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Dahlhaus

Richard Wagners Musikdramen

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Reclam Sachbuch premium

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Carl Dahlhaus

Richard WagnersMusikdramen

Reclam

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Dieses Buch erschien erstmals 1971 im Friedrich Ver-lag, Velber, 1985 in 2., überarbeiteter Auflage beiOrell Füssli in Zürich. Die vorliegende Ausgabe istein unveränderter Nachdruck der zweiten Auflage.

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 196951996, 2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH,

Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Lizenzausgabe mit Genehmigung des Orell Füssli Verlages, Zürich© 1985 Orell Füssli Verlag, Zürich

Gestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich ForssmanUmschlagabbildung: Staatstheater Wiesbaden, 2016/17

Der Ring des Nibelungen. Das RheingoldInszenierung: Uwe Eric Laufenberg

© Staatstheater Wiesbaden. Foto: Karl & Minka ForsterDruck und Bindung: Kösel GmbH & Co. KG,

Am Buchweg 1, 87452 Altusried-KrugzellPrinted in Germany 2020

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK undRECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken

der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, StuttgartISBN 978-3-15-019695-3

www.reclam.de

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Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Der fliegende Holländer . . . . . . . . . . 15Tannhäuser . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35Lohengrin . . . . . . . . . . . . . . . . . . 56Tristan und Isolde . . . . . . . . . . . . . . 77Die Meistersinger von Nürnberg . . . . . 96Der Ring des Nibelungen . . . . . . . . . 118Das Rheingold . . . . . . . . . . . . . . . . 158Die Walküre . . . . . . . . . . . . . . . . . 171Siegfried . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181Götterdämmerung . . . . . . . . . . . . . . 193Parsifal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204

Das Werk auf der Bühne . . . . . . . . . . 224Daten zu Leben und Werk . . . . . . . . . 234

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Einleitung

Die Wagner-Literatur, die sich ins Unabsehbare erstreckt,ist durch Nicht-Musiker, durch Nietzsche, Carl FriedrichGlasenapp, den unterwürfig pedantischen Biographen,und Hans von Wolzogen, von dem der Begriff des Leitmo-tivs stammt, geprägt worden, um von Houston StewartChamberlain zu schweigen. Und die Zusammensetzungaus weitgespannter geschichtsphilosophischer Spekula-tion, unersättlicher und rücksichtsloser Lust am Biogra-phischen und einer seltsamen Genügsamkeit im Musika-lischen, deren Ehrgeiz über das Etikettieren von Leit-motiven kaum hinausreichte, ist jahrzehntelang für siecharakteristisch geblieben. Der Ton war emphatisch oderaber gereizt. Und noch heute tendiert, wer über Wagnerschreibt, zu den Extremen: zur Polemik oder zur Apolo-gie. (Es mag genügen, an die Bücher von Theodor W.Adorno einerseits, von Curt von Westernhagen anderer-seits zu erinnern.) Doch scheint es, als breite sich allmäh-lich, nach dem Zusammenbruch der falschen und ver-hängnisvollen Wagner-Apotheose unter der Herrschaftdes Nationalsozialismus, das Gefühl aus, daß WagnersWerk, obwohl es als Kunstgebilde in die Gegenwart her-einragt, als geistigpolitisches Ereignis ein Stück Ge-schichte, ein Gegenstand historisch distanzierten Bewußt-seins ist. Man begegnet Wagner mit Nüchternheit, ohnedaß der musikalische Enthusiasmus dadurch geschmälertwürde. Auch ist der Streit über Wagner – ein Streit, der zuverworren ist, als daß er zu schlichten wäre, der also nurabgebrochen und vergessen werden kann – offenbar da-durch in den Hintergrund gerückt, daß an der Stelle vonWagner die Regisseure seiner Werke, Wieland Wagneroder Patrice Chereau, die Aggressionen auf sich ziehen.

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Nicht zufällig überwuchert in der Wagner-Literaturdas biographische Moment. Wagner hat sich immer wie-der gedrängt gefühlt, Autobiographisches zu schreiben,sei es in der Form der Skizze oder des weit ausgreifen-den Buches. Und sofern die Voraussetzung für die Ent-stehung eines Buches weniger die Wirklichkeit, von deres handelt, als ein früheres Buch über diese Wirklichkeitbildet, ist es nicht erstaunlich, daß Historiker und Publi-zisten durch Wagners Autobiographien zur Fortset-zung, Ergänzung und Korrektur, vor allem aber zur Re-petition herausgefordert wurden. Wagners Leben ist sooft erzählt worden, daß es nicht mehr erzählbar ist.

