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Publikationen zur internationalen Personalentwicklung Band 2 Culture Cases Afghanistan Sich im Spiegel der Anderen fremd werden Culture C

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Publikationen zur internationalen Personalentwicklung Band 2

Culture Cases Afghanistan

Sich im Spiegel der Anderen fremd werden

CultureC

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HerausgeberDeutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) GmbH

Sitz der Gesellschaft Bonn und Eschborn

Friedrich Ebert Allee 4053113 BonnT +49 228 4460-0F +49 228 4460-17 66

Dag-Hammarskjöld-Weg 1-556760 EschbornT +49 61 96 79-0F +49 61 96 79-11 15

E [email protected] www.giz.de

Akademie für Internationale ZusammenarbeitLohfelder Straße 12853604 Bad HonnefT +49 22 24 926-0F +49 22 24 926-170

VerantwortlichBernd Krewer

AutorinnenSusanne Thiel, Adelheid Uhlmann, Asja Caspari

BildnachweisFotos: Susanne Thiel

Layout und IllustrationenEva Hofmann, W4 Büro für Gestaltung, Frankfurt (Basislayout: Dreisprung Bonn/Köln)

DruckMetzgerdruck GmbH, Obrigheim Papier100 % Recyclingpapier, nach FSC-Standards zertifiziert

Erscheinungsort und JahrBad Honnef, 2012

ISSN: 2193-8857ISBN: 978-3-939394-92-1

Impressum

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Culture Cases Afghanistan

Sich im Spiegel der Anderen fremd werden

Von Susanne Thiel

mit Beiträgen von Adelheid Uhlmann und Asja Caspari

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4 | Fallstudien – Sich im Spiegel der Anderen fremd werden

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Geleitwort des Herausgebers und Gebrauchsanweisung

Sich im Spiegel der Anderen fremd werden

Leben und Arbeiten in einem fremden Land ist eine Herausforderung, denn die Be- gegnung mit unbekannten Kulturen bringt Nichtverstehen und Orientierungslosigkeit, regt aber auch Faszination und Neugier an.

Unsere Reihe ,Culture Cases‘ eröffnet einen Einstieg in das Verständnis der „eigenen“ und der „anderen“ kulturellen Prägung. Wir bringen unsere eigene kulturelle Program-mierung mit. Diese verleiht den Dingen, der Umwelt, der Mitwelt und den Ereignissen um uns herum IHRE Ordnung und Bedeutung. Kritisch kann es an den Stellen werden, an denen die Normalität ,des Anderen‘ von der deutschen / abendländischen definierten Normalität abweicht. Eigene, für selbstverständlich gehaltene Verhaltensmuster besitzen keine Gültigkeit mehr. Interkulturelle Irritationen, positive Überraschungen und Idealisie-rungen entstehen, oder Frustrationen, Konflikte und Enttäuschen. Der berühmte „Kulturschock“ kennt viele Erscheinungsformen.

Immer dann, wenn es uns gelingt, die Handlungsmöglichkeiten und -grenzen der anderen Kultur wert zu schätzen, werden Erklärungen für die fremden Verhaltensweisen zutreffender und unsere eigenen Reaktionen darauf passender. Wenn wir das eigen- kulturelle Orientierungssystem mit Elementen des fremden Systems erweitern, sind wir in der Lage, neue Handlungs- und Sichtweisen zu entwickeln. So wird die interkul-turelle Situation zu einer Ressource für innovative Vielfalt und neue Problemlösungen.

Wir hoffen, dass die Auseinandersetzung mit den Culture Cases ein Baustein für die Herausbildung einer wesentlichen grundlegenden Haltung in interkulturellen Situati-onen wird: die Haltung des wertschätzenden Vergleichs, die es ermöglicht, die Stärken der beteiligten kulturellen Systeme gleichermaßen wert zu schätzen und zur Entwick-lung neuer gemeinsamer Lösungswege zu benutzen.

Culture Cases sind eine „Selbstlernmethode“ der Akademie für Internationale Zusam-menarbeit. Sie lösen die landesbezogenen „Verhaltenspapiere“ der VEZ (Vorbereitungs-stätte für Entwicklungszusammenarbeit) ab. Im Unterschied zu diesem Vorläufer, der

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6 | Vorwort – Sich im Spiegel der Anderen fremd werden

landeskundliches Wissen und „kondensierte“ Handlungserfahrungen als Informations-broschüre für Ausreisende zusammengestellt hatte, setzen die Culture Cases unseren neuen didaktischen Ansatz als Selbstlernprogramm um.

Grundidee ist es, sich fragend, explorierend und möglichst praxisnah an eine andere Lebenswelt heran zu tasten und auf diese Weise seine eigene Weltsicht zu relativieren und für neue Perspektiven zu öffnen. Die Wahrnehmung und Bewertung dessen, was man für fremd hält, steht in untrennbarem Zusammenhang, mit dem, was man für normal hält. Es gibt nicht „das Fremde“ an sich. Und genauso wenig gibt es ein Ver- stehen einer anderen Kultur ohne Selbsterkenntnis.

Unsere Culture Cases sind deshalb mehr als ein kulturerfahrener (Reise-)Führer in ein noch unbekanntes Land. Dieser Band nimmt Sie mit auf eine Lernreise zu sich selbst und zur Kultur Afghanistans …

… indem er anhand lebensnaher Praxisbeispiele typische Fragestellungen der interkulturellen Zusammenarbeit mit afghanischen Partnern aufgreift. Wenn Sie sich dafür interessieren, welche Situationen entstehen, wenn deutsche Fachkräfte in Afghanistan Berufs- und Lebenserfahrung sammeln und wie schwierig es ist, interkulturelle Begegnungen konstruktiv zu nutzen, dann lesen Sie die vier Fallstudien auf Seite 12, 30, 48 und 66.

… indem er im Anschluss an jede Fallstudie in einem Aufgabenteil zentrale Fragen aufwirft, die in dieser und in vergleichbaren Situationen hilfreich sind. Wenn Sie Ihre Beobachtungsfähigkeit für fremdes und eigenes Verhalten schärfen wollen und Anregungen bekommen für die Ermittlung von Erklärungsansätzen, wenn Sie Denk- und Fragegewohnheiten über sich selbst und andere einüben möchten, die Ihnen in Ihrer internationalen Tätigkeit zur nützlichen Gewohnheit werden können, dann beschäftigen Sie sich eingehend mit den Aufgabenstellungen. Diskutieren Sie die Aufgaben gerne auch mit Anderen. Der Aufgabenteil führt Sie automatisch durch Querverweise zu den Kapiteln über Kulturspezifika und zum Überblick über die interkulturelle Kommunikation.

… indem er in übersichtlicher Weise die kulturellen Besonderheiten, die das Leben und Arbeiten in Afghanistan prägen, zusammenfasst.

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Wenn Sie sich einen Überblick über zentrale Elemente der afghanischen Kultur verschaffen wollen, lesen Sie über die Kulturspezifika ab Seite 86.

… indem er einen Überblick über zentrale Kategorien der interkulturellen Kommunikation gibt. Wenn Sie Ihren Beobachterblick und Ihre Analysefähigkeit auf sich selbst und den anderen in interkulturellen Situationen schärfen wollen, dann erarbeiten Sie sich die Inhalte des Kapitels „Interkulturelle Kommunikation im Überblick“ ab Seite 110.

Mein Ziel als Leiter der Akademie für Internationale Zusammenarbeit und als Heraus-geber dieser Schriftenreihe ist es, dass Fach- und Führungskräfte der Internationalen Zusammenarbeit in einer fremden Gesellschaft einerseits erfolgreich leben und arbeiten, andererseits die gewonnene interkulturelle Kompetenz für sich und ihre Mitwelt kon-struktiv und gewinnbringend einsetzen können.

Ich wünsche Ihnen, dass Ihr internationaler Einsatz für Sie ein fruchtbarer Prozess der internationalen Kompetenzentwicklung wird. Ich würde mich freuen, wenn der vor- liegende Band dazu beiträgt, dass Sie sich in Ihrem Gastland wohl und sicher fühlen, und mit vielen neuen Perspektiven Ihre weitere berufliche Lebensreise fortsetzen können,

Ihr

Bernd Krewer

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8 | Inhalt – Sich im Spiegel der Anderen fremd werden

Inhalt

1 | Fallstudien

Fallstudie 1: Als Chemikerin an der Universität – Dr. Monika Zimmermann sucht ihren Platz in der Hierarchie ............................... 12

Fallstudie 2: Als Bauingenieur in Masar-e–Sharif – bei Thomas Becker baut sich Frust auf ............................................................................ 30

Fallstudie 3: Als Gender-Fachkraft in Kabul – Anne-Katrin Hansen bringt neuen Schwung in das Beschäftigungsförderungsvorhaben ................... 48

Fallstudie 4: Als Stiftungsleiter zwischen politischen Überzeugungen und afghanischen Traditionen – Christian Hofbauer auf der Suche nach Kompromissen .......................................................................................................... . . . . . . . . . . . 66

2 | Kulturspezifika Afghanistan

2.1 Gesellschaftliche Gliederung, Hierarchien und Identität ......................................... 88

2.1.1 Identität ..................................................................................................................................... 89

2.1.2 Ethnische Gliederung ............................................................................................................ 89

2.1.3 Stammesorganisation ........................................................................................................... 90

2.1.4 Stadt und Land ........................................................................................................................ 90

2.1.5 Hierarchien und Machtverhältnisse ................................................................................. 91

2.1.6 Religiöse Autoritäten ............................................................................................................ 93

2.2 Familie, Verwandtschaft und Solidaritätsgruppen ...................................................... 93

2.2.1 Familie und Verwandtschaft ............................................................................................... 93

2.2.2 Eheschließung ......................................................................................................................... 94

2.2.3 Solidargemeinschaften und kollektivistische Gesellschaft .................................... 95

2.2.4 Korruption und Vetternwirtschaft ..................................................................................... 96

2.2.5 Führungsmodelle .................................................................................................................... 97

2.3 Kulturelle Werte und Traditionen .......................................................................................... 97

2.3.1 Geschlechterverhältnis ......................................................................................................... 98

2.3.2 Ehre ............................................................................................................................................. 99

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2.3.3 Paschtunwali ........................................................................................................................ .. 100

2.3.4 Einstellungen zum Leben und zur Religiosität ......................................................... 100

2.3.5 Gastfreundschaft ................................................................................................................ .. 101

2.4 Kommunikation ................................................................................................................................ 103

2.4.1 Begrüßung ................................................................................................................................ 103

2.4.2 Gesprächsordnung ................................................................................................................. 105

2.4.3 Harmonisches Umfeld ........................................................................................................... 106

2.4.4 Umgang mit Kritik ................................................................................................................. 107

2.4.5 Nonverbale Kommunikation ............................................................................................... 108

3 | Interkulturelle Kommunikation im Überblick ........................................................111

3.1 Kulturelle Dilemmata .................................................................................................................. 113

3.1.1 Individuum versus Gruppe ................................................................................................. 113

3.1.2 Hierarchie versus Partizipation ........................................................................................ 115

3.1.3 Wettbewerb versus Solidarität und Fürsorge ............................................................. 116

3.1.4 Zeitplanung nacheinander oder gleichzeitig ............................................................... 117

3.1.5 Implizit / indirekt versus explizit / direkt kommunizieren ....................................... 118

3.1.6 Konflikte austragen versus Harmonie erhalten ......................................................... 119

3.1.7 Aufgabenbezug versus Beziehungsbezug ..................................................................... 119

3.1.8 Universalismus versus Partikularismus ....................................................................... 121

3.1.9 Regelorientierung versus Flexibilität ............................................................................. 122

3.1.10 Theoretische Perfektion versus pragmatische Lösung ........................................... 123

3.2 Linguistic Awareness of Cultures ........................................................................................ 124

3.2.1 Wortbedeutung ....................................................................................................................... 124

3.2.2 Sprechhandlung ..................................................................................................................... 125

3.2.3 Gesprächsorganisation ........................................................................................................ 126

3.2.4 Nonverbale Zeichen .............................................................................................................. 127

3.2.5 Araverbale Zeichen ............................................................................................................... 128

3.2.6 Kontextualisierung ................................................................................................................ 128

4 | Weiterlernen .......................................................................................................................................... 133

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10 | Fallstudien – Sich im Spiegel der Anderen fremd werden

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KabulHerat

Masar-e Sharif

PROVINZ BALKH

Kunduz

TADSCHIKISTANUSBEKISTAN

TURKMENISTAN

PAKISTAN

AFGHANISTAN

Dschalalabad

Kandahar

IRAN

1 | Fallstudien

Fallstudie 1 Seite 12

Fallstudie 2 Seite 30

Fallstudie 3 Seite 48

Fallstudie 4 Seite 66

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12 | Fallstudien – Sich im Spiegel der Anderen fremd werden

Als Chemikerin an der Universität – Dr. Monika Zimmermann sucht ihren Platz in der Hierarchie

Fallstudie 1

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Dr. Zimmermann wird Dozentin für Pharmazie in Kabul

Frau Dr. Zimmermann ist seit einem Jahr als Dozentin für Pharmazie an der Universität Kabul tätig. Sie nimmt an einem Programm zur Unterstützung des Wiederaufbaus von Hochschulen in Afghanistan teil. Die Universität in Kabul nahm 1932 ihre Arbeit auf und erwarb sich in den nachfolgenden Jahren einen guten Ruf in der ganzen Region. Zahlreiche Studenten aus den Nachbarländern studierten in Kabul, das in den 1970er Jahren sogar als ausgesprochen modern galt. Während des Widerstandes gegen die sowjetische Besatzung und im anschließenden Bürgerkrieg wurden große Teile der Universitäten des Landes zerstört und auch die Universität Kabul trug große Schäden davon. Das 1959 gegründete Institut für Pharmazie war nicht mehr arbeitsfähig. In der Zeit des Taliban-Regimes von 1996 bis 2001 verschlechterten sich die Arbeitsbedin-gungen der wenigen verbliebenen Institute aufgrund von weitgreifenden Beschränkun-gen, Mangel an adäquaten Räumlichkeiten und Lehrmaterialien weiter. So mussten sich Frauen aus dem Berufs- und Hochschulleben ganz zurückziehen. Frau Dr. Zimmer-mann hatte mit großem Interesse die Entwicklungen in Afghanistan in den Jahren des Wiederaufbaus seit 2002 beobachtet. Besonders die Wiederbelebung der Universitäten des Landes und die – wenn auch zaghafte – Rückkehr der Frauen in das öffentliche Leben und den Hochschulbereich faszinierten sie.

Dr. Zimmermann trug sich schon seit mehreren Jahren mit den Gedanken, sich selbst aktiv in das Wiederaufbaugeschehen einzubringen und ihre Erfahrungen im pharmazeutischen Bereich mit afghanischen Kollegen und Kolleginnen an der Universität Kabul zu teilen. Sie hatte es schon immer als persönliches Manko empfunden, über wenig Erfahrung in der Dozenten- und Forschungstätigkeit im außereuropäischen Ausland zu verfügen. Durch eine Tätigkeit in Afghanistan würde sie sowohl ihren persönlichen Horizont erweitern als auch ihrem Bedürfnis entsprechen können, die Entwicklungsbe-strebungen der afghanischen Wissenschaftler zu unterstützen. Ihr persönliches Interessen-gebiet im Bereich der Pharmazie – kosmetische und medizinische Pflanzen – schuf einen zusätzlichen Anreiz, denn sie hatte bereits viel über die traditionelle Herstellung von kosmetischen Ölen und das weitgehend ungenutzte Potenzial von medizinischen Pflanzen in Afghanistan gelesen. Als ihr Arbeitgeber an der Universität Marburg ihr die

Frau Dr. Zimmermann steht vor der schwierigen Entscheidung, ob sie nach einem Jahr an der Universität Kabul ihren zweijährigen Vertrag erfüllt oder das Arbeitsverhältnis vorzeitig abbricht. Können Sie der Dozentin einen Rat erteilen? Lesen Sie zunächst ihre Geschichte über Leben und Arbeiten in Afghanistan.

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14 | Fallstudien – Sich im Spiegel der Anderen fremd werden

Möglichkeit bot, sich für zwei Jahre beurlauben zu lassen, ergriff sie die Gelegenheit und sagte einem Angebot, Dozentin an der Universität Kabul zu werden, zu.

Dr. Zimmermanns Werdegang und die Photos des Onkels

Dr. Monika Zimmermann ist seit zwölf Jahren mit einem Mediziner verheiratet, der als Chefarzt für Onkologie am Universitätsklinikum Gießen und Marburg tätig ist. Auch ihr Onkel väterlicherseits übte einen medizinischen Beruf aus. Als Kind und Jugend-liche hatte sie fasziniert seinen Geschichten über ferne Länder zugehört, in denen er als Entwicklungshelfer tätig war. Als junger Mann hatte er in den 1960er Jahren auch in Afghanistan gearbeitet und ihr begeistert über beeindruckende Gebirgslandschaften und „die gastfreundlichsten Menschen, die er jemals getroffen hatte“, erzählt. Sie erinnerte sich an die vergilbten Fotos von malerischen Dörfern und freundlich lächelnden Kindern, die er aus Afghanistan mitgebracht hatte.

Als ihr Entschluss reifte, das Institut für Pharmazeutische Techno logie und Bio- pharmazie für eine Weile zu verlassen und nach Afghanistan zu gehen, hatte sie ver-sucht, auch ihren Mann für diese Idee zu begeistern. Für den Arzt kam eine berufliche Veränderung zu diesem Zeitpunkt aber nicht in Frage. Ein mehrjähriger Ausstieg hätte seiner beruflichen Karriere geschadet, außerdem hatte er keine Ambitionen, in einem politisch instabilen und unsicheren Land wie Afghanistan zu arbeiten. In häus lichen Diskussionen hatte er immer wieder versucht, ihr die aktuelle Lage und unsichere Zukunft des Landes vor Augen zu führen. Er schätzte die Sicherheitssituation sehr kritisch ein und machte sich Sorgen um seine Frau, die zwei Jahre lang unter diesen Be dingungen arbeiten und leben wollte. Auch Frau Zimmermanns Eltern teilten diese Bedenken und versuchten sie zu überzeugen, sich doch ein ruhigeres Land auszusuchen – wenn es denn schon ein Entwicklungsland sein sollte. Nur ihr Onkel, inzwischen im Ruhestand, konnte ihren Enthusiasmus verstehen und bestärkte sie in ihrem Vorhaben. Er freute sich auf ihre persönlichen Berichte und Fotos und hatte ihr schon kleine Aufträge gegeben, was sie für ihn aus Afghanistan mitbringen sollte. Frau Zimmermann versuchte die Bedenken ihrer Eltern zu zerstreuen und fand sich mit dem Gedanken ab, ihren Mann in den nächsten zwei Jahren nur in den Urlaubszeiten zu sehen.

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Ein Jahr an der Universität Kabul

Die Entscheidung war gefallen, die Vertragsverhandlungen abgeschlossen, und Frau Dr. Zimmermann reiste nach einer kurzen Vorbereitungszeit nach Afghanistan aus. Sie quartierte sich zunächst im Gästehaus des DAAD ein, wollte aber so schnell wie möglich eine eigene Wohnung finden. Ihre erste Fahrt durch Kabul sorgte für vielfältige und ver - wirrende Eindrücke. Der Verkehr war dicht und chaotisch, die Straßen voller Menschen, die ihren unterschiedlichen Gewerben nachgingen. Es war laut und hektisch und die sich ihr bietenden Straßenbilder in Staub und Abgasschwaden gehüllt. In der Innen stadt überraschten sie die vielen modernen Bauten und Stadtvillen der Reichen, die neuen Supermärkte und die Shopping Mall im Zentrum. In den äußeren Bezirken dagegen sahen viele Straßenzüge noch so aus, wie sie sie auf Bildern von Afghanistan nach dem Krieg gesehen hatte. Die Wege nicht asphaltiert, viele Gebäude zerstört oder in einem erbar-mungswürdigen Zustand. Hier draußen hatten die Bewohner offensichtlich auch keine Wasser- oder Stromversorgung. Die Menschen waren ärmlich gekleidet, viele Kinder hatten nur Plastiksandalen an den Füßen oder liefen barfuß herum. Zu ihrer Überraschung sah sie in den Außenbezirken nur wenige Frauen auf den Straßen und viele von ihnen trugen die Burqa, die Ganzkörperverschleierung, welche den Blick nach draußen nur durch ein kleines Stoffgitterfenster zulässt. In ihrer Vorbereitungszeit hatte sie über die zunehmenden Einschulungsraten von Mädchen gelesen und von der langsamen Rückeroberung des öffentlichen Raums durch die Frauen – im Stadtbild zumindest war davon nichts zu sehen.

Mit vielen widersprüchlichen Bildern und Eindrücken im Kopf traf Dr. Zimmer-mann zwei Tage nach ihrer Ankunft auf ihren neuen Chef, den Institutsleiter Professor Syed Mohammed Aziz Karokhel. Dr. Zimmermann hatte sich auf dieses erste Treffen gut vorbereitet. Sie brachte Konzeptentwürfe für ihre ersten Vorlesungen und Seminare mit und darüber hinaus eine ganze Ideensammlung für mögliche Arbeitsgruppen zu ihren Lieblingsthemen Heilpflanzen und kosmetische Öle. Da ihr in den Unterlagen des Instituts, die sie sich im Vorfeld schon angeschaut hatte, aufgefallen war, dass nur wenige Frauen in dieser Institution tätig waren, hatte sie sogar schon Ideen für ein Frauenförderkonzept notiert. Dr. Zimmermann war voller Tatendrang und brannte darauf, dem Institutsleiter ihre Ideen vorzustellen.

Der Institutsleiter hatte seine neue Mitarbeiterin für 15.00 Uhr nachmittags in sein Büro bestellt. Als sie eintraf, waren bereits drei andere Dozenten anwesend. Der Raum war groß und sparsam eingerichtet. Der Professor erhob sich bei ihrem Eintreten hinter seinem ausladenden Schreibtisch am hinteren Ende des Raums und kam ihr lächelnd entgegen. An einer Wand und neben dem Schreibtisch standen mehrere Stühle,

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neben der Tür links befand sich eine wuchtige Sitzgarnitur. An der Wand in der Nähe des Schreibtisches war ein modernes Fernsehgerät eingeschaltet, der Ton war aber stumm gestellt. Dr. Zimmermann fiel ein großes Bild von Präsident Karzai auf und dass der Schreibtisch bis auf einige Mobiltelefone leer war. Auch die bereits anwesenden Mitarbeiter erhoben sich von ihren Stühlen vor dem Schreibtisch und kamen auf die neue Kollegin zu. Dr. Zimmermann schüttelte die ausgestreckte Hand und begrüßte den Professor. Als sie ihn mit seinem vollständigen Namen ansprach – den sie sich vorher gründlich eingeprägt hatte – winkte er lächelnd ab. ‚Professor Aziz‘ würde voll- ständig ausreichen, die anderen Namen wären ‚familiäres Beiwerk‘, das würde er ihr ein anderes Mal erklären. Er stellte die beiden männlichen Dozenten als seine engsten Mit- arbeiter vor und Dr. Abdur Rahman und Dr. Shafiq reichten ihr ebenfalls die Hand. Dann wandte er sich an die junge Frau neben ihm und trat selbst einen Schritt zurück, damit Farida im Zentrum stand; sie sei eine sehr talentierte Doktorandin und hätte im letzten Semester bereits ihr erstes Seminar für die Anfänger gehalten. Er hoffe, Dr. Zimmermann werde Farida unter ihre Fittiche nehmen, so dass die junge Kollegin von ihren Erfahrungen profitieren könne.

Professor Aziz führte Dr. Zimmermann zur Sitzgruppe und auch die anderen ließen sich dort nieder. Auf dem Tisch standen Kekse, Nüsse und Bonbons und auf ein Klingelzeichen Dr. Shafiqs wurde dampfender grüner und schwarzer Tee serviert. Der Professor begann die Unterhaltung, indem er seine Freude über das gute und freund-schaftliche Verhältnis zwischen Deutschland und Afghanistan ausdrückte. Er sprach mit gedämpfter Stimme und alle in der Runde verhielten sich ganz leise, um ihn gut zu verstehen. Professor Aziz legte häufig Sprechpausen ein; wenn er zu einem neuen Satz anhob, schaute er in die Runde, nahm Blickkontakt mit den Gesprächspartner auf und lächelte diese an. Er lobte deutsche Errungenschaften, die funktionierende Wirtschaft und Verwaltung, und erzählte von seinem Cousin, der mit der Familie seit vielen Jahren in Frankfurt lebte. Der Professor hatte ihn schon mehrfach besucht und war begeistert von Deutschland. Viele seiner Verwandten lebten im Ausland, einige wären nun aber auch zurück nach Kabul gekommen. Er fragte nach ihrer Familie, dem Beruf ihres Mannes und ihres Vaters und war sehr interessiert an ihrer Schilderung des Onkels, der vor Jahrzehnten in Afghanistan gearbeitet hat. Er bot Dr. Zimmermann Unterstützung an bei der Wohnungssuche und bei sonstigen Problemen im afghanischen Alltag. Sie nahm das Angebot gerne an, dass ein Neffe des Professors, der im Immobiliengeschäft tätig war, sich nach einer Wohnung für sie umschauen sollte. Dr. Zimmermann empfand die Begrüßung als sehr freundlich und die Plauderei angenehm, aber nun wollte sie gern auf ihre konkreten Aufgaben zu sprechen kommen. Sie zog ihre Pläne und Konzepte aus der Tasche, richtete sich in ihrem Sessel auf und legte die Papiere vor sich auf den Tisch.

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Der Professor schaute auf die Papiere, blickte sie dann lächelnd an und verwies darauf, dass er jetzt um 16.00 Uhr den nächsten Termin hätte und dass sie über Einzel-heiten später sprechen könnten. „Kommen Sie erst einmal richtig an, Frau Dr. Zimmer-mann, und gewöhnen Sie sich ein, dann werden wir weiter sehen. Dr. Shafiq wird Ihnen in den nächsten Tagen den Semesterplan zeigen und dem können Sie dann entnehmen, wann Ihre Veranstaltungen stattfinden“, sagte der Professor. Er blickte hinüber zu Dr. Shafiq, der eifrig mit dem Kopf nickte und ihr versicherte, er werde in den nächsten Tagen auf sie zukommen. Dr. Zimmermann machte noch einen Versuch und deutete auf ihre Papiere, die sie gern durchsprechen wollte. Professor Aziz hielt ihr die offene Hand hin; sie solle ihm ruhig die Pläne und Konzepte schon einmal geben, er werde sie sich bei Gelegenheit anschauen. Professor Aziz verabschiedete seine afghanischen Dozenten mit einem kurzen Gruß und Kopfnicken, dann trat er auf Dr. Zimmermann zu und reichte ihr die Hand. Er ließ ihr den Vortritt, als er sie in Richtung Tür begleitete. Als sie sein Vorzimmer erreicht hatten, entschuldigte er sich, dass ihr Büro noch nicht ganz fertig-gestellt sei. Aber es sei Farida eine Freude, sie solange in ihrem Raum aufzunehmen. Die junge afghanische Doktorandin wartete draußen auf sie und führte sie in ihr gemein-sames Büro. Als sie allein waren zeigte sich, dass Farida ganz munter und gesprächig war; im Gespräch mit dem Professor hatten sich alle drei Dozenten zurückgehalten und nur gesprochen, wenn sie aufgefordert wurden. Dr. Zimmermann war erfreut, dass das erste Treffen mit ihrem Institutsleiter so angenehm verlaufen war, aber sie war auch etwas ent- täuscht, dass sie ihre Anliegen eigentlich gar nicht vorbringen konnte und nicht wusste, was er von ihren Plänen und Konzepten für die Lehrveranstaltungen hielt.

In den nächsten Tagen stellte sich heraus, dass ihre Seminare und Vorlesungen im neuen Stundenplan nicht berücksichtigt worden waren.

Entrüstet und mit dem Stundenplan in der Hand machte sich Dr. Zimmermann auf den Weg zum Büro des Institutsleiters, um eine Klärung herbeizuführen. Auf dem Flur wurde sie von Dr. Shafiq aufgehalten. Er teilte ihr mit, dass der Professor auslän-dische Gäste habe und momentan nicht zu sprechen sei. Und sie solle sich die Sache mit

Prof. Syed Mohammed Aziz KarokhelInstitutsleiter

Dr. ShafiqStellvertr. Instituts- leiter und Dozent

Dr. Abdur RahmanDozent

FaridaDoktorandin

Dr. ZimmermannDozentin

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dem Stundenplan doch nicht so zu Herzen nehmen, das sei doch leicht zu ändern und ihre Veranstaltungen könnten problemlos eingefügt werden.

Tatsächlich ließ Professor Aziz sie am Nachmittag zu sich rufen – er musste von den Kollegen von ihrer Unzufriedenheit gehört haben. Er schenkte ihr Tee ein und fragte lächelnd nach ihrem Befinden und ob sie sich in ihrem neuen Umfeld wohl fühle. Er war ruhig und entspannt wie bei ihrem ersten Gespräch. Dr. Zimmermann konnte kaum still sitzen, denn sie brannte darauf, ihrer Entrüstung Luft zu machen. Aber Professor Aziz teilte ihr freudestrahlend mit, sein Neffe habe bereits ein hübsches kleines Haus für sie gefunden, und sie könne es gleich morgen früh besichtigen. Die Dozentin zeigte sich erstaunt, wie schnell die Häusersuche vonstattengegangen war und bedankte sich für die Unterstützung. Dann aber legte sie den Stundenplan auf den Tisch und fragte, warum ihre Veranstaltungen nicht berücksichtigt worden waren. Der Professor entschuldigte sich für das Versehen und versicherte ihr, es wäre völlig problemlos, jetzt noch Änderun-gen vorzunehmen. Er würde sich persönlich darum kümmern. Dr. Zimmermann ergriff die Gelegenheit und fragte nach, wann denn wohl mit der Fertigstellung ihres Büros zu rechnen wäre. Der Professor entgegnete, dass es wohl nur noch wenige Tage dauern würde und fragte, ob sie sich denn in Faridas Zimmer nicht wohl fühlte. Sie versicherte, dass sie die kollegiale Zusammenarbeit sehr schätze, aber die Kollegin nicht weiter stören wolle und auch viel Ruhe brauche, um konzentriert arbeiten zu können. Schließlich überreichte sie ihm noch eine Literaturliste mit Büchern aus dem pharmazeutisch-bota-nischen Bereich, den sie in den nächsten Jahren in Afghanistan erforschen wollte. Die Bücher waren in der Bibliothek nicht vorhanden und Dr. Zimmermann empfahl die Anschaffung. Die für ihren Unterricht erforder lichen Bücher konnte sie selbst beschaffen, dafür reichten die finanziellen Mittel, die ihr mitgegeben worden waren. Professor Aziz schaute sie mit hochgezogenen Augenbrauen an und zögerte einen Moment, nahm dann aber die Liste an sich und versprach, sich um die Anschaffung zu kümmern.

Dr. Zimmermann war sehr zufrieden mit ihrem kleinen Haus. Es gefiel ihr auf Anhieb und war in einer ruhigen Straße in der Nähe des Instituts gelegen. Der Neffe des Institutsleiters half ihr bei den Mietvereinbarungen und besorgte ihr auch zusätz-liche Öfen und andere Haushaltsgegenstände. Das Honorar, das sie ihm für die Ver - mittlung und die Besorgungen anbot, lehnte er großzügig ab. Den Vermieter, der den Vertrag mit Abdullah Karokhel unterschrieb, bekam sie nur bei dieser Gelegenheit zu Gesicht, ansonsten war der Neffe ihr Ansprechpartner.

Mit ihrer Arbeit war Dr. Zimmermann weniger zufrieden als mit ihrer Unterkunft, aber sie versuchte, sich mit einigen Widrigkeiten zu arrangieren. Ihre Vorlesung und das

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Seminar waren in den Studienplan eingefügt worden, aber sie lagen parallel zu Veran-staltungen von Dr. Shafiq und Dr. Abdur Rahman. Als Folge dessen kamen nur wenige Studenten und Studentinnen zu ihr, was sie zunächst maßlos ärgerte. Mit der Zeit fand sie sich aber damit ab und kümmerte sich intensiv um ihre kleine Gruppe. Sie musste sich auch weiterhin das Büro mit der jungen Kollegin Farida teilen. Obwohl Dr. Zimmermann von ihr immer mit Ehrerbietung behandelt wurde, entwickelte sich langsam ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen den beiden Frauen. Farida wandte sich oftmals in fachlichen Fragen an sie und übernahm immer wieder Übersetzungs-aufgaben. Dr. Zimmermann nahm zwar Dari-Unterricht, konnte sich aber noch nicht an Gesprächen beteiligen.

Professor Aziz bekam Dr. Zimmermann selten zu Gesicht. Er besuchte oft Kon-ferenzen und befand sich in diesem Semester schon das zweite Mal auf einer Auslands-reise. Bei einer der wenigen Gesprächsmöglichkeiten hatte sie ihm ihr weiter ausge ar bei- tetes Konzept zur Nutzung von afghanischen Heilpflanzen überreicht und ihn gefragt, ob sie im Namen des Instituts Kontakt zu den Kollegen der Botanik aufnehmen dürfte, um eine eventuelle Kooperation abzusprechen. Professor Aziz bat sie von Allein gängen Abstand zu nehmen und verwies sie an Dr. Shafiq, der den Institutsleiter auch während dessen Abwesenheiten vertrat. Dr. Shafiq schien sehr interessiert an ihrem Konzept zu sein und versprach, die entsprechenden Kontakte herzustellen. Er käme wieder auf sie zu, falls sich etwas ergäbe.

Bis zum Ende des Semsesters war aber kein Kontakt zustande gekommen und Dr. Zimmermann beschloss, nach ihrer Rückkehr aus dem Urlaub selbst tätig zu werden. Auch um das Konzept zur Frauenförderung im Institut wollte sie sich intensiv kümmern und mit dem Frauenministerium und anderen internationalen Organisationen austau-schen. Sie hatte ihrem Konzept sogar einen Operationsplan hinzugefügt. Professor Aziz hatte sich zwar für ihre hervorragende Arbeit bedankt und das Konzept eingesteckt, aber bisher keinerlei Schritte zur Umsetzung unternommen. Am letzten Tag vor dem Urlaub besuchte sie erneut die Bibliothek und fragte, ob die bestellten Bücher endlich angekom-men seien. Es waren tatsächlich neue Bücher da, aber nicht die, die sie gewünscht hatte. Als sie dem Bibliothekar eine Kopie ihrer Liste zeigte, sagte er, dass er dieses Papier nie gesehen hätte. Die neuen Bücher wären von Dr. Abdur Rahman bestellt worden.

Frau Dr. Zimmermann nahm sich in ihrem Urlaub vor, nach ihrer Rückkehr offensiver vorzugehen. Auch ihr Ehemann hatte sie nach ihren Schilderungen darin bestärkt und ihr geraten, den Ausweichmanövern von Professor Aziz mit konkreten Forderungen und gegebenenfalls mit Ultimaten zu begegnen. Das Problem der Literatur-

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beschaffung ließ sich überraschenderweise sehr leicht lösen, denn Dr. Zimmermann konnte in ihrem alten Institut aus einem Sonderfonds zusätzliche Mittel erhalten, mit denen sie die gewünschten Bücher selbst beschaffte.

Mit frischer Energie nahm Dr. Zimmermann nach ihrem Urlaub ihre Lehrtätigkeit wieder auf. Ihre Veranstaltungen waren tatsächlich geschickter platziert worden, so dass sie mit einer höheren Zahl von Studenten und Studentinnen rechnen konnte. Auch das Raumproblem war gelöst worden, allerdings auf eine Weise, die die Dozentin sehr befremdete. Das für sie vorgesehene Büro war noch immer nicht bezugsbereit, aber als sie ihren Schreibtisch in Faridas Raum wieder belegte, bemerkte sie, dass die junge Kollegin ausgezogen war. Von Kollegen erfuhr sie, dass Farida in den Semesterferien geheiratet hatte und auf Wunsch der Familie ihres Ehemannes der Universität fernbleiben sollte. Sie könne ihre Berufstätigkeit vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufnehmen. Dr. Zimmermann war fassungslos – wie konnte die Familie die talentierte junge Frau um ihre Karrierechancen bringen? Farida hatte doch so viele Pläne gehabt! Niemand im Institut schien sich sonderlich über den Vorfall aufzuregen; man bedauerte den Weggang der beliebten Kollegin, nahm ihn aber als unvermeidbares Schicksal hin. Ohne um einen Termin ersucht zu haben, ging Dr. Zimmermann zum Büro ihres Vorgesetzten und bat um ein Gespräch in einer dringlichen Angelegenheit. Professor Aziz war gelassen und freundlich wie immer. Er bat die Dozentin an seinen Tisch und klingelte nach Tee. Dann wollte er wissen, ob sie ihren Urlaub angenehm verbracht hatte, wie es ihrer Familie ging, und ob sie ihren alten Onkel getroffen hatte. Dr. Zimmermann antwortete ihm kurz und knapp und gab dann atemlos ihrer Entrüstung über Faridas Verschwinden Ausdruck. Ob er denn nicht Einfluss auf Faridas Familie nehmen und sie zum Umlenken bewegen könnte? Das Lächeln verschwand für einen Augenblick aus Professor Aziz’ Gesicht, aber dann lehnte er sich zurück und erzählte ihr in seinem üblichen leisen und ruhigen Ton von afghanischen Traditionen, den Ver pflichtungen der Kinder ihren Familien gegenüber und dass sich das Individuum dem Verwandtschaftsverband unterordnen müsste. Nach afghanischen Maßstäben habe er kein Recht, sich in Familienangelegenheiten einzu- mischen. Den letzten Satz wieder holte er mit Nachdruck und erhob seine Stimmte dabei. Damit schien der Fall für ihn erledigt zu sein. Beim Hinausbegleiten beglückwünschte sie der Professor noch zu ihrem Erfolg bei der Literaturbeschaffung – das Institut sei ihr sehr dankbar für ihre Bemühungen.

Das Semester war sehr arbeitsreich für Dr. Zimmermann. Sie begann mit der Vorbereitung der Unterlagen für die Prüfungen, die in wenigen Monaten stattfinden würden. Es blieb wenig Zeit, ihre über die Lehrveranstaltungen hinausgehenden Pläne und Konzepte weiterzuverfolgen. Bei einem Treffen hörte sie von einer Kollegin aus

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dem Frauenministerium, dass Professor Aziz auf einer UNIFEM-Konferenz in Kabul, an der das Ministerium und viele Internationale teilgenommen hatten, ‚sein‘ Frauen-förderkonzept vorgestellt hatte. Dr. Zimmermanns Name war mit keiner Silbe erwähnt worden. Die Dozentin war verblüfft und gekränkt. Sie war über die bevorstehende Konferenz nicht informiert worden – und warum hatte man ihren Beitrag in keinster Weise gewürdigt? Aber immerhin hatte ihr Konzept Anklang gefunden und sie würde jetzt auf die ersten Schritte der Umsetzung warten.

Aber es gab auch eine sehr positive Entwicklung, die Dr. Zimmermann bestätigte, dass bestehende Systeme nicht fest zementiert waren und Entwicklungen zuließen. Die im Institut übliche frontale Unterrichtsform und die ausgeprägten Hierarchien hatten sie von Anfang an befremdet. Die Studenten erwarteten klare Vorgaben von ihr, schrieben bei den Vorlesungen mit und lernten das Gehörte auswendig. Sie wurden kaum darin gefördert, eigene Ideen zu entwickeln, oder das Gehörte zu hinterfragen und das Gelernte auf andere Fälle zu übertragen. Als Lehrerin wurde sie mit großem Respekt behandelt und die Studenten blieben immer höflich distanziert. Schon im letzten Semester hatte sie gelegentlich zu Gesprächsrunden eingeladen, in denen sich interes-sierte Studenten austauschen und sowohl miteinander als auch mit ihr diskutieren konnten. Diesen Austausch wollte sie intensivieren und auch die Distanz zwischen ihr und den Studenten abbauen. Sie lud nun die Gruppe von Interessierten wöchent lich zu einer abendlichen Diskussionsrunde in ihr kleines Haus ein und ermunterte beson-ders die Studentinnen, ebenfalls teilzunehmen. Sie hatte zunächst auch andere Dozen-ten einladen wollen, nahm dann aber Abstand davon, damit sich die Studenten bei den abendlichen Treffen frei und ungezwungen fühlen konnten. Dr. Shafiq, der offensicht-lich von der Gesprächsrunde gehört hatte, riet ihr, diese doch tagsüber im Institut durchzuführen und dafür doch vielleicht einige Studenten auszuwählen, die sich im Semester durch besondere Leistungen hervorgetan hatten, aber dies widersprach ihren Vorstellungen einer offenen Austauschmöglichkeit für alle Studenten.

Die Diskussionsrunde war ein voller Erfolg, auch wenn sie nur wenige Frauen zur Teilnahme bewegen konnte. Die Studenten schienen Zutrauen zu ihr zu fassen und es wurde längst nicht mehr nur Fachliches diskutiert, sondern auch viel über die politische Situation, gesellschaftliche Missstände und das Problem der Korruption gesprochen. Dr. Zimmermann freute sich besonders darüber, dass nach einiger Zeit nicht nur der ‚harte Kern‘, bestehend aus einigen ihrer Studenten, teilnahm, sondern auch zwei Studenten aus höheren Semestern auftauchten, die von Dr. Abdur Rahman unterrichtet wurden. Da die offizielle Kooperation mit den Botanikern noch nicht zustande gekom-men war – Dr. Shafiq hatte immer neue Gründe parat, warum es sich verzögerte – bat sie

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einen der Studenten, auch Kommilitonen aus diesem Institut anzusprechen. Vielleicht würde der inoffizielle Austausch mehr bewirken als ihre bisher angestrebte offizielle Kooperation – war das nicht auch der afghanische Weg, an viele Dinge heranzugehen? Die Förderung der Vermarktung von afghanischen Heilpflanzen sollte das Thema der nächsten Diskussionsrunde sein, aber aufgrund von Unzufriedenheit einiger Studenten mit den Lehrbedingungen im Institut wurde hauptsächlich über notwendige Verbesse-rungen diskutiert. Auch gab es wieder viele Nachfragen nach möglichen Stipendien für eine Fortsetzung des Studiums in Deutschland. Frau Dr. Zimmermann versprach, sie über die Möglichkeit einer Studienreise nach Deutschland zu erkundigen.

Zum Ende des Semesters fanden die Prüfungen statt. Nach einem Dozententreffen im Vorfeld der Prüfungen kam Dr. Abdur Rahman in ihr Büro und bot ihr an, ihre Prüflinge mit ihm durchzugehen und über ihr voraussichtliches Abschneiden und mögliche Fördermaßnahmen zu sprechen. Dr. Zimmermann war etwas überrascht und konnte sein Angebot nicht richtig einordnen. Dachte er, sie fühlte sich im Prüfungs-verfahren unsicher? Sie lehnte dankend ab und ging der Frage aufgrund des Zeitdrucks und der Arbeitsbelastung nicht weiter nach. Fast alle Studenten Dr. Zimmermanns bestanden die Prüfungen, mit Ausnahme von zwei jungen Männern, die sich zwar durch sehr selbstbewusstes, fast arrogantes, Benehmen hervortaten, deren fachliche Leistungen aber in keinster Weise den Anforderungen entsprachen. Erschöpft aber zufrieden über das erfolgreich absolvierte Arbeitspensum und den reibungslosen Ablauf der Prüfungen bereitete sich Dr. Zimmermann auf ihren Urlaub vor. Die Sicherheitslage war in den letzten Wochen sehr schlecht geworden; an manchen Tagen musste sie aufgrund von Anschlagswarnungen und Demonstrationen von Fahrten in die Innenstadt von Kabul absehen. Beim letzten abendlichen Treffen waren nur sehr wenige Studenten erschienen, was sie neben dem Prüfungsstress auch auf die Sicherheitslage zurückführte. Ihre Eltern hatten nach dem letzten Anschlag in Kabul am Telefon sehr besorgt geklungen und zählten die Tage bis zu ihrer Rückkehr nach Deutschland.

Nach dem Urlaub warteten einige Überraschungen im Institut auf Dr. Zimmer-mann, die sie schließlich ihre ganze Mission in Frage stellen ließ. Was war in ihrer Abwesenheit geschehen? Die Dozentin hatte in ihrer Zeit am Institut gelernt, sich mit Unklarheiten und Verzögerungen zu arrangieren, und sich das Frauenförderkonzept und die Kooperation mit den Botanikern erneut in ihre Pläne für das zweite Jahr in Afghanistan geschrieben. Die Umstände, mit denen sie nun konfrontiert wurde, führten zu einem Vertrauensverlust und ließen sie an der Sinnhaftigkeit ihres Arbeitsaufenthalts zweifeln. Überrascht stellte sie fest, dass die beiden Kandidaten, die in ihren Prüfungen durchgefallen waren, in Nachprüfungen hervorragende Noten erhalten hatten und an

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Veranstaltungen des nächsten Semesters teilnahmen. Zwei ihrer Studenten, die mit guten Noten abgeschlossen hatten, waren ebenfalls nachgeprüft worden – und durchge-fallen! Abdullah, einer der eifrigsten Teilnehmer an den abendlichen Gesprächsrunden, habe daraufhin freiwillig das Institut verlassen, wurde ihr berichtet. Sie fühlte sich von Professor Aziz hintergangen.

Ihr Vorgesetzter war an diesem Tag nicht im Institut und Dr. Zimmermann musste sich bis zum nächsten Tag gedulden, bevor sie ihn zur Rede stellen konnte. Bei der abendlichen Schilderung am Telefon war ihr Mann über die Vorkommnisse ent-rüstet und riet ihr, sich mit ihrer programmverantwortlichen Institution in Verbindung zu setzen und eine Auflösung ihres Vertrages in Erwägung zu ziehen. Die Strapazen der Arbeit in Afghanistan, die sich verschlechternde Sicherheitssituation, und jetzt wurde auch noch die Kompetenz seiner Frau in Frage gestellt – all das brachte das Fass bei ihm zum Überlaufen. Dieser Professor und sein Institut hatten eine so qualifizierte und engagierte Mitarbeiterin gar nicht verdient!

Bei ihrem Treffen am nächsten Tag hatte Dr. Zimmermann noch weniger Lust, auf die freundlichen Nachfragen des Professors zu antworten und auch nach Small Talk war ihr nicht zumute. Gekränkt fragte sie ihn, warum er ihre Entscheidungen bezüglich der Prüfungen angezweifelt hatte. Sie gab auch ihrer Verwunderung darüber Ausdruck, dass die beiden leistungsschwachen Studenten mit guten Noten durch die Nachprüfungen gekommen waren. Zum Beweis könnte sie die Seminararbeiten der beiden Studenten vorlegen, die den Anforderungen nicht im Geringsten genügten. Und was war mit Abdullah geschehen? Hatte er tatsächlich freiwillig das Institut verlassen? Professor Aziz lehnte sich zurück und nahm einen Schluck aus seiner Teetasse. Er bewahrte seinen freundlichen und höflichen Ton, aber sprach mit deutlich mehr Nachdruck als sonst. Er lobte das Engagement und die Ernsthaftigkeit seiner Dozentin, erklärte ihr aber auch, dass sie noch viel über Land und Leute, afghanische Traditionen und Verhaltensweisen lernen müsste. Er vertraue ihrer akademischen Urteilskraft, habe aber selbst die Nachprüfungen angeordnet, denn in seiner Gesell-schaft gäbe es auch andere wichtige Aspekte neben dem Leistungsprinzip. Die beiden Studenten, die im Nachgang bestanden hätten, stammten aus politisch einflussreichen und sehr wohlhabenden Familien – sein Institut hätte große Nachteile zu erwarten, wenn die beiden wirklich durchfielen. Damit müsse man sich eben abfinden; an diesem System sei so schnell nichts zu ändern. Und was ihre beiden ‚Lieblingsstuden-ten‘ Abdullah und Usman anginge – sie wären schon zuvor unangenehm aufgefallen und hätten sich als Rädelsführer einer linksorientierten Gruppe entpuppt. Abdullah hätte nach der Verwarnung Konsequenzen gezogen und das Institut verlassen. Und

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warum sie überhaupt so gekränkt sei? Um sie nicht in Verlegenheit zu bringen, habe er die Nachprüfungen in ihrem Urlaub stattfinden lassen.

Dr. Zimmermann schaute Professor Aziz fassungslos an und rang nach Worten. Sein Ton wurde jetzt noch bestimmter: Mit den abendlichen Gesprächsrunden zuhause täte sie weder sich noch den Studenten einen Gefallen. Sie behandle die Studenten wie Gleichgesinnte und achte nicht auf die notwendige Distanz. Dieser vertraute Umgang sei unangemessen und würde langfristig ihre Autorität untergraben. Außer-dem sei ihm zugetragen worden, dass bei diesen privaten Treffen nicht nur fachliche Themen diskutiert, sondern auch sehr kritische Äußerungen über Politik und Gesell-schaft Afghanistans gemacht würden. Sie solle sich nicht von diesen Unruhestiftern vereinnahmen lassen und auch den guten Ruf der weiblichen Studenten durch die Anwesenheit in solchen Kreisen nicht gefährden.

Die freundliche Verabschiedung durch den Professor und seinen Wunsch, das neue Semester möge weiterhin von ihrer guten Zusammenarbeit geprägt sein, hörte sie schon gar nicht mehr richtig.

Dr. Zimmermann sucht nach Erklärungen und muss sich entscheiden: Durchhalten oder vorzeitig abreisen

Dr. Zimmermann lag die halbe Nacht wach und dachte über die Vorfälle nach. Zum einen fühlte sie sich persönlich hintergangen und hatte das Gefühl, ihrem Vorgesetzten nicht mehr vertrauen zu können. Sie dachte auch darüber nach, welchen Sinn ihr Einsatz in dieser an Traditionen orientierten Gesellschaft überhaupt machte und was es für Veränderungsmöglichkeiten gab. Wie konnte erreicht werden, dass den Studenten Gerechtigkeit widerfuhr und sie nach ihren tatsächlichen Leistungen beurteilt wurden? Was für einen Zweck hatte ein wohlformuliertes Frauenförderkonzept, wenn der Ruf einer Studentin durch die Teilnahme an einer privaten Gesprächsrunde Schaden nahm? Andererseits hatte sie noch viele Pläne für das nächste Jahr und wollte ihre hochmotivier-ten und wissbegierigen Studenten nicht im Stich lassen. Sie hatte Aussichten, Stipendien für drei ihrer Studenten an der Universität Marburg zu bekommen und wollte die Stipendiaten nach ihrer Rückkehr in Deutschland weiterbetreuen.

Nach dem Gespräch mit ihrem Vorgesetzten sah sie plötzlich viele der Ereignisse des vergangenen Jahres in einem anderen Licht. Wie war Professor Aziz in das System der Vetternwirtschaft im Institut verwoben? Erhielt er sogar Geld von den wohlhabenden

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Familien der beiden durchgefallenen Kandidaten? Wie hatte er von den Gesprächen in der Diskussionsrunde erfahren? Waren Dr. Abdur Rahmans Studenten als ‚Spione‘ eingeschleust worden? Hatte er die Gruppe um Abdullah als linksorientierte Elemente bezeichnet, weil er selbst konservativ war? Das passte doch auch zu seinem Verhalten bezüglich Faridas Ausscheiden aus dem Berufsleben. Sie hatte doch schon vor Monaten den Eindruck gehabt, nachsichtig belächelt zu werden, als sie sich über Faridas Weggang aufregte. Wie konnte dem Professor und den Kollegen und Kolleginnen das Schicksal der jungen Frau so gleichgültig sein? Sie war wütend gewesen, weil der Professor noch nicht einmal versuchte, Einfluss auf die Familie zu nehmen. Vielleicht entsprach das rollen konforme Verhalten Faridas seinen eigenen konservativen Vorstellungen.

Was war der wirkliche Grund, warum die Kooperation mit den Botanikern nicht zustande kommen wollte? Sie hatte von Kollegen gehört, dass zwischen dem Professor und dem Institutsleiter der Botanik Animositäten aufgrund ihrer politischen Vergangen-heit bestanden. Sollten diese persönlichen Unstimmigkeiten tatsächlich die Ge schicke ganzer Institute bestimmen? Wie waren Dr. Abdur Rahman und Dr. Shafiq in das unübersichtliche Netzwerk eingebunden? Unterstützten sie den Professor bei seinen Machenschaften? Als sie sich über die Überlagerung der Vorlesungszeiten und die daraus resultierenden geringen Studentenzahlen beklagte, hatte der Professor ihr versichert, er wolle sie nicht überfordern und ihr mehr Zeit zum Eingewöhnen geben. Aber sollte dadurch nicht einfach sein Vertrauter bevorzugt werden? Dafür würde auch sprechen, dass Dr. Abdur Rahmans Literaturliste berücksichtigt wurde und nicht ihre. Oder hatte der Professor die Literaturliste nicht vergessen, sondern bewusst abgewartet, wie sie das Problem lösen würde? Vielleicht lag es auch daran, dass sie selbst eine Frau war und der Professor ihr seinem konservativen Weltbild folgend automatisch weniger Kompetenz zuschrieb. Schließlich fiel ihr auch noch die Hilfe bei der Wohnungssuche durch den Neffen des Professors ein und wie schnell und reibungslos alles funktioniert hatte. Sollte sie durch diese Unterstützung gleich zu Anfang in das System der Vetternwirtschaft eingebettet und positiv gestimmt werden?

Ihre Gefühle schwankten zwischen Ärger über das Verhalten des Professors und Hilflosigkeit den gegebenen Umständen gegenüber. Gleichzeitig wollte sie aber auch nicht so leicht aufgeben, und die ihr zur Verfügung stehenden begrenzten Spielräume zum Wohl ihrer Studenten, die ihr sehr am Herzen lagen, ausnutzen. Sie hatte Angst vor dem Telefonat mit ihrem Mann, der sie sicher wieder dazu auffordern würde, sobald wie möglich nach Hause zu kommen. Und ihre Eltern würden ihm nur zu gern zustim- men, allein schon aus Sorge um sie. Sollte sie ihren Vertrag erfüllen und für ein weiteres Jahr in Afghanistan bleiben oder vorzeitig abreisen?

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Aufgaben zur Fallstudie 1

In dieser Fallstudie zeigen sich besonders deutlich die folgenden Aspekte:

Das Kulturelle Dilemma „Kommunikation implizit / indirekt versus explizit / direkt“ Das Kulturelle Dilemma „Hierarchie versus Partizipation“ Kontextualisierung aus dem Kategoriensystem „Linguistic Awareness of Cultures“ Die Kulturspezifika Hierarchien und Machtverhältnisse Die Kulturspezifika Familie, Verwandtschaft und Solidaritätsgruppen Die Kulturspezifika Kommunikation

1. Lesen Sie Kapitel 3.1.5 auf Seite 118 zum Kulturellen Dilemma „implizit / indirekt versus explizit / direkt kommunizieren“ und Kapitel 3.2.6 auf Seite 128 zur „Kontextualisierung“. Lesen Sie auch die Kulturspezifika zur Kommunikation in Kapitel 2.4 auf Seite 103.

a) Suchen Sie Situationen in der Fallstudie, in denen Dr. Zimmermanns Fragengemäß kulturspezifischen Kommunikationsmustern positiv beantwortet werden und auf ihre Forderungen scheinbar sofort eingegangen wird.

b) An welchen Stellen in der Fallstudie unterschätzte Frau Dr. Zimmermann die Bedeutung der indirekten kommunikativen Signale? Unterstreichen Sie diese Stelle / Stellen und beschreiben Sie, wie Dr. Zimmermann darauf reagierte.

c) Wenn Frau Dr. Zimmermann mehr über implizite Kommunikation in Afghanistan gewusst hätte, welche alternativen Interpretationen wären möglich gewesen? Welche anderen Gefühle hätte das möglicherweise ausgelöst? Welche anderen Reaktionen hätten sich daraus ergeben können?

d) Sie sind an der Stelle von Frau Dr. Zimmermann. Geben Sie den Gesprächen eine andere Wendung. Formulieren Sie kulturangemessene Antworten. - Professor Aziz: „Ich werde die Kontakte herstellen und komme wieder auf Sie zu, sobald ich etwas erreicht habe.“

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- Dr. Shafiq: „Führen Sie Ihre Gesprächsrunde doch tagsüber im Institut mit einigen ausgewählten Studenten durch!“ - Professor Aziz: „Ich werde mir Ihre Konzepte ansehen!“

Bringen Sie Frau Zimmermanns Anliegen indirekt zur Sprache. Formulieren Sie um: - „Warum sind meine Lehrveranstaltungen im Stundenplan nicht berücksichtigt?“ - „Warum zweifeln Sie meine Einschätzung hinsichtlich der Prüfung an? Wie können leistungsschwache Studenten in der Nachprüfung plötzlich so gute Ergebnisse erzielen? Ich zeige Ihnen die Seminararbeiten, das Niveau entspricht in keiner Weise meinen Anforderungen!“ - „Wieso nehmen Sie keinen Einfluss auf Faridas Familie? Sie können doch nicht geschehen lassen, dass eine talentierte Kollegin ihrer persönlichen Karrierechancen beraubt wird!“

2. Lesen Sie Kapitel 3.1.2 auf Seite 115 zum Kulturellen Dilemma „Hierarchie versus Partizi pation“. Lesen Sie auch die Kulturspezifika zu „Gesellschaftliche Gliederung, Hierarchien und Identität“ in Kapitel 2.1 auf Seite 88.

a) Das Institut ist hierarchisch strukturiert; Dr. Zimmermann macht die Erfahrung,dass Mitbestimmung und autonomes Engagement von Dozenten oder Studenten unerwünscht ist. Privilegierte Studenten erhalten eine Sonderbehandlung. Welche Verhaltenserwartung hat der Professor an seine ausländische Dozentin? An welchen Stellen entspricht Dr. Zimmermann dieser Rollenerwartung nicht? Welche Konsequenzen hat diese Abweichung auf ihr Ansehen und ihren Status?

b) Die afghanischen Mitarbeiter des Instituts akzeptieren Ungleichheit unter den Menschen; Privilegien werden als natürlich angesehen und nicht in Frage gestellt. Aus der Konfrontation mit diesen Einstellungen ergeben sich oft typische Situationen bei Auslandstätigen. Wie würden Sie an Stelle von Dr. Zimmermann mit diesen Umständen umgehen? Haben Sie ähnliche Situationen in anderen Zusammenhängen oder Ländern erlebt und wie sind Sie damit umgegangen?

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3. Lesen Sie Kapitel 3.1.8 auf Seite 121 zum Kulturellen Dilemma „Universalismus versus Partikularismus“. Lesen Sie auch die Kulturspezifika zu „Familie, Verwandt-schaft und Solidaritätsgruppen“ in Kapitel 2.2 auf Seite 93.

Aufgaben: a) Könnte die von Dr. Zimmermann als ‚Vetternwirtschaft‘ bezeichnete ausgeprägteLoyalität der Afghanen zu Verwandtschafts- und Interessengruppen auch im positiven Sinn von ihr genutzt werden? Fertigen Sie eine Tabelle mit aus ihrer Sicht positiven und negativen (auch über das Fallbeispiel hinausgehenden) Auswirkungen dieser Kulturdimension an.

b) Frau Dr. Zimmermann hat ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsgefühl und die Schaffung von Chancengleichheit gehört zu ihren Prinzipien. Sie liebt Regeln und Klarheit, die besonders das Arbeitsleben erleichtern und Prozesse transparent machen. Mit welchen Einstellungen und Verhaltensweisen von Professor Aziz hat sie vermutlich die meisten Schwierigkeiten? Durch welche Verhaltensalternativen könnte sie selbst Vorteile von Unklarheit zur Schaffung von Raum für situations- oder personenbezogene Flexibilität nutzen?

Beispiel Loyalität zu Gruppen (Familie, Klan, usw.):

Positive Auswirkungen

Hilfestellung in allen Lebenslagen (z. B. Haussuche im Fallbeispiel)

Negative Auswirkungen

Bedingungslose Bevorzugung Angehöriger dieser Gruppen (im beruflichen Kontext z. B. auch bei Nicht-Qualifikation)

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4. Für Frau Dr. Zimmermann ist das Thema: „Chancen für talentierte Frauen“ besonders emotional besetzt. Als sie von Faridas Ausscheiden hört, geht sie sofort und ohne Termin zu ihrem Chef.

a) Welche Themen sind für Sie eine solche Herzensangelegenheit, dass Sie ohne Termin bei Ihrem Chef vorstellig werden würden?

5. Weiterlernen Frau Zimmermann ist alleine und ohne kollegiales Umfeld tätig. Ihr emotionaler Halt ist ihr Ehemann, mit dem sie auch ihre berufliche Situation reflektiert. Er ist ihr nicht immer hilfreich, da er die Situation in Afghanistan nicht kennt und er hinsichtlich eines möglichen Vertragsabbruchs persönliche Interessen hat. Suchen Sie sich eine unparteiische Person mit Landeskenntnis für ihre kollegiale Beratung. Überprüfen Sie Ihr näheres und weiteres Umfeld: wer kommt in Frage?