DaimlerWelt AutoWeltAutoWelt - LabourNet Germany

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DaimlerWeltAutoWelt

DaimlerWeltAutoWelt

LP21_ex_mb-um01 26.03.2015 8:29 Uhr Seite 1

hereinspaziert

Tech|nik, die <gr.>: Verhältnis der Arbeitenden zu Arbeitsgegenständen und Arbeitsmitteln;bürgerlich auch: Haufen von Sachen und Methoden zu ihrer profitablen Verwendung. NähereAuskunft in jeder Ausgabe von Lunapark21. Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie. Z.B.Heft 28: Jörn Boewe – Stupid work 2.0. – Auslagerung schafft monotone Jobs.Heft 29 mit Schwerpunkt Griechenland 2.0 im März am Bahnhofskiosk.Lunapark21 – an vielen Bahnhofskiosken oder im Abo · 72 Seiten · Einzelheft 5,90 Euro · Abo BRD/Österreich: Normalabo 24Euro 4 Hefte/Jahr · Abo-Plus 32 Euro 4 Hefte plus 2 Extrahefte/ Jahr · Probeheft/ Abo per Post AVZ · Storkower Str. 127 a · 10407Berlin · per E-Mail: [email protected] · per web: www.lunapark21.net

LP21_ex_mb-um01 26.03.2015 8:30 Uhr Seite 2

VORWORTDaimler-Koordination & TIE Global – Nichts ist in Butter

BOOM & ZERSTÖRUNGWinfried Wolf Die weltweite Autobranche Anfang 2015

INTERVIEW „ALTERNATIVE“-BETRIEBSRÄTE„... darauf achten, sich nicht im Klein-Klein zu verlieren!“

DAIMLER-SCHLAPPEAndreas Jacobson Kein Logistikzentrum in Esslingen

LEIHARBEITChrista Hourani Die Wirkung einer Undercover-Reportage auf prekäre BeschäftigungGerd Kupfer Daimler BremenWaldemar Derda & Aron Amm Daimler Berlin

ZUKUNFTSBILD 2020+Gerwin Goldstein „Strategiepapier 2020“ noch nicht vom Tisch

VON PLAKAT ZUR ALTERNATIVEDaniel Behruzi Geschichte linker Opposition gegen Co-Management im Daimler-Werk Untertürkheim

MERCEDES-BENZ ARGENTINAGaby Weber Nazigeldwäsche & verschwundene Betriebsräte

ARBEITERKÄMPF IN DEN USAStephan Kimmerle Post-post-apokalyptische Gegenwehr in den USA

ARBEITSKÄMPFE IN INDIENH. Köhnen & J. Nowak Wachstumsmodell Autoindustrie: verschärfte Ausbeutung & Gewerkschaftsfeindlichkeit

DAIMLER IN BRASILIENHeiner Köhnen Ausgelagerte und prekäre Arbeitskräfte bei Daimler Brasilien

CAR, CAPITAL & CHINAWinfried Wolf Die Autogesellschaft im kapitalistischen Weltsystem

DER KONZERNWinfried Wolf Feuern aus vier Rohren: Die wechselvolle Geschichte des Daimler-Imperiums

INHALT2

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Mehr Umsatz, mehr verkaufte Fahr-zeuge, höhere Gewinne. Daimler eilt –wie auch andere deutsche Autoher-steller – von Rekord zu Rekord. Dietiefe Krise von 2008/2009 scheintüberwunden. Viele Fabriken sind biszum Anschlag ausgelastet. Glaubt manden Vorstandsplänen, soll es unge-bremst so weitergehen. 2015 sollen

mehr als 2,5 Millionen Fahrzeuge vonden Bändern rollen. Perspektivisch sol-len es gar drei Millionen sein.

Alles in Butter also? Keineswegs.Das „immer schneller, immer mehr“geht auf die Knochen der Beschäftig-ten. Das Unternehmen dreht perma-nent an der Rationalisierungsschraube.Für die Kolleginnen und Kollegen amBand und im Büro wird die Arbeitimmer stressiger. Physische und psy-chische Erkrankungen, Burn-out undFrühverrentung sind die Folgen. DasLeben der Beschäftigten soll sich nachden Bedürfnissen der Fabrik richten:Überstunden, Sonderschichten,

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Lunapark21·extra 10/2015

Wochenendarbeit, wenn der Ladenbrummt. Freischichten, Arbeitszeitkon-ten auffüllen und notfalls Kurzarbeit,wenn es nicht läuft. Was das für dasPrivat- und Familienleben und für dieGesundheit bedeutet, ist Zetsche & Co.offenbar egal.

„Flexibilität“ lautet immer noch ihrZauberwort. Das betrifft nicht nur die

Arbeitszeiten, sondern auch die Be-schäftigungsformen: Leiharbeit undWerkverträge zu Billigkonditionensparen nicht nur Geld, sondern schaf-fen auch einen Flexibilitätspuffer. Die-se Kolleginnen und Kollegen werdenbei Bedarf angeheuert und können je-derzeit ohne großen Aufwand wiederauf die Straße gesetzt werden. Dasgeht nicht nur auf ihre Kosten, son-dern auch zu Lasten der Sozialkassen.Mehr prekäre und schlecht entlohnteBeschäftigung bedeutet auch: wenigerGeld für Krankenhäuser, Schwimmbä-der und Schulen.

Die Verringerung der Fertigungstiefe

steht in allen Werken auf dem Pro-gramm. Mehr und mehr Tätigkeitenwerden ausgelagert und an Zuliefereroder „Dienstleister“ vergeben – zuschlechteren Konditionen, verstehtsich. Bedroht sind die Jobs der Festan-gestellten auch durch die Daimler-Strategie, die Produktion „in dieMärkte“ zu verlagern. Schon jetzt ist

klar: Neue Arbeitsplätze werden inZukunft höchstens noch in China, In-dien oder den USA entstehen. An dendeutschen Standorten ist Stagnationangesagt – bestenfalls.

Drastischer Personalabbau inklusiveStandortschließungen ist für die kom-menden Jahre nicht ausgeschlossen.Denn in Ostasien und Amerika werdenneue Kapazitäten geschaffen, die ei-gentlich kein Mensch braucht. Schonjetzt gibt es weltweit Überkapazitätenvon schätzungsweise 30 Prozent. Mitder Abschwächung des Wachstums inChina, dem Abbremsen der Konjunkturin Brasilien und anderen sogenannten

Nichts ist in ButterDas „immer schneller, immer mehr“ bei Daimlerund anderswo bietet uns keine Perspektiven.Grundlegende Alternativen sind gefragt.

DAIMLER WELT WELTAUTO –

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 2

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Lunapark21·extra 10/2015

VORWORT

Schwellenländern sowie der fortge-setzten Krise in Europa könnte sichdieses Problem bald deutlich verschär-fen.

Hinzu kommt: Auf Umweltzerstö-rung, Klimawandel und kollabierendeMega-Cities hat die Autoindustrie kei-ne Antwort. Elektro-, Hybrid- oderWasserstoffantriebe lösen die Proble-me nicht. Es sind Versuche, das Systemdes Individualverkehrs zu retten – unddamit die Profitquellen von Daimler,BMW, VW und Co. Für die Menschenist die Beibehaltung dieses Modells,inklusive der stattfindenden Massen-motorisierung Indiens und Chinas, hin-gegen ein Alptraum.

All das macht klar: Wir brauchen

grundlegende Alternativen. Die Debat-te darüber wollen wir mit der vorlie-genden Broschüre voranbringen. Wir,das sind die Daimler-Koordination unddas internationale gewerkschaftlicheBasisnetzwerk TIE.

Seit Anfang der 1980er-Jahre tref-fen sich regelmäßig kritische Gewerk-schafter, Betriebsräte und Beschäftigtedes Daimler-Konzerns, um Informatio-nen auszutauschen, Positionen zu er-arbeiten und gemeinsam aktiv zu wer-den. Die Daimler-Koordination ver-steht sich als Arbeitsforum linker, de-mokratischer Betriebsgruppen undEinzelpersonen aus den Werken und

der Zentrale. Die vorherrschende Kon-zessions- und Standortpolitik lehnenwir ab. Unsere Alternative heißt: Soli-darität. Zwischen den deutschen Wer-ken und international. Wir arbeitenzusammen mit Kollegen in Brasilien,Indien, Südafrika und anderen Län-dern. Und wir suchen Alternativenzum umwelt- und menschenzerstören-den Gesellschaftsmodell. Das heißtauch: Alternativen zum motorisiertenIndividualverkehr. In dieser Debattewaren wir schon mal weiter. Vor einemVierteljahrhundert schrieb der IG-Metall-Vorstand: „Wenn die Beschäf-tigung in der Automobil- und Zulie-ferindustrie aus umwelt- oder ver-kehrspolitischen Gründen nicht weiter

ausgedehnt, sondern nur stabilisiertwerden kann oder im Trend zurück-geht, dann muss über neue Beschäfti-gungsperspektiven nachgedacht wer-den.“ Das gilt heute noch mehr alsdamals. Der Umbau der Autobranche –orientiert an gesellschaftlichen undökologischen Bedürfnissen bei Absi-cherung der Lohn- und Lebensbedin-gungen der Beschäftigten – ist nötigerdenn je. Dazu gehört auch eine radika-le Verkürzung der Arbeitszeiten beivollem Lohn- und Personalausgleich.

Wer etwas ändern will, musszunächst das Bestehende analysieren.Das tun wir in dieser Broschüre mit

Beiträgen verschiedener Autoren, diesich unter anderem mit den ökonomi-schen Perspektiven der Branche, derExpansion nach China und Indien, demNiedergang der US-amerikanischenAutoindustrie, der Ausbreitung prekä-rer Arbeitsverhältnisse und den Erfah-rungen linker Betriebsgruppenbeschäftigen.

Die Idee zur Broschüre entstand beieinem Treffen der Daimler-Koordinati-on im Frühjahr 2013, zu dem wir denÖkonomen und Publizisten WinfriedWolf als Referenten eingeladen hatten.Nach einem spannenden Vortrag undeiner angeregten Diskussion hatten wirdas Bedürfnis, es bei diesem Austauschnicht bewenden zu lassen. Gemeinsam

haben wir daher die vorliegende Bro-schüre erarbeitet. Ohne die inhaltli-chen Beiträge von Winfried Wolf wäredas nicht möglich gewesen. UnserDank gilt auch unserem Layouter Joa-chim Römer und der Redaktion vonLunapark21, die mit den Extra-Hefteneine Plattform für Initiativen wie dieunsere bietet. Wir hoffen, dass dieBroschüre zur Diskussion anregt – undzum gemeinsamen Handeln.

Daimler-Koordination und TIE Global,im Januar 2015

Fotos, v.l.n.r.: Joachim Römer (1. & 5.); Winfried Junker-Schönfelder (2.); Rainer Krämer (3.); Holger Deilke (4.)

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 3

Es war Mitte Januar 2015 als derDaimler-Chef Dietmar Zetscheganz Amerika zum S-Klasse-Landerklärte. „In Amerika ist ja ohne-hin alles größer, ob es jetzt Steakssind oder Grundstücke […] Wennsich hier die Leute leisten können,größere Autos zu kaufen, danntun sie es auch.“1

Sie tun es. Sie kaufen wieder Autos. Siekaufen vor allem große Autos: SUVs.Pick-ups. Sportwagen. Spritfresser. So-gar der Fiat Cinquecento kommt als SUVheraus, als „500X“, für den auch promptim US-Fernsehen und per Videoclip„blue pill“ mit einer Viagra-Pille gewor-ben wird.

Und sie tun es weltweit. Anfang 2015sieht es so aus, als habe es nie eine Kri-se der Autobranche gegeben. In diesemJahr 2015 könnte die weltweite Auto-produktion auf 95 Millionen Kfz klettern– 50 Prozent mehr als vor fünf Jahrenoder 30 Prozent mehr als beim voraus-gegangenen Rekordniveau im Jahr 2007.

Der neue Boom wird durch zwei Fak-toren gespeist. Erstens durch das an-

haltende Wachstum im neuen Maschi-nenraum des Weltkapitalismus, in derVR China, und der beschleunigten Auto-motorisierung, die in diesem Land mitseinen 1,2 Milliarden Menschen statt-findet. Zweitens durch den dramati-schen Verfall des Ölpreises und damitdurch die Senkung der Kosten für eineTankfüllung mit Benzin- oder Diesel-Kraftstoff.