Und es braucht auch, obwohl Martin Gregor-Dellindas nahezu Unmögliche fast geglückt ist, eigentlich nichterzählt zu werden. Denn nichts wäre falscher, als inWagners Musik das tönende Abbild der Biographie zusehen. Wagner selbst wandte sich, so besorgt er um dieauthentische Darstellung seines Lebens war, in der Beet-hoven-Abhandlung von 1870 gegen das gewohnte Ver-fahren, musikalische Werke aus biographischen Voraus-setzungen abzuleiten. Er leugnete, daß die Beziehungder Eroica zu Napoleon über die Musik auch nur dasGeringste besage. Die naive Hermeneutik des neun-zehnten Jahrhunderts, die in expressiver Musik nachden Seelenregungen und Erlebnissen des Komponistensuchte, die Überzeugung also, daß man die Biographieeines Autors kennen müsse, um die Werke zu verstehen,hat jedenfalls in Wagners Ästhetik keine Stütze. PaulBekker hat, nicht ohne partielles Recht, in seinem Wag-ner-Buch von 1924 sogar versucht, gerade umgekehrtdas Leben aus dem Werk zu erklären: Das musikalischeDrama, der Plan, der zur Verwirklichung drängte, habedie biographischen Ereignisse herbeigezogen, die not-wendig waren, um der Skizze, dem Vorgefühl oder der

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vagen Idee eines Werkes Leben und Farbe zu verleihen.Tristan und Isolde sei nicht Ausdruck und Reflex derLiebe zu Mathilde Wesendonck, sondern die Liebe zuMathilde Wesendonck ein Mittel, um die dramatischeKonzeption musikalisch-szenisch Gestalt werden zu las-sen. Und man kann Bekker zugestehen, daß für Wagner,der gegen sich selbst so rücksichtslos wie gegen anderewar, nichts zählte außer dem Werk. Das Leben war blo-ßer Stoff, der aufgezehrt wurde.

Wagners Anfänge, die tastende Versuche waren, unter-schieden sich in nichts von denen des typischen kompo-nierenden Kapellmeisters, der dort, wo er engagiert war,nach lokalem Ruhm trachtete. Die frühen Opern sindvon der stilistischen Unsicherheit, dem verlegenen Ek-lektizismus der 1830er Jahre geprägt. Die Feen (nach ei-nem Märchen von Gozzi) waren eine »romantischeOper« in der Tradition E. T. A. Hoffmanns, Webers undMarschners, wenn auch mit italienischem Einschlag.Doch war die Romantik, als das Stück entstand, wenigerein Stil, der in den herrschenden Ideen der Zeit begrün-det gewesen wäre, als ein Bühnengenre neben anderen:eine auswechselbare Attitüde. Und es ist nicht erstaun-lich, sondern charakteristisch, daß sich Wagner bei seinerzweiten Oper, Das Liebesverbot (nach Shakespeares»Maß für Maß«), dazu entschloß, Donizetti und Aubernachzuahmen: das musikalische »juste milieu«, wieSchumann es nannte. (Allerdings verzichtete Wagnernicht darauf, den Wechsel der Schreibweise mit einer Po-lemik gegen die deutsche Konkurrenz theoretisch zu be-gründen und zu rechtfertigen, als sei er ein Prinzipien-wandel.)

Mit Rienzi, einer so ehrgeizigen Konzeption, wie esspäter erst wieder der Ring war, hörte Wagner auf, sichals Lokalkomponist, als komponierender Kapellmeister,

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zu fühlen. Rienzi war, als große Oper im Sinne Meyer-beers und Halevys, für Paris bestimmt: Wagner warüberzeugt, daß es nur auf dem Umweg über Paris, die»Hauptstadt des neunzehnten Jahrhunderts«, möglichwar, sämtliche deutschen Theater zu erreichen, statt aufein einziges beschränkt zu bleiben. (Franz Lachner,Opernkapellmeister in München, bezog, wenn nicht denmusikalischen Stil, so doch wenigstens das Libretto sei-ner Oper »Catharina Cornaro« aus Paris.) Daß Wagneres in Riga, als er an Rienzi arbeitete, verschmähte, sichals Lokalkomponist zu etablieren, trug zur Zerrüttungseiner Position bei: Die Konsequenz war die Flucht nachvorn, nach Paris. Die Grand Opera aber verschloß sichWagner. Rienzi wurde statt zu einem Pariser zu einemDresdener Erfolg, der über den Ort der ersten Auffüh-rung kaum hinausdrang. (Von Bedeutung war lediglichdie Aufführung in Berlin 1847, wo das Werk ein Jahr-hundert lang im Repertoire blieb.) Das Fundament vonWagners Ruhm bildeten erst Tannhäuser und Lohen-grin, die in den 1850er Jahren von fast allen deutschenOpernbühnen gespielt wurden (auch von den Hofthea-tern, obwohl Wagner im politischen Exil lebte). Der fi-nanzielle Nutzen für Wagner war allerdings gering, da esein musikalisches Urheberrecht erst in Ansätzen gab:eine Tatsache, die geeignet sein sollte, den Ton zu mil-dern, in dem man sich über das »Pumpgenie« Wagnerentrüstet.

