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MARTIN CRUZ SMITH Polar Star

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MARTIN CRUZ SMITH

Polar Star

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Buch

Der ehemalige Chef der Moskauer Kriminalpolizei, Arkadi Renko,ist aus dem Exil in sein Heimatland zurückgekehrt und heuert auf ei-nem sowjetischen Fabrikschiff in der Fischverarbeitung an. Die »Po-lar Star« ist Teil eines ungewöhnlichen Joint-venture: Monatelangfolgt sie nun schon amerikanischen Fangbooten in Gewässern zwi-schen Alaska und Sibirien, der Beringstraße und den Aleuten. Dabeiliefern die Sowjets die Verarbeitungsschiffe und übernehmen denFang, die Amerikaner stellen die Trawler und kassieren ab. Doch ei-nes Tages wird die tägliche Routine jäh unterbrochen: Auf demSchiffsdeck wird zusammen mit dem Fisch auch die Leiche einer Frauaus dem Netz geschüttet. Auf Wunsch des Kapitäns und nicht zuletztangetrieben von seinem eigenen Ehrgeiz beginnt Renko diesen »Un-fall« genauer zu untersuchen. Doch überall auf dem in der Eiswüste

driftenden Schiff begegnet er nur Mißtrauen und Lügen …

Autor

Martin Cruz Smith, 1943 als Sohn einer Indianerin und eines Jazz-Musikers in Philadelphia geboren, arbeitete zunächst als Journalist.Nach dem Welterfolg von »Gorki Park« setzte er die Abenteuer sei-nes russischen Chefinspektors Arkadi Renko fort. Zuletzt erschien

»Nacht in Havanna«.

Von Martin Cruz Smith außerdem bei Goldmann lieferbar:

Gorki Park. Roman (44662)Das Labyrinth. Roman (44663)

Nacht in Havanna. Roman (44988)Die schwarze Rose. Roman (43968)

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MartinCruz SmithPolar Star

Roman

Aus dem Amerikanischenvon Gertrud Theiss

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Umwelthinweis:Alle bedruckten Materialien dieses Taschenbuches

sind chlorfrei und umweltschonend.

Der Wilhelm Goldmann Verlag, München,ist ein Unternehmen der Verlagsgruppe Random House GmbH.

Taschenbuchausgabe April 2002Copyright © der Originalausgabe 1989 by Martin Cruz Smith

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1990by Hoffmann und Campe Verlag, HamburgUmschlaggestaltung: Design Team München

Umschlagfoto: Premium/Herrod/ImagesSatz: deutsch-türkischer fotosatz, Berlin

Druck: Elsnerdruck, BerlinVerlagsnummer: 44661

KvD · Herstellung: Sebastian StrohmaierMade in Germany

ISBN 3-442-44661-9www.goldmann-verlag.de

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Die Originalausgabe erschienunter dem Titel »Polar Star«

bei Ballantine, New York

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Für EM

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Wasser

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Wie eine schnaubende Bestie wälzte sich das Netz über dieRampe und ins Licht der Wolframlampen auf dem Trawldeck.Wie ein schimmerndes Fell schmiegten sich rot-, blau- undorangegestreifte Flechten über die Maschen: »Häcksel-Haar«aus Plastikfasern, die das Netz auf dem felsigen Meeresgrundgleitfähiger machen sollten. Wie fauliger Atem entströmte die-sem Haarfilz die Kälte der See und kränzte ihn mit dem Wi-derschein seiner eigenen Farben, weithin leuchtend in der trüb-verhangenen Nacht.

Wasser zischte aus dem Plastikhaar auf die Holzplanken, dieden Männern an Deck Halt boten. Kleinere Fische wie Heringund Stint zappelten ins Freie, Seesterne plumpsten wie Steinehinterher. Ausgerissene Krabben landeten, obschon tot, auf denZehenspitzen. Oben zogen Möwen und Sturmtaucher ihreKreise um die gleißenden Lichtkegel der Scheinwerfer. Danndrehte sich der Wind, und die Vögel stoben in weißem Flügel-gewirr auseinander.