Wieder einmal ist das Gerede von den„grünen Alternativen“ und von „nach-haltiger Mobilität“, mit denen wir einigeJahre lang abgefüttert wurden, verges-sen. Vergessen sind Schlagzeilen wie diefolgende, die nicht einmal ein Jahr altist: „Luftverschmutzung: FrankreichsRegierung verhängt ein Fahrverbot fürParis. Europa befürchtet ein neuesSmog-Zeitalter – Experten sprechen von30000 Toten.“2

Auf der Automesse in Detroit im Ja-nuar 2015 – wie kurz zuvor auf derElektronikmesse CES in Las Vegas, dieebenfalls im Januar stattfand, und wiein Ansätzen auch bereits auf dem „Au-tosalon in Paris“ im Oktober 2014 – prä-

sentierte sich die Autoindustrie wie inden 1960er und 1970er Jahren: alskraftstrotzende Macho-Branche. Ineinem Bericht der Frankfurter Allgemei-nen Zeitung heißt es hierzu: „Als dieShow in Detroit begann, fühlte man sichauf einmal um Jahre zurückversetzt.Denn bei den Neuheiten, die auf dieBühne kamen, drehte sich wirklich allesum Leistung und dröhnende Motoren.Die Palette reicht vom übergroßen Pick-up bis zum Supersportwagen.“

Die internationale Autoindustrie hat-te bereits 1974/75 und 1980-82 zweischwere Strukturkrisen erlebt. BeideMale war ihnen ein Ölpreisanstieg vor-ausgegangen. 2008/2009 erschütterteeine dritte, schwere Branchenkrise die-sen weltweit wichtigsten Industrie-zweig. Auch dieses Mal hatte es im Vor-feld ein Rekordhoch beim Ölpreis gege-ben; 148 US-Dollar je Barrel Rohöl wa-ren da zu zahlen. In dieser jüngsten Kri-se war die weltweite Kraftfahrzeugpro-duktion so stark wie nie zuvor eingebro-chen – von 73,1 Millionen im Jahr 2007auf 56,3 Millionen oder um fast 17 Mil-

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Lunapark21·extra 10/2015

DAIMLER WELT WELTAUTO –

Boom und ZerstörungDie weltweite Autobranche Anfang 2015

Winfried Wolf

SüdkoreaBrasilienIndienChinaJapandabei BRDEuropa*USAgesamte ProduktionJahre

1999 56259 39759 1302523,1%

1883133,5%

568710,1%

989617,6%

18293,3%

8181,5%

13502,4%

28435,1%

2000 58374 41216 1280021,9%

1897732,5%

5526 /9,5%

1014117,4%

20693,5%

8011,4%

16812,8%

31155,3%

2001 56305 39826 1142520,3%

1722730,6%

569210,1%

977717,4%

23344,1%

13302,4%

18173,2%

29465,2%

2007 73153 53049 1078014,7%

1972427,0%

62138,5%

1159615,6%

886212,1%

23063,2%

29774,1%

40865,6%

2008 70526 52840 870512,3%

1843026,1%

60408,6%

1156316,4%

943513,4%

23143,3%

32204,6%

38065,4%

2009 56305 39826 570910,1%

1722730,6%

52099,3%

977717,4%

1379124,5%

13302,4%

31825,7%

35126,2%

2010 77583 58239 77439,9%

1707822,0%

59057,6%

962812,4%

18264 35574,6%

33814,4%

42715,5%

2013 87354 65462 1106612,7%

1624618,6%

57186,6%

963011,0%

2211625,3%

38804,4%

37124,3%

45215,2%

2014 89500** 68000* 11700**13,0%

16500**18,4%

58206,5%

24500**27,4%

31503,5%

3300**

Tsd Kfz Tsd Pkw jeweils Tsd Kfz und Anteil in Prozent

Quelle: OICA - Organisation Internationale des Constructeur d´Automobiles, Paris, 2008 und 2014. * Europa ohne Russland und ohne die Türkei· * vorläufig bzw. geschätzt.

Tabelle 1: Globale Pkw- und Kfz-Produktion und die Kfz-Fertigung in einzelnen ausgewählten Regionen 1999-2011

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 4

lionen Einheiten. Und dies, obgleich inChina die Autoproduktion weiter gestei-gert wurde. Dieser Einbruch war bislangeinmalig – und entsprechend einmaligwaren die Krokodiltränen der Daimler-,VW- und Fiat-Chrysler-Bosse DietmarZetsche, Ferdinand Piech und SergioMacchionne, die dem Publikum gut dreiJahre lang erklärten, die Autoindustriewerde in Zukunft grün, sparsam undnachhaltig werden. Interessant ist beieinem Vergleich der drei Krisen, dass inallen drei Fällen dasselbe Wundermittel-chen gereicht wurde und es hieß, jetztwerde man auf Elektro-Pkw umsteigenund massiv in diese Alternative investie-ren.

Und was hat sich geändert? Warumgibt sich die Autobranche wieder exaktso, wie sie immer war und ist, als PS-Maschine, die sich ohne Rücksicht aufStadt, Land und Mensch in immer grö-ßerem und gewalttätigerem Umfangausbreitet? Richtig – es änderte sichgenau das, was sich auch am Ende dervorausgegangenen Branchenkrisen 1975und 1982 änderte: Der zunächst relativhohe Ölpreis sank und sank. Und er sinktund sinkt. Ende Januar 2015 ist er beiweniger als 45 US-Dollar je Fass ange-langt. Dieser Preis entspricht einemDrittel des Rekordpreises vor der letztenKrise.

Mit solchen drastischen Rückgängendes Ölpreises konnten bislang alle dreiKrisen beendet und in jeweils einenneuen Boom überführt werden. Unddamit konnte bislang immer wieder dieweiterhin berechtigte Kritik von Um-weltverbänden weggefegt werden.

Damit erleben wir einen dreimalig-einmaligen Prozess des Wiederaufstiegsder weltweiten Autoindustrie. „Totge-sagte leben länger“ könnte man sarka-stisch sagen. Sie leben nicht nur länger;sie nehmen mit jeder unerwartetenWiederauferstehung auch eine unerwar-tet vergrößerte Gestalt an. Mitte der1970er Jahre lag das weltweite Produk-tionsniveau bei gut 30 Millionen Pkw. Eskam zum Einbruch in der Krise mit ei-nem Produktionsrückgang von 12 Pro-zent oder 4,5 Millionen Pkw weniger.Dann der Ölpreisrückgang. Ein neuerBoom. Und 1980 war der neue Weltre-kord mit 40 Millionen Pkw erreicht.1980-1982 kam es zum nächsten Ein-

bruch; erneut um 12 Prozent und nun-mehr um minus 5 Millionen Pkw. Nunbegann der achtjährige irakisch-irani-sche Krieg, in dessen Verlauf diese bei-den Ölförderländer zur Finanzierung desKriegs Öl zu Dumpingpreisen auf denMarkt warfen. Der Ölpreis fiel auf einNiveau, das demjenigen aus der zweitenHälfte der 1970er Jahre entsprach. DieAutoproduktion boomte – erreichte1990 mit fast 50 Millionen Pkw welt-weit ein neues Rekordniveau. Die Krisen1991-93 und 2000/2001 fielen dannweniger gravierend aus. Doch der Ein-bruch, zu dem es 2008 bis 2009 kamund bei dem die Autofertigung voneinem Niveau von 70 Millionen auf 56Millionen abstürzte, erschien dann sogravierend, dass eine schnelle Erholungausgeschlossen erschien. Doch es kamerneut zu einem erheblichen Rückgangdes Ölpreises von 150 auf gut 100 US-Dollar je Barrel. Die Autoproduktionerholte sich. 2010 wurde das alte Pro-duktionshoch aus der Zeit vor der Kriseerstmals wieder überschritten. AbHerbst 2014 fiel der Ölpreis dann noch-mals und nunmehr drastisch auf weni-ger als 45 US-Dollar. Auf diese Weisedürfte es im Jahr 2015 mit 70 MillionenEinheiten einen neuen Weltrekord beider Pkw-Fertigung geben.3

Doch so erstaunlich und beeindruk-kend die jüngste Erholung ist, so kam esin den vergangenen Jahren doch zu dra-matischen Veränderungen in der Struk-tur der internationalen Autoindustrie.Tabelle 1 liefert die entsprechendenFakten.

Bis zur letzten Krise 2007/2008 wur-den knapp 60 Prozent aller Kraftfahr-zeuge, die weltweit hergestellt wurden,in Europa, in den USA und in Japan ge-fertigt. Einschließlich der südkoreani-schen Autoindustrie waren es sogarknapp zwei Drittel. Inzwischen entfallennur noch 42 Prozent der Weltautoferti-gung auf die USA, Europa und Japan;einschließlich Südkorea sind es 47 Pro-zent.

Stattdessen rückte China zum Landmit der größten Autoindustrie auf. EinViertel der weltweiten Autofertigungfindet inzwischen in China statt; zu-sammen mit Indien sind es 30 Prozent.Zum Vergleich: Im Jahr 2000 machte dieAutofertigung in China nur 3,5 Prozent

aus; zusammen mit Indien waren esknapp 5 Prozent. Einen vergleichbarenAufstieg einer regionalen Branche – dieVerachtfachung des Weltmarktanteilsim Zeitraum von einem Dutzend Jahren– dürfte es in der Geschichte des Kapi-talismus noch nie gegeben haben. Unddieser Trend wird sich fortsetzen. 2015dürften in China mehr Kraftfahrzeugeals in den USA und Europa zusammenhergestellt werden. Das Bild ist dadurchgeschönt, dass es aktuell in den USAden beschriebenen Autoboom gibt.Immerhin wurden 2014 in den USA wie-der doppelt so viele Autos produziertwie 2010. Geradezu desaströs sieht eshingegen in fast allen klassischen euro-päischen Autoherstellerländern aus. Sie-he Tabelle 2. In Großbritannien und inSpanien liegt die Autofertigung heuteum 20 Prozent unter dem Niveau von1999; der Weltmarktanteil der Kfz Madein UK bzw. Made in Spain hat sich von3,5 auf 1,8 Prozent bzw. von 5,1 auf 2,5Prozent halbiert. In Frankreich gab es imgleichen Zeitraum sogar eine knappeHalbierung der absoluten Zahl herge-stellter Kfz – von 3,2 Millionen im Jahr1999 auf 1,7 Millionen 2013. Der Welt-marktanteil sank von 5,6 auf 1,9 Pro-zent oder auf ein Drittel.

Geradezu dramatisch ist die Lage inItalien – und Fiat-Boss Marchionne wirdauch nicht müde zu erklären, dass Ita-lien als Autoland abgedankt habe. DasLand mit so berühmten Automarken wieFiat, Alfa, Lancia, Ferrari und Massaratierlebte einen Einbruch der Autoferti-gung von 1,7 Millionen im Jahr 1999auf nur noch 658000 im Jahr 2013. Da-mit sank der Anteil Italiens an der Welt-autofertigung von 3 Prozent auf 0,8Prozent. Deutschland und die Tschechi-sche Republik sind die einzigen europäi-schen Länder, in denen im genanntenZeitraum das Niveau der Autoprodukti-on weitgehend erhalten blieb.

Auch wenn diese Veränderungen inder Struktur der weltweiten Autoindu-strie nicht identisch sind mit Verände-rungen bei der Konzernmacht – woraufwir gleich zu sprechen kommen – sosind diese Veränderungen doch ent-scheidend hinsichtlich der Debatte überdie Arbeitsplätze in der Autoindustrie.Jahrzehntelang wurde der Verweis aufdie Jobs in der Autoindustrie in erpres-

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Lunapark21·extra 10/2015

BOOM & ZERSTÖRUNG

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serischer Weise gegen diejenigen vorge-bracht, die auf das zerstörerische Poten-tial des Autoverkehr verwiesen. Inzwi-schen stellt sich die Situation zumindestin Europa – tendenziell aber auch inNordamerika und in Japan – einigerma-ßen anders dar. Die Autoarbeitsplätzewurden massiv abgebaut.

Auch weltweit ist die Debatte überdie Arbeitsplätze in der Autoindustrieirreführend. Trotz des gewaltig ange-stiegenen Volumens der Weltautopro-duktion blieb die Zahl aller Arbeitsplätzein der Weltbranche über mehr als 70Jahre weitgehend unverändert. In die-sem strategisch wichtigsten Wirt-schaftszweig arbeiten derzeit knappzehn Millionen Menschen4. Allerdingsgibt es erhebliche Verschiebungen dieserAutoarbeitsplätze weg aus Europa undNordamerika und hin nach China, Indienund zeitweilig auch nach Brasilien. DerGrund für diese weitgehend gleichblei-bend große Job-Zahl trotz gestiegenemOutput liegt Allgemein in den Produkti-vitätsfortschritten und im Besonderendarin, dass die Autoproduktion sich inidealer Weise für halbautomatisierteProduktionsprozesse und für den mas-senhaften Einsatz von Industrieroboterneignet.

Untersucht man schließlich dieMacht der Autokonzerne, so ergibt diesein völlig anderes Bild. Tabelle 3 nenntfür die Jahre 2005, 2009 und 2013 die20 größten Autoproduzenten. Dabeisind die verschiedenen Automarken be-reits den jeweiligen Konzernen zugeord-net; diese werden nicht getrennt aufge-führt.5

Untersucht man die Ergebnisse in der

Tabelle, dann stellt man hier – imGegensatz zur Struktur der Autoproduk-tion – eine überraschende Stabilitätfest. Zunächst ist bemerkenswert, dassdie 20 größten Autokonzerne der Weltmehr als 90 Prozent aller Autos, dieweltweit von den Bändern rollen, her-stellen. Das erste Dutzend vereint sogar80 Prozent der Weltautoproduktion aufsich. Das war so in den 1980er Jahren.Das war so 2005. Und das ist auch heu-te exakt so. Die Kapitalkonzentration istunverändert und sie ist sehr groß – trotzdes Aufstiegs von China. Das hängt na-türlich damit zusammen, dass die chine-sische Autoproduktion zu mehr als derHälfte von den großen westlichen Auto-konzernen bestimmt wird.