Die Geschichte von Wagners Ruhm ist noch nicht ge-schrieben worden. Es scheint jedoch, als sei es in den1850er Jahren entscheidend gewesen, daß der Erfolg vonTannhäuser und Lohengrin, der sich zunächst zö-gernd, dann aber stetig ausbreitete, mit der intellektuel-len Herausforderung zusammentraf, die von WagnersSchriften, Das Kunstwerk der Zukunft und Oper

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und Drama, ausging. (Das Leben der Musik ist vonder Literatur über Musik nicht so unabhängig, wie dieVerächter der Reflexion unter den Musikern meinen.)Nicht, daß es vor Wagner an Traktaten zur Opernreformgemangelt hätte; die Unsicherheit und Schwäche derdeutschen Oper bildete vielmehr einen ständigen Anreizzu einer Reflexion, die sich bemühte, das Elend derOpernwirklichkeit in der Idee »aufzuheben«. Neu aberwar, daß der Eifer und Ehrgeiz des Theoretikers, derden Umsturz der Oper plante, nicht in der Abstraktionverharrte, sondern sich in Werken dokumentierte, diesich beim Publikum durchsetzten. Nichts wäre falscher,als zu vermuten, Wagner sei »verkannt« worden (wieSchubert oder Bruckner). Er begegnete zwar einermanchmal gehässigen Polemik, niemals jedoch dem bö-sen Schweigen des Boykotts.

Um 1860 war allerdings Wagners Lage prekär. Die äl-teren Werke, Tannhäuser und Lohengrin, verblaßtenallmählich; die Ring-Tetralogie war ein Fragment, andessen Vollendung Wagner 1857 verzweifelte (er brachdie Komposition nach dem zweiten Akt des Siegfriedab), die Pariser Tannhäuser-Aufführung endete mit ei-ner Katastrophe, wenn auch einer so spektakulären, daßsie Wagners Ruhm eher festigte als minderte; und Tri-stan, der eine populäre Oper werden sollte, wurde, dader Wille des Werkes sich gegen den des Autors durch-setzte, zu einer esoterischen. Erst durch den Erfolg derMeistersinger 1868, einen Erfolg, der auch die bisherWiderstrebenden mitzog, und durch die Gründung vonBayreuth in den 1870er Jahren ist Wagner zum Herr-scher der deutschen Musik geworden, den man schmä-hen konnte, dessen Bedeutung aber nicht zu leugnenwar. Daß es neben ihm noch andere Komponisten deut-scher Opern gab, Heinrich Dorn (»Die Nibelungen«)

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und Carl Goldmark (»Die Königin von Saba«), PeterCornelius (»Der Cid«) und Hermann Goetz (»Der Wi-derspenstigen Zähmung«), ist eine Tatsache, die man –nicht zufällig – immer wieder vergißt. Im letzten Dritteldes neunzehnten Jahrhunderts fiel der Begriff der deut-schen Musik mit dem der Wagnerschen zusammen. So-gar Paris, die Stadt, um die Wagners Vorstellungen vomeigenen Ruhm stets kreisten, unterwarf sich schließlich.

Der Terminus »Musikdrama« ist von Wagner, der ausdem Wort die Bedeutung »Drama für Musik« heraus-hörte, verworfen worden. Dennoch hat er sich durchge-setzt, da Wagners eigene Bezeichnungen – Kunstwerkder Zukunft, Wort-Ton-Drama, Handlung, Bühnenfest-spiel – als Gattungsnamen ungeeignet waren. (Wagnerhat es nicht hindern können, daß das Musikdrama, dasdie Oper »aufheben« sollte, zu einer Gattung neben derOper geworden ist.) Was aber ist ein Musikdrama?

Der herausfordernde Satz aus Oper und Drama, daßim Kunstwerk der Zukunft, dem Widerpart zur herun-tergekommenen Oper, das Drama der Zweck und dieMusik ein Mittel des Ausdruckes sei, war nicht selten ei-nem groben Mißverständnis ausgesetzt: dem Irrtum,daß unter Drama primär der Text zu verstehen sei unddaß es genüge, das Wort-Ton-Verhältnis, die Abhängig-keit der Musik vom Text zu analysieren, um die Musikals Mittel des Dramas zu begreifen. Der Text ist jedochim musikalischen Drama nichts als ein Teilmoment derHandlung, nicht deren Substanz, und als Gesamtzweckschwebte Wagner die unbedingte, unmittelbare Darstel-lung der vollendeten menschlichen Natur vor. Die in dermodernen, prosaischen Gesellschaft verzerrte und fastunkenntliche menschliche Natur soll durch die Musik,die nach Wagner die Macht hat, an archaische Ursprüngezu erinnern, restituiert werden. Die Darstellung der

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menschlichen Natur aber, deren Mittel die Musik ist,fällt eher der szenischen Aktion als dem gesprochenenWort zu.