Normalerweise wurde das Netz umgestülpt und zuerst kopf-über in die vorderen, dann vom Steert her in die hinteren Lu-ken entleert. Öffnen ließ es sich von beiden Seiten, und zwar in-dem man den »Reißverschluß«, eine durch die Maschen ge-flochtene Nylonschnur, aufnestelte. Die Männer standen schonmit ihren Schaufeln bereit, doch der Trawlmaster winkte siezurück. Er trat in die Wasserlache, die aus dem Plastikhaar ge-regnet war, nahm, um sich freie Sicht zu schaffen, eigens seinen

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Helm ab und spähte angestrengt hinauf ins Netz. Aus den bun-ten Fasern tropfte es wie frische Farbe. Der Mann streckte dieHand aus und teilte den Haarvorhang, dann hielt er in derDunkelheit Ausschau nach dem anderen, schwächeren Licht,das draußen über den Wogen tanzen mußte, doch das Fangboot,welches das Netz geliefert hatte, war bereits im Nebel ver-schwunden. Der Trawlmaster zog ein zweischneidiges Messeraus dem Gürtel, langte durch das triefende Plastikhaar undkappte mit einem Kreuzschnitt den Bauch des Netzes. Erst ein-zeln, dann paarweise purzelten die Fische heraus. Ein letzter,heftiger Ruck mit dem Messer, und der Mann sprang beiseite.

Eine wahre Flut von Silberpollacks quoll ans Licht, einganzer Schwarm, der komplett ins Netz gegangen und herauf-gehievt worden war, wie ein Berg funkelnder Münzen. DickeKatzenwelse folgten, offenbar übel zugerichtet; Flundernschwappten darüber, blutrot auf der Seite, wo das Auge saß,weißlich-blaß auf der blinden; dann Seeskorpione mit dra-chenähnlichen Köpfen; Kabeljaue, manche von der Schwimm-blase aufgebläht wie Ballons, andere zu wabbeligem Brei undrosigem Schleim zerplatzt; Korallenkrabben, behaart wie Ta-ranteln. Die Prämie der nächtlichen See.

Und ein Mädchen. Behende wie eine Schwimmerin glitt siemit dem Fischstrom aus dem Netz. Gemächlich, mit verdrehtenArmen, rollte sie auf Deck gegen einen Berg Seezungen, undein nackter Fuß verfing sich in den Krabben. Nein, kein Mäd-chen, eine junge Frau. Sie hatte kurzgeschnittenes Haar, Bluseund Jeans waren durchweicht und hingen an ihr wie Säcke,schwer von Wasser und Sand, nicht gerüstet für die Rückkehrin die Welt hier oben. Der Trawlmaster strich eine Haarsträhnezurück, die ihr über die Augen gefallen war, und enthüllte dasunverhohlene Staunen in ihnen, als wären die im Licht derSchiffslampen badenden Nebelschwaden goldgeränderte Wol-ken, als wäre sie in einem Boot an die Oberfläche gekommen,das direkten Kurs auf den Himmel hielt.

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Ursprünglich, als die Polar Star in Danzig vom Stapel gelaufenwar, erstrahlten ihre vier Decksaufbauten in blendendem Weiß,Kräne und Ladebäume leuchteten bonbongelb. Die Decks wa-ren blitzsauber und aufgeräumt; silberne Ketten schlangen sichum die Winschen; die Verkleidung an Ruder- und Kartenhauswirkte schnittig, ja elegant. Kurz gesagt, die Polar Star hatteausgesehen wie ein Schiff.

Zwanzig Jahre Fahrt im Salzwasser hatten ihr dann aber ei-nen neuen Anstrich aus Rost verpaßt. Auf den oberen Deckstürmten sich Holzplanken, Fässer voll Schmieröl und leereFischtrankanister, die Reste undichter Rettungsgürtel und zer-rissener Netze. Aus dem schwarzen Schornstein mit dem rotenSowjetstern quoll der rußige Rauch eines schlecht gewartetenDieselmotors. Mittlerweile glich die Polar Star aus einigem Ab-stand, wenn der vom Entladen ihrer Begleittrawler bei stürmi-scher See lädierte Rumpf sichtbar wurde, weniger einem Fa-brikschiff als vielmehr einer Kreuzung zwischen Fabrik undSchrottplatz, die man zu Wasser gelassen hatte, wo sie nun aufungewisser Fahrt die Wogen durchpflügte.

Und doch machte das Schiff Tag und Nacht erstaunlich gu-ten Fang. Nein, das war so nicht richtig; kleinere Trawler gin-gen auf Fischfang und übergaben ihre Netze dem Fabrikschiffzur Verarbeitung: zum Köpfen, Ausnehmen, Einfrieren.