Sodann fällt auf, dass bisher dieWeltautoproduktion von den traditio-nellen westlichen Herstellern dominiertwird. Unter den zwölf größten Autoher-stellern gab es 2013 elf „westliche“ undmit SAIC einen chinesischen Hersteller.Wobei SAIC gerade erst Rang 12 erober-te. Bei den übrigen elf führenden Auto-konzerne handelt es sich um die übli-chen Verdächtigen: Es sind mit Toyota,GM, VW, Hyundai, Ford, Renault-Nissan,Fiat-Chrysler, Honda, Suzuki, PSA undBMW klassische westliche Autoherstel-ler. 2005 gab es unter den zwanziggrößten Hersteller 14 traditionelle west-liche Produzenten und sechs chinesi-sche. Das war 2013 exakt so.

Zetsche verglich im Januar 2015 aufder Automesse in Detroit „seinen“Daimler-Konzern „mit dem Geist derApple Stores“. Der Konzern wolle, soZetsche, „in Zukunft vor allem jüngereKunden“ ansprechen. Es gehe um „die

Generation Y“, um jene Leute, die umdie 30 Jahre alt und gut ausgebildetsind, und die „im Beruf Fuß gefasst“ ha-ben.

Zetsche spricht hier in zweifacherWeise ein ernstes Problem an, mit demsich die Weltautobranche konfrontiertsieht: Erstens das Problem, dass Daim-ler-Pkw im Preis so hoch liegen, dass sieeigentlich ein eher älteres Publikum,Leute mit ausreichend hohen Einkom-men und Vermögen, ansprechen. Zwei-tens das Problem, dass es seit rund 15Jahren bei den jungen Menschen inNordamerika, Japan und Europa eineninteressanten „Trend weg vom Status-symbol Auto“ gibt (siehe den Artikel ausS. 38ff zur „Autogesellschaft“).

Dass Zetsche seine optimistischenSätze über die Zukunft der Autoindu-strie im Allgemeinen und über diejenigevon Daimler im Besonderen ausgerech-net in Detroit anlässlich der diesjährigenAutomesse äußerte, ist im Grund ge-nommen makaber. Der neue Boom beiden traditionellen US-AutoherstellernGM, Ford und Chrysler, die ihre Firmen-zentralen formal noch in Detroit oder imnahegelegenen Dearborn haben, iststrikt getrennt vom Niedergang derStadt Detroit und der Region Detroit/Dearborn.

Zur gleichen Zeit, wie die Meldungenvom neuen Autoboom anlässlich der2015er Automesse in Detroit durch dieWelt gingen, wurde im Kleingedruckteneiniger Medien darüber berichtet, dassdie Stadt Detroit inzwischen ihre Kunst-schätze – darunter Gemälde von PabloPicasso – verkaufen muss, damit bei derStraßenbeleuchtung wenigstens jede

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Lunapark21·extra 10/2015

DAIMLER WELT WELTAUTO –

1999

Land/Region Tsd. Kfz Anteil in % Tsd. Kfz Anteil in % Tsd. Kfz Anteil in %

Deutschland 5687 10,1% 6213 8,5% 5718 6,6%

Frankreich 3180 5,6% 3015 4,2% 1740 1,9%

Italien 1701 3,0% 1284 1,6% 658 0,8%

Spanien 2853 5,1% 2890 4,0% 2163 2,5%

Großbritannien 1974 3,5% 1750 2,4% 1597 1,8%

Tschechische Republik 376 0,7% 937 1,3% 1133 1,3%

Europa 18835 33,5% 19724 27,0% 16246 18,6%

Welt 56259 100% 73153 100% 87354 100%

2007 2013

Tabelle 2: Autoproduktion in Europa 1999, 2007 und 2013Zahl der produzierten Kfz und Weltmarktanteile des jeweiligen Autolandes

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 6

zweite Laterne wieder mit Strom ver-sorgt wird. Wir erinnern auch daran,dass am 5. Dezember 2014 in Bochumdas Traditionswerk der GM-Tochter Opelendgültig geschlossen wurde. Damitwurde in Deutschland eine große Stadt,die mehr als ein halbes Jahrhundertlang auf das Auto gesetzt hatte und inder 52 Jahre lang Opel-Autos vom Bandrollten, in eine tiefe Strukturkrise ge-stürzt. Es handelt sich in Detroit undBochum um Entwicklungen, die nochvielen Standorten der Weltautoindustriebevorstehen. Glanz und Elend liegen inder Autobranche in direkter Nachbar-schaft.

Winfried Wolf ist Chefredakteur von Luna-park21. Er verfasste mehrere Bücher zur Au-toindustrie (Kein Gas, kein Spaß!, Auto-Krieg– Konzerne rüsten für die Zukunft) und zurVerkehrspolitik. Jüngst erschien: BernhardKnierim / Winfried Wolf, Bitte umsteigen! 20Jahre Bahnreform, Stuttgart 2014 (VerlagSchmetterling).

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Lunapark21·extra 10/2015

BOOM & ZERSTÖRUNG

2005 2009 2013

Rang 2013 Autohersteller – in KlammernRang 2005

Kfz-Prod. welt-weit in Tsd.

Anteil an Welt-produktion in %

Kfz-Prod. welt-weit in Tsd.

Kfz-Prod. welt-weit in Tsd.

Anteil an Welt-produktion in %

1 Toyota (J) (2) 7338 11,0% 7234 10324 11,9%

2 General Motors (US) (1) 9097 13,7% 6495 9629 11,1%

3 Volkswagen (D) (5) 5211 7,8% 6067 9379 10,8%

4 Renault-Nissan (F) (4) 6111 9,2% 5041 7655 8,8%

5 Hyundai (J) (9) 3091 4,7% 4645 7233 8,3%

6 Ford (US) (3) 6497 9,8% 4685 6077 7,0%

7 Fiat (I) (10)* 2037 3,1% 2460 4682 5,4%

8 Honda (J) (7) 3436 5,2% 3012 4298 4,9%

9 Suzuki-Maruti (J) (11) 2071 3,1% 2387 2842 3,3%

10 PSA (F) (8) 3375 5,1% 3042 2833 3,3%

11 BMW (D) 1323 2,0% 1258 2006 2,3%

12 SAIC (China) 518 0,8% 348 1992 2,3%

13 Daimler (D) (6) ** 4815 7,2% 1447 1781 2,1%

14 Mazda (J) 1287 1,9% 984 1264 1,5%

15 Dongfeng (China) 593 0,9% 663 1239 1,4%

16 Mitsubishi (J) (12) 1331 2,0% 802 1230 1,4%

17 Changan (China) 422 0,6% 1452 1110 1,3%

18 Tata (Indien) 419 0,6% 672 1062 1,2%

19 Geely (China)*** 149 0,2% 330 969 1,1%

20 BAIC (China) 559 0,8% 684 918 1,1%

* Fiat ab 2013 einschl. Chrysler · ** Daimler 2005 einschl. Chrysler · *** Geely ab 2013 einschl. Volvo

Tabelle 3: Die 20 weltweit größten Autohersteller 2005, 2009 und 2013

Quellen:Alle Angaben in den Tabellen nach: OICA - Organisation Internationale des Constructeurd´Automobiles, Paris, 1999-2015 (jeweilige Jahres-Statistiken).Anmerkungen:1 Nach: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 14. Januar 2015.2 Handelsblatt vom 18. März 2014.3 Es geht hier wohlgemerkt um die Zahlen der weltweit gefertigten Pkw (in der Tabelle 1 die

dritte Spalte), und nicht um die Kraftfahrzeuge (Kfz), also die Summe von Pkw undNutzfahrzeugen (vor allem Lkw und Busse). Zweiräder (Mopeds, Motorräder) tauchen in derRegel in den internationalen Kfz-Statistiken nicht mehr oder nur am Rande auf. In Ländernder Dritten Welt, auch in der VR China und in Indien, spielen sie allerdings noch eine erheb-liche Rolle.

4 Ich schreibe „strategisch wichtigstem Wirtschaftszweig“, weil es durchaus andereIndustriezweige im Weltkapitalismus gibt, in denen mehr Menschen Beschäftigung finden,die jedoch nicht die strategische Bedeutung haben, die der Autoindustrie in ökonomischer,politischer und massenpsychologischer Hinsicht zukommt. So arbeiten beispielsweise in der(weltweiten) Bauindustrie oder auch im Maschinenbau deutlich mehr Menschen. Auchbeschäftigt die Landwirtschaft ein Vielfaches.

5 Um einige wichtige Markenzugehörigkeiten zu nennen: VW als Konzern meint heute alsou.a. Kraftfahrzeuge der Marken Volkswagen, Audi, Porsche, Phaeton, Seat, Skoda,Lamborghini, Scania, MAN und Bugatti. Fiat schließt Lancia, Alfa, Chrysler und Jeep mit ein.Zu Hyundai gehört auch Kia. Zu GM zählen Daewoo, Chevrolet, Opel, Holden, Vauxhall. Eherüberschaubar ist dann BMW, wozu noch Mini und Rolls Royce zählen. Suzuki wiederumkontrolliert den indischen Hersteller Maruti. Im Besitz des indischen Autokonzerns Tatabefinden sich Land Rover und Jaguar. Daimler hat in seinem Imperium u.a. Smart undFreightliner. Renault kontrolliert Nissan und Dacia. Geely ist Eigentümer von Volvo. Usw. usf.

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 7

Hat sich die Situation im Betrieb inden letzten 30 Jahren spürbar verän-dert?Und ob. In mancherlei Hinsicht ist diebetriebliche Lage kaum wiederzuerken-nen. In den achtziger Jahren wurdesicher auch keine ruhige Kugel gescho-ben. Schließlich waren es damals eben-falls die Kolleginnen und Kollegen, dieden ganzen Reichtum für Daimler ge-schaffen haben. Aber: Die Älteren vonuns können sich an Zeiten erinnern, woes nach getaner Arbeit noch möglichwar, vor Feierabend einen Kaffee zu-sammen zu trinken und eine halbeStunde über Persönliches zu reden. Oderüber die anstehende Tarifrunde, über die35-Stunde-Woche und und und.

In den Neunzigern hat der Druckdann enorm zugenommen. Im Werk Sin-delfingen fing es zum Beispiel mit demAuslaufen von W124 und W201 an undsteigerte sich mit jedem neuen Modell.Und heute wird so ein Stress gemacht,dass einige sogar während einer Be-triebsversammlung oder in den Pausendurcharbeiten. Apropos: BMW will jagerade die bezahlten Pausen reduzieren.Das kann uns auch noch blühen.

Welche Folgen haben die verändertenArbeitsbedingungen für die Betriebs-ratstätigkeit?Wir sind ja noch nicht so lange „im Ge-schäft“. Bei der „Daimler-Koordination“haben wir aber von älteren Betriebsrats-Kollegen gehört, dass auch hier vergli-chen mit den achtziger Jahren heute einUnterschied wie Tag und Nachtherrscht. Die Schwächung der Beschäf-tigtenvertretungen und das Ausmaß derFlexibilisierung haben dafür gesorgt,dass man sich heute als Betriebsrat umDinge kümmern muss, die früher selbst-verständlich waren. Unsere Aufgabenhaben heute viel mehr mit Sozialarbeit

zu tun. Man muss sich sehr konkret umdie individuellen Probleme der einzelnenKollegen kümmern. Und man muss beiAngelegenheiten hinterher sein wie, obzum Beispiel auf den Toiletten in allenBereichen Seifen und Handtücher sind,ob Schichtpläne und Vereinbarungeneingehalten werden, ob alle über ihreRechte im Bilde sind.

Führt das nicht dazu, sich bei der Be-triebsratsarbeit im Klein-Klein zu ver-lieren und den Wald vor lauter Bäu-men nicht mehr zu sehen?Die Gefahr besteht absolut. Umso wich-tiger ist es, sich immer vor Augen zuhalten, was die Hauptziele sind, die manverfolgt.

Was ist für Euch zentral? Wie seid ihrBetriebsräte geworden?Wir sind zu der BR-Arbeit gekommen,nachdem bei uns im Werk das neue Ent-geltrahmenabkommen (ERA) eingeführtwurde. Und weil die Mehrheit in unse-rem Werk zu allem, was von oben kam,„Ja und Amen“ sagte. Wenn der Arbeit-geber uns auf die linke Wange schlug,wurde bereitwillig auch noch die rechteWange hingehalten. Einige in der Beleg-schaft waren damit unzufrieden. So ist2007/2008 die Zeitung „Alternative“gegründet worden und um sie herumunsere Gruppe entstanden.

Weil die Differenzen so weit gingenund gerade vor der letzten BR-Wahlauch keinerlei Bereitschaft existierte,mit uns über eine mögliche gemeinsameListe und Persönlichkeitswahlen zu re-den, mussten wir 2010 und 2014 eigen-ständig kandidieren – und gleichzeitigdarum kämpfen, trotzdem IG-Metall-Mitglieder zu sein.

Lässt sich gegen Rationalisierungenund Arbeitshetze überhaupt etwas

unternehmen?In der In dem Branchen-Wirtschaftsma-gazin „Automobil-Produktion“ vom 20.Januar 2013 wird Zetsche mit den Wor-ten zitiert: „Seit ich wieder für Merce-des verantwortlich bin, wurde die Bau-zeit von 60 auf 40 Stunden pro Modellreduziert.“ Das zeigt erst Mal, dass dieRationalisierungspolitik weiter vorange-trieben wird.