Bedeutet demnach die Gleichsetzung von Drama undText eine Verzerrung der Begriffe, so wirkt es anderer-seits verwirrend, daß der Zusammenhang zwischen Mu-sik und Drama von Wagner verschieden und, wie esscheint, sogar widersprüchlich bestimmt worden ist. Diezitierte Formel aus Oper und Drama (1851), daß dieMusik ein Mittel des Ausdrucks sei, scheint zwei Jahr-zehnte später, in der Beethoven-Schrift von 1870, diedurch Schopenhauers Metaphysik der Musik inspiriertist, ins Gegenteil verkehrt zu werden. Die Musik, welchenicht die in den Erscheinungen der Welt enthaltenenIdeen darstellt – und schon gar nicht die Erscheinungender Welt –, dagegen selbst eine, und zwar eine umfas-sende Idee der Welt ist – also ein Stück tönende Meta-physik –, schließt das Drama ganz von selbst in sich, dadas Drama wiederum selbst die einzige der Musik ad-äquate Idee der Welt ausdrückt. Roh verkürzt: Nicht dieMusik drückt das Drama aus, sondern das Drama dieMusik. Und 1872, in dem Aufsatz Über die Benen-nung Musikdrama, ist sogar von den Dramen als er-sichtlich gewordenen Taten der Musik die Rede.

Es ist unverkennbar, daß die Ästhetik, die Wagner inOper und Drama entworfen hatte, einerseits durch dieSchopenhauer-Lektüre seit 1854 und andererseits durchErfahrungen bei der Komposition des Ring und desTristan in Verwirrung geriet; das Dogma verlor seinefesten Umrisse. Und zwar reicht der Zwiespalt bis ineinzelne Texte hinein. In der Beethoven-Schrift, in derzunächst, wie erwähnt, die Musik als Ursprung gerühmtwird, der das Drama ganz von selbst in sich schließt,heißt es wenige Seiten später, daß die Musik durch das

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Drama bestimmt werde. Der Widerspruch verringertsich allerdings, wenn man berücksichtigt, daß Wagneroffenbar einen zweifachen Musikbegriff voraussetzte: ei-nen metaphysischen, den er Schopenhauer verdankte,und einen nüchtern empirischen. Daß die Musik meta-physisch als Ursprung des Dramas erscheint, schließtnicht aus, daß sie als Erscheinung des Lebens, wie Wag-ner es 1857 in dem Aufsatz Über Franz Liszts sym-phonische Dichtungen ausdrückte, durch das Dramabestimmt ist; das Drama ist das Motiv der Formgebung,das die Musik braucht, um sich zu realisieren.

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Der fliegende Holländer

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Die Geschichte vom Fliegenden Holländer, Stoff desWerkes, mit dem Wagner nach eigenem Zeugnis seineLaufbahn als Dichter begann und die des Verfertigersvon Operntexten verließ, ist in verschiedenen Fassungenüberliefert. Entscheidend für Wagner war die Version,die Heine 1834 in den »Memoiren des Herren vonSchnabelewopski« der Sage gab, eine Version, die Wag-ner als echt dramatisch rühmte und in der die Motive,die er der Operndichtung zugrundelegte, fast vollständigversammelt sind.

»Die Fabel von dem Fliegenden Holländer ist euchgewiß bekannt. Es ist die Geschichte von dem ver-wünschten Schiffe, das nie in den Hafen gelangen kannund jetzt schon seit undenklicher Zeit auf dem Meereherumfährt . . . Jenes hölzerne Gespenst, jenes grauen-hafte Schiff führt seinen Namen von seinem Kapitän,einem Holländer, der einst bei allen Teufeln geschwo-ren, daß er irgendein Vorgebirge, dessen Namen mirentfallen, trotz des heftigsten Sturms, der eben wehte,umschiffen wolle, und sollte er auch bis zum JüngstenTage segeln müssen. Der Teufel hat ihn beim Wort ge-faßt, er muß bis zum Jüngsten Tag auf dem Meere her-umirren, es sei denn, daß er durch die Treue eines Wei-bes erlöst werde. Der Teufel, dumm wie er ist, glaubtnicht an Weibertreue und erlaubte daher dem ver-wünschten Kapitän, alle sieben Jahre einmal ans Landzu steigen und zu heiraten und bei dieser Gelegenheitseine Erlösung zu betreiben. Armer Holländer! Er istfroh genug, von der Ehe selbst wieder erlöst und seine

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Erlöserin loszuwerden, und er begibt sich dann wiederan Bord.

Auf diese Fabel gründete sich das Stück, das ich imTheater zu Amsterdam gesehen. Es sind wieder siebenJahre verflossen, der arme Holländer ist des endlosenUmherirrens müder als jemals, steigt ans Land, schließtFreundschaft mit einem schottischen Kaufmann, dem erbegegnet, verkauft ihm Diamanten zu spottwohlfeilemPreise, und wie er hört, daß sein Kunde eine schöneTochter besitzt, verlangt er sie zur Gemahlin. Auch die-ser Handel wird abgeschlossen. Nun sehen wir das Hausdes Schotten, das Mädchen erwartet den Bräutigam za-gen Herzens. Sie schaut oft mit Wehmut nach einemgroßen verwitterten Gemälde, welches in der Stubehängt und einen schönen Mann in spanisch-niederländi-scher Tracht darstellt; es ist ein altes Erbstück, und nachder Aussage der Großmutter ist es ein getreues Konter-fei des Fliegenden Holländers, wie man ihn vor hundertJahren in Schottland gesehen, zur Zeit König Wilhelmsvon Oranien. Auch ist mit diesem Gemälde eine überlie-ferte Warnung verknüpft, daß die Frauen der Familiesich vor dem Originale hüten sollten. Eben deshalb hatdas Mädchen von Kind auf sich die Züge des gefährli-chen Mannes ins Herz geprägt. Wenn nun der wirklicheFliegende Holländer leibhaftig hereintritt, erschrickt dasMädchen; aber nicht aus Furcht . . . Die Braut betrachtetihn ernsthaft und wirft manchmal Seitenblicke nach sei-nem Konterfei. Es ist, als ob sie sein Geheimnis erratenhabe, und wenn er nachher fragt: ›Katharina, willst dumir treu sein?‹, antwortet sie entschlossen: ›Treu bis inden Tod‹.« Die Schilderung des Theaterstücks wird un-terbrochen durch die Erzählung eines Abenteuers miteiner »holländischen Messaline«, die »zuweilen ihr schö-nes Schloß am Zuidersee verließ und inkognito nach

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Amsterdam und dort ins Theater ging, jedem, der ihr ge-fiel, Apfelsinenschalen auf den Kopf warf, zuweilen garin Matrosenherbergen die wüsten Nächte zubrachte . . .«Heine erzählte also die Geschichte vom Fliegenden Hol-länder nicht um ihrer selbst, sondern um des ironischenKontrasts willen; und wer die Doppelhandlung zerlegt,tut ihm ein ästhetisches Unrecht an.

»Als ich ins Theater noch einmal zurückkehrte, kamich eben zur letzten Szene des Stücks, wo auf einer ho-hen Meerklippe das Weib des Fliegenden Holländers,die Frau Fliegende Holländerin, verzweiflungsvoll dieHände ringt, während auf dem Meere, auf dem Verdeckseines unheimlichen Schiffes, ihr unglücklicher Gemahlzu schauen ist. Er liebt sie und will sie verlassen, um sienicht ins Verderben zu ziehen, und er gesteht ihr seingrauenhaftes Schicksal und den schrecklichen Fluch, derauf ihm lastet. Sie aber ruft mit lauter Stimme: ›Ich wardir treu bis zu dieser Stunde, und ich weiß ein sicheresMittel, wodurch ich dir meine Treue erhalte bis in denTod!‹ Bei diesen Worten stürzt sich das treue Weib insMeer, und nun ist auch die Verwünschung des Fliegen-den Holländers zu Ende, er ist erlöst, und wir sehen, wiedas gespenstische Schiff in den Abgrund des Meeres ver-sinkt.«

Die Sage von dem Geisterschiff, das dazu verdammtist, bis zum Jüngsten Gericht umherzuirren, war 1834,als Heine sie aufgriff, Jahrzehnte oder sogar Jahrhun-derte alt. Aufgezeichnet wurde sie 1821. Neu in HeinesVersion, und entscheidend für Wagner, aber war dasMotiv der Erlösung des Fliegenden Holländers durchdie Treue des Weibes. Daß die Ironie, in die Heine dastragische Pathos auflöste, von Wagner gleichsam wider-rufen wurde, sollte nicht beirren. Das Verfahren, Stoffe,die zur Moritat abgesunken waren, dichterisch zu nobi-

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litieren, begegnet im 18. und 19. Jahrhundert, im Sturmund Drang und in der Romantik, nicht selten. Tragischeswurde parodiert, aber auch umgekehrt Parodiertes insTragische zurückgewendet.

Ob das holländische Theaterstück, auf das sich Heine(in der Maske des Herrn von Schnabelewopski) berief,Realität oder Fiktion war, ob also das Motiv der Erlö-sung, das bei Wagner ins Zentrum rückte, von Heine ad-aptiert oder erfunden worden ist, steht nicht fest. Wag-ners Urteil war zwiespältig. In der ersten Fassung derAutobiographischen Skizze, die 1843 in der »Zeitungfür die elegante Welt« erschien, schrieb er: Durch dievon Heine erfundene, echt dramatische Behandlung derErlösung dieses Ahasverus des Ozeans war mir alles andie Hand gegeben, die Sage zu einem Opernsujet zu be-nützen. Ich verständigte mich darüber mit Heine selbst.Später aber zweifelte er an Heines Autorschaft: Beson-ders die von Heine einem holländischen Theaterstückegleichen Titels entnommene Behandlung der Erlösungdieses Ahasverus des Ozeans gab mir alles an die Hand,diese Sage zu einem Opernsujet zu benutzen. Ich ver-ständigte mich darüber mit Heine selbst. Ernest New-man, der Wagner-Biograph, ist überzeugt, daß die »Ver-ständigung« mit Heine finanzieller Natur war und daßHeine ein »Urheberrecht« in Anspruch nahm, das Wag-ner später als fragwürdig erkannte. Ein Dokument aber,das die Verdächtigung stützen würde, ist nicht bekannt.Und die Analyse des Heineschen Textes legt den Schlußnahe, daß das holländische Theaterstück niemals exi-stiert hat.

Entscheidend ist, daß die Handlung, wie sie Heine er-zählt, trotz der Unterbrechung vollständig ist; dasTreueversprechen Katharinas und der Entschluß desHolländers, die »Frau Fliegende Holländer« zu verlas-

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sen, »um sie nicht ins Verderben zu ziehen«, schließenbruchlos aneinander an. Der Schein einer Kette vermit-telnder Ereignisse, die Herr von Schnabelewopski ver-säumte, ist eine Täuschung. Allerdings ist eine Hand-lung, die aus nichts als Exposition und abrupter Kata-strophe besteht, eher ein Balladen- als ein Dramenstoff;so lückenlos die Erzählung als solche ist, so karg ist sieals Sujet eines Theaterstücks, als das Heine sie darstellt.Das quid pro quo von Vollständigkeit und Unvollstän-digkeit aber ist aus der epischen Funktion der Ge-schichte vom Fliegenden Holländer zu erklären, einerGeschichte, die in den »Memoiren des Herrn von Schna-belewopski« nur erzählt wird, um unterbrochen zu wer-den. Die ästhetischen Bedingungen, die sie zu erfüllenhat, sind kompliziert und widerspruchsvoll: Sie muß ei-nerseits – als Sujet eines Theaterstücks – fragmentarischwirken, andererseits aber – als Erzählung – in sich abge-schlossen sein und außerdem als ironischer Kontrast zuder Anekdote erscheinen, mit der zusammen sie über-haupt erst ein episches Ganzes bildet. Der artistischeCharakter der Erzählung, der Kunstverstand, mit demsie arrangiert wurde, ist demnach so offenkundig, daß esschwerfällt, an die Realität des holländischen Stücks zuglauben. Das Theater, das Herr von Schnabelewopskibesuchte, ist ein episches Requisit.

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Undenkbar in einem Theaterstück, gerade in einem po-pulären, rührenden, ist auch die Motivierung der Kata-strophe: eine Motivierung, deren herzzerreißende Ironieniemand anderem als Heine zuzutrauen ist. Der Hollän-der verläßt, nach den Worten der »Memoiren des Herrn

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von Schnabelewopski«, die »Frau Fliegende Hollände-rin«, »um sie nicht ins Verderben zu ziehen«. Das Ver-derben aber, vor dem er sie zu bewahren sucht, weil ersie liebt, besteht in nichts anderem als ihrer eigenen Un-treue, die unabwendbar ist, sofern sie ihr nicht durch ei-nen überstürzten Tod zuvorkommt.

Wagner, der die Parodie verwarf und verwerfenmußte, wenn aus der Moritat ein Drama hervorgehensollte, motivierte anders als Heine: durch eine umständ-liche Intrige. Statt des Witzes, der bei Heine nicht nurdie Ausdrucksform, sondern die Substanz der Erzäh-lung bildet, brauchte Wagner eine Handlung, die dendritten Akt eines Dramas auszufüllen vermochte. Ist dieUntreue, als unentrinnbares Geschick, in den »Memoi-ren des Herrn von Schnabelewopski« gleichsam ein höh-nisches Fatum, das über den Menschen schwebt, so istsie bei Wagner ein tragisch täuschender Schein, in densich der Holländer, durch Fehlschläge mißtrauisch ge-worden, verstrickt. Und die dramaturgische Hilfsfigurdes Erik dient zu nichts anderem, als die Verblendungzu bewirken. Erik, dessen Liebe von Senta hingenom-men, aber nicht erwidert wurde, versucht Senta, die demHolländer Treue versprochen hat, durch sein Unglückzu erpressen. Und seine Klage genügt, um in dem Hol-länder, der sie zufällig belauscht, einen Argwohn zuwecken, der so schlecht begründet und dennoch so be-greiflich, weil von innen heraus motiviert ist wie die Ei-fersucht Othellos.

Doch ist das Mißverständnis, das scheinbar die Kata-strophe herbeizieht, in Wahrheit weniger ein tragendesdramatisches Motiv als eine bloße Hilfskonstruktion,die den Kern der Handlung, der undramatisch ist, ver-deckt und den abrupten, wortlosen Vorgang zu einer be-redten Bühnenintrige ausspinnt. Nicht ohne Grund ist

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der Fliegende Holländer von Wagner als dramati-sche Ballade charakterisiert worden: von einem tragi-schen Konflikt, wie ihn die Erik-Handlung vortäuscht,kann streng genommen nicht die Rede sein.

Zwischen Senta und dem Holländer herrscht von An-fang an ein Einverständnis, das der Worte nicht bedarfund der Sprache, mindestens der rationalen, dialekti-schen, nicht zugänglich ist. In dem großen Duett deszweiten Aktes, dem Zentrum des Werkes, wird dennauch das Schweigen, in dem Senta und der Holländersich gegenüberstehen, nicht eigentlich gebrochen, son-dern zum Tönen gebracht; so wenig der FliegendeHolländer ein Drama ist, so entschieden ist er, wieWagner mit untrüglichem Instinkt erkannte, zur Operprädestiniert. Das Mißverständnis, das durch Eriks Ein-greifen entsteht, ruft keineswegs einen Konflikt hervor,der Senta und den Holländer einander entfremdet; viel-mehr führt es herbei, was Senta immer schon ersehnte:

Er sucht mich auf! Ich muß ihn sehn!Mit ihm muß ich zugrunde gehn!

Die Treue bis zum Tod, die Senta verspricht, ist eineTreue, die sich im Tod erfüllt: einem Tod, der ihr nichtbloß das bestätigende Siegel aufdrückt, sondern ihre in-nerste und sogar einzige Substanz bildet. Der Holländerbraucht Sentas Treue, um sterben zu können; von Liebezu sprechen, versagt er sich.

Die düstre Glut, die hier ich fühle brennen,sollt’ ich Unseliger sie Liebe nennen?Ach nein! Die Sehnsucht ist es nach dem Heil:würd’ es durch solchen Engel mir zuteil!

Und Senta, die kein irdisches Zusammenleben mitdem Holländer erwartet, weiß, daß die Treue, die sie

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Page 22: Dahlhaus Richard Wagners MusikdramenCarl Dahlhaus Richard Wagners Musikdramen Reclam 3 Dieses Buch erschien erstmals 1971 im Friedrich Ver-lag, Velber, 1985 in 2., überarbeiteter

schwört, ein Opfer ist. Der Fliegende Holländer ge-hört nicht in die Tradition der Tragödie, sondern in diedes Märtyrerdramas, dem das unbeirrbare Verlangeneines Helden, sich zu opfern, die Bahn vorschreibt.

Andererseits ist es kaum eine Übertreibung, im Flie-genden Holländer eine Vorform des Tristan zu se-hen. Senta und der Holländer bilden, nicht anders alsTristan und Isolde, eine Welt für sich in einer fremdenUmwelt, die den Holländer ausgeschlossen hat und derSenta sich entzieht. Und wie im Tristan ist es der Ge-gensatz der Nacht zum Tag, zum grellen, banalen Licht,in dem die Handlung zu einem allegorischen Bild zu-sammengefaßt erscheint. Die Erlösung, die der Hollän-der sucht, besteht nicht darin, durch Senta in die Tages-welt, von welcher der Fluch ihn trennte, wieder aufge-nommen zu werden; vielmehr ist es gerade umgekehrtSentas Entschluß, in die Nachtwelt des Holländers hin-abzusteigen, der die Erlösung herbeiführt.

Der nachkomponierte Schluß, durch den Wagner1860, in der Tristan-Zeit und im Tristan-Stil, dieHolländer-Ouvertüre ergänzte, ist von symbolischer,aufschließender Bedeutung.

Das Motiv, das der Sequenz zugrunde liegt, drückt amEnde von Sentas Ballade und als deren Konsequenz denEntschluß aus: Ich sei’s, die dich durch ihre Treu’ erlöse.

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Die Tristan-Chromatik aber, durch die das Motiv mo-difiziert und gleichsam zur Kenntlichkeit verändertwird, spricht aus, was in Sentas Willen, Werkzeug derErlösung des Holländers zu sein, immer schon verbor-gen war: Sehnsucht zum Tode.

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Obwohl Wagner überzeugt war, mit dem FliegendenHolländer die Laufbahn eines Verfertigers von Opern-texten verlassen zu haben, erinnert der äußere Umriß desWerkes, das er romantische Oper nannte, in manchenZügen an die Konvention, die der Theoretiker Wagnerschmähte, der Theaterpraktiker jedoch voraussetzte.Charakteristisch sind die Aktanfänge. Deren Gliederungin drei Teile: in einen Chor, der als Folie oder tragenderGrund erscheint, einen Ensemblesatz, der die Situationskizziert, und eine Arie, deren Expressivo um so wirksa-mer ist, als es sich von dem Parlando des Ensemblesatzesabhebt – das war eine Disposition, die sich in der Operdes 19. Jahrhunderts zum Modell verfestigt hatte. Und esist unleugbar, daß sich Wagner, sei es auch unbewußt, so-wohl im ersten als auch im zweiten Aufzug des Fliegen-den Holländers an der Konvention orientierte, einerKonvention, die um so mächtiger war, als sie den Schein

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des Selbstverständlichen annahm. Ein Dramenstoff fügtesich, sobald er zum Opernlibretto geformt wurde, un-willkürlich dem Schema; er schien es geradezu herbei-zuziehen.

Andererseits ist der Fliegende Holländer keine»Nummern«-, sondern eine »Szenenoper«. Das Verfah-ren, einzelne Arien, Duette, Ensemblesätze und Chörezu Komplexen zusammenzufassen, statt sie unverbun-den nebeneinanderzustellen, ein Verfahren, das im 18.und frühen 19. Jahrhundert zuerst im Finale ausgebildetwurde, erstreckt sich im Fliegenden Holländer überdas ganze Werk, ohne daß jedoch von einem »durch-komponierten Musikdrama« die Rede sein könnte. EinName, der die Technik bewußt machen und ihr zu äs-thetischer Geltung verhelfen würde, fehlt: Der Begriffder »Szenenoper« ist ungewöhnlich und mag befrem-dend wirken. Wagner selbst suchte einen Ausweg ausder terminologischen Verlegenheit mit zusammenge-stückten Bezeichnungen wie »Lied, Szene, Ballade undChor«, die aber die Schwierigkeit eher illustrieren als lö-sen. Der Mangel an einer Vokabel ist insofern keinegleichgültige Äußerlichkeit, als er das Verständnis derSache selbst hemmt oder sogar verstellt. Die irrige Mei-nung, eine Oper sei entweder eine »Nummernoper«oder ein »durchkomponiertes Musikdrama«, ist fest ein-gewurzelt. Und wenn man sich der Existenz der »Sze-nenoper« überhaupt bewußt wird, neigt man dazu, sieals bloßes Übergangsphänomen abzutun, da man sienicht klassifizieren kann. Sie ist jedoch eine Form eige-nen Rechts und stellt im 19. Jahrhundert sogar eher dieRegel als eine Ausnahme dar.

Durch den Zusammenschluß der »Nummern« zuKomplexen, einen Zusammenschluß, dessen Formenvon einfacher Reihung bis zu einem Ineinanderwachsen

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der Stücke reichen, verändert sich auch die Gestalt dereinzelnen Teile. Da sie nicht für sich stehen, können sieformal offen sein; die Wiederkehr von Zeilen oder Stro-phen, die Bildung geschlossener Formen, die sich einemBuchstabenschema fügen (sei es dem der Liedform a b aoder der Barform a a b), ist um so entbehrlicher, je engerdie Teile innerhalb des Komplexes miteinander ver-schränkt sind. Die Melodik löst sich von der Ariensche-matik und gewinnt die Freiheit, in jedem Augenblick derdramatischen Sprache und Gestik gerecht zu werden.Man kann die Entwicklung zum expressiv-deklama-torischen Arioso in stilgeschichtlichen Kategorien alsVermittlung zwischen Rezitativ und Arie beschreiben.Unter dem Gesichtspunkt einer Problemgeschichte desKomponierens aber war die Aufhebung der »Num-mern« in »Szenen« das entscheidende Moment: Sobalddie »Szene«, als Gruppierung charakteristisch verschie-dener Teile, die sich gegenseitig stützen und ergänzen,den formalen Zusammenhalt verbürgte, war der einzelneAbschnitt gleichsam davon entlastet, durch Unterwer-fung unter ein Arienschema eine geschlossene Form zubilden, und die Melodik konnte sich emanzipieren, ohneals bloße Stückelung heterogener Fragmente zu erschei-nen. Die Möglichkeit, dem Detail eine dem Drama ad-äquate Gestalt zu geben, war demnach, paradox ausge-drückt, primär ein Problem der Form im Großen.

Sind im Fliegenden Holländer einerseits die»Nummern« in »Szenen« integriert, die einen Gesamt-charakter so drastisch ausprägen, daß die Gefahr einesZerfalls in unzusammenhängende musikalisch-dramati-sche Augenblicke nicht entsteht, so heben sich anderer-seits, und zwar sowohl dramatisch als auch musikalisch,eine »äußere« und eine »innere« Handlung voneinanderab. Ist, wie erwähnt, die Katastrophe, in der die »drama-

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