Vier Monate folgte die Polar Star nun schon amerikanischenFangbooten in amerikanischen Gewässern, von Sibirien nachAlaska, von der Beringstraße zu den Aleuten. Es handelte sichum ein Joint-venture. Einfach ausgedrückt, lieferten die Sowjetsdie Verarbeitungsschiffe und übernahmen den Fisch, währenddie Amerikaner Trawler und Dolmetscher zur Verfügung stell-ten und das Geld kassierten; gemanagt wurde das Ganze von ei-ner Firma mit Sitz in Seattle, die zur einen Hälfte in sowjeti-

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scher, zur anderen in amerikanischer Hand war. Während derletzten vier Monate hatte die Mannschaft der Polar Star höch-stens zweimal die Sonne gesehen, aber die Beringstraße trugschließlich den Beinamen »die graue Zone«.

Der Dritte Maat, Slawa Bukowski, schritt die Verarbeitungs-gasse ab, wo die Männer gerade den Fang sortierten: Pollack aufdas Förderband zu den Sägen, Makrelen und Rochen in dieFischmehlluke. Etliche Fische waren regelrecht explodiert, alsihre Schwimmblasen sich beim Aufstieg vom Meeresgrundüberdehnten, und die übriggebliebenen Flocken klebten nunwie Gallert an Mützen, Ölzeugschürzen, Wimpern und Lip-pen.

An der Kreissäge vorbei gelangte er zur »Schmutzbrigade«,wo die Arbeiter zu zweit in engen Nischen beiderseits des För-derbands hantierten. Robotern gleich schlitzte das erste Paardie Fischbäuche der Länge nach auf, das zweite Paar saugte mitStaubsaugerdüsen Leber und Eingeweide heraus, und das drit-te schwemmte mit Salzwasserstrahlen den Schleim von Schup-pen, Kiemen und aus der Bauchhöhle; das letzte Paar saugte denFisch noch einmal ab, bevor das ausgenommene und gereinigteProdukt dann auf ein Förderband gelangte, das zu den Gefrier-anlagen führte. Im Laufe einer Acht-Stunden-Schicht breitetesich ein Schleier aus breiigem Mark und Blut über Förderband,Arbeiter und Laufgang. Die Leute hier verkörperten auch nichtannähernd den vielbeschworenen Helden der Arbeit, am aller-wenigsten der hagere, blasse, dunkelhaarige Mann, der am Endeder Gasse die ausgeweideten Fische aufs Band lud.

»Renko!«Arkadi saugte rötliches Wasser aus einem vorgereinigten

Fischleib, warf ihn aufs Kühlband und griff zum nächsten. DerPollack hatte kein festes Fleisch. Wenn man ihn nicht rasch ge-nug säuberte und einfror, eignete er sich nicht mehr für denmenschlichen Verzehr und wurde an Nerze verfüttert; war er

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auch für die nicht mehr genießbar, ging er als Auslandshilfenach Afrika. Arkadis Hände waren taub vom langen Hantierenmit den Fischen, die kaum wärmer waren als Eis, aber wenig-stens bediente er nicht die Säge wie Kolja. Bei schlechtem Wet-ter, wenn das Schiff zu schlingern begann, bedurfte es schon ei-ner gehörigen Portion Konzentration, um mit gefrorenen, glit-schigen Pollacks am Sägeblatt zurechtzukommen. Arkadi hat-te gelernt, seine Stiefel mit den Zehen unterm Tisch festzukral-len, damit er auf den Laufbrettern nicht ausrutschte. Zu Beginnder Reise und nach ihrer Rückkehr wurde die ganze Fabrik ab-gespritzt und mit Ammoniak geschrubbt, aber in der Zwi-schenzeit war der Fischraum spiegelglatt, und ein dumpfig-or-ganischer Geruch haftete ihm an. Selbst das Surren des Förder-bandes, das Kreischen der Säge und das tiefe, rhythmische Äch-zen des Schiffsrumpfes klangen wie das Röhren eines Leviatans,begierig, die See zu verschlingen.