Was man tun kann? Höhere Taktefordern. Bei besonderen Vorkommnissenkann man den Kollegen vorschlagen, so-fort den Betriebsrat aufzusuchen. Wenndas Dutzende gleichzeitig machen, dannbekommt die Werksleitung ein Problem.Darüber hinaus muss man auf das Mit-bestimmungsrecht pochen – beispiels-weise bei der Umgestaltung von Ar-beitsplätzen. So können kürzere Takteverhindert werden.

Was war in all den Jahren noch einwichtiges Thema?Die Zukunft unseres Werkes. In Stutt-garter Daimler-Werken erhält man ei-nen Nachtschicht-Zuschlag von 30 Pro-zent. Bei uns nur von 15 Prozent. Daswar vor einigen Jahren ein Zugeständniszum Berliner Tarifvertrag. Wir sagen da-gegen: Verzicht rettet keine Arbeitsplät-ze. Die Opelaner in Bochum können einLied davon singen.

Wir fordern stattdessen die Möglich-keit zur Einsichtnahme in die Pläne desVorstands. Und Ersatz für das Auslauf-modell OM 642*. Die Motorenprodukti-on ist unser Herzstück. Wenn bei unsnur noch Komponenten hergestellt wer-den sollten und keine Kernproduktemehr, könnte bei uns sehr schnell dasLicht ausgeknipst werden.

Hätte der Betriebsrat hier Gelegenhei-ten, Druck zu machen?Könnte, hätte, würde … Wenn es soweit

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Lunapark21·extra 10/2015

DAIMLER WELT WELTAUTO –

„... darauf achten, sich nichtim Klein-Klein zu verlieren!“Was Betriebsräte tun können. Die „Alternative“-Betriebsräte bei Daimler Berlin-MarienfeldeWaldemar Derda, Matthias Bender und LutzBerger beziehen Stellung

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 8

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Lunapark21·extra 10/2015

INTERVIEW „ALTERNATIVE“-BETRIEBSRÄTE

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kommt, durchaus. Durch außerordentli-che Betriebsversammlungen, durch um-fassende Informationen, durch die Ein-beziehung der Kollegen und lebhafteDiskussionen, zum Beispiel mit Hilfe derWiedereinführung von Saalmikrofonenbei den Belegschaftsversammlungen.Auch Betriebsversammlungen vor demWerkstor könnten Bewegung in dieSache bringen. Als Bosch-Siemens-Hausgeräte-Werke in Spandau 2006 vordem Aus stand, gab es dort sogar einemehrwöchige Betriebsversammlung, umseitens der Belegschaft eine Strategiefür Gegenwehr zu beraten.

Nötig ist aber auch immer, den Brük-kenschlag zu anderen Belegschaften zusuchen. Wir müssen alles tun, damit wirnicht gegeneinander ausgespielt wer-den. Die IG Metall sollte Absprachenorganisieren. Betriebsräte könnten aberauch einfach mal die Arbeitnehmerver-tretung in einem anderen Werk besu-chen oder jemand von denen auf eineBetriebsversammlung einladen.

Welche Themen beschäftigen Euchsonst bei der BR-Arbeit?Was seit 2007 allen ständig auf den Nä-geln brennt, ist das Entgeltrahmenab-kommen ERA. Leider ließ sich die IG-Metall-Spitze darauf ein. Wir sammel-ten damals 850 Unterschriften für eineaußerordentliche Betriebsversammlungund machten Werkstor-Aktionen. Hiermüssen wir andauernd auf der Hut sein,dass Kollegen nicht falsch eingruppiertwerden und so Lohneinbußen haben.Man muss sie bei Gesprächen mit demMeister begleiten, sie darauf vorbereitenund ihnen überhaupt den Rücken stär-ken.

Eine ähnliche Plage sind die soge-nannten Krankenrückkehrgespräche. Dasist pure Schikane. Und müsste nichtsein. Darum fordern wir bei uns, dassder Betriebsrat den Leitfaden „Anwe-senheits- und Gesprächscontrolling“endlich kündigt.

Wo sich auch was machen ließe, daswäre bei der Gesundheitspolitik.

Ist das nicht Sache der Gesetzgeber?Hier hat der Betriebsrat sehr wohl eige-ne Möglichkeiten. Im Augenblick sindwir dabei, eine BetriebsvereinbarungGesundheitsschutz zu entwerfen. Dafür

sind wir durch die Hallen gegangen, umein Gesundheitsmapping durchzuführen.Das hilft, um mit den Kollegen gemein-sam festzustellen, wo der Schuh drückt:Stimmen die Temperaturen? Ist die Luftin Ordnung? Können sich giftige Sub-stanzen bilden? Sind die Maschinen soeingerichtet, dass es zu keinen Rücken-schäden kommen kann? In welchemZustand sind die Werkzeuge?

Regelmäßige Begehungen aller Abtei-lungen zusammen mit Betriebsarzt,Fachkraft für Arbeitssicherheit, Arbeit-geber und ein bis zwei Kollegen aus denbetroffenen Bereichen sind sinnvoll.Kollegen, die Übelkeit verspüren, solltengleich angehalten werden, den Werks-arzt aufzusuchen.

Hier lassen sich auch Gefährdungsbe-urteilungen einfordern. Im Konfliktfallkann außerdem die Einigungsstelle an-gerufen werden.

Dass hier Verbesserungen erzielt wer-den, ist dringend nötig. Denn psychischeErkrankungen sind der Hauptgrund fürFrührente. Deshalb darf nicht an denSymptomen herumgedoktert werden.Nein, die Ursachen müssen angegangenwerden.

Welche Druckmittel habt ihr bei Er-pressungsversuchen der Unternehmer-seite?Transparenz gegenüber der Belegschaft!Wenn mit Arbeitsplatzabbau und ähnli-chem gedroht wird, dann darf es keineZustimmung zu Überstunden undWochenendarbeit geben. In Stuttgart-Untertürkheim konnten über 1000 Neu-einstellungen durchgesetzt werden!

Habt ihr auch bei Leiharbeit undWerkverträgen eine Handhabe?Nach den Urteilen letztes Jahr habenwir zumindest bessere Karten, auch vorGericht was zu erreichen. Darum solltenBetriebsräte in jedem Fall gegen Werk-verträge klagen, durch die aufgrund derausgeführten Tätigkeiten Arbeitsver-hältnisse direkt bei Daimler entstehen.Zudem sollten wir uns bei unserer Ar-beit, in unseren Materialien, auf Be-triebsversammlungen und so weiter hin-ter die Kollegen stellen – und zum Bei-spiel problematisieren, wenn sie bei denEssenspreisen, in den Sozialräumen oderan anderer Stelle benachteiligt werden.

Wenn ihr zusammenfasst, worauf esbei einer Betriebsratsarbeit im Sinneder Belegschaft ankommt – was wür-det ihr herausstellen?Nicht an den Kollegen vorbei, sondernnur unter Einbeziehung der Kollegenaktiv sein. Das fängt damit an, dass Hin-terzimmer-Mauscheleien Tabu sind.Vielmehr gilt es, alle Informationsrechtenach dem Betriebsverfassungsgesetz zunutzen, um die Belegschaft unverzüg-lich aufzuklären. Laut Betriebsverfas-sungsgesetz sollen auf Betriebsver-sammlungen Diskussionen stattfinden.Das muss gefördert werden. Der Werks-leiter darf nur Gast sein.

Alles, was bei der Betriebsratsarbeitpassiert, muss transparent gemachtwerden. Auch Verhandlungen mit demArbeitgeber. Die Kollegen müssen nachihrer Meinung gefragt werden.

Es darf auch keine Sonderrechte fürBetriebsräte geben. Das fängt schon imKleinen mit der Einfahrgenehmigungaufs Firmengelände an; es sei denn, siesind gehbehindert. Und es geht bei denBetriebsratsfürsten in den ganz großenUnternehmen weiter, wenn diesen, wiebei VW, irgendwelche Luxusreisen ange-boten werden.

Eines noch: Bei Protesten muss dieDevise sein, Klotzen statt Kleckern,immer die Belegschaft mobilisieren, dieÖffentlichkeit ansprechen, andere Wer-ke kontaktieren.

Die Betriebsratsarbeit ist sicher allesandere als ein Kinderspiel. Trotzdemlässt sich, wenn man diese Grundsätzebeherzigt, einiges bewirken.

Waldemar Derda, Matthias Bender undLutz Berger gehören der „Alternative“–Gruppe bei Daimler Berlin-Marienfelde anund sind gewählte Betriebsräte. Das Ge-spräch führte Aron Amm, der verantwortli-cher Redakteur der SAV-Website sozialismus. info und der Zeitung„Solidarität“ ist.

* Der OM642 ist ein Dieselmotor (OM stehtfür „Öl-Motor“), der in den Daimler-Werkenin Berlin und Untertürkheim gebaut wird.Er wird seit 2005 gefertigt und überwie-gend in Daimler-Pkw (C- und E-Klasse) undbei Daimler-Kleintransportern, aber auchbeim Chrysler300-Modell eingesetzt.

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Lunapark21·extra 10/2015

DAIMLER WELT WELTAUTO –

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 10

Am 16. Juli 2014 platzte in Esslingen dieBombe: Im Ausschuss für Technik undUmwelt der 90000-Einwohnerstadt beiStuttgart kam der Vorentwurf eines Be-bauungsplans zur Abstimmung, der denBau eines großen Logistikzentrums derFirma Daimler in einem Gewerbegebietam Rande des Stadtteils Pliensauvor-stadt vorsah: 22000 Quadratmeter, 13Meter Höhe, 24-Stundenbetrieb, mehrals 50000 Schwerlast-LKW-Bewegun-gen im Jahr. Und das, obwohl eine hier-für geeignete Verkehrsanbindung desGewerbegebietes weder besteht nochherstellbar ist. Der größte Teil des Ver-kehrs ginge durch den Stadtteil, vorbeian Schulen, Kindergärten, Jugendein-richtungen und Wohnblocks.

Hintergrund für den Plan ist, dassDaimler die gesamte Produktion umbautund überall in den Werken die Ferti-gungstiefe reduziert. Da außerdem die„just-in-time“-Versorgung durch exter-ne Zulieferer wegen der Überlastung derVerkehrswege immer schlechter funktio-niert, werden Logistikzentren als Puffervor den Toren der Werke geplant, umTeile und Vorprodukte, die von außenkommen, direkt verfügbar zu haben.

Der betroffene Stadtteil, früher mal„die Bronx von Esslingen“ genannt, mit80 Prozent sozialem Wohnungsbau, un-günstigen Sozialdaten der Bewohnerund fast 75 Prozent Migrantenanteil,hatte die letzten 10 Jahre im Rahmendes Bundesprogramms Soziale Stadt ei-ne gewisse Aufwertung durch Entwick-lung und Investitionen erfahren: einBürgerhaus, ein neues Jugendhaus, Sa-nierung von Wohnungen der alten Bau-genossenschaften, ein neues Baugebietmit Eigentumswohnungen, zum Teildurch Baugemeinschaften errichtet.

Die Empörung und Wut über die Plä-ne für das Logistikzentrum war groß.Am Tag nach der Ausschusssitzung tra-fen sich 10 Personen in einem Wohn-zimmer, um über Möglichkeiten des Wi-derstands zu beraten. Es wurde ein Auf-ruf zur Gründung einer Initiative be-schlossen und ein Flugblatt-Text für dieBürgerschaft des Stadtteils. Eine Woche

später wurdedie Initiati-ve von 30Personengegrün-det, eineweitereWochespäterführte dieStadt Esslin-gen eineöffentliche Ver-anstaltung durch zurInformation der Bewohnerdes Stadtteils, am ersten Tag der Som-merferien. Die formelle Einspruchsfristfür den Bebauungsplan sollte ebenfallsnoch während der Sommerferien enden.

Der Raum für 80 Personen reichte andiesem Abend aber nicht aus, die Veran-staltung wurde von über 200 Personenbesucht und musste nach 5 Minutenverschoben werden auf einen Terminnach den Sommerferien, ebenso wie dieEinspruchsfrist. Viertausend Flyer undPlakate an der Tür zu jedem Mehrfamili-enhaus und in jedem Geschäft im Stadt-teil hatten die Stadtteilbevölkerungmobilisiert.

In den folgenden Wochen ging esweiter mit Arbeitsgruppen, die Argu-mentationen erarbeiteten, die Parteienmit Eingaben eindeckten, eine Vernet-zung der sozialen Einrichtungen undGruppen im Stadtteil organisierten,Pressearbeit durchführten und mitTransparenten, Infoständen und Plaka-ten das Thema in den Vordergrund derÖffentlichkeit im Stadtteil rückten.

Glück für die Initiative: Es stellte sichheraus, dass viele Experten im Stadtteilvorhanden waren. Architekten, Stadt-planer, Ingenieure, ehemalige Stadträte,Grafiker, politisch erfahrene Flyer-Schreiber, ein Filmproduzent, hinge-bungsvolle Plakate- und Flugblattvertei-ler. So gelang es in wenigen Wochen so-gar während der Ferienzeit, ein für alleunerwartet wirksames Feuerwerk derArgumentation und des politischenDrucks zu produzieren. Die Parteien des

Gemeinderatswankten allesamt

schnell, schonAnfang Sep-tember erklärteder Sprecherdes Oberbür-germeisters, er

glaube nicht,dass sich eine

Mehrheit für dasLogistikzentrum her-

stellen lasse. Die Ess-linger Zeitung und die

Stuttgarter Zeitung berichtetenneutral bis kritisch über die Pläne.

Nochmal Glück für die Initiative: Esherrschte auch noch OB-Wahlkampf.Der Amtsinhaber und erneute Bewerber,der das Projekt, wie sich herausstellte,seit über einem Jahr im Hintergrund mitDaimler vorangetrieben hatte, war zwarunangefochten und hatte keine ernst-hafte Konkurrenz. Dennoch kam ihm einso breiter Widerstand unerwartet undungelegen.

Am 16. September 2014 dann, beimShowdown der nachgeholten Bürgerin-formation, saßen über 600 Menschenim Saal. Der OB gab schon in den erstenfünf Minuten der Versammlung be-kannt, dass von der Firma Daimler amselben Tag ein Brief bei der Stadt Esslin-gen eingegangen sei: Angesichts desgroßen Widerstandes im Stadtteil sehedie Firma von dem Plan für das Logistik-zentrum ab. Und auch ihm selber seijetzt aufgefallen, dass das Projekt über-dimensioniert und die Verkehrsanbin-dung nicht gelöst sei. Angesichts dessensei die Planung der Stadt obsolet undwerde auch nicht weiterverfolgt.

Anschließend legte der Leiter desStadtplanungsamtes eine neue Pla-nungsskizze vor, die eine kleinteiligeBebauung des Gewebegebietes vorsieht.Der Spuk war vorläufig vorbei.

Andreas Jacobson ist Leiter des Jugend-und Kulturzentrums Komma in Esslingen undeiner der Initiatoren der Bürgerinitiativegegen das Daimler-Logistikzentrum.

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Lunapark21·extra 10/2015

DAIMLER-SCHLAPPE

Daimler-Schlappe in EsslingenAndreas Jacobson

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 11

Der Film „Hungerlohn am Fließband“ hatdie Zustände bei Daimler über Leiharbeitund Werksvertragsbeschäftigung öffent-lich gemacht und skandalisiert. Die Un-dercover-Reportage, die im Mai 2013vom SWR ausgestrahlt wurde, hat in-tern bei Daimler für sehr viel Wirbel inallen Standorten gesorgt. Im Film wur-den Beispiele gezeigt, wie es sie an je-dem anderen Standort auch gibt. DieReportage dokumentiert, wie schlechterbezahlte Werkvertragsbeschäftigte undbesser verdienende Daimler-KollegenHand in Hand arbeiten. Das ist mit gel-

tendem Recht nicht vereinbar. Danachmuss es eine Trennung zwischen Werks-vertragsbeschäftigtem und Stammbe-legschaft geben und es dürfen keine An-weisungen von Daimler-Kollegen an dieWerkverträgler erfolgen. Dass miteinan-der gearbeitet wird und direkte Anwei-sungen gegeben werden, ist aber eherdie Regel als die Ausnahme. Und zwarnicht nur in der Produktion, sondernebenso in anderen Bereichen wie derLogistik, der Entwicklung und der Infor-mationstechnologie.

Rechtlich korrekter heißt nichtgleichzeitig auch besser für dieKollegenDas Unternehmen musste auf die Veröf-fentlichung reagieren. 2013 und 2014wurde versucht, die Schnittstellen zwi-schen der Stammbelegschaft und denWerkvertragsfirmen anders zu gestalten,so dass manches rechtlich korrekterwurde. Hinsichtlich der Interessen derKolleginnen und Kollegen im Betriebbrachte das jedoch keine Verbesserun-gen. Zum Teil wurden Anweisungen ge-geben, dass gar nicht mehr mit Werk-

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Lunapark21·extra 10/2015

DAIMLER WELT WELTAUTO –

Undercover-Reportage und prekäre BeschäftigungChrista Hourani

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LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 12

vertragsbeschäftigten kommuniziertwerden darf – auch nicht über das Wet-ter oder die Kinder. Was natürlich voll-kommener Quatsch ist, aber dazu dient,die abhängig Beschäftigten zu spalten,auseinander zu dividieren, solidarischesVerhalten zu verhindern. Mit solchenAnweisungen ändert sich nichts ameigentlichen Missstand und Unrecht,nichts an den Hungerlöhnen und derPerspektivlosigkeit der prekär Beschäf-tigten. Außerdem nimmt der Druck aufdie Arbeitsbedingungen und Löhne derStammbelegschaft durch diese Ausspie-lerei eklatant zu. Und auch sie geratenins Rutschen nach unten.

Eigenleistung vor FremdvergabeAufgrund des öffentlichen Drucks hatDaimler mittlerweile eine Vielzahl vonWerkvertragsbeschäftigungen in Arbeit-nehmerüberlassungen, also in Leihar-beitsverhältnisse umgewandelt. Teilwei-se wurden ehemaligen Werkvertrags-mitarbeitern aus Angst vor Klagen festeArbeitsverhältnisse angeboten. EtlicheKollegen haben aber auch auf eine Fest-übernahme geklagt, wie in einem weite-ren Filmbericht vom 6. Februar 2014 imDritten Programm zu sehen war. Dassdie Reportage ein gesellschaftlichesProblem zu Tage gefördert hat, das esbei Daimler, aber auch in anderen Un-ternehmen gibt, kann niemand mehr be-streiten. Das ist gut so und hat auch denBetriebsratsgremien genutzt, erste Ver-besserungen zu erreichen.

Weitere Schritte sind nötig. Zunächsteinmal müssen die Betriebsräte in vol-lem Umfang über den Einsatz von Werk-vertragsbeschäftigten informiert wer-den. Sonst haben sie keinen Überblickund können nicht adäquat handeln.Zum anderen brauchen sie ein Mitbe-stimmungsrecht darüber, ob Tätigkeiten,die der Arbeitgeber per Werkvertrag ver-geben will, nicht auch von Stammbe-schäftigten erledigt werden können. DerGrundsatz muss sein: Eigenleistung vorFremdvergabe. Um der Spaltung zwi-schen Stammbelegschaft und prekärenBeschäftigten entgegenzuwirken, brau-chen wir einen betrieblichen Mindest-lohn und betriebliche Mindeststandards,die für alle gelten, die auf dem Werks-gelände von Daimler arbeiten bezie-hungsweise ein „Gewerk“ im Auftrag

von Daimler durchführen. Die gewerk-schaftliche Organisierung der Fremdfir-men muss nachhaltig vorangetriebenwerden, was eine gute Grundlage ist,um anständige Löhne und Arbeitsver-hältnisse durchzusetzen. Ein Erfolg warzum Beispiel die gewerkschaftliche Er-schließung von Voith Industrial Service(Reinigungsfirma) sowie dort die Wahleines gewerkschaftlich orientierten Be-triebsrates (davor gab es einen „unter-nehmenshörigen“ Betriebsrat). Langfri-stig muss Werkvertragsbeschäftigungwie auch Leiharbeit verboten werden.Nach wie vor muss gelten: Ein Betrieb –eine Gewerkschaft – ein Tarifvertrag!

Sparprogramme und prekäre BeschäftigungDer Einsatz von Leiharbeitern undWerksvertragsbeschäftigten ist ein Räd-chen in der Automobilindustrie, mit demdie Kosten nach unten gedreht werdensollen. Nach Verlautbarungen von BMWund Volkswagen in Richtung neue Spar-programme sind im Juli 2014 nun auchentsprechende Pläne des Daimler-Kon-zerns öffentlich geworden. Laut einemBericht des Manager Magazins sollenbis 2020 weitere 3,5 Milliarden Euro proJahr eingespart werden. Bereits mit demaktuellen Programm „Fit for Leadership“wurden bis Ende des Jahres 2014 in derPkw-Sparte zwei Milliarden Euro ge-kürzt.

Mit wirtschaftlichen Schwierigkeitenhaben die neuen Rationalisierungspro-gramme der deutschen Autoherstellernichts zu tun. Im Gegenteil: Daimler,BMW und Volkswagen eilen von Rekordzu Rekord. So hat Daimler allein in denersten sechs Monaten 2014 783520Mercedes-Pkw verkauft, 12,8 Prozentmehr als im Vorjahreszeitraum. Auch derKonkurrent BMW peilt ein weiteres Re-kordjahr an. Im ersten Halbjahr 2014haben die Münchner ihren Absatz umfast sieben Prozent auf über eine MillionFahrzeuge gesteigert. VW ist ohnehinseit Jahren auf Wachstumskurs. 2014sollen erstmals mehr als zehn MillionenFahrzeuge vom Band laufen.

Kostensenkung und totale Flexibilitätim Interesse der Produktions- und Pro-fitmaximierung also. Den Konzernlen-kern reicht das aber nicht. Sie wollendie Umsatzrendite noch höher schrau-

ben. Jeder will die Nummer 1 der Welt-autoindustrie werden – ein Wettlauf,den nur einer gewinnen kann und beidem immer die Beschäftigten aller Kon-zerne die Verlierer sind.

Zukunftsbild Sindelfingen 2020+Zu diesem Ziel des Daimler-Vorstandespasst auch die neue Standortvereinba-rung „Zukunftsbild Sindelfingen 2020+“,die im Juli 2014 abgeschlossen wurde.Daimler-Vorstand Dieter Zetsche kom-mentiert diese folgendermaßen: „DieBetriebsvereinbarung verknüpft zu-kunftsichernde Investitionen mit ebensonotwendigen Kostenoptimierungen.“Dies geschieht unter anderem durch dieVerringerung der Fertigungstiefe. In ei-ner Halle, die durch die Verlagerung derC-Klasse frei wurde, entsteht auf demWerksgelände ein Logistikzentrum, dasvollständig von externen Firmen betrie-ben wird. Die dort bisher von Daimler-Beschäftigten betriebenen Arbeitsberei-che Montagelogistik und Vormontagewerden fremdvergeben, ebenso Teile derFertigung.

Diese neue Fabrik auf dem Sindelfin-ger Werksgelände ist eindeutig eineweitere Ausweitung der Fremdvergabeund soll etliche Millionen Einsparungenbringen. Diese Vereinbarung setzt denProzess der kleinen Erfolge, die seit derVeröffentlichung des Films „Hungerlohnam Fließband“ errungen werden konn-ten, leider nicht fort. Der öffentlicheDruck beim Thema Fremdbeschäftigung,der immer noch da ist, wurde hier nichtgenutzt, um einer Ausweitung derFremdbeschäftigung einen Riegel vorzu-schieben.

Daimler hat den SWR wegen desFilms verklagt. Doch der Gerichtsprozessbrachte die Missstände bei Daimler wie-der in die Medien. Für Daimler ist dieKlage damit ein Eigentor. Der Konzernselbst sorgt so dafür, dass Lohndumpingdurch Werkverträge weiter in deröffentlichen Debatte bleibt.

Diese Debatte und den dadurch ent-stehenden Druck müssen die Betriebsrä-te konsequent nutzen, um weitere Ver-besserungen durchzusetzen.

Christa Hourani gehört der VK-Leitung derDaimler-Zentrale an und arbeitet im Sekre-tariat der „Initiative zur Vernetzung der Ge-werkschaftslinken“ mit.

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Lunapark21·extra 10/2015

LEIHARBEIT

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 13

Gerd KupferIrgendwann hatten die Kollegen imMercedes-Werk Bremen es satt, immernur auf ihre (juristische) Machtlosigkeitbei Fremdvergaben, Leiharbeit undWerkverträgen hingewiesen zu werden.Als es Ende 2012 um die Logistik ging,wollten sie sich nicht mehr mit irgend-welchen Arbeitsgruppen der Vertrauens-körperleitung, mit Wirtschaftlichkeits-berechnungen des Betriebsrats und demSchweigen der IG Metall begnügen.

Wir, eine Gruppe aktiver Vertrauens-leute und Betriebsräte, organisiertenkurzerhand eine Unterschriftensamm-lung gegen die geplante Fremdvergabean den Toren, wohl wissend, dass wirdamit zwar nicht das Management er-schüttern, aber die Kollegen hellhörigmachen würden. Innerhalb wenigerStunden wurden fast 5000 Unterschrif-ten gesammelt. Das war Ausdruck einerklaren Erwartungshaltung der Kollegin-nen und Kollegen.

Damit im Rücken nahmen wir danndie Vertrauenskörperleitung ein Stückweit in die Pflicht. Diese kam nicht um-hin, zu einer Aktion während der Ar-beitszeit aufzurufen, die bei uns schonzu einem „Ritual“ geworden ist: Manzieht vor den „Krawattenbunker“ (Ver-

waltungsgebäude), holt den Werkleiterherunter und beklagt sich – in diesemFall über die Fremdvergabe. Und doch:Die Resonanz war groß, über 3000 stan-den einem etwas erschrockenen Werk-leiter gegenüber.

Mit ein paar jovialen Sprüchen war esdiesmal aber nicht getan. Die Spät- unddie Nachtschicht wollten ebenfalls raus.Es wurde viel über Streik diskutiert – die„Ordnungshüter“ aus den eigenen Rei-hen wussten nicht so recht, wie ihnengeschieht, konnten aber natürlich auchnicht offen gegen die Bereitschaft derKolleginnen und Kollegen anstinken. Wirnutzten die folgenden Tage schließlichfür verschiedene Aktionen: Unser Rie-sentransparent „Stoppt Fremdvergabeund Leiharbeit! Wir sind eine Beleg-schaft“ wurde nicht nur auf der Be-triebsversammlung ausgerollt, es warauch im Regionalfernsehen zu sehen –nachdem wir es aus den Hallenfensternder Lackierung gehängt und vor derKantine sowie dem Werkstor gezeigthatten. Die Beteiligung der Spätschichtwar sehr gut, die Nachtschicht gingkomplett raus.

„Das war`s jetzt aber auch“, dachteneinige in Vertrauenskörper und Betriebs-rat. Dabei ging in einigen Bereichen dieDiskussion erst richtig los: Um die Frage

eines Streiks, der nicht nur auf wenigeStunden begrenzt ist, wurde jetzt offendiskutiert. Die „Bedenkenträger“, sichihrer Verantwortung für den sogenann-ten Betriebsfrieden voll bewusst, spiel-ten auf Zeit. Die Vertreter der Kapital-seite – dumm genug – dachten, mankönne jetzt wieder zum Alltag überge-hen und starteten neue Angriffe. Alsomusste natürlich wieder zu einer weite-ren Aktion aufgerufen werden.

Bei diesem Protest (von manchen be-wusst klein gehalten), geschah dannFolgendes: Eine junge Kollegin stelltesich mit einer Zetsche-Maske auf einenStuhl (neben dem Management) undbeschimpfte die Arbeiter, dass sie rum-stehen würden anstatt zu arbeiten. Esfolgte ein weiterer Kollege, der den Ver-sammelten nur eine Frage stellte, undsie darüber abstimmen ließ: Wer dieMeinung vertritt, dass die Luft vor demTor besser ist, möge bitte den Arm he-ben. Rund 1200 Arme gingen hoch undschon zogen die Kolleginnen und Kolle-gen, angeführt von unserem Riesen-transparent, vor`s Tor, wo die Presse siebereits erwartete. Der Zug ging auf dieHauptstraße, legte auf der Kreuzungeine Erholungspause ein und zog dannzur Brücke. Fast zwei Stunden dauerteder Ausstand.

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

Gleicher Lohn für gleiche Arbeit!Leiharbeit bei Daimler Bremen

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Waldemar Derda &Aron AmmEs war einmal… Vor langer, langer Zeitbeschäftigte Daimler noch eigeneKöche, Pförtner, Klempner, Staplerfahrer,Reinigungskräfte. Und wie sieht es heu-te aus? Heute tummeln sich in Berlin-Marienfelde Aramark Catering & Ver-pflegung, WISAG Sicherheit & ServiceGmbH, Rehnus Logistics, Grohmann Lo-gistik GmbH, SQS Qualitätssicherung,Formel K GmbH, Red Ants GmbH und soweiter und so fort. – Die Folge? Lohn-dumping!

Während die Stammbelegschaft inBerlin von 3200 Beschäftigten im Jahr2007 auf heute 2600 reduziert wurde,werden inzwischen ungefähr 100 Leih-arbeiter und 200 Fremdfirmen-Beschäf-tigte eingesetzt – häufig sogar im Pro-duktionsbereich, oft auch zur Produkt-kontrolle. In der Montage in Bau 70 sindLeiharbeiter bereits seit zwei Jahren imEinsatz, ohne dass sie fest eingestelltworden wären.

Diese Kollegen werden wie Arbeit-nehmer 2. und 3. Klasse behandelt: Ab-gesehen davon, dass sie nur Dumping-löhne kassieren, stehen ihnen keineDuschen zu. Beim Weihnachtsessen inden letzten Jahren waren sie außen vor.In der Kantine bezahlen sie mehr als dieStamm- Beschäftigten.

Mehrfach kam es zu Arbeitsunfällen.Kein Wunder, wenn man nur kurz einge-wiesen wird, während andere doppelt solange und länger geschult werden.

Aktuell beabsichtigt der Konzern, dieInstandhaltungsbereiche der Power-train-Werke – sprich Untertürkheim,Hamburg und hier in Berlin – in einesogenannte Technologiefabrik Power-train zusammenzuführen. Das Ganzeriecht nach einem neuen Manöver, umeine künftige Fremdvergabe oder Aus-gründung zu vereinfachen. Mit der Logi-stik ist man auch so verfahren. Die wur-de auch von der Produktion abgetrennt.Mit dem Ergebnis, dass heute große Tei-le fremdvergeben sind.

2012 haben wir von der „Alternati-

Die Kolleginnen und Kollegen strahl-ten, zwei meinten: „Wenn das die Ge-werkschaft ist, dann treten wir wiederein. Wir sind aus Protest vor kurzemraus“. Meine Antwort: „Das ist die Ge-

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LEIHARBEIT

Lohnarbeiter 2. und 3. KlasseLeiharbeit bei Daimler Berlin

werkschaft, denn die Gewerkschaft sindwir.“ Ich weiß, das war eine gewagteAussage, denn die IG Metall hat sich mitkeinem Wort zu unserem Streik geäu-ßert. Sie hat nicht einmal das Minimum

getan und andere Betriebe, ob in Bre-men oder anderswo, informiert. Alsomussten wir es wieder selber in dieHand nehmen. Wir bekamen Solidari-tätsschreiben und sogar Einladungenaus vielen Betrieben, von BMW- undMAN-Kollegen, aus Südafrika, Ungarn,Spanien und Serbien ...

Mit unseren vier kleinen Streiks imJahr 2013 hat unsere Belegschaftschließlich eines deutlich gemacht: Wirwollen und können Leiharbeit undWerkverträge nicht durch Tarifverträge„regeln“, wir müssen sie bekämpfen -wenn nötig mit Streik. Der Kampf darumist ein Teil des Kampfes um unsere Ge-werkschaft, den wir dringend führenmüssen.

Gerhard Kupfer war bis zu seinem Eintritt inden „Unruhe-Stand“ ein langjähriges Mit-glied des Betriebsrates und Vertrauensleute-körpers bei Daimler in Bremen.

ve“-Gruppe ein Transparent hergestellt,auf dem zu lesen ist: „Keine Zwei-Klas-sen-Belegschaft: Leiharbeit stoppen,Leiharbeiter fest einstellen!“ Das Trans-parent haben wir am 1. Mai, bei einerAktion der Daimler-Koordination vor derHauptversammlung von Daimler 2013und beim Warnstreik in der Metallindu-strie eingesetzt. Überhaupt sind wir derAnsicht: Wer auf Daimler-Gelände ar-beitet, muss auch Daimler-Lohn bekom-men! Die IG Metall sollte ihre Kampagnegegen den Missbrauch von Werkverträ-gen ausweiten. Bei einer nächsten Tarif-runde könnte ein tarifvertragliches Ve-to-Recht der Betriebsräte gegen Werk-vertrags-Missbrauch gefordert werden.

Leiharbeit gehört (wie das auch bis1967 in der Bundesrepublik der Fall war)verboten. Werkvertrags-Missbrauchmuss entschlossen bekämpft werden.

Zusammenstellung durch Waldemar Derda(„Alternative"-Gruppe bei Daimler Berlin-Marienfelde) und Aron Amm (Redakteur derSAV-Website sozialismus.info und derZeitung „Solidarität“).

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Als 2012 in den Mercedes-Werken das„Strategiepapier 2020“ herauskam,glaubten viele Kollegen, das sei malwieder so ein Schnellschuss des Vor-stands. Und das Papier würde rasch wie-der in die unterste Schublade des Gift-schranks des Daimler-Vorstands ver-schwinden. Aber weit gefehlt. Im Bre-mer Werk wurde im März 2013 ver-sucht, mit einer „Ideenliste“, deren Be-standteile allesamt aus dem „Strategie-papier 2020“ stammen, die Belegschaftzu erpressen. Ende 2014 wurde demBremer Betriebsrat dann das „Zukunfts-bild Bremen 2019“ vorgestellt. In einem99-seitigen Geheimpapier stehen bis2019 mehrere hundert Arbeitsplätze vorder Fremdvergabe an Billiganbieter. Bis1. Juli 2015 werden 140 Arbeitsplätze,trotz mehrfachen spontanen Streiks von5000 Kollegen im Dezember 2014, anBilligfirmen fremdvergeben. Auch sindin diesem Papier für das Jahr 2016 we-gen einer angepeilten Stückzahl von400000 Einheiten 92 Zusatzschichtengeplant. Anfang 2015 ist die Unruhe inder Belegschaft sehr hoch, da über 750Kolleginnen und Kollegen für ihrenKampf gegen Fremdvergaben und Leih-

arbeit abgemahnt wurden. Der Kampfgegen Fremdvergaben, Leiharbeit undweitere Arbeitsbelastungen geht aber2015 weiter.

HorrorkatalogeDa mehrere neue Produkte anstehen,glaubt die Werkleitung, leichtes Spiel zuhaben. So fordern sie unter anderem > Sonderschichten an Samstagen im

Zwei-Schicht-Betrieb> die Überschreitung der Acht-Prozent-

Grenze beim Einsatz von Leiharbeitern> eine Blanko-Vollmacht für den

„tageweisen“ Einsatz von Flexi-Kräf-ten (auf deutsch: der Tagelöhnermöge kommen - das Mittelalter lässtgrüßen)

> ein „bedarfsorientiertes“ Durcharbei-ten in den Pausen

> die Einführung einer sechsten Dauer-Nachtschicht.

Vom Bremer Betriebsrat wurde jetzt eineigenes „Zukunftsbild“ der Werkleitungvorgestellt und es werden zu Themenwie Ergonomie, Betriebsnutzungszeit,alternative Beschäftigung usw. Arbeits-gruppen zusammen mit dem Arbeitge-ber ins Leben gerufen.

Anderen Belegschaften wurden ähnli-che Papiere vorgelegt, so zum Beispielim Düsseldorfer Werk im Februar 2014.In Düsseldorf fordert die Werkleitungden Samstag als Regelarbeitstag, eineunentgeltliche Stunde Mehrarbeit proWoche sowie die Verlagerung der Dau-er-Nachtschicht an Sonntagen. Als Ge-genleistung für diese schmutzige Er-pressung sollte der VS30 im Düsseldor-fer Werk gebaut werden. Bei Nichtan-nahme sollte die VS30- Produktion insAusland gehen. Durch massive Streiks,die auch über alle Schichten gingen,hatte der Betriebsrat eine gute Verhand-lungsposition. Erreicht wurde „sozialver-träglicher“ Personalabbau von über1800 Kollegen in den nächsten fünfJahren und sehr vage Stückzahlzusagen.Die Produktionsverlagerung von Sprin-tereinheiten in die USA konnte nicht

verhindert werden und Ersatzkapazitä-ten gibt es nicht.

Im Sindelfinger Werk stimmte derBetriebsrat einstimmig einer Fremdver-gabe von Logistikabteilungen an Billi-ganbieter zu, das der Belegschaft als„Zukunftsbild 2020+“ verkauft wird.

Konzernplänen eine Abfuhr erteilenBei diesen Horrorkatalogen gab und gibtes nichts zu verhandeln. Auch die übli-chen Kompromisse darf es hier nicht ge-ben. Denn das „Strategiepapier 2020“ -die Konzernpläne in Bremen und Düssel-dorf enthalten Teile davon – muss kon-sequent abgelehnt werden. Bei der gro-ßen Schlacht gegen unsere Kolleginnenund Kollegen von Audi, BMW oder an-derswo sind wir nicht bereit, das Kano-nenfutter zu sein. Uns stehen die Be-schäftigten von Opel, Peugeot, Fiat odereben BMW und Audi tausend Mal näherals die Zetsches oder Bernhards. Beleg-schaften der anderen Auto-Unterneh-men werden ähnliche Papiere aufge-tischt, in denen derselbe Unsinn gepre-digt wird. Belegschaften werden gegen-einander mit der Behauptung, auf dieseWeise könnten die Arbeitsplätze gesi-chert werden, ausgespielt. Tatsächlichgeht es um pure Erpressung.

Die da oben, egal ob in München, In-golstadt, Stuttgart oder Bremen, werdennichts unversucht lassen, um ihre Pfrün-de zu retten. Vorträge wie die des Vor-standsmitglieds Wolfgang Bernhard imBremer Werk („Wir schlagen BMW“)erinnern stark an eine miese Scientolo-gy-Veranstaltung. Den einen oder ande-ren mögen diese Worte beeindrucken.Unsere Antwort muss aber lauten: Die-ser Krieg ist nicht unser Krieg. Wir dür-fen uns nicht dafür hergeben, mit Zuge-ständnissen und Kompromissen den Arzteines kranken Systems zu spielen. Indiesem Fall sind wir eher Befürwortereiner aktiven Sterbehilfe, indem wir dieSache lieber selber in die Hand nehmen.

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

Arbeiten bis zum Umfallen„Strategiepapier 2020“ aktuellGerwin Goldstein

Daimler will die Nr. 1 werdenBis 2020 will Daimler seine Konkurren-ten BMW und VW/Audi überholt haben.Darum hat sich Daimler – auf dem Rük-ken der Beschäftigten - ein straffesSparprogramm verordnet. Alleine in derPkw-Sparte, die 2013 gut die Hälfte desKonzernumsatzes und des operativenGewinns ausmachte, sollen die Kostenbis Ende 2014 um zwei Milliarden Eurosinken. 2013 drückte Daimler die Kostenbereits um 800 Millionen Euro. Dererwirtschaftete Gewinn betrug 8,72Milliarden Euro (nach 6,83 Milliarden2012 und sechs Milliarden Euro 2011).Konzernweit will Daimler drei bis vierMilliarden Euro bis Ende 2014 einspa-ren.

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 16

Bundesweite Vertrauens-leute-KonferenzAls Reaktion auf diese Angriffe hat sichdie Vertrauensleute-Vollversammlungdes Bremer Daimler Werks einstimmigfür eine Konferenz der Vertrauensleutealler Mercedes-Werke ausgesprochen.Auf dieser Konferenz sollten folgendeThemen besprochen werden: Leiharbeit/Fremdvergabe – und wie man diese Po-litik bekämpfen kann – sowie die Fragevon Flexibilität. All das sind Inhalte desStrategiepapiers. Diese Konferenz wurdedann nach einem Jahr der Beratungenin den einzelnen Vertrauenskörperlei-tungen und IG Metall-Ortsverwaltungenabgelehnt. Man sehe keine gemeinsameGrundlage und kämpfe lieber für seineeigenen Interessen innerhalb des Be-triebszaunes. Diese Entscheidung wurdein Bremen mit großen Erstaunen undUnverständnis aufgenommen, weil jederdoch spüren musste, dass der Angriffdes Konzernvorstandes alle betrifft.Immer mehr bestätigt sich der Eindruck,dass IG Metall-Funktionäre eher als Co-Manager auftreten, anstatt konsequentdie Interessen der Belegschaften zu ver-treten. In Bremen sprach sich der IGMetall-Bevollmächtigte auf einer Be-triebsversammlung für eine 6-Tage-Pro-duktion aus, um die angepeilten Stück-zahlen zu erreichen.

Leider glauben immer noch Kollegin-nen und Kollegen, dass in Sachen „Stra-tegiepapier“ der Kelch an ihnen vorbei-ziehen wird. Davor können wir nur war-nen. Dieser Konzern will seinen Profitauf Kosten von Stammarbeitsplätzenund der Gesundheit der Arbeiter undAngestellten deutlich erhöhen, um seineGroßaktionäre zufrieden zu stellen.

Die Rendite soll (von heute sieben bisacht) auf über zehn Prozent steigen,koste es was es wolle. Deshalb drohenweitere Wochenend-Schichten, Schicht-Verlängerungen und noch mehr Sams-tagsschichten. Arbeiten bis zum Umfal-len also. Nichts anderes verlangt derVorstand in seinem schönfärberisch ge-nannten „Strategiepapier 2020“ und inden „Zukunftspapieren“ für die einzel-nen Werke.

Gemeinsame GegenwehrDas passiert in allen Werken. Darummuss sich auch in allen Werken etwas

tun: Gemeinsamer Widerstand ist dasGebot der Stunde! Wir können nicht ta-tenlos zusehen, wie immer mehr Arbei-ter in Leiharbeit und Werkverträge ge-drängt werden. Wir können nicht taten-los zusehen, wie unsere Arbeitskraftimmer mehr durch Sonderschichten undMehrarbeit ausgebeutet wird.

Manche mögen denken: Unsere IGMetall macht ja nichts dagegen. Und alseinzelner kann ich ja sowieso nicht vielbewegen. Aber das ist genau das falscheSignal an Gewerkschaftsführung undWerkleitungen. Beide werden sich zu-rücklehnen. Unsere Gewerkschaftsfüh-rung, weil sie mit dem Kapital Sozial-partnerschaft vereinbart hat. Die Unter-nehmerschaft, weil sie von den Gewerk-schaften nichts befürchten muss. Es

liegt also an uns, ob wir diese Spielchenmitmachen oder nicht. Wir alle habendie gleichen Probleme, sei es in Sindel-fingen, Untertürkheim, Bremen, Kassel,Rastatt, Mannheim, Hamburg und an-derswo. Deshalb müssen wir uns überden „Werkszaun“ hinaus solidarisierenund selbst, wie in Bremen, den Kampfaufnehmen: gegen das „Strategiepapier2020“, gegen Fremdvergaben, Leiharbeitund Werkverträge. Das ist das Mindeste,um morgens noch in den Spiegel undabends unseren Kindern in die Augen zusehen. Wir haben eine Zukunft - wennwir für sie kämpfen!

Gerwin Goldstein ist Vertrauensmann undIGM-Betriebsrat bei Daimler Bremen.

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ZUKUNFTSBILD 2020+

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Das Untertürkheimer Daimler-Werkblickt auf eine lange Geschichte kämp-ferischer Belegschaftsaktionen zurück,die bis in die Weimarer Republik zurück-reicht. Linke Gruppierungen haben dabeistets eine bedeutende Rolle gespielt.Anfang der 1960er Jahre war diese Tra-dition – auch wegen der sogenanntenRGO-Politik der KPD – allerdings weit-gehend abgebrochen. Der IG-Metall-Vertrauensleute kamen nur sehr seltenzusammen und agierten nicht unabhän-gig vom Betriebsrat, der wiederum aufKooperation mit dem Managementsetzte. Doch ganz abgerissen war derhistorische Faden nicht. Ende der1960er Jahre bildeten Mitglieder derverbotenen KPD, aus der SPD Ausgetre-tene sowie italienische Bandarbeiter ei-ne Gruppe von Kritikern der Betriebs-ratsspitze, die zunächst versuchte, dieMehrheitsverhältnisse innerhalb desVertrauenskörpers zu ändern. Im Juli1969 begann die Gruppe erst unregel-mäßig, ab 1972 monatlich mit der Her-ausgabe ihrer Betriebszeitung Plakat.Willi Hoss, führender Kopf der fortannach ihrer Zeitung benannten Gruppe,erklärte: „Wir haben alle Ebenen derÖffentlichkeitsarbeit genutzt und dashat uns weitergebracht.“

Neben der Kritik an der kompromiss-orientierten Betriebsratspolitik standdabei die Forderung nach einer Demo-kratisierung der Kandidatenaufstellungzur Betriebsratswahl im Mittelpunkt. ImVorfeld der Wahl von 1968 legte dieGruppe dem Vertrauenskörper (VK) ei-nen von 233 Beschäftigten unterschrie-benen Vorschlag vor, der unter anderemdie Bestimmung der IG-Metall-Betriebs-ratskandidaten durch Vorwahlen in den

Bereichen beinhaltete. Als der VK dasAnliegen ignorierte, kündigte die Gruppean, eine Liste „Mitglieder der IG Metall“einzureichen. Nach Gesprächen mit derIG-Metall-Bezirksleitung und der Be-triebsratsspitze, die die Forderungen alsArbeitsgrundlage für weitere Gesprächeakzeptierten, zogen die linken Kritikerihre Liste zurück. Dennoch wurde einVerfahren wegen gewerkschaftsschädi-genden Verhaltens eröffnet, das mit ei-ner Rüge endete.

Statt einer Öffnung der Listenaufstel-lung geschah das Gegenteil: Die VK-Lei-tung verabschiedete eine neue Wahl-ordnung, der zufolge das Vorschlags-recht der einfachen Mitglieder abge-schafft wurde und Kandidaten vom VKmit absoluter Mehrheit bestätigt wer-den mussten, was jede Chance auf eineerfolgversprechende Kandidatur der Kri-tiker verhinderte. Daraufhin traten diese1972 tatsächlich mit einer eigenen Listean, die auf Anhieb fast 28 Prozent er-hielt. Das hätte für 8 von 30 Sitzen ge-reicht. Da aber nur drei Kandidaten aufder Liste waren, fielen fünf Mandate andie Mehrheitsfraktion zurück.

Eine wichtige Rolle bei dem spekta-kulären Wahlerfolg der neuen Linksop-position spielten ausländische Beschäf-tigte, die 40 Prozent der Gesamtbeleg-schaft und 70 Prozent der Bandarbeiterstellten. Dennoch war nur einer von 30Betriebsräten ausländischer Herkunft.Der Italiener Mario d´Andrea, einer derdrei Oppositionskandidaten, schriebüber die Strategien des Daimler-Managements: „Die Firma entwickelteihre eigene Strategie, um aus uns Band-arbeitern die doppelte Produktion her-auszuholen, und erstickte Solidaritäts-

aktionen bereits im Keime mit repressi-ons- und Disziplinarmaßnahmen. Nurselten arbeiteten bei uns zwei gleicherNationalität nebeneinander, wir wurdenam Band so eingeteilt, dass die Nationa-lität von einem zum anderen wechselte.Keiner durfte sich von seinem Arbeits-platz entfernen, man durfte nicht mitseinem Nachbarn sprechen (…).“

Die Plakat-Gruppe griff die Belangeder ausländischen Bandarbeiter auf, wasin erheblichem Maß zu ihren Wahlerfol-gen beitrug.

Die IG Metall reagierte auf die Kandi-datur 1972 mit Verfahren wegen ge-werkschaftsschädigenden Verhaltens.Zwei der Kandidaten wurden ausge-schlossen, einer erhielt Funktionsverbot.Auch im Betriebsrat wurden sie ausge-grenzt und von Informationen abge-schnitten, was aber nicht ihre Isolationinnerhalb der Belegschaft nach sich zog.

Doch 1975 bekam Plakat lediglich18,7 Prozent der Stimmen – gegenüberder vorangegangenen Wahl ein Minusvon fast zehn Prozentpunkten. Ein Ver-dacht stand im Raum: Wahlfälschung.Bei der Wahl drei Jahre später kam eszum Eklat: Nachweislich wurden 1310Stimmen zugunsten der IG Metall ge-fälscht. Die Gewerkschaft stellte Straf-anzeige gegen Unbekannt, der Betriebs-ratsvorsitzende und sein Stellvertretermussten ihre Posten abgeben. „Jetzt ersthatte die IG Metall gelernt, und die alteGarde wurde abgelöst. Die neue Liste,die aufgestellt wurde, war ganz demo-kratisch das Ergebnis von Urwahlen inden Hallen“, so Plakat-MitbegründerWilli Hoss rückblickend. Obwohl die IGMetall ihren Bezirksleiter Franz Stein-kühler auf der entscheidenden Betriebs-

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

Geschichte linker Opposition gegen Co-ManagementDaimler-Werk UntertürkheimDaniel Behruzi

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VON PLAKAT ZUR ALTERNATIVE

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versammlung als Redner aufbot, er-reichte Plakat mit 5000 oder 39,2 Pro-zent der Stimmen einen sensationellenErfolg und stellte im Betriebsrat fortan12 der insgesamt 29 Arbeitermandate.

Inhaltlicher Schwerpunkt der Plakat-Gruppe blieb die Thematisierungschlechter Arbeitsbedingungen. Sie for-mulierte frühzeitig die Forderung nachbezahlten Erholpausen für Bandarbeiter,die später von der IG Metall aufgegrif-fen und im Streik von 1973 durchge-setzt wurde. Auch zu weitergehendengesellschaftlichen Fragen nahm dieGruppe Stellung – inklusive einer kriti-schen Hinterfragung des in der Automo-bilindustrie gefertigten Produkts. Sie fo-kussierte aber stets auf konkrete be-triebliche Auseinandersetzungen. Zu-gleich versuchte sie, ihre Arbeit mit de-nen der vielen anderen linksoppositio-nellen Gruppen in dieser Zeit zu koordi-nieren.

Wie die gesamte Linke geriet auchPlakat ab Mitte der 1980er Jahre in eineOrientierungskrise. Auch aufgrund inter-ner Differenzen konnte sie ihre Rolle alsdynamische, vorwärtstreibende, kämp-ferische Oppositionsgruppe nicht mehrausfüllen. Andererseits begann in der IGMetall ein Öffnungsprozess. Beidesführte dazu, dass innerhalb von Plakateine Debatte über eine mögliche Reinte-gration in die IG Metall begann. Bis zu-letzt stand dem die Frage eigenständi-ger Öffentlichkeitsarbeit entgegen: DieGewerkschaftsspitze verlangte ultimativ,dass „demokratisch zustande gekomme-ne Mehrheitsentscheidungen außerhalbder gewerkschaftlichen Gremien nichtkritisiert werden dürfen“. Mit dem Ver-sprechen, die betrieblichen Gewerk-schaftspublikationen für Kontroversenund Minderheitspositionen zu öffnen,akzeptierte die Gruppe die Bedingungschließlich. Die Veröffentlichung vonPlakat wurde eingestellt, die AktivistenEnde der 1980er in normalen, zuvor ab-gesprochenen Antragsverfahren wiederin die Gewerkschaft aufgenommen. DerPlakat-Aktivist Tom Adler, der später amAufbau der Oppositionsgruppe Alterna-tive beteiligt war, zieht im Nachhineineine kritische Bilanz: „Als 1988 die Orts-verwaltung bereit war, unter bestimm-ten vereinbarten Bedingungen die aus-geschlossenen Plakat-Kollegen wieder in

ihre Reihen aufzunehmen, entschied dieMehrheit der Gruppe widerwillig, in Er-mangelung anderer überzeugender Per-spektiven, diesen Weg mitzugehen. DerPreis, der dafür bezahlt wurde, warhoch. (…) Etliche Kollegen, die dieOppositionsarbeit aktiv mitgetragenhatten, zogen sich zurück (…). Ein Teilder früheren Plakat-Betriebsräte be-gann, sich in der Betriebsratsarbeit ohneweitere politische Perspektiven einzu-richten. Nur noch wenige sahen und er-griffen die Chance, […] das kämpferi-sche, antikapitalistische Profil zu schär-fen und neue Kräfte zu sammeln. DieGruppe zerfiel.“

Einzelne Plakat-Aktivisten, die sichnicht zurückzogen, zugleich aber ihrekritische Haltung zur Politik der Be-triebsrats- und Gewerkschaftsspitzenbeibehielten, spielten bei der einige Jah-re später einsetzenden Wiederbelebungder Opposition eine entscheidende Rolle.Ausgangspunkt war die Ende 1991 ein-setzende tiefe Branchenkrise. Tom Adlerbeschreibt die Situation zu Beginn der1990er Jahre so: „In der Belegschaft be-gann die Identifikation mit dem Unter-nehmen und der Firmenleitung zu zer-fallen. Das autoritäre Selbstbewusstseinder IG-Metall-Betriebsräte hatte schonnach der Wahlniederlage von 1978 ge-litten. Nun erodierte es noch schnellerals die Basis für materielle Erfolge ihrersozialpartnerschaftlichen Politik ver-schwand. Unter diesen Bedingungenwurde es erneut möglich, kritische Kräf-te im Vertrauenskörper zu sammeln.“

1997 formulierte die „Mercedes-Benz-Koordination“ – ein Zusammen-schluss linker Betriebsgruppen, bei demdie Untertürkheimer Opposition stets ei-ne zentrale Rolle spielte – ihre von derMehrheitslinie abweichenden Positionenin einer „öffentlichen Bestandsaufnah-me“, mit der sie „zum Nachdenken, Um-denken und Überdenken festgefahrenerPositionen auch in der IG Metall undunter Betriebsräten anregen“ wollte. ImVorwort heißt es: „`So kann es dochnicht weitergehen!´, mit ständigem Ver-zicht, fortlaufendem Personalabbau,ständiger Leistungsverdichtung und derAufweichung kollektiver Regelungen,sagen enttäuschte und verunsicherteGewerkschaftsmitglieder.“

Anlass des Schritts, sich mit ihren

Positionen an eine breitere Öffentlich-keit zu wenden, war für die Oppositio-nellen die Haltung der IG-Metall-Frakti-on in der Auseinandersetzung um eineStandortvereinbarung im Frühjahr 1996.In diesem Konflikt gelang es der vorallem im Werkteil Mettingen vertrete-nen Gruppe, die dortige Belegschaft ineinen Streik über drei Schichten zu füh-ren. Daraufhin legten auch die Beschäf-tigten in Untertürkheim die Arbeit nie-der, so dass ein Produktionsausfall von1400 Pkw verursacht und das Verhand-lungsergebnis deutlich verbessert wer-den konnte. Eine ähnliche Rolle spieltedie Gruppierung im September 1996beim Zustandekommen einer spontanenArbeitsniederlegung gegen die Kürzungder Lohnfortzahlung im Krankheitsfall,die eine Welle von Streiks in anderenBetrieben nach sich zog. Die Daimler-Spitze machte daraufhin einen schnel-len Rückzieher, die gesetzlich bereitsbeschlossene Kürzung wurde nie umge-setzt. Zu dieser Zeit handelte es sich beider Opposition, die sich über die Zusam-menarbeit einzelner Mitglieder des Be-triebsrats und der IG-Metall-Vertrau-enskörperleitung formiert hatte, nochum eine lose Gruppierung.1

In der Folge durchlief die IG-Metall-Fraktion einen „Teambildungsprozess“.Dessen Ergebnis war eine Vereinbarung,wonach bei Meinungsverschiedenheitendie unterschiedlichen Positionen sowohlin der IG-Metall-Betriebszeitung Schei-benwischer als auch auf Vertrauensleu-te- und Betriebsversammlungen offenartikuliert werden könnten. Die Verein-barung sah ein echtes Tendenzrecht vor.Tatsächlich gab es dann ein einzigesMal eine Situation, bei der die Vertrau-ensleutevollversammlung nur mithauchdünner Mehrheit für die Positionder Betriebsratsspitze votierte. Der Füh-rung des Betriebsrats wurde klar, dasssie Gefahr lief, die Kontrolle zu verlieren.Sie beendete die Möglichkeit offenerDiskussion mit gleichen Startbedingun-gen für die unterschiedlichen Flügel, dieVereinbarung war Makulatur.

Die Frage, ob Kontroversen über dieGewerkschafts- und Betriebsratspolitiknur intern oder auch betriebsöffentlichgeführt werden sollten, stand auch inden folgenden Jahren immer wieder imZentrum der Auseinandersetzungen. So

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erklärten rund 60 Untertürkheimer Ver-trauensleute und vier Betriebsräte imSeptember 2003 in einem offenen Briefan die Vertrauenskörperleitungen ande-rer Metallbetriebe in Stuttgart und Ess-lingen: „Das Recht, eigene Positionenvor der angemessenen Öffentlichkeitdarzustellen – Voraussetzung für jededemokratische Meinungsbildung undÄnderung von Mehrheiten! – werdenwir uns nicht nehmen oder auch nur be-schneiden lassen.“

Zum Mittel einer Betriebszeitung ge-griffen hatte zu dieser Zeit bereits eineGruppe von Vertrauensleuten, die 2002als Liste „Klartext“ zur Betriebsratswahlangetreten war und vier Mandate er-reicht hatte. Die Herausgabe ihrergleichnamigen Zeitung begründeten siein der ersten Ausgabe vom November2001 so: „Wir als Mitglieder und Ver-trauensleute der IG Metall finden: es isthöchste Zeit für ein Blatt, wo unzen-siert, kritisch und offen über die Zustän-de hier in der Fabrik geschrieben wird.Wo nicht schön reden angesagt ist, wiein den Zeitungen der Firma, sondernKlartext! So ein Blatt fehlt zurzeit imBetrieb. Auch der Scheibenwischer klärtnicht mehr auf, sondern ist von einerZeitung der IGM zum Organ der Be-triebsräte geworden“ (Klartext Novem-ber 2001).

Inhaltlich deckten sich die Positionenvon Klartext weitgehend mit denen derIG-Metall-internen Kritikerfraktion: Ge-gen „Geheimverhandlungen“ und „Co-Management“, für eine stärkere Kon-fliktorientierung der Beschäftigtenver-tretung. Als sich im Vorfeld der Be-triebsratswahl 2006 die IG-Metall-Frak-tion spaltete, fusionierten die linkenMetaller mit der Klartext-Gruppe. 2002hatte die IG Metall unmittelbar nachEinreichung der Klartext-Liste ein Un-tersuchungsverfahren wegen gewerk-schaftsschädigenden Verhaltens gegendie beiden führenden Köpfe der Gruppeangestrengt, das jedoch im ersten An-lauf scheiterte: Die Untersuchungskom-mission sprach sich einstimmig gegenAusschlüsse und Funktionsverbote ausund empfahl dem IG-Metall-Vorstand,lediglich eine Rüge gegen die Kritikerauszusprechen. Daraufhin wurde dieUntersuchung wegen „Verfahrensmän-geln“ für gegenstandslos erklärt und ein

neues Verfahren angestrengt, dasschließlich zum Ausschluss der beidenAktivisten aus der IG Metall führte.

Die 2002 in der IG Metall verbliebe-nen Linksoppositionellen bereiteten2004 ebenfalls die Herausgabe einer ei-genen Zeitung vor. Während der Ausein-andersetzung publizierte die Gruppe ei-ne Serie von Flugblättern. Nach derEinigung über die „Zukunftssicherung2012“ übten sie darin offene Kritik ander Betriebsratsspitze: „Wer lieberschnell Verzichtsangebote macht, stattdas Eisen zu schmieden, solange es heißist, verspielt eine historische Chanceund enttäuscht die kampfbereiten Kolle-gen! Deshalb sagen wir: Ja zum Wider-stand – Nein zu diesen faulen Kompro-missen“ (Flugblatt „Der Vorstandbraucht noch mehr auf die Ohren“, ohneDatum).

Durch die Herausgabe dieser von Dut-zenden Vertrauensleuten unterzeichne-ten Flugblätter wurde der seit langeminnerhalb der IG Metall schwelendeKonflikt öffentlich. Betriebsräte, die ihreUnterschrift darunter gesetzt hatten,wurden fortan aus der Sitzungen der IG-Metall-Fraktion ausgeschlossen. DieGruppe begann ab Februar 2005, mitder Alternative eine regelmäßig erschei-nende Publikation herauszugeben. ImNachgang zur Betriebsvereinbarung„Zukunftssicherung 2012“ veröffentlich-te sie eine 24seitige Detailkritik. In derBroschüre „outeten“ sich 100 Mitgliederund Vertrauensleute der IG Metall alsUnterstützer der Alternative („Erpress-werk DaimlerChrysler“, ohne Datum).Die Führung der betrieblichen Gewerk-schaftsgremien reagierte darauf mit ei-nem Ultimatum: Auf der Liste der IGMetall dürfe nur kandidieren, wer ge-genüber der Belegschaft die offiziellenBetriebsratspositionen vertrete und kei-ne eigenen Publikationen veröffentliche.Damit waren die Herausgeber der Alter-native de facto von einer Kandidaturausgeschlossen. Die Frage eigenständi-ger Publikationen spielte also – wieschon bei Plakat – für die Fragmentie-rung der Belegschaftsvertretung auch indiesem Fall eine zentrale Rolle.

Allerdings betonen sowohl die Unter-stützer als auch die Kritiker der seit2005 als Alternative in Erscheinung tre-tenden Linksopposition, dass es sich

nicht um eine Wiederbelebung oderFortsetzung von Plakat handele. Ledig-lich zwei der Alternative-Aktivistenwaren bereits bei Plakat aktiv, andereMitglieder der alten Opposition hatteninzwischen führende Positionen in derMehrheitsfraktion inne. „Es war einfachwas Neues“, so ein Alternative-Betriebs-rat. Dennoch gibt es viele Anknüpfungs-punkte und Parallelen. Ähnlich wie inden 1970er Jahren stehen Forderungennach einer Demokratisierung gewerk-schaftlicher Strukturen sowie einemkonfliktorientierten Kurs gegenüber demManagement im Vordergrund. Es sei voneiner gewissen Bedeutung gewesen, soein ehemaliger Plakat-Aktivist und heu-tiger Alternative-Unterstützer, eine ver-gleichbare Situation bereits einmal er-lebt zu haben und zu wissen, dass man„in so einem Großbetrieb über eine sol-che Zeitung Einflussmöglichkeiten auf-bauen“ könne.

Als Reaktion auf ihren faktischenAusschluss von der IG-Metall-Liste for-mierten die Linksoppositionellen bei derBetriebsratswahl 2006 die gemeinsameListe Alternative/Klartext. Diese erreich-te 3094 Stimmen (21,05 Prozent) underhielt damit zehn Mandate. Die IG Me-tall verlor gegenüber der vorangegangenWahl sechs Sitze, verteidigte jedoch mit28 Sitzen und 8668 Stimmen (58,96Prozent) klar ihre absolute Mehrheit. DieChristliche Gewerkschaft Metall (CGM)erreichte vier, die der Marxistisch-Leni-nistischen Partei Deutschlands (MLPD)nahestehende Gruppe „Offensive Metal-ler“ einen Sitz. Zwei weitere Mandate indem 45köpfigen Gremium gingen an„unabhängige“ Gruppierungen, weiterefünf Listen gingen leer aus.

Die Stimmenverteilung machte deut-lich, dass die Alternative ihre Basis fastausschließlich im Werk Mettingen hatte.Dort erhielt sie 2394 der 5320 abgege-benen Stimmen, also rund 45 Prozent.In der Presserei/Schweißerei und derGießerei – Produktionsbereiche mit kör-perlich harten Arbeitsbedingungen undtraditionell starker gewerkschaftlicherOrganisierung – kam sie auf 61 bzw. 62Prozent. In den anderen Teilen des Un-tertürkheimer Werks lagen die Ergebnis-se für die Linksoppositionellen hingegendeutlich niedriger. Ebenso im MettingerVerwaltungsgebäude, wo von den 705

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abgegebenen Stimmen lediglich 27 aufdie Alternative entfielen. In diesem ehergewerkschaftsfernen Angestelltenbe-reich erhielt die IG Metall rund dreiViertel der Stimmen.

Auf die Wahlbeteiligung hatte die Po-larisierung zwischen IG Metall und Al-ternative einen positiven Effekt: Siestieg um 18 Prozentpunkte auf 70 Pro-zent. Für die CGM, die vor der Wahl ei-nen Stimmenzuwachs erwartet hatte,war die Konstellation schwierig: In Met-tingen „sind die untergegangen, da hatdie Alternative ihr Protestpotenzial tat-sächlich ein stückweit abgesaugt“, sodie Interpretation eines IG-Metall-Funk-tionärs. Mit 6,1 Prozent lag der CGM-Stimmenanteil in dem Werkteil deutlichunter ihrem Gesamtergebnis von 8,4Prozent.

Die IG-Metall-Vertrauenskörperlei-tung betonte in ihrer Wahlbilanz selbst-kritisch, als Schlussfolgerung aus denStimmenverlusten in Mettingen seien„Transparenz und Profilschärfung“, diestärkere Einbeziehung der Belegschaftsowie größere Konfliktbereitschaft nö-tig. Eine „entschlossenere Politik als inden letzten Jahren“, forderte auch dieAlternative in ihrer Bewertung desWahlergebnisses. