D S • M Was ist aus den Neologismen der Wendezeit geworden? · 2017. 8. 25. · Unter...

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Dor is Steff ens • Ma n nh e im Was ist aus den Neologismen der Wendezeit geworden? 0. Einleitung Aufgabe dieses Beitrags soll es sein, nach mehr als zehn Jahren Wörtern nach- zuspüren, die in der Wendezeit Neologismen waren und festzustellen, ob sie ge- genwärtig noch verwendet werden, und wenn ja, ob bei ihnen gegebenenfalls Veränderungen im Gebrauch eingetreten sind. Unter „Wendezeit“ verstehen wir den Zeitraum von Mitte 1989 bis Ende 1990, an dessen Beginn die Massenflucht von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik steht und an dessen Ende die staatliche Einheit des über 40 Jahre lang geteilten Deutschlands hergestellt ist, unter „Wende“ demgegenüber die historischen Er- eignisse des Herbstes 1989 in der DDR (vgl. Herberg/Steffens/Tellenbach 1997, 1 ). Der öffentliche Sprachgebrauch der Wendezeit war in den 90er Jahren Gegen- stand zahlreicher Untersuchungen, bot sich doch die einmalige Gelegenheit, die sprachlichen Veränderungen innerhalb eines relativ kurzen und abgeschlosse- nen, von tief greifenden Veränderungen gekennzeichneten Abschnitts deutscher Geschichte betrachten zu können. Nun soll jener Zeitabschnitt aus heutiger Sicht noch einmal in das Blickfeld rücken. 1. Methodendarstellung Zunächst soll kurz dargestellt werden, welche Neologismusdefinition in diesem Beitrag zugrunde gelegt wird und wie die Neologismen der Wendezeit ermittelt wurden. Unsere Neologismusdefinition basiert auf dem für unser noch bis Ende 2003 am Institut für Deutsche Sprache laufenden Projekt „Neologismen der 90er Jah- re“1. Man kann sie folgendermaßen fassen: Neologismen sind neue Wör- 1 Das Ergebnis soll in dem am IDS entwickelten lexikalisch-lexikologischen korpusbasierten Informationssystem „Wissen über Wörter“ präsentiert werden. Das bedeutet, der Zugriff wird zu gegebener Zeit über das Internet möglich sein. Eine solche Präsentation eröffnet zweifellos neue Perspektiven: Die Informationen zu den Lexemen werden miteinander vernetzt, sie kön- nen sehr viel breiter und tiefer dargestellt werden und es sind jederzeit Ergänzungen und Er- weiterungen möglich (vgl. Haß-Zumkehr, Ulrike: Wortschatz ist mehr als „viele Wörter“. In: Sprachreport 2/2000, 2ff.). Das ist besonders für neuen Wortschatz relevant, an dem wegen vorhandener Normunsicherheiten in Bezug auf Schreibung und Aussprache, Grammatik, Be- deutung und Gebrauch usw. großes Interesse besteht. Erschienen in: Kramer, Undine (Hrsg.): Archaismen – Archaisierungsprozesse – Sprachdynamik. Klaus-Dieter Ludwig zum 65. Geburtstag. - Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York: Lang, 2002. S. 25-38 (Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte 9)

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  • Dor is Steff ens • Ma n nh e im

    Was ist aus den Neologismen der Wendezeit geworden?

    0. Einleitung

    Aufgabe dieses Beitrags soll es sein, nach mehr als zehn Jahren Wörtern nach-zuspüren, die in der Wendezeit Neologismen waren und festzustellen, ob sie ge-genwärtig noch verwendet werden, und wenn ja, ob bei ihnen gegebenenfalls Veränderungen im Gebrauch eingetreten sind.

    Unter „Wendezeit“ verstehen wir den Zeitraum von Mitte 1989 bis Ende 1990, an dessen Beginn die Massenflucht von DDR-Bürgern in die Bundesrepublik steht und an dessen Ende die staatliche Einheit des über 40 Jahre lang geteilten Deutschlands hergestellt ist, unter „Wende“ demgegenüber die historischen Er-eignisse des Herbstes 1989 in der DDR (vgl. Herberg/Steffens/Tellenbach 1997, 1 ) .

    Der öffentliche Sprachgebrauch der Wendezeit war in den 90er Jahren Gegen-stand zahlreicher Untersuchungen, bot sich doch die einmalige Gelegenheit, die sprachlichen Veränderungen innerhalb eines relativ kurzen und abgeschlosse-nen, von tief greifenden Veränderungen gekennzeichneten Abschnitts deutscher Geschichte betrachten zu können.

    Nun soll jener Zeitabschnitt aus heutiger Sicht noch einmal in das Blickfeld rücken.

    1. Methodendarstellung

    Zunächst soll kurz dargestellt werden, welche Neologismusdefinition in diesem Beitrag zugrunde gelegt wird und wie die Neologismen der Wendezeit ermittelt wurden.

    Unsere Neologismusdefinition basiert auf dem für unser noch bis Ende 2003 am Institut für Deutsche Sprache laufenden Projekt „Neologismen der 90er Jah-re“1. Man kann sie folgendermaßen fassen: Neologismen sind neue Wör-

    1 Das Ergebnis soll in dem am IDS entwickelten lexikalisch-lexikologischen korpusbasierten Informationssystem „Wissen über Wörter“ präsentiert werden. Das bedeutet, der Zugriff wird zu gegebener Zeit über das Internet möglich sein. Eine solche Präsentation eröffnet zweifellos neue Perspektiven: Die Informationen zu den Lexemen werden miteinander vernetzt, sie kön-nen sehr viel breiter und tiefer dargestellt werden und es sind jederzeit Ergänzungen und Er-weiterungen möglich (vgl. Haß-Zumkehr, Ulrike: Wortschatz ist mehr als „viele Wörter“. In: Sprachreport 2/2000, 2ff.). Das ist besonders für neuen Wortschatz relevant, an dem wegen vorhandener Normunsicherheiten in Bezug auf Schreibung und Aussprache, Grammatik, Be-deutung und Gebrauch usw. großes Interesse besteht.

    Erschienen in: Kramer, Undine (Hrsg.): Archaismen – Archaisierungsprozesse – Sprachdynamik. Klaus-Dieter Ludwig zum 65. Geburtstag. - Frankfurt am Main/Berlin/Bern/New York: Lang, 2002.

    S. 25-38 (Leipziger Arbeiten zur Sprach- und Kommunikationsgeschichte 9)

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    ter/Wortverbindungen oder neue Bedeutungen von WörtemAVortverbindungen, die in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgekommen und in die deutsche Allgemeinsprache eingedrungen sind und die von den Angehörigen der Sprach-gemeinschaft zunächst als ungewöhnlich empfunden werden. „Neu“ heißt, dass die Wörter zu Beginn unseres Erfassungszeitraums der Allgemeinsprache noch nicht angehört haben, am Ende des Erfassungszeitraums aber - mehr oder weni-ger - akzeptiert sind.

    Bei den hier behandelten Neologismen handelt es sich demnach um neue Wör-ter/Wortverbindungen oder neue Bedeutungen von WörtemAVortverbindungen, die während der Wendezeit aufgekommen und in die Allgemeinsprache einge-drungen sind.

    Um Neologismen der Wendezeit zu ermitteln, wurde zum einen Wortmaterial ausgewertet, das in der öffentlich-politischen Kommunikation dieser Zeit eine Rolle spielte. Es wurde zu Beginn unserer Arbeit am damaligen Projekt zum Sprachgebrauch der Wendezeit exzerpiert, als noch eine möglichst umfassende Untersuchung der lexikalischen Veränderungen jener Zeit geplant war. Zum an-deren diente das Register von Herberg/Steffens/Tellenbach (1997), das im Zu-sammenhang mit der letztendlich beschlossenen Eingrenzung des Themas nur bestimmte, so genannte Schlüsselwörter umfasst, als Materialgrundlage.

    Im Ergebnis wurde eine Liste von Wörtern zusammengestellt, die als Neolo- gismen-Kandidaten angesehen werden konnten. Diese Kandidaten wurden mit-hilfe bestimmter Wörterbücher, die vor der Wendezeit entstanden sind2, und an-hand zweier elektronischer IDS-Textkorpora überprüft, von denen das eine Kor-pus Texte aus den Jahren vor der Wendezeit, das andere Texte aus der Wende-zeit enthält. Wenn die Wörter in den vor der Wendezeit erschienenen allgemein-sprachlichen Wörterbüchern nicht verzeichnet und in dem IDS-Korpus mit e- benfalls in dieser Zeit entstandenen Texten nicht oder nur singulär belegt waren, kamen sie für die Einstufung als wendezeitrelevante Neologismen in Frage. Es musste sich dann in dem Korpus mit den Wendezeittexten noch erweisen, dass sie in der Wendezeit auch tatsächlich kommunikativ relevant geworden sind. Die Wörter, die nicht zum kommunikativ relevanten allgemeinsprachlichen Teil des deutschen Wortschatzes gerechnet werden konnten, haben wir ausgeschie-den.

    Die auf diese Weise entstandene Liste von Neologismen der Wendezeit, die keinen Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, ist relativ klein, denn die meisten der im öffentlichen Sprachgebrauch der Wendezeit kommunikativ relevanten Wörter und Wortverbindungen hatten der Allgemeinsprache bereits angehört (z. B. Betonkopf, Exodus, Mauer, Ostler/Westler, Republikflüchtling) oder sind okkasionelle Bildungen (z. B. Einheitseuphorie, reformunwillig).

    2 Duden-GWDS (1976-1981), Duden-DUW (1989)

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    Anhand der Materialbasis wurden folgende sprachliche Einheiten, die Neolo-gismen der Wendezeit im Sinne unserer Definition sind, ermittelt (NB = Neube-deutung):

    Abwicklung/abwickeln (NB) Maueröffnungalter Bundesbürger (vorw. PI.) Mauerspechtaltes Bundesland (vorw. PI.) neuer Bundesbürger (vorw. PI.)Begrüßungsgeld neues Bundesland (vorw. PI.)Beitrittsgebiet OssiBlockflöte (NB) rote SockeBotschaftsflüchtling runder TischEinigungsvertrag StasiakteGauckbehörde Wende (NB)inoffizieller Mitarbeiter/IM Wendehals (NB)Mauer/n in den Köpfen/im Kopf Wessi (NB)Mauerfall

    Wie sind wir nun mit diesen sprachlichen Einheiten weiter verfahren? Wir über-prüften ihr Vorkommen in dem elektronischen IDS-Korpus, das Texte der Jahre 1991 - 2001 enthält, um eine Aussage zu Gebrauch und kommunikativer Rele-vanz in diesem Zeitraum treffen zu können.

    In diesem Zusammenhang spielen die Begriffe „Archaismus“ und „Historis-mus“ eine Rolle. Ein Archaismus muss nach Ludwig (1996) folgende Kriterien erfüllen: Archaismen sind .auffällige’ sprachliche Mittel der Gegenwartsspra-che, deren unmittelbare Auffälligkeit sich in Bezug auf die Dimension ,Zeif zeigt. Sie sind vom Zentrum an die Peripherie des gegenwärtigen Sprach-gebrauchs getreten und bezeichnen noch existierende Denotate, die heute übli-cherweise durch Synonyme ersetzt werden (vgl. Ludwig 1996, 166). Fleischer fasst unter dem Oberbegriff .Archaismus’ den Archaismus im engeren Sinne als

    Bezeichnung für ein noch existierendes Denotat, das heute üblicherweise anders be-zeichnet wird (Fleischer 1991, 32)

    und den Historismus alsBezeichnung für ein nicht mehr (es sei denn museal) existierendes Denotat (ebenda).

    Historismen sind als Bestandteile des gegenwartssprachlichen Wortschatzes im Grun-de keine .veralteten’ Ausdrücke, sondern Ausdrücke für .veraltete’ Gegenstände (Flei-scher a.a.O., 34).

    Im Folgenden können aus Platzgründen nur einige der oben genannten Lexeme näher charakterisiert werden. Ihre Auswahl ist nicht ganz zufällig: Neologismen der Wendezeit, für die die Textkorpora der Jahre 1991 - 2001 erbracht haben, dass sie ausschließlich mit Bezug auf die Ereignisse der Wendezeit gebraucht

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    werden, bleiben bei der Einzeldarstellung unberücksichtigt (z. B. Maueröffnung, Mauerspecht, Wende). Von den übrigen, in verschiedener Hinsicht „interessan-teren“ wurden dann einige ausgewählt, deren Belegvorkommen mitteilenswert erscheinende Befunde erbrachten.

    Der Gebrauch der Lexeme wird - ausgehend von dem Gebrauch in der öffent-lichen Kommunikation der Wendezeit - anhand der Korpustexte der Jahre 1991 - 2001 weiterverfolgt. Belege illustrieren ihn. Zum Schluss wird eine kurze Zu-sammenfassung gegeben.

    2. Die Beispiele

    In alphabetischer Folge werden die Lexeme Abwicklung/abwickeln, Begrü-ßungsgeld, Beitrittsgebiet, Blockflöte und runder Tisch behandelt.

    Abwicklung/abwickeln (NB)

    In Dückert (2000) wurden Abwicklung und abwickeln unter Berücksichtigung der IDS-Textkorpora der Wendezeit und der Zeit ab 1991 umfassend behandelt. Da aber auf beide Lexeme wegen ihrer Brisanz im hier interessierenden Zeit-raum nicht verzichtet werden soll, werden sie in der gebotenen Kürze dennoch dargestellt.

    Abwicklung und abwickeln werden als Neologismen der Wendezeit gesehen, obwohl die Bedeutung .Liquidierung’ bzw. .liquidieren’ schon seit dem 19. Jahrhundert in der Rechts- und Geschäftssprache belegt ist und sich auch Belege in entsprechenden Texten in der alten Bundesrepublik finden. Es zeigt sich aber, dass sie in Texten in der DDR nicht vorkam, so dass die Bedeutung zumindest für DDR-Bürger vor der Wendezeit unbekannt und in der Wendezeit somit neu gewesen sein muss (vgl. Dückert 2000,130).

    Bekannt wurden die Lexeme in der genannten Bedeutung mit dem Einigungs-vertrag, der am 31.8.1990 unterzeichnet wurde und am 3.10.1990 in Kraft trat. Der Einigungsvertrag regelte die „Überführung oder Abwicklung“ (Einigungs-vertrag Kapitel V Art. 13) von Einrichtungen der DDR, insbesondere in Verwal-tung, Bildung, Wissenschaft und Kultur. Dieser Zusammenhang wird häufig the-matisiert:

    Rektor Leutert [erklärt] den Beschluß der Landesregierung von Mitte Dezember, die als ideologisch „belasteten“ Sektionen der Hochschule gemäß dem Einigungsvertrag abzuwickeln - „das ist gleichbedeutend mit Auflösung“. Betroffen sind davon vor al-lem die Geisteswissenschaften: Die Sektionen für Geschichte, Philosophie, Journalis-tik, Jura und Wirtschaftswissenschaften werden seit dem 1. Januar abgewickelt, die Lehrkräfte sind in die Warteschleife entlassen. (T91/JAN.01127 die tageszeitung, 09.01.1991)

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    Viele unserer ehemaligen Kollegen haben, als die Akademie abgewickelt wurde, ge-sagt: Das waPs dann. Mit Fünfzig geht im Westen nichts mehr. (T96/JUL.32577 die tageszeitung, 22.07.1996)

    SFB-Intendant Lojeweski sieht seinen Sender als einzig würdigen Kern einer Landes-rundfunkanstalt. Wird das Funkhaus Berlin völlig abgewickelt? (T91/MAR. 12568 die tageszeitung, 22.03.1991)

    Der Einigungsvertrag regelte auch die Arbeit der Treuhandanstalt, die die Um-strukturierung und Privatisierung der ehemals volkseigenen Betriebe durchzu- fuhren hatte. In dem entsprechenden Passus ist zwar nicht ausdrücklich von „Abwicklung“ die Rede, auf vergleichbare Verhältnisse deutete aber die Tatsa-che hin, dass es ein Direktorat der Treuhandanstalt namens „Abwicklung“ gab. So liegt es nahe, dass sich in den Korpustexten auch entsprechende Belege mit Bezug auf Betriebe finden:

    Im Mai dieses Jahres kam das endgültige Aus, gab die Treuhand die Abwicklung der Filmfabrik GmbH bekannt. Der letzte Strohhalm, an den sich Werksführung und Be-legschaft jetzt noch klammem, heißt Teilprivatisierung. (T94/NOV.49671 die tages-zeitung, 10.11.1994)

    Allein in diesem Jahr verzeichnete das Arbeitsgericht 65.000 Eingänge, eine Steige-rung von 37 Prozent im Vergleich zum Voijahr. Die Prozeßlawine stellt selbst das Jahr 1991 in den Schatten, in dem 50.000 Eingänge in Folge der Abwicklung von DDR- Betrieben bislang die einsame Spitze bildeten. (T96/NOV.51928 die tageszeitung, 21.11.1996)Ähnliches befurchten die Schönebecker [Traktorenwerker] jetzt erneut: „Die BvS [Bundesanstalt für vereinigungsbedingte Sonderaufgaben als Nachfolgerin der Treu-handanstalt] tut nur so, als würde sie ernsthaft verhandeln, in Wirklichkeit will sie uns abwickeln.“ (T98/OKT.45862 die tageszeitung, 15.10.1998)

    Im allgemeinen Sprachgebrauch ist mit Abwicklung und abwickeln weniger die im juristischen Sinne verstandene ordnungsgemäße Beendigung nach vorausge-gangener Auflösung gemeint, sondern vielmehr das .Auflösen’, .Schließen’, auch .Kündigen’ (vgl. Dückert 2000, 132). Dieser nicht streng fachsprachliche Gebrauch sowie die mitgedachte semantische Valenz von kündigen kann dazu führen, dass bei Abwicklung das Attribut und bei abwickeln das Objekt mit einer Personenbezeichnung besetzt wird:

    Geklärt ist bis jetzt überhaupt nicht, ob nach der Abwicklung der Frauen die Stellen im ZiF erhalten bleiben, da die noch zu DDR-Zeiten entwickelte Struktur des Frauenfor-schungszentrums nicht in das neue Hochschulrahmengesetz paßt. (T91/MAR. 10291 die tageszeitung, 07.03.1991)

    Dort herrscht kein Zweifel, daß Bossle aus dem Hintergrund mitentscheidet, wer von den Professoren bleiben kann und wer „abgewickelt“ wird. (T91/JUN.23298 die ta-geszeitung, 11.06.1991)

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    Ein besonderer Widerspruch sei, daß einerseits ein teures Kultur- und Kongreß-zentrum gebaut werde, andererseits aber diejenigen abgewickelt würden, die darin spielen sollen. (L99/MÄR.17933, Berliner Morgenpost, 20.03.1999)

    Die Treuhandanstalt setzte auf dem Höhepunkt der einschneidenden Struktur-veränderungen in der DDR 500 DM Belohnung für ein Wort aus, das weniger „belastet“ sein sollte als Abwicklung und damit geeignet, es zu ersetzen:

    „Abgewickelt“ wird ab sofort nicht mehr in der Treuhandanstalt. Das dem Begriff zu-gehörige Direktorat, das nach Treuhand-Definition „für die oft mit Massenentlassun-gen verbundene Umstrukturierung ehemaliger ostdeutscher Staatsbetriebe“ zuständig ist, sollte auf Wunsch seines Leiters Ludwig M. Tränkner freundlicher bezeichnet werden (s. taz 8./9.1.92). Aus den 1.600 Zuschriften wählte sich Tränkner jetzt „Re-konstruktion“ für seine neue Visitenkarte. (T92/JAN.02892 die tageszeitung, 23.01.1992)

    Auch wenn das Lexem Rekonstruktion prämiiert wurde: Es hat sich nicht durch-gesetzt. Der Versuch, ein geeignetes Ersatzwort zu finden, musste misslingen, weil mit dem Austausch eines Wortes mit positiverer Wertung nicht ein mit dem Bezeichneten verbundenes Problem aus der Welt geschafft werden kann.

    Die Lexeme Abwicklung und abwickeln sind in den Korpustexten der Jahre ab 1991 besonders in der ersten Zeit sehr gut belegt. Nicht zuletzt wegen der mit dem Bezeichneten zusammenhängenden existenziellen Auswirkungen drang die neue Bedeutung rasch in die Allgemeinsprache ein. Beide Lexeme entwickelten sich zu Wörtern, die man als brisant bezeichnen könnte.

    In Duden-GWDS (1993 - 1995) und auch später noch in Duden-GWDS (1999), wird auf die neue sprachliche Entwicklung sehr vorsichtig reagiert, in-dem beim Lemma abwickeln in dem die fachsprachliche Bedeutung kodifizie-renden Bedeutungspunkt - (Wirtsch.) .liquidieren’ - die hier gemeinte Verwen-dung - ohne präzisierende Erklärung und nur in Gestalt eines Belegbeispiels3 - mit Überträgen’ gekennzeichnet wird.

    Zusammenfassend ist zu sagen, dass der Gebrauch der Lexeme Abwicklung und abwickeln im streng fachsprachlichen Sinne bereits ab 1992, als die Hoch- Zeit der mit Schließung und Kündigung einhergehenden Anpassung an die Strukturen in der alten Bundesrepublik vorüber ist, wieder zurückgeht. Gleich-wohl hat sich ihre in die Allgemeinsprache eingegangene, recht schillernde Be-deutung noch erhalten.

    Begrüßungsgeld

    Die Bezeichnung Begrüßungsgeld für eine Geldsumme von bis zu 100 DM, die die Behörden der Bundesrepublik einmal jährlich an DDR-Bürger zahlten, die

    3 Bis zum 2. Januar dürfen jene akademischen Einrichtungen in der Ex-DDR „abgewickelt“ werden, die eine „deutlich veränderte Aufgabenstellung“ erhalten sollen. (Spiegel 1,1991, 24)

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    die BRD besuchen durften, kommt vereinzelt bereits in Korpustexten der Jahre 1987 und 1988 vor. Dennoch wird das Wort als Neologismus der Wendezeit ge-sehen, denn erst seit der Maueröffnung am 9.11.1989 war es in aller Munde und fand somit Eingang in die Allgemeinsprache, nunmehr für eine Geldsumme in Höhe von 100 DM, die die Behörden der Bundesrepublik einmalig DDR- Bürgern anlässlich ihres ersten Besuchs in der Bundesrepublik nach dem Mauer-fall zahlten. 1993 ist es in Duden-GWDS (1993 - 1995) erstmalig kodifiziert.

    In den Texten der Jahre 1991 - 2001 wird das Lexem meist im Rückblick ge-braucht. Besonders häufig geschieht dies anläßlich des zehnten Jahrestages der Maueröffhung:

    München vor zehn Jahren: Schon wenige Tage nach dem Fall der Mauer besuchten Tausende von DDR-Bürgern die Landeshauptstadt. Vor den Ausgabestellen fürs Be-grüßungsgeld bildeten sich beinahe endlose Schlangen. (U99/NOV.90199 Süddeut-sche Zeitung, 09.11.1999)

    Auf dem folgenden Einkaufsbummel, auch die Kuhns hatten sich ihr „Begrüßungs-geld“ geholt, kauften sie Süßigkeiten für die Enkel, und Kaffee für daheim. (L99/ NOV.86862, Berliner Morgenpost, 01.11.1999)

    Interessanter sind die Belege, in denen das Lexem nicht im Rückblick gebraucht wird. Sie zeigen, dass in den IDS-Textkorpora der Jahre ab 1991 eine neue Verwendungsweise auftritt: Das Lexem ist besonders 1994 und 1995 als Be-zeichnung für eine Geldsumme von bis zu 1000 DM belegt, die in einigen neuen Bundesländern - anknüpfend an eine DDR-Tradition - für die Geburt eines Kindes gezahlt wurde. Die Geldsumme wurde aber bald fast überall wieder ge-strichen:

    Das Land Brandenburg hat seinen Haushalt für das kommende Jahr um 830 Millionen Mark gekürzt... Unter anderem wurde dabei das sogenannte Begrüßungsgeld in Höhe von 1000 Mark für jedes Neugeborene gestrichen, das erst 1995 eingeführt worden war. (U95/NOV.79200 Süddeutsche Zeitung, 28.11.1995)

    Die Großgemeinde Seddiner See (Potsdam-Mittelmark) will auch 1999 jedem neuge-borenen Mitbürger 500 Mark „Begrüßungsgeld“ zahlen, obwohl die Kommunalauf-sicht des Kreises 1998 dagegen protestiert hatte. (L99/FEB.07954, Berliner Morgen-post, 18.02.1999)

    In den Korpustexten der späteren Jahre wird mit Begrüßungsgeld auf eine Geld-summe referiert, die jemandem dafür gezahlt wird, dass er (mit seiner Firma) an einem bestimmten Ort ansässig wird:

    Ein „Begrüßungsgeld“ in der Höhe von mindestens 15.000 Schilling erhalten neu an-gesiedelte Unternehmen in Feldkirch. Voraussetzung ist, daß mit der Betriebsgrün-dung auch Arbeitsplätze geschaffen werden. (N97/MAI.21575 Salzburger Nachrich-ten, 22.05.1997)

    Zu Jahresbeginn versprach er [ein SPD-Politiker] allen jungen Menschen, die nach Sachsen kommen, 5.000 Mark Begrüßungsgeld. (T01/JAN.01026 die tageszeitung, 08.01.2001)

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    Abschließend lässt sich sagen, dass das Lexem Begrüßungsgeld in seiner ur-sprünglichen Bedeutung an die Wendezeit gebunden und insofern als Historis-mus zu bezeichnen ist. Die neue Bedeutung Geldprämie für ein Neugeborenes’ wird sich - sachbedingt - in der Allgemeinsprache vermutlich nicht durchset-zen, eher schon die Bedeutung .Geldprämie für das Ansässigwerden einer Per-son, Firma an einem bestimmten Ort’.

    Beitrittsgebiet

    Wann das Lexem Beitrittsgebiet im öffentlichen Sprachgebrauch aufgekommen ist, lässt sich ziemlich genau datieren: In den Tagen nach dem 3.10.1990, dem Datum der staatlichen Vereinigung, ist es erstmals als verwaltungssprachliche Bezeichnung für die neuen Bundesländer, die gemäß Artikel 23 des Grundgeset-zes der Bundesrepublik Deutschland beigetreten sind, im Korpus belegt und fin-det sich in den Texten bis zum Ende des Jahres 1990 recht häufig. Erstmalig ge-bucht ist es in Wahrig-DW (1997), also relativ spät.

    Wenn man nun die Korpora mit den Texten ab 1991 befragt, so ist festzustel-len, dass das Lexem vom zweiten Jahr an im Gebrauch sehr zurückgeht, gleich-wohl bis zum Jahr 2001 auf relativ niedrigem Niveau durchgängig belegt bleibt. Welche Erklärung könnte es für diesen Befund geben?

    Im ersten Jahr der deutschen Einheit sind verwaltungssprachliche Texte, in de-nen mit dem Lexem auf das Gebiet der DDR Bezug genommen wird, wo die Strukturen der alten Bundesrepublik etabliert werden sollen, recht häufig:

    Die Eingruppierung der Erziehungskräfte des öffentlichen Dienstes im Beitrittsgebiet ab 1.7.91 hängt nach dem Bundesangestelltentarifvertrag Ost (BAT-0) vielfach von der Gleichwertigkeit der Ausbildungsabschlüsse mit den Tätigkeitsmerkmalen bezie-hungsweise persönlichen Voraussetzungen nach dem BAT-West ab. (T91/MAI. 18726 die tageszeitung, 08.05.1991)

    Vergleichbare Belege finden sich auch in den folgenden Jahren, wenngleich we-niger häufig, denn durch den im Laufe der Zeit voranschreitenden Anglei-chungsprozess geht naturgemäß die Zahl entsprechender Texte und damit auch der Gebrauch des Wortes zurück.

    Vereinzelt finden sich Belege, in denen die Bezeichnung in nicht verwaltungs-sprachlichen Zusammenhängen verwendet wird:

    Mit „Die Geschichte vom Onkel Willy aus Golzow“ setzen Barbara und Winfried Junge ihre Langzeit-Ethnografie des Beitrittsgebiets fort, die sie 1961 (!) mit „Die Kinder von Golzow“ begonnen haben. (T96/FEB.07281 die tageszeitung, 15.02.1996)

    Es fällt auf, dass es synonyme Benennungen wie (ßnß neue (Bundes)ländeß, östliche/ostdeutsche (Bundesländer gibt, die - zumindest in nicht streng fach-

    4 Die Wortverbindung neue Bundesländer, ebenfalls ein Neologismus der Wendezeit, ist älter als das Lexem Beitrittsgebiet. Sie ist im IDS-Textkorpus - auch mit dem Kollokationspartner

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    sprachlichen Texten, wie sie in Zeitungen, die das IDS-Textkorpus dominieren, üblich sind - mit dem Lexem Beitrittsgebiet konkurrieren. Es lässt sich sogar beobachten, dass die genannten Synonyme im Korpus unvergleichlich häufiger als Bezeichnung für das Gebiet der DDR verwendet werden als das Lexem Bei-trittsgebiet. Sie sind aufgrund von Merkmalen wie (föderal strukturiert),

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    Außer auf das Gebiet der DDR bezieht sich das Lexem einige Male auf einen Staat, der als Beitrittskandidat zu einem westeuropäischen Bündnis im Gespräch ist. Abzuwarten bleibt, ob sich in Zukunft diesbezüglich eine neue Lesart festigt.

    Blockflöte (NB)

    Das Lexem Blockflöte, das die usuelle Bedeutung .Holzblasinstrument’ hat, wird im öffentlichen Sprachgebrauch des Jahres 1989 vereinzelt, in dem des Jahres 1990 häufig als Bezeichnung für eine der DDR-Blockparteien bzw. für ein Mitglied einer dieser Parteien verwendet.

    Dieser auf den ersten Blick merkwürdig anmutenden Bezeichnungsübertra-gung liegt eine zweifache Motivation zugrunde: Das Bestimmungswort Block bezieht sich auf den sogenannten Demokratischen Block, dessen Parteien mit der SED ein Bündnis eingegangen waren, das zum Ziel hatte, die Politik der SED in den Bevölkerungsgruppen, die jeweils einer dieser Parteien zuneigten, durchsetzen zu helfen. Flöte als Grundwort einer Zusammensetzung, die eine Parteien- bzw. Personenbezeichnung darstellt, legt den Bezug zu Flöte als Be-zeichnung für ein in einem Orchester untergeordnetes, nur im Zusammenklang mit anderen Instrumenten zur Wirkung kommendes Musikinstrument nahe. Aufgrund dieser Sprachwitz verratenden Neumotivation durch Block und Flöte ist es möglich, dass Blockflöte als spöttisch-verächtliche Bezeichnung für eine der mit der SED verbündeten Blockparteien bzw. für ein (führendes) Mitglied einer dieser Blockparteien gebraucht werden kann (vgl. Herberg/Steffens/Tel- lenbach 1997, 327f.).

    Beide Bedeutungen sind in Duden-GWDS (1993 - 1995) verzeichnet.Aus den Korpustexten der Jahre 1991 - 2001 lässt sich ersehen, dass das Le-

    xem Blockflöte als Bezeichnung für eine der DDR-Blockparteien selten - natur-gemäß nur im Rückblick - verwendet wird, als Bezeichnung für ein früheres Mitglied einer DDR-Blockpartei, das nun als Mitglied der gesamtdeutschen CDU bzw. FDP vorwiegend in den neuen Bundesländern wieder politischen Einfluss hat, dagegen häufig:

    Nun feiern die Blockflöten ihr Comeback. Die drei von der FDP nominierten Minister im letzten Aufgebot des Münch-Nachfolgers Christoph Bergner äußern sich nur spar-sam über ihre Vergangenheit in DDR-Blockparteien - aus gutem Grund. Der neue Wirtschaftsminister Rainhard Lukowitz, 43, war vor der Wende Mitglied im Haupt-ausschuß der National-Demokratischen Partei Deutschlands (NDPD) und Bürgermeis-ter des beschaulichen Städtchens Quedlinburg im Ostharz. (S93/H51.06249 Der Spie-gel, 51/1993)

    Die absehbare Rote-Socken-Kampagne trifft die SPD in ihrem historischen Versäum-nis, einen Teil des Erbes der alten SED nicht genauso pragmatisch integriert zu haben, wie das Kohl mit seinen Blockflöten aus Ost-CDU und Bauernpartei getan hat. (T97/MAR.09891 die tageszeitung, 03.03.1997)

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    Wird er [Harald Ringstorff] auf die SED-Vergangenheit vieler heutiger PDS-Politiker angesprochen, erinnert er im gleichen Atemzug an die Blockflöten in der CDU. (B98/808.53950 Berliner Zeitung, 21.08.1998)

    Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Lexem Blockflöte in der wendezeit-relevanten Bedeutung ,DDR-Blockpartei’ ein nicht mehr existierendes Denotat bezeichnet, also ein Historismus ist.

    Die wendezeitrelevante Bedeutung .Mitglied einer DDR-Blockpartei’ zeigt sich dagegen in den Texten der Jahre 1991 - 2001 verändert: Das Lexem bezieht sich auf ein früheres Mitglied einer DDR-Blockpartei, meist der CDU, das vor-wiegend in den neuen Bundesländern Mitglied der CDU oder der FDP ist. In dem Maße, wie dieser Personenkreis, der bereits in der DDR politisch aktiv war, aus dem öffentlichen Leben ausscheidet bzw. sich der Umgang mit ihm ent-spannt, verliert das Lexem Blochflöte auch in Bezug auf diese Lesart seine kommunikative Relevanz und wird letztlich zum Historismus.

    runder Tisch

    In der Wendezeit entsteht auf der Grundlage der usuellen metaphorischen Wortgruppe am runden Tisch das substantivische Mehrwortlexem Runder Tisch als Bezeichnung für eine außerparlamentarische Institution in der DDR zur Beratung gesellschaftlich relevanter Probleme und zur informellen Beteiligung an der Machtausübung in der krisenhaften Phase zwischen der Wende und der Etablierung demokratisch legitimier-ter Machtverhältnisse sowie für das entsprechende Gremium. Mit der Bezeichnung Runder Tisch kann sowohl auf den zentralen Runden Tisch in Ost-Berlin als auch auf Runde Tische auf nichtzentralen Ebenen, deren Zuständigkeitsbereich jeweils in einem voran- oder nachgestellten Attribut genannt wird, Bezug genommen werden. (Her- berg/Steffens/Tellenbach 1997,231).

    Weil das Mehrwortlexem runder Tisch in der Wendezeit noch nicht als feste sprachliche Einheit empfunden wurde, ist in den Texten der Wendezeit die

    äußerliche, sofort ins Auge fallende Begleiterscheinung der Verwendung als Bezeich-nung für die etablierte Institution die nun nahezu durchgängige Großschreibung des adjektivischen Bestandteils (Runder Tisch). Damit entfällt die Notwendigkeit, zur Hervorhebung der Funktion dieses zweigliedrigen Ausdrucks als Benennungs e i n - h e i t Anführungszeichen zu verwenden (Herberg/Steffens/Tellenbach 1997, 228).

    In diesem Beitrag wird rund klein geschrieben. Der Grund hierfür ist, dass das Mehrwortlexem nunmehr als fester Bestandteil des appellativischen deutschen Wortschatzes gesehen werden kann. Das zeigen auch die Rechercheergebnisse in den Textkorpora der Jahre 1991 - 2001: Das Mehrwortlexem runder Tisch ist sehr gut belegt, wobei sich die Belege weniger auf einen in der Wendezeit ge-bildeten runden Tisch beziehen, als vielmehr auf einen, der sich im untersuchten Zeitraum konstituiert hat, was auch in der Bedeutungserklärung für das Lexem, das erstmalig 1999, und zwar in Duden-GWDS (1999), gebucht ist, deutlich wird.

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    Runder Tisch bezeichnet eine Institution, quasi ein gesellschaftspolitisches Fo-rum, zum regelmäßigen Zusammentreffen von gleichberechtigten Interessierten bzw. Betroffenen, die ein gesellschaftlich relevantes Problem beraten und einen Lösungsvorschlag erarbeiten wollen, letztlich mit dem Ziel, ihn unter Einbezie-hung von politischen Vertretern zu realisieren:

    Kurzfristig müsse ein „arbeitsmarktpolitischer runder Tisch“ zur Abstimmung von Arbeitsmarkt- und Industriepolitik geschaffen werden. (T91/FEB.06566 die tageszei- tung, 12.02.1991)

    Der für diese Woche in Potsdam geplante Runde Tisch zwischen Hausbesetzern und Verantwortlichen von Stadt, Kirche, Polizei und Bundesvermögensamt ist geplatzt. (T93/SEP.43116 die tageszeitung, 29.09.1993)

    Sie haben Beifall für die Forderung des „Runden Tisches“ gespendet, mit zivilem Un-gehorsam die Abschiebung der Brandopfer zu verhindern. (T96/AUG.38008 die ta-geszeitung, 24.08.1996)

    Die Hellersdorfer Bezirksverordnetenversammlung (BW ) unterstützt die Bildung ei-nes Runden Tisches gegen Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt. (B98/806.36311 Berliner Zeitung, 12.06.1998)

    Der Runde Tisch Drogen, also auch Polizei und Drogenhilfe, befürwortet die Haltung der Stadt Mannheim, sich vorerst nicht an einem Modellversuch zu beteiligen. (M99/903.19525 Mannheimer Morgen, 26.03.1999)

    Auf Initiative der Jungen Union fand der erste „Runde Tisch“ der jungen Generation zu Fragen der Rentenpolitik statt. (U99/SEP.73132 Süddeutsche Zeitung, 15.09.1999)

    Der dritte „Runde Tisch“ nach Öffnung der Ludwigstraße im Dezember vergangenen Jahres fand das Interesse von einer Handvoll Anwohnern, außerdem kamen noch wei-tere Vertreter des Einzelhandels hinzu. (M01/104.25067 Mannheimer Morgen, 05.04.2001)

    Schreiber (1991), der das Lexem runder Tisch bereits unmittelbar nach dem En-de der Wendezeit behandelt hat, schließt seinen Beitrag mit folgenden Worten:

    Der Wortschatz in den fünf neuen Bundesländern erlebt zur Zeit eine elementare „Umgestaltung“, d.h. Anpassung an den in den alten Bundesländern üblichen Sprach-gebrauch. Daß aber auch neue, eigenständige Sprachformen entstehen und wirksam werden können, sollte mit der Wortgruppe Runder Tisch gezeigt werden. Noch ist vom Runden Tisch und seinen Nachfolgern die Rede. Wer weiß, wie lange noch. Vielleicht war der Runde Tisch zu rund! (Schreiber 1991, 298)

    Schreiber hegte hinsichtlich der weiteren Existenz von runden Tischen im verei-nigten Deutschland keine großen Erwartungen. Wir meinen - zu Unrecht: Die Arbeitsweise des in der Endphase der DDR gebildeten, so genannten „zentralen Runden Tisches“, der einen Ausgleich zwischen z.T. sehr unterschiedlichen In-teressen hersteilen wollte und auf beste demokratische Traditionen gegründet war, könnte ein Grund für die Ausstrahlung sein, die der runde Tisch seitdem hat, was dazu geführt haben muss, dass Impulse für die Bildung runder Tische gegeben wurden, die dann auch die Bezeichnung runder Tisch beibehalten ha-

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    ben. In den Korpustexten der Jahre 1991 - 2001 zeigt sich deutlich, wie häufig das Lexem runder Tisch im vereinigten Deutschland in neuen Zusammenhängen gebraucht wird.

    3. Schlussbemerkung

    Die in der Regel gute Belegung der Neologismen der Wendezeit in den IDS- Textkorpora der Jahre 1991 - 2001 ist nicht verwunderlich, gibt es doch viele Texte, in denen sie im Rückblick auf die Ereignisse der Wendezeit verwendet werden. Interessant war es aber zu fragen, ob sie auch mit Bezug auf die Ver-hältnisse im Jahrzehnt danach noch verwendet werden und ob sich ihr Gebrauch gegebenenfalls verändert hat.

    Die Neologismen der Wendezeit lassen sich in zwei Gruppen anordnen. Wir unterscheiden

    • Neologismen (Neulexeme und Neubedeutungen) der Wendezeit, die nur noch mit Bezug auf die Wendezeit verwendet werden:

    das Bezeichnete ist an die Wendezeit gebunden (z. B. Begrüßungsgeld [,100 DM für DDR-Bürger’], Blockflöte [,DDR-Blockpartei’; .Mit-glied einer DDR-Blockpartei’], Einigungsvertrag, Maueröffnung, Mauerspecht, Wende)

    • Neologismen (Neulexeme und Neubedeutungen) der Wendezeit, die auch mit Bezug auf die Nachwendezeit verwendet werden:

    das Bezeichnete ist DDR-spezifisch, aber aus verschiedenen Gründen noch kommunikativ relevant (z. B. inoffizieller Mitarbeiter, Stasiakte) das Bezeichnete ist relevant geblieben (z. B. Abwicklung/abwickeln, altes/neues Bundesland, Ossi/Wessi, Mauer in den Köpfen, runder Tisch)das Bezeichnete ist relevant geblieben, die Bezeichnung wird aller-dings zunehmend aus verschiedenen Gründen durch andere Bezeich-nungen ersetzt (z. B. Beitrittsgebiet, Gauckbehörde)

    Zu Neologismen (Neulexemen und Neubedeutungen) der Wendezeit können in der Nachwendezeit neue Bedeutungen treten. So erhält das Neulexem der Wen-dezeit Begrüßungsgeld die neuen Bedeutungen ,Geld für ein Neugeborenes’, »Geld für Ansässigwerden’.

    Literatur

    WörterbücherDuden-DUW (1989) = Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 2., völlig neu bearb. u. stark

    erw. Aufl. Hrsg. u. bearb. vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenre-daktion unter der Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag.

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    Duden-GWDS (1976 - 1981) = Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in sechs Bänden. Hrsg. u. bearb. vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredak-tion unter der Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim/Wien/Zürich: Dudenverlag.

    Duden-GWDS (1993 - 1995) = Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in acht Bänden. 2., völlig neu bearb. u. stark erw. Aufl. Hrsg. u. bearb. vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der Dudenredaktion unter der Leitung von Günther Drosdowski. Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag.

    Duden-GWDS (1999) = Duden. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache in zehn Bän-den. 3., völlig neu bearb. und erw. Aufl. Hrsg, vom Wissenschaftlichen Rat der Dudenre-daktion. Redaktionelle Bearbeitung: Werner Scholze-Stubenrecht... Unter Mitarbeit von Brigitte Alsleben... Mannheim/Leipzig/Wien/Zürich: Dudenverlag.

    Wahrig-DW (1997) = Wahrig, Gerhard (1997): Deutsches Wörterbuch. Neu herausgegeben von Renate Wahrig-Burfeind. 6., neu bearbeitete Auflage. Auf der Grundlage der neuen Rechtschreibregeln. Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag.

    SekundärliteraturDückert, Joachim (2000): Abwicklung/abwickeln in historischer Perspektive. In: Kramer,

    Undine (Hg.): Lexikologisch-lexikographische Aspekte der deutschen Gegenwartssprache. Symposiumsvorträge, Berlin 1997. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 125 - 137. (Lexi- cographica. Series Maior 101)

    Einigungsvertrag (1990) = Der Einigungsvertrag. Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik über die Herstellung der Einheit Deutschlands. Der vollständige Text mit allen AusfUhrungsbestimmungen und Erläuterun-gen. 2. Aufl. Nachdruck. Berlin: Goldmann.

    Fleischer, Wolfgang (1991): Archaismen im heutigen Deutsch. In: Soziolinguistische Aspekte der Sprachgeschichte. Dem Wirken Rudolf Großes gewidmet. Berlin: Akademie-Verlag, 32 - 38. (Sitzungsberichte der Akademie der Wissenschaften der DDR, Nr. 9/G)

    Herberg, Dieter/Steffens, Doris/Tellenbach, Elke (1997): Schlüsselwörter der Wendezeit. Wörter-Buch zum öffentlichen Sprachgebrauch 1989/90. Berlin, New York: Walter de Gruyter. (Schriften des Instituts für Deutsche Sprache. Bd. 6)

    Ludwig, Klaus-Dieter (1996): Überlegungen zu einem Wörterbuch der Archaismen. In: Zet-tersten, Ame/Petersen, Voggo Hjomager (Hrsg.): Symposium on Lexicography VII. Proceedings of the Seventh Symposium on Lexicography May 5-6, 1994, at the University of Copenhagen. Tübingen: Max Niemeyer Verlag, 157 - 170. (Lexicographica. Series Maior 76)

    Schreiber, Herbert (1991): Wie rund war der Runde Tisch? Bemerkungen zu einer Bürgerini-tiative des Herbstes 89 und zu ihrer sprachlichen Wiedergabe in der Presse. In: Pohl, In- ge/Bartels, Gerhard (Hrsg.): Sprachsystem und sprachliche Tätigkeit. Frankfurt a. M./Bem/New York/Paris: Peter Lang, 287 - 299. (Sprache, System und Tätigkeit. Bd. 2)