Das Band blieb plötzlich stehen.»Sie sind Seemann Renko, stimmt’s?«Arkadi stutzte einen Moment, ehe er den Dritten Maat er-

kannte, der sich nicht oft unter Deck blicken ließ. Israel, derLeiter der Fabrik, stand am Stromschalter. Er trug mehrereSweater übereinander, und schwarze Bartstoppeln bedecktensein Gesicht fast bis hinauf zu den Augen, die ungeduldig hin-und herrollten. Natascha Tschaikowskaia, eine junge Frau vonmächtiger Statur in Ölzeugrüstung, die sich aber mit einemHauch Lippenstift um eine weibliche Note bemühte, beugtesich verstohlen vor, um die Reeboks und die fleckenlosen Jeansdes Dritten Maats besser in Augenschein nehmen zu können.

»Na, was ist, sind Sie’s?« fragte Slawa noch einmal.»Ist kein Geheimnis«, antwortete Arkadi.»Das ist hier kein Tanzkurz für junge Pioniere«, knurrte Is-

rael den Maat an. »Wenn Sie ihn haben wollen, nehmen Sie ihnmit.«

Das Förderband lief wieder an, als Arkadi dem Maat nach

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achtern folgte. Vorsichtig trat er über die Abflußrinnen, dieflüssigen Schleim und Fischtran durch Öffnungen im Kielraumdirekt ins offene Meer leiteten.

Slawa blieb stehen und musterte ihn, als versuche er, eineMaske zu durchdringen. »Sie sind doch Renko, der Ermitt-lungsbeamte?«

»Jetzt nicht mehr.«»Aber Sie waren es«, sagte Slawa, »das reicht vollkommen.«Sie stiegen die Treppe zum Hauptdeck hinauf. Arkadi nahm

an, der Dritte Maat würde ihn zum Politoffizier bringen oderwollte seine Kabine durchsuchen, obwohl das auch ohne ihnhätte geschehen können. Sie kamen an der Kombüse vorbei,aus der ihnen Dampfschwaden und der Duft von Makkaronientgegenschlugen. Vor einem Transparent mit dem Aufruf»Steigert die Produktion der Agrarindustrie! Unser Ziel ist dieausreichende Versorgung aller Genossen mit Fischprotein!«bogen sie links ab und blieben vor der Tür zum Krankentraktstehen.

Die Tür wurde von zwei Mechanikern bewacht, die die rotenArmbinden der freiwilligen Ordnungshüter trugen. Skiba undSlesko waren zwei Spitzel – miese Faulenzer in den Augen derübrigen Mannschaft. Schon als Arkadi und Slawa eintraten, zogSkiba ein Notizbuch aus der Tasche.

Die Polar Star verfügte über eine Klinik, größer, als die mei-sten Kleinstädte Rußlands eine besaßen: ein Sprechzimmer, einUntersuchungsraum, ein Krankenrevier mit drei Betten, einQuarantänezimmer und ein Operationssaal, in den Slawa jetztArkadi führte. An den Wänden standen weiße Schränke mitGlasbehältern, in denen die Instrumente in Alkohol aufbe-wahrt wurden, eine verschlossene rote Vitrine mit Zigarettenund Medikamenten, davor ein Handwagen mit einem grünenSauerstofftank und einem roten für Lachgas, ein Aschenbecherauf einem Ständer und ein Spucknapf aus Messing. An einerLängswand hingen anatomische Karten, die Luft war ge-

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schwängert vom beißenden Geruch der Desinfektionsmittel. Ineiner Ecke stand ein Zahnarztstuhl. Über den Operationstischin der Mitte des Raumes war ein Laken gebreitet. Unter demvöllig durchgeweichten Stoff zeichneten sich die Konturen ei-nes Frauenkörpers ab. Vom Rand des Tisches baumelten Gurtehinab.

Die Bullaugen des Raumes waren wie helle Spiegel, denndraußen herrschte pechschwarze Nacht, sechs Uhr, noch eineArbeitsstunde bis zur Morgendämmerung. Und wie fast jedes-mal an diesem Punkt seiner Schicht staunte Arkadi darüber,wieviel Fisch es dort draußen gab. Seine Augen kamen ihm vorwie diese Bullaugen. »Was wollen Sie von mir?« fragte er.

»Wir haben eine Leiche«, versetzte Slawa.»Das sehe ich.«»Eins von den Mädchen aus der Kombüse. Sie ist über Bord

gegangen.«Arkadi blickte zur Tür und stellte sich vor, wie Skiba und

Slesko auf der anderen Seite lauschten. »Was hab ich damit zuschaffen?«

»Liegt doch auf der Hand. Unser Gewerkschaftskomiteemuß über jeden Todesfall Bericht erstatten, und ich bin hier derGewerkschaftsvertreter. Sie sind der einzige an Bord, der Er-fahrung hat mit gewaltsamem Tod.«

»Und mit Auferstehung«, sagte Arkadi. Slawa blickte ihnverständnislos an. »Das ist so eine Art Rehabilitation, nur an-geblich dauerhafter. Schon gut.« Arkadi betrachtete die Ziga-retten im Laborschrank; Papirossy, Pappröhrchen, gestopft mitTabak. Aber der Schrank war abgeschlossen. »Wo ist der Arzt?«

»Schauen Sie sich die Leiche an.«»Zigarette?«Der überrumpelte Slawa fummelte in seiner Brusttasche und

brachte eine Packung Marlboro zum Vorschein. Arkadi war be-eindruckt. »In dem Fall wasche ich mir vorher die Hände.«

Aus dem Wasserhahn kam eine braune Brühe, aber sie spül-

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te Schleim und Schuppen von Arkadis Fingern. AltgedienteSeeleute erkannte man an ihren verfärbten Zähnen, einem Zei-chen dafür, daß sie ein Leben lang Wasser aus rostenden Tanksgetrunken hatten. Über dem Becken hing der erste saubereSpiegel, in den Arkadi seit fast einem Jahr geblickt hatte. »Auf-erstehung« war ein gutes Wort. »Ausgegraben«, entschied er,paßte jedoch besser auf ihn. Die Nachtschicht auf dem Fabrik-schiff hatte seinem ohnehin blassen Gesicht auch den letztenRest Farbe entzogen. Dauerhafte Schatten schienen seine Au-gen zu umlagern. Sogar die Handtücher waren sauber. Er er-wog, bei Gelegenheit krank zu werden.

»Wo waren Sie Ermittlungsbeamter?« fragte Slawa, währender ihm Feuer gab. Arkadi nahm einen tiefen Lungenzug.

»In Dutch Harbor gibt’s doch Zigaretten?«»Für welche Art von Verbrechen waren Sie zuständig?«»Ich habe gehört, daß sich in Dutch Harbor die Zigaretten

bis zur Decke stapeln. Und frisches Obst. Und Stereoanlagen.«Slawa verlor die Geduld. »Wo haben Sie gearbeitet?«»In Moskau.« Arkadi stieß den Rauch aus. Zum erstenmal

wandte er seine ganze Aufmerksamkeit dem Tisch zu. »Undmit Unfällen hatte ich nichts zu schaffen. Wenn sie über Bordgegangen ist, wie habt ihr sie dann zurückgekriegt? Ich habnicht gehört, daß die Maschinen gestoppt hätten, um sie aufzu-fischen. Wie ist die Leiche also hergekommen?«

»Das braucht Sie nicht zu kümmern.«»Als ich noch Chefinspektor war«, sagte Arkadi, »mußte ich

mir tote Menschen ansehen. Jetzt, wo ich ein einfacher russi-scher Arbeiter bin, reichen mir die toten Fische. Viel Glück.«

Er machte einen Schritt auf die Tür zu. Das wirkte wie einKnopfdruck. »Sie ist im Netz hochgekommen«, versetzte Sla-wa rasch.

»Ach, wirklich?« Arkadis Interesse war unwillkürlich ge-weckt. »Das ist erstaunlich.«

»Bitte.«

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Arkadi machte kehrt und zog das Laken zurück.Obwohl ihre Arme über den Kopf ausgestreckt dalagen, sah

er, daß die Frau klein war. Sehr weiß, wie gebleicht. Noch kalt.Die Kleider klebten an ihrem Körper wie ein nasses Toten-hemd. Ein Fuß steckte in einem roten Plastikschuh. Braune Au-gen blickten träge aus einem dreieckigen Gesicht. Ihr Haar warkurz und blond, wuchs aber am Ansatz schwarz nach. Ein Mut-termal, ein Leberfleck am Mund. Arkadi hob ihren Kopf. Alser ihn wieder losließ, glitt er schlaff auf den Tisch zurück. Erbefühlte ihren Hals, die Arme. Die Ellbogen waren gebrochen,doch er konnte keine auffälligen Prellungen feststellen. IhreBeine waren steif. Ein intensiver Geruch nach Meer ging vonihr aus, schlimmer als bei den Fischen unten. Sie hatte Sand imSchuh, also mußte sie auf Grund gegangen sein. An Unterar-men und Handflächen bemerkte er Hautabschürfungen, diewahrscheinlich vom Netz herrührten, das sie wieder heraufge-bracht hatte.

»Sina Patiaschwili«, sagte Arkadi. Sie hatte in der Cafeteriagearbeitet, an der Essensausgabe, wo sie Kartoffeln, Kohl undKompott austeilte.

»Sie sieht anders aus«, analysierte Slawa. »Anders als vorher,als sie noch gelebt hat, meine ich.«

Aus zwei Gründen, dachte Arkadi. Einmal durch den Tod,dann durch das Meer. »Wann ist sie über Bord gegangen?«

»Vor ein paar Stunden«, antwortete Slawa. Er baute sich ingebieterischer Haltung am Kopfende des Tisches auf. »Sie warwohl an der Reling und ist runtergestürzt, als das Netz einge-holt wurde.«

»Hat sie wer gesehen?«»Nein, es war doch stockdunkel. Und dann der starke Nebel.

Wahrscheinlich ist sie ertrunken, sowie sie ins Wasser eintauch-te. Oder der Schock hat sie umgebracht. Oder sie konnte nichtschwimmen.«

Arkadi betastete erneut den schlaffen Hals und sagte: »Ich

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würde eher sagen, sie ist seit gut vierundzwanzig Stunden tot.Die Leichenstarre fängt beim Kopf an und endet an den Füßen,und in genau der Reihenfolge läßt sie auch wieder nach.«

Slawa wiegte sich leicht auf den Absätzen, allerdings nichtwegen der Bewegung des Schiffes.

Arkadi warf einen Blick zur Tür und fragte dann mit ge-dämpfter Stimme: »Wie viele Amerikaner sind an Bord?«

»Vier. Drei Firmenvertreter und ein Beobachter von der ame-rikanischen Fischereibehörde.«

»Und? Wissen sie schon Bescheid?«»Nein. Zwei lagen noch in ihrer Koje. Einer war an der

Heckreling. Von dort bis zum Trawldeck ist es ein ganz schönesStück. Und der andere, der von der Behörde, war irgendwodrinnen und hat seinen Tee getrunken. Zum Glück war derTrawlmaster intelligent genug, die Leiche wegzuschaffen, be-vor einer von den Amerikanern sie entdecken konnte.«

»Aber das Netz wurde doch von einem amerikanischen Bootgeliefert. Haben die denn nichts gesehen?«

»Die wissen immer erst, was sie gefangen haben, wenn wir esihnen sagen.« Slawa überlegte. »Trotzdem sollten wir eine ein-leuchtende Erklärung vorbereiten, für alle Fälle.«

»Ach ja, eine Erklärung. Nun, sie hat doch in der Küche ge-arbeitet.«

»Ja, und?«»Wie wär’s mit Lebensmittelvergiftung?«»So was hab ich nicht gemeint.« Slawa wurde rot. »Jedenfalls

hat der Arzt sie untersucht, als wir sie herbrachten, und er sagt,sie ist erst seit zwei Stunden tot. Wenn Sie so ein guter Ermitt-lungsbeamter wären, dann säßen Sie jetzt noch in Moskau.«

»Stimmt.«

Arkadis Schicht war zu Ende, also ging er in die Kabine, die ermit Obidin, Kolja Mer und einem Elektriker namens GuriGladki teilte. Den vorbildlichen Seemann hätte man unter die-

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sen vieren vergeblich gesucht. Guri lag in der unteren Koje undblätterte in einem Sears-Katalog. Obidin hatte seinen Kittel inden Schrank gehängt und wusch sich den Schleim vom Gesicht,der in seinem Bart klebte wie Spinnweben an einem Feder-wisch. Ein übergroßes orthodoxes Kreuz baumelte auf seinerBrust. Wenn er sprach, hörte sich das an wie ein Poltern; einmalangenommen, ein Mann würde noch aus dem Grab reden kön-nen, dann würde seine Stimme sicher klingen wie die von Obi-din. »Das ist die Anti-Bibel«, sagte er, mit einem Blick auf Kol-ja, zu Guri. »Das ist das Werk eines Antichristen.«

»Und dabei hat er ›The Sharper Image‹ noch gar nicht gese-hen«, spottete Guri, als Arkadi in die obere Koje hinaufklet-terte. In seiner Freizeit trug Guri stets eine dunkle Brille undeine schwarze Lederjacke, wie ein lässiger Pilot. »Weißt du, waser in Dutch Harbor vorhat? In die Kirche will er gehen.«

»Das Volk hat eine bewahrt«, warf Obidin ein. »Das letzteWahrzeichen des Heiligen Rußland.«

»Heiliges Rußland? Volk? Menschenskind, du sprichst vonden Aleuten, und das sind gottverdammte Wilde!«

Kolja zählte seine Blumentöpfe. Er besaß fünfzig Stück, alleaus Pappe und je fünf Zentimeter im Durchmesser. Er hatte Bo-tanik studiert, und wenn man ihn über den Hafen von DutchHarbor und die Insel Unalaska reden hörte, hätte man glaubenkönnen, das Schiff würde in einem Paradies anlegen, und er,Kolja Mer, könne sich dort seinen ganz persönlichen GartenEden aussuchen.

»Ich werde der Erde Fischmehl beimischen, das wirkt Wun-der«, sagte er.

»Meinst du wirklich, du kriegst das Zeug heil zurück nachWladiwostok?« Guri dachte einen Moment nach und fragtedann: »Was für Blumen willst du eigentlich züchten?«

»Orchideen. Die sind zäher, als man denkt.«»Amerikanische Orchideen? Das wär ein Bombenerfolg, da

würdest du Hilfe brauchen beim Verkaufen.«

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»Es sind die gleichen wie die sibirischen Sumpforchideen«,sagte Kolja. »Das ist der Punkt.«

»Das hier war alles mal Heiliges Rußland«, verkündete Obi-din, als rufe er die Natur zum Zeugen auf.

»Arkadi, so hilf mir doch«, stöhnte Guri. »Was ist hier derPunkt? Wir haben einen einzigen Tag in einem amerikanischenHafen. Mer wird ihn damit zubringen, hinter sibirischen Blu-men herzujagen, und Obidin will mit den Kannibalen zusam-men beten. Bring du sie zur Vernunft, auf dich hören sie! Wirhalten es fünf Monate in dieser hochseetüchtigen Lokusschüs-sel aus, nur um diesen einen Tag im Hafen zu kriegen. Untermeiner Koje ist Platz für fünf Stereorecorder und an die hun-dert Kassetten. Oder Computer-Disketten. Alle Schulen inWladiwostok sollen angeblich mit Yamahas ausgestattet wer-den – so heißt es jedenfalls. Irgendwann. Eines Tages wird essoweit sein. Und dann ist alles, was auf denen läuft, ein Vermö-gen wert. Wenn wir nach Hause kommen, will ich nicht dieGangway runtergehen und sagen: ›Seht her, was ich aus Ameri-ka mitgebracht habe‹, und dann ein paar Töpfe mit sibirischenBlumen in die Höhe halten.«

Kolja räusperte sich. Er war der Kleinste in der Kabine undbewegte sich mit dem Unbehagen des schwächsten Fisches ineinem Aquarium. »Was hat Bukowski von dir gewollt?« Fra-gend sah er Arkadi an.

»Dieser Bukowski geht mir derartig auf die Nerven.« Guribeugte sich über das Foto eines Farbfernsehers. »Seht euch dasan: ›neunzehn Inches‹. Ich hatte mal einen Farbfernseher vonFoton. Aber der Kasten ging hoch wie eine Bombe.«

»Bei denen ist was mit den Röhren nicht in Ordnung«, warfKolja ein. »Ist doch allgemein bekannt.«

»Darum hatte ich ja auch zum Glück einen Eimer voll Sandneben dem Apparat stehen.« Guri lehnte sich aus seiner Kojeund sah zu Arkadi hoch. »Also, was hat der Dritte Maat von dirgewollt?«

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Zwischen Koje und Decke blieb gerade so viel Platz, daß Ar-kadi sich mit eingezogenem Kopf halb zum Sitzen aufrichtenkonnte. Durch das geöffnete Bullauge schimmerte ein matter,grauer Lichtstreifen. Sonnenaufgang über dem Beringmeer.

»Ihr kennt doch Sina, die aus der Küche?«»Die Blonde«, sagte Guri.»Aus Wladiwostok.« Kolja stapelte seine Töpfe übereinander.Guri grinste. Seine Schneidezähne waren mit Porzellan und

Gold überzogen, halb Schmuck, halb Reparatur. »Was denn,Bukowski ist hinter Sina her? Die macht ihm ’nen Knoten inden Schwanz und fragt ihn, ob er Brezeln mag. Tut er ja viel-leicht sogar.«

Arkadi sah zu Obidin hinüber, gefaßt darauf, mit einem Ur-teil aus dem Alten Testament belehrt zu werden.

»Eine Hure.« Obidin musterte die Einmachgläser, die untenim Schrank aufgereiht waren, mit verkorkten Gummikanülenin den durchbohrten Deckeln. Er schraubte eines auf, und dersüßliche Geruch gärender Rosinen erfüllte den Raum. Dannnahm er ein Glas mit Kartoffeln in die Hand.

»Ist das Zeug gefährlich?« Guris Frage richtete sich an Kol-ja. »Du bist hier der Wissenschaftler. Diese Dämpfe, ich meine,kann da was explodieren? Gibt es eigentlich irgendein Gemüseoder Obst, aus dem der Kerl keinen Alkohol machen kann? Er-innert ihr euch noch an die Bananen?«

Arkadi erinnerte sich nur zu gut. Der Schrank hatte gestun-ken wie ein modernder Tropenwald.

»Mit Hefe und Zucker kann man fast alles zur Gärung brin-gen«, erwiderte Kolja.

»Frauen gehören nicht auf ein Schiff«, sagte Obidin. An ei-nem Nagel an der Rückwand des Schrankes hing eine kleine Iko-ne des heiligen Wladimir. Obidin legte Daumen und zwei Fin-ger zusammen und berührte damit nacheinander Stirn, Brust,rechte und linke Schulter und schließlich das Herz. Dann häng-te er ein Hemd über den Nagel. »Ich bete für unsere Erlösung.«

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Neugierig sah Arkadi ihn an. »Erlösung – von wem denn?«»Baptisten, Juden, Freimaurer.«»Vorstellen kann man sich das allerdings kaum«, überlegte

Guri laut, »Bukowski und Sina, meine ich.«»Ihr Badeanzug, der hat mir imponiert«, sagte Kolja. »Wißt

ihr noch, an dem Tag vor Sachalin?« Ein Wärmestrudel war vomÄquator nordwärts gewandert und hatte ihnen für ein paar trü-gerische Stunden Sommer vorgegaukelt. »Dieser Badeanzugmit den dünnen Trägern?«

»Ein aufrechter Mann verdeckt sein Gesicht mit einem Bart.«Obidin nickte Arkadi zu. »Eine sittsame Frau stellt sich nichtzur Schau.«

»Jetzt ist sie sittsam«, sagte Arkadi. »Sie ist tot.«»Sina?« Guri stand auf, war jetzt auf Augenhöhe mit Arka-

di und nahm die dunkle Brille ab.»Tot?« Kolja wandte den Blick ab.Arkadi hatte den Eindruck, daß jeder der drei vermutlich

mehr über Sina Patiaschwili wußte als er. Ihm war vor allem je-ner ungewöhnliche Tag vor Sachalin noch im Gedächtnis, alssie in ihrem Badeanzug übers Volleyball-Deck paradiert warund sich hatte bewundern lassen. Die Russen waren ausge-sprochene Sonnenanbeter. Und so hatte an dem bewußten Tagjeder auf dem Schiff nur das allernotwendigste bißchen Stoffam Leibe getragen, um so viel wie möglich von der blassen Hautder Sonne auszusetzen. Aber Sina hatte mehr zu bieten als nureinen knappen Badeanzug. Sie hatte einen Körper wie die Frau-en aus dem Westen, schlank und sinnlich. Auf dem Tisch ebenwar sie dagegen nur mehr ein Wrack gewesen; wie ein feuchterLumpen hatte sie dagelegen, keine Spur mehr von der Sina, diedamals an der Reling auf und ab spaziert war und am Schandeckposiert hatte, vor den Augen eine Sonnenbrille, so undurch-dringlich wie eine Maske.

»Sie ist über Bord gegangen. Aber ein Netz hat sie wiederraufgebracht.«