmens das echte Siegel Heinrich VI

zerbrochen war und man für die gefälschte Urkunde Heinrich VI, datiert auf den 4. April

1193, ein Siegel benötigte65.

Auch die Schrift entspricht nicht der Zeit, die auf den Urkunden angegeben ist, vielmehr

stammt sie aus dem 13. Jahrhundert. Durch die Charakteristika dieser Schrift entstanden daher

auch Schreibfehler, zum Beispiel im gefälschten Stiftungsbrief66. Die Schrift der drei

Verfasser weist außerdem jeweils bestimmte Charakteristika auf, die sich von der Schrift der

echten Königsurkunden unterscheidet. Rückschlüsse aus der Behandlung der

Großbuchstaben, der Gabelung der Oberschärfe oder der Form der Initialen gaben unter

anderem Aufschluss über die Authentizität der Urkunden67.

Ein weiteres übliches Kriterium um mittelalterliche Urkundenfälschungen zu entlarven sind

Rasierungen und Interpolationen auf Originalurkunden. Im Fall Weingartens sind diese

jedoch nicht zu finden, da die Originalurkunden nach ihrer Abschrift vernichtet wurden68.60 Schneider, Eugen. Stiftungsbriefe und älteste Königsurkunden des Klosters Weingarten. In: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte. 1884. S. 263. Im Folgenden zitiert als: Schneider. Stiftungsbriefe. 1884. 61 vgl. Riechert. Beziehungsgeflecht. 1986. S. 126.62 Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S. 269.63 Ebd. S. 269.64 So auch bei den Welfenurkunden. Außerdem wurden Nachbildungen geschnitten. Vgl. Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S. 269.65 Ebd. S. 279.66 Schneider. Stiftungsbriefe. 1884. S. 263.67vgl. Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. 68 Ebd. S. 268.

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Page 12: Codex maior und Codex minor aus Weingarten, sowie die sogenannten Weingartener Urkundenfälschungen

Als kurze Anmerkung zu den inhaltlichen Merkmalen der Urkunden, die nicht in den

Passagen zu möglichen Gründen der Urkundenfälschung genannt werden, seien noch Bezüge

auf die Gründungsgeschichte und Begriffe, die nicht in die Zeit der Urkundendatierung passen

genannt. So finden sich in Urkunden aus Weingarten im Stiftungsbrief beispielsweise

Hinweise auf eine Gründung Weingartens zum Zwecke der Heilig-Blut-Verehrung. Die

Heilig-Blut Verehrung fand im Kloster allerdings erst im 13. Jahrhundert ihren Anfang und ist

somit als Urkundenveränderung unter dem Einfluss und den Klosterinteressen des 13.

Jahrhunderts zu betrachten69. Zu den Begrifflichkeiten, die nicht mit der Datierung

übereinstimmen, lässt sich die Papstbulle von 1098 anführen70, in der eine Kapelle, die erst

nach 1098 niederbrannte mit ihrem späteren Titel „nova Kapella“ bedacht wird71. Die meisten

Datierungsfehler in mittelalterlichen Urkunden reichen auch nicht aus, um eine

Fälschungsabsicht nahezulegen, da in den Urkunden dieser Zeit viele Datierungsfehler72 zu

finden sind73.

5.2 Gründe für die Fälschungen

5.2.1 Brand, Verlust und Zerstörung

Dem Mittelalterlichen Rechtsverständnis gingen Erstellungen von Urkunden nach Verlust

oder Bränden nicht zuwider. Niederschreiben aus dem Gedächtnis, die Renovation von

Urkunden, war in solchen Fällen üblich74. Erste Theorien zu den Weingartener Urkunden und

den Ungleichheiten zwischen ihnen und den Traditionscodices wurden daher auch den

Bränden im Kloster Weingarten zugeschrieben. Es soll mehrfach im Kloster gebrannt haben,

wobei der größte Brand 1247 stattgefunden zu haben scheint75. Es wäre denkbar, dass

Urkunden durch das Feuer zerstört wurden und später aus dem Gedächtnis niedergeschrieben

werden mussten, denn schon über kleinere Brände, so auch den Brand im Jahr 1215, wurde

berichtet, dass Bücher durch das Feuer zerstört wurden76. Gegen die These, dass durch den

Brand in größerem Umfang Urkunden verloren gingen äußerte sich unter anderem Krallert, da

das Archiv auch nach dem Brand in großem Umfang erhalten blieb und die Besiegelung und

69 Schneider. Stiftungsbriefe. 1884. S. 264.70 Siehe auch die Urkunde Heinrich VII aus 1234, in dem das Königsjahr einige Monate zu früh angesetzt wurde. Datierungsfehler wie diese sind jedoch schwer als eindeutiges Fälschungskriterium zu identifizieren, da wie in diesem Fall, die Datierung nur einige Monate zu früh angesetzt ist und es sich auch um einen Flüchtigkeitsfehler handeln könnte.71 Riechert. Beziehungsgeflecht. 1986. S.42.72 Besonders bei Angaben der Indiktion.73 Fuhrmann, Horst. Überall ist Mittelalter. Von der Gegenwart einer vergangenen Zeit. München, 1916. S.245.74 vgl. Schneider. Stiftungsbriefe. 1884. S. 264.75 vgl. Ebd. S. 264.76 Löffler. Handschriften. 1912. S. 8.

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Page 13: Codex maior und Codex minor aus Weingarten, sowie die sogenannten Weingartener Urkundenfälschungen

andere Urkundenmerkmale dafür sprechen, dass zur Zeit der Urkundenfälschung die

Originalprivilegien noch vorhanden waren und planmäßig vernichtet wurden77.

5.2.2 Gerichtsbarkeit

Über die Gerichtsbarkeit in Weingarten sind erst aus dem 15. Jahrhundert echte Privilegien

überliefert, für die Zeit zwischen 1273 und 132178 wurden allerdings Fälschungen zu diesem

Thema verfasst. Weingarten hat Urkundenpassagen verfasst, die auf eine wachsende

Unabhängigkeit von geistlichen Gerichten abzielt. Zudem sollte der Abt wichtige

Rechtsfunktionen, die Gerichtsbarkeit des Klosters, wahrnehmen. Nach dem Vorbild einer

Urkunde von Friedrich Barbarossa fertigte man deshalb Urkunden mit diesem Zusatz aus und

ließ sie mehrfach von Königen bestätigen, die dadurch die Rechtskraft einer normalen

Königsurkunde erhielten. Dies geschah unter anderem 1274 durch Rudolf von Habsburg79.

Als es zu Gerichtsverhandlungen zu diesem Thema kam, siegte somit auch das Kloster, wie

im Jahr 135780.

5.2.3 Vogteifrage

Seit dem 11. Jahrhundert finden sich in Urkunden häufig Textstellen die Informationen zur

Vogtei enthalten. Urkundenkritik und historische Umstände sind hier oft besonders stark

verbunden81. Auch für Weingarten wäre ein solcher Fälschungsgrund denkbar. Der Sitz des

Landvogtes befand sich in der Stauferzeit in Ravensburg, dem Sitz der Zentralverwaltung für

die oberschwäbischen Reichs- und Hausgüter82. Der Landvogt diente dem König dabei als

Vertreter in der Region Oberschwaben. In den 80er Jahren des 11. Jahrhunderts befand sich

Weingarten im Einfluss der Hirsauer Reformbewegung. Daher erfolgte traditionsgemäß die

Übergabe des Klosters an die römische Kirche. Das erbliche Vogteirecht behielten sich die

Welfen jedoch ein83. Dieses Recht wurde erhalten, so dass die Vogtei über Weingarten erst

den Welfen und mit den Staufern dann den deutschen Königen erhalten blieb84. Das Kloster

scheint diese Entwicklung allerdings nicht befürwortet zu haben, so dass man in den

gefälschten Stifterbrief eine Passage einfügte, die anführt, dass die Welfen auf ihr erbliches

Vogtreirecht verzichten85. Die Passage wurde in zukünftigen Streitigkeiten aber scheinbar

77 Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S. 238.78 Riechert. Beziehungsgeflecht. 1986. S. 105.79 Ebd. S. 105-106.80 Ebd. S. 111.81 Quirin. Einführung.1991. S. 75.82 Müller. 1912. Reichsstädte. S.73.83 Riechert. Beziehungsgeflecht. 1986. S. 67.84 vgl. Ebd. S. 81.85 vgl. Krallert. Urkundenfälschungen. 1938.

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Page 14: Codex maior und Codex minor aus Weingarten, sowie die sogenannten Weingartener Urkundenfälschungen

wenig beachtet, da das Kloster Weingarten weiterhin Schwierigkeiten hatte, die mit dem

Vogteirecht in Verbindung standen. Die Rechte wurden oft zersplittert und weiterverliehen,

da die Staufer die Vogtrechte an benachbarte Reichsministeriale verpfändeten86. Seit 1270

finden sich in den Urkunden vermehrt Passagen zum Thema der Vogtei, so auch in den

gefälschten Königsurkunden der Zeit, in denen deutlich wird, dass Weingarten die Urkunden

auch in der Absicht verfasste, die Vogteifrage zu eigenen Gunsten zu klären. Eingefügte

Passagen enthalten nämlich unter anderem ein Verbot die Vogtei zukünftig zu entfremden87.

In der Folgezeit versuchte das Kloster schließlich die Vogteirechte selbst durch Kauf oder

Pfandschaft zu übernehmen, da trotz des Privilegs weitere Verpfändungen erfolgten88. Der

Kampf gegen willkürliche Ausübung der Vogteirechte kann nicht gesondert betrachtet

werden, sondern ist ebenfalls Teil der Bemühungen der Äbte ab Hermann von

Biechtenweiler89, den Klosterbesitz nicht entfremden zu lassen. Der Rückkauf von

Vogteirechten und urkundliche Festlegungen der Abgabenforderungen verschiedener

Vogtherren diente indirekt ebenfalls der Besitzsicherung90. Das Kloster wehrte sich auch

gegen das Verleihen der Ordensbrüder und legte auch in diesen Streitfällen Urkunden vor.

Erfolgreich waren die Fälschungen dennoch, denn ihre Echtheit wurde von den Königen nicht

angezweifelt und dienten den Weingartenern somit in zahlreichen Rechtsstreitigkeiten.

Konradin erteilte dem Kloster 1267 schließlich auch die Zusicherung, dass der Kernbesitz des

Klosters nicht veräußert werden würde91. In diesen Fällen waren die Fälschungen ähnlich

erfolgreich wie in den Fällen, die die Vogteirechte betrafen. Eine undatierte Urkunde

Heinrichs VII wurde vom Weingartener Abt im Protest gegen das Verleihen von

Klosterleuten dem König überreicht. Dieser erkannte das Dokument als echt an und gelobte

auch in diesem Fall Besserung92. Die problemlose Anerkennung zahlreicher gefälschter

Urkunden durch die staufischen Könige haben in der Vergangenheit Theorien angeregt, dass

die königliche Kanzlei in die Fälschungsunternehmen eingeweiht gewesen wäre und somit

auch die königlichen Interessen in den Urkunden zum Ausdruck kämen93. Auch der Historiker

Eugen Schneider verfolgte diese Theorie zunächst, da es ihm unwahrscheinlich erschien, dass

das Kloster die aufwändigen Urkundenfälschungen und die Abtrennung der Siegel auf sich

genommen hätte, falls es über echte Urkunden und Privilegien verfügt hätte94. Schneider sah

86 Riechert. Beziehungsgeflecht. 1986. S. 84.87 vgl. Ebd. S. 86.88 vgl. Ebd. S.87.89 1266-1299. vgl. Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S.241.90 Ebd. S. 241.91 Riechert. Beziehungsgeflecht. 1986. S. 131.92 Ebd. S. 130.93 vgl. Schneider, Eugen. Stiftungsbriefe. 1884. S.265.94 Schneider, Eugen. Stiftungsbriefe. 1884. S. 265.

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somit die Weingartener Urkunden nicht als Fälschungen oder echte Urkunden an sondern

vielmehr als Renovationen alter Urkunden, die in den Zeiten des Interregnums oder während

den zahlreichen Bränden in Weingarten verloren gegangen seien95. Beim Niederschreiben aus

dem Gedächtnis seien Fehler in den Inhalten der Urkunden entstanden und Flüchtigkeitsfehler

wie falsche Datierungen aufgekommen. Man wollte seinen Besitzstand und die Rechtslage

also nicht unrechtmäßig zu Gunsten des Klosters verändern, sondern existierendes Recht

sichern. Schneider änderte jedoch schon vier Jahre später, 1888, seine Meinung im Bezug auf

die Weingartener Urkunden und nahm nun doch eine absichtliche Fälschung durch das

Kloster an96. Außer den besitzsichernden Passagen, die nachträglich in die Urkunden

eingefügt wurden, wie im Falle des Altdorfer Waldes, gibt es auch Passagen, die sich negativ

über Tendenzen der Bürger äußern in die Städte abzuwandern. Dies spiegelt ebenfalls ein

Problem der Klöster im 13. Jahrhundert wider, da diese in Folge der Abwanderung mit

Einkommensverlusten rechnen mussten. Da diese Passagen zwar auch im Stifterbrief

Weingartens97 enthalten sind, im Vergleich zu anderen interpolierten Urkundenpassagen

jedoch einen Bruchteil des Umfangs einnehmen, kann dieses Interesse als alleiniger

Fälschungsgrund wohl ausgeschlossen werden.

5.2.4 Historische Ereignisse und Besitzsicherung

Wie auch der Traditionscodex, so könnten die Urkunden auch entstanden sein, da man sich in

unsicheren Zeiten wähnte und den Besitz des Klosters daher absichern wollte. 1274 befand

sich das Land in einem Reichsneuorganisationsprozess durch Rudolf, davor jedoch und

während dem Interregnum waren dem König Gebiete unrechtmäßig enteignet worden98. In

den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts verloren daher auch viele Klöster Großteile ihres

Besitzes und „Fehden und Faustrecht“ 99entschieden über das Besitztum. Um dies künftig zu

vermeiden, wurde die Neuorganisation veranlasst, dennoch wird sich auch das Kloster der

unsicheren Lage gewiss gewesen sein. Die Zeiten waren so unruhig, dass die Städte auch

begannen untereinander verstärkt zu kommunizieren. Zuvor hatten sich die Gemeinden

vorwiegend auf ihre eigenen Interessen und Belange konzentriert100. Das Interregnum

95 vgl Ebd. S. 264.96 Richtig ist jedoch, dass Rudolf von Habsburg seit Beginn seiner Regierungszeit am 1.10.1273 versuchte, Reichsrechte wiederherzustellen. Die Sicherung des Klostereigentums gegen Einflüsse von außen waren seinen Interessen somit nicht gegenläufig. 97 Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S. 272.98 Müller. Reichsstädte. 1912. S.2.99 Martens, Karl von. Geschichte der innerhalb der gegenwärtigen Grenzen des Königreichs Württemberg vorgefallenen kriegerischen Ereignisse vom J. 15 v. Chr. Geb. bis zum Friedensschlusse 1815. Stuttgart, 1847. S. 32/33.100 Müller. Reichsstädte. 1912. S. 30.

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veränderte die Situation stark, denn obwohl die wichtigen Aufgaben weiterhin beim König

lagen war, die Rechtssicherheit der Klöster vermindert. Die Reichsministerialen waren von

nun an weitgehend durch eigenen Vorteil bestimmt101. Die Gefahr bestand insofern auch

weiterhin, dass König Ludwig um 1334 Weingarten sogar das Recht gewährte, sich gegen

jeden, außer gegen ihn selbst, zur Wehr zu setzen, sofern man dies aus Gründen der

„Aufrechterhaltung und Verteidigung“ von Rechten tat102. Mit Bürgern scheint Weingarten

jedoch keine Streitigkeiten ausgefochten zu haben, was auch daran liegen mag, dass der

Hauptbesitz des Klosters nicht im Stadtgebiet lag103. Die Weingartener sahen sich aber oft

gezwungen ihren Besitz gegen Außenstehende zu verteidigen, so dass die Epoche unter König

Rudolf und seinen Nachfolgern durch die Verteidigung gegen die wirtschaftsschädigenden

Einflüsse durch geistliche und weltliche Nachbarn geprägt wurde. Vor allem in den Zeiten, in

denen der König an Macht eingebüßt hatte, sind auch direkte Übergriffe auf das Kloster

Weingarten überliefert. Nach Übergriffen wurden die Verantwortlichen von König Rudolf zur

Rechenschaft gezogen. Auch in der darauffolgenden Zeit gab es, wenn auch weniger, dem

Kloster Besitz zu enteignen104. Besitzverluste fürchtete man vielleicht auch, da vor dem

Interregnum ein intensives Verhältnis zwischen Weingarten und dem Hof existiert hatte, das

durch das Interregnum unterbrochen und erst von Rudolf v. Habsburg fortgesetzt wurde105.

Aus der Funktion Weingartens als Itinerarort hatte sich nicht nur auf Grund der Nähe zum

König eine hohe Anzahl von Schenkungen und Privilegien ergeben, sondern auch aus den

daraus resultierenden Gastaufwendungen, die Weingarten für den König aufwenden musste106.

Diese wurden wohl auch in Form von Privilegien aufgebracht. Nachdem das Kloster

begonnen hatte, die Interessen des Papstes zu vertreten, verlor es ab 1245 weiterhin an

Bedeutung im Bezug auf die pfalzartige Stellung des Klosters107. Die Stellung des Klosters

wurde daher zunehmend unsicherer und der Erhalt musste zukünftig auf andere Weise

gesichert werden. Es gilt als sicher, dass die Traditionsbücher in den Zeiten des Interregnums

entstanden, um diesen Besitzverlusten vorzubeugen108. Diese Absicht scheint sich auch in der

zeitlichen Fortsetzung, den Urkundenfälschungen, zu verbergen. Das Fälschungsunternehmen

begann wohl erst nach Rudolfs Wahl, da in den unruhigen Zeiten zuvor Urkunden in

101 Ebd. S. 436.102 Ebd. S.33.103 Ebd. S.62.104vgl. Ebd. S. 366-368.105 Riechert. Beziehungsgeflecht. 1986. S. 45.106 Ebd. S. 138.107 Ebd. S. 138.108 Schneider, Eugen. Stiftungsbriefe und älteste Königsurkunden des Klosters Weingarten. In: Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte. 1884. S. 264. Im Folgenden zitiert als: Schneider. Stiftungsbriefe. 1884. S. 264.

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Page 17: Codex maior und Codex minor aus Weingarten, sowie die sogenannten Weingartener Urkundenfälschungen

Auseinandersetzungen nicht viel Erfolg gehabt hätten109. Besitzstreitigkeiten dürften auch den

Hauptgrund für die Erstellung der Urkunden bieten, da die interpolierten Passagen oft genau

auf die Rechtsstreitigkeiten des Klosters abgestimmt sind. Besonders deutlich wird dies am

Beispiel der Auseinandersetzungen um den Klosterbesitz im Altdorfer Wald. Der Altdorfer

Wald befand sich zunächst in Besitz der Welfen, dann ging der Besitz über an die Staufer.

Weingarten erhielt unter Welf IV Nutzungsrechte im Altdorfer Wald und behielt diese auch

während die Staufer regierten. Weingarten hatte auch Zehnt- und Rodungsrechte für den

Altdorfer Wald erhalten, was einer Überschreibung von Königsgut an das Kloster

entsprach110. Da jedoch der Altdorfer Wald den Besitz der Staufer und der Welfen direkt

tangierte und somit auch in deren Interessenbereich lag, finden sich zu diesen Besitzungen

besonders zahlreiche Urkundenpassagen111.

Wie bereits erwähnt, hatte Weingarten das Zehntrecht für den Altdorfer Wald inne. Dieses zu

Erhalten scheint im Hinblick auf den Altdorfer Wald auch das entscheidende Interesse

gewesen zu sein; auch andere Klöster versuchten zu der Zeit ihre Zehntrechte in anderen

Regionen aufrechtzuerhalten, so dass sich zahlreiche Urkundenbelege für derartige

Streitigkeiten finden lassen112. Das Zehntrecht folgt dem Prinzip der Dienst- und

Aufwandsentschädigung und ist unabhängig vom laufenden Kirchenbetrieb zu leisten. Die

Abgabe erfolgte in Form von Naturalien113. Es war wichtig für die Klöster und Pfarreien, da es

deren Fortbestand sicherte und einer Verarmung vorbeugte114. Zehnt wurde unter anderem auf

Getreide, Großvieh, Kleinvieh und Früchte entrichtet. Es gab aber auch, wie im Falle des

Zehntrechtes des Klosters Weingarten im Altdorfer Wald, das sogenannte Neubruchzehnt auf

durch Rodung nutzbar gemachtes Land 115. Dieses Recht wollte das Kloster Weingarten auch

in Auseinandersetzungen mit dem Pfarrer von Wolpertschwende beweisen und verfasste zu

diesem Zweck eine Bulle Papst Urbans II, datiert auf das Jahr 1098 und eine Urkunde datiert

auf das Jahr 1236. Da sich die Schriftarten dieser Urkunden und dem gefälschten

Stiftungsbrief sowie den gefälschten Königsurkunden ähneln, scheinen sie alle im selben

Zeitraum entstanden zu sein. Dies legt nahe, dass die Hauptintention hinter dem

Fälschungsunternehmen in den schwebenden Prozessen, besonders in den Streitigkeiten um

109 Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S. 256.110vgl. Müller. Reichsstädte. 1912. S.133-135.111 z.B. die Innozenzfälschung. vgl. Krallert. Urkundenfälschung. 1938.112 Quirin. Einführung. 1991. S. 78.113 vgl. Puza, Richard. Zehnt. In: Lexikon des Mittelalters. Bd.9. Stuttgart, 1999. Sp. 499-501114 Furhmann, Rosi. Kirche und Dorf. Religiöse Bedürfnisse und kirchliche Stiftung auf dem Land vor der Reformation. Stuttgart, Jena, New York, 1995. S.37. 115 Auch Novalzehnt genannt. vgl. Puza, Richard. Zehnt. In: Lexikon des Mittelalters. Bd.9. Stuttgart, 1999. Sp. 499-501

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den Altdorfer Wald, zu sehen sind116. Für diese These spricht auch, dass in einer den Streitfall

betreffenden Urkunde aus dem Oktober 1236117 Substantive fehlen und die Reihenfolge der

Urkundenteile gänzlich durcheinander geriet, obwohl der Fälscher sonst vorsichtig und

stilsicher arbeitete. Diese Fehler deuten darauf hin, dass die Urkunde, um in dem Prozess

Geltung zu finden, in besonderer Eile angefertigt werden musste118. Auffällig ist auch, dass

die Prozesse um den Altdorfer Wald 1275 und 1276 ihren Höhepunkt fanden und damit in

zeitlicher Nähe zum Fälschungsbeginn liegen, der um 1273 oder 1274 datiert wird119. Auch in

einer Urkunde Friedrichs I, datiert auf den 23. September 1187, finden sich eindeutige

Passagen zu den Weingartener Besitzverhältnissen und dem Altdorfer Wald. So gewährt er

„ unserem Kloster in Weingarten (nos monasterium in Winigartin)“ nicht nur „alle Rechte und

Verordnungen (omnia iuria et constitudines)“, sondern auch „alle Besitzungen (universas

possessiones)“120. Schließlich fügt er hinzu, dass „neue Äcker, die im Aldorfer Wald bebaut

werden sollen und Felder und Wiesen (...) in diesem Altdorfer Wald (...) wie zuvor von uns

anerkannt werden. Daher verleihen wir (...) das Privileg erneut.“121Eine solche

Wiederherstellung und Ausweitung des Rechts ist typisch für diese Epoche und kann auch in

anderen Klöstern beobachtet werden122.

In selteneren Fällen nutzte das Kloster Urkunden auch um Besitz zu sichern indem es

Übergabedaten nannte, die länger zurücklagen als die tatsächlich erfolgten. Auch dieser

Absicht sollte wohl die gefälschte Urkunde Friedrichs I von 1155 dienen. Die Vorlage für

diese Urkunde, der Schirmbrief durch Papst Nikolaus III aus dem Jahr 1278 erwähnt nämlich,

dass eine Kapelle, St. Veit in Ravensburg, dem Kloster nicht zugehöre. So fälschte das

Kloster die Urkunde, um den neuerworbenen Besitz zu sichern und ließ sich dann 1286 durch

Rudolf erneut diesen Besitz bestätigen, der sich wiederum auf die gefälschte

Friedrichsurkunde berief. Auch in diesem Fall waren Streitigkeiten der Urkundenfälschung

vorangegangen und diese zogen sich auch bis in das 15. Jahrhundert123.

116 Schneider. Urkundenfälschungen. 1888. S. 206.117 Urkunde Heinrich von Konstanz, 1236. 18. Oktober. vgl. Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S.283.118 Ebd. S. 283/284.119 Ebd. S. 290.120 WUB. Band IV, Nr. A6, Seite A 51. Eigene Übersetzung.121 „de novalibus quoque in silva Altdorfensi excultis tam in agris quam in pratis et in decimis novalium, que in ipsa silva Altdorfensi [...] ita quoque denuo per hoc privilegium [...] conferimus.“ WUB. Band IV, Nr. A6, Seite A51. Eigene Übersetzung.122 vgl. Merta, Brigitte. Recht und Propaganda in Narrationes karolingischer Herrscherurkunden. In: Historiografie im frühen Mittelalter. (Hrsg.) Anton Scharer, Georg Scheibelreiter. (Veröffentlichung des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, 32). Wien, München, 1994. S. 141. Im Folgenden zitiert als: Merta. Propaganda. 1994.123 vgl. Müller. 1912. Reichsstädte. S.42.

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6. Zusammenhang zwischen den Codices und dem Fälschungsunternehmen

Die Weingartener Codices und die Urkundenfälschungen sollten unbedingt im

Zusammenhang betrachtet werden, schon deshalb, weil erst der Vergleich zwischen den

Codices und den Urkunden Zweifel an der Echtheit der Urkunden aufkommen ließ. Dass

Unterschiede zwischen der Membrana und den Privilegien vorhanden sind, fiel bereits vor der

Säkularisierung124 des Klosters dem Archivar der Abtei Weingarten auf125. Der Abt war durch

diese Ungleichheiten zwischen den Handschriften und den Urkunden so beunruhigt, dass er

auch Anweisungen gab, in Streitfällen nur die Urkunden, nicht aber den Traditionscodex

vorzuweisen, um die Glaubwürdigkeit des Klosters nicht zu gefährden126. Vor dieser Zeit

scheint die Echtheit der Urkunden im Kloster nicht in Frage gestellt worden zu sein. Ein kurz

zuvor verfasstes Quellensammlungswerk aus Weingarten bringt nämlich noch keine Zweifel

zur Sprache127. Die Authentizität des Traditionscodex ist somit als höher eingeschätzt worden

als der Wert der Urkunden. Zeitlich stellt der Traditionscodex auch die Vorstufe zu den

Fälschungen dar. Das Verfassen der Handschriften und die Erstellung der Urkunden durften

jedoch durch unterschiedliche Schwerpunktsetzungen geprägt worden sein. Während der

Traditionscodex, wie zu dieser Zeit üblich, für dauerhafte Rechtssicherung und

Rechtsbewusstsein verfasst worden sein dürfte, sollten die Urkunden wohl meist in

Rechtsstreitigkeiten eingesetzt werden. Interpolationen und Änderungen gegenüber dem

Traditionscodex sind daher wohl auf diesen Umstand zurückzuführen und verändern die

Besitz- und Privilegienlage zu Gunsten des Klosters Weingarten. Anfangs wurden die

Unterschiede zwischen dem Traditionsbuch und den Urkunden noch auf eine Mangelnde

Kanzleimäßigkeit in Weingarten zurückgeführt. Diese hätten zur Folge haben können, dass

Urkunden aus dem Gedächtnis niedergeschrieben wurden, da die Originalurkunden nicht

aufzufinden gewesen wären128.

Der Codex minor nimmt eine Sonderrolle ein, da er nach dem Codex maior entstand129 und in

großen Teilen nicht auf Vorlagen basiert. Anders als der Codex maior scheint er somit keine

zeitliche Vorstufe zum Fälschungsunternehmen darzustellen sondern ist vielmehr Teil

dessen130.

124 1795125 Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S.235.126 WUB. Bd. 1. Nr.240. www.wubonline.de/?wub=367127 Werk des Priors von Weingarten. „ Prodomus monumentorum Guelficorum seu catalogus abbatum imperialis monasterii Weingartensis“. vgl. Krallert. Urkundenfälschungen. 1935 S. 235.128 Ebd. S. 235/236.129 Urkunden aus der Fälschung bereits enthalten. Vgl. Krallert, Urkundenfälschungen. 1938.130 vgl. Krallert. Urkundenfälschungen. 1938.

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Festzustellen ist daher, dass die Authentizität der Weingartener Urkunden durch die

inhaltlichen Unterschiede gegenüber der Membrana erstmals in Frage gestellt wurde. Im

Zusammenhang mit dem Traditionscodex gab es auch anfangs die Theorie, dass Schenkungen

und Besitzübertragungen an das Kloster vielleicht nur als Notizen festgehalten worden waren

und auch diese nach Entstehen des Traditionscodex nicht mehr nötig gewesen seien131. Da das

Kloster in diesem Fall bereits Nachweis über seinen Besitz hätte liefern können und dennoch

Urkunden anfertigte, müssen die Urkunden jedoch in einer bestimmten Absicht gefertigt

worden sein; das Fälschungsunternehmen muss einen oder mehrere Gründe gehabt haben. Um

welche Gründe es sich gehandelt haben könnte gilt es im nächsten Abschnitt zu erläutern.

7. Entwicklung und Erfolg des Fälschungsunternehmens

Wie bereits erwähnt wurden auch viele gefälschte Weingartener Urkunden und Privilegien

von den Königen dennoch oftmals bestätigt132. Trotz dieser erfolgreichen Fälschungen scheint

das Kloster vorsichtig geblieben zu sein. Als Nicolaus III dem Kloster Privilegien bestätigte,

legte das Kloster ihm daher keine gefälschte Urkunde vor, sondern sorgte dafür, dass ein

neuer Text verfasst wurde133. Nicht nur die Fälschungen der Königsurkunden aus Weingarten

waren erfolgreich, sondern auch päpstliche Privilegien und bischöfliche Urkunden wurden als

authentisch anerkannt134. Der Fälschungsprozess lässt sich daher in drei Teile gliedern. In der

ersten Phase, die etwa von 1273 bis 1276 anhielt, wurden die wichtigsten

Urkundenfälschungen verfasst, die unter anderem den Sieg in den Vogtei- und

Zehntprozessen herbeiführten135. Die zweite Phase wird geprägt durch Fälschungen, die

Lücken in früheren Urkunden abdecken sollten. Fälschungen wurden in dieser Phase nur

erstellt, falls das strittige Gebiet oder der strittige Besitz in früheren Urkunden nicht bereits

Erwähnung fand136. Die dritte Fälschungsphase fällt bereits in das 14. Jahrhundert und greift

viele Fälschungen der ersten Phase wieder auf. Sie kann daher als Mittel gesehen werden, das

die Erinnerung an die (unechten) Privilegien aus dem 13. Jahrhundert präsent machen

sollte137. Erst im 14. Jahrhundert, am Ende der dritten Fälschungsphase, scheint Ruhe um die

131 Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S.236.132 s. Fälschungsgründe.133Dies geschah auch im Fall eines Streits 1474, in dem eine echte statt einer umfangreicheren falschen Bischofsurkunde vorgelegt wurde. vgl. Krallert. Urkundenfälschungen. 1938. S. 262.134 So kam es 1275 zu einer Schiedsrichterentscheidung zu Gunsten Weingartens auf Grund gefälschter päpstlicher Privilegien. Der Bischof hatte auch in diesem Fall keine Bedenken, die Fälschungen zu bestätigen. vgl. Ebd. S. 262.135 Ebd. S. 262.136 vgl. Ebd. S. 262.137 Ebd. S. 266.

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Page 21: Codex maior und Codex minor aus Weingarten, sowie die sogenannten Weingartener Urkundenfälschungen

Rechtsverhältnisse eingekehrt zu sein, so dass das Fälschungsunternehmen ein Ende finden

konnte.

8. Schluss

Abschließend bleibt festzustellen, dass sich die anfängliche Vermutung bestätigt hat, wonach

Weingarten die Traditionscodices und die Urkunden in zeitlicher Abfolge und bestimmter

Absicht verfasste. Die Urkundenfälschungen sind insofern aufschlussreich, dass sie uns

Informationen über die Interessen der Klöster im 13. Jahrhundert liefern und zeigen, dass die

Zunahme der Verschriftlichung im 12. Jahrhundert nicht nur der Systematisierung diente,

sondern auch für machtpolitische Zwecke genutzt wurde. Zudem wird deutlich, dass

schriftlich Fixiertes Recht nun endgültig mehr Bedeutung erlangte, als die vorher üblichen

Gesten und mündlichen Absprachen. Das Kloster Weingarten verwirklicht, wie bereits

erläutert, viele Interessen mit Hilfe der Urkundenfälschungen und der Codices. Die Urkunden

treten ein gegen die Tendenz zur Abwanderung in die Städte, für Zehntbruchrechte und

Vogtei und mehr Freiheit und Unabhängigkeit für das Kloster. Als wichtigster Grund für das

Fälschungsunternehmen sollte jedoch die Besitzsicherung, besonders im Fall des Altdorfer

Waldes, betrachtet werden. Darüber hinaus wird sichtbar, dass das Kloster eng mit den

politischen Machthabern und den Ereignissen im Land und der Region verbunden war und

sich durch die Urkunden Rückschlüsse auf die damaligen Machtverhältnisse möglich sind.

Gerade aufgrund der begünstigten Stellung Weingartens drängt sich jedoch die Vermutung

auf, dass es Weingarten auch ohne die Fälschung des Urkundenbestands möglich gewesen

wäre, die Klosterrechte zu sichern und wiederherzustellen. Die Urkundenfälschungen

verfolgen somit die Klosterinteressen mit einer gewissen Maßlosigkeit die auch der

Ausweitung des Klosterbesitzes dient. Die Handschriften und die Urkunden sind Teil eines

Prozesses, der zu einer Sicherung und Erweiterung des Klosterbesitzes führt. Das anfängliche

Zitat, das anführt, dass Urkunden mündlichen Aussagen vorzuziehen sind, da sie „für immer

bestehen bleiben“, bewahrheitet sich somit. Ohne die Urkunden aus Weingarten wären

wichtige Erkenntnisse zu Recht und Schriftlichkeit verborgen geblieben.

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Page 22: Codex maior und Codex minor aus Weingarten, sowie die sogenannten Weingartener Urkundenfälschungen

Quellen- und Literaturangabe:

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von Ursberg. (Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe 18b). Darmstadt, 2007.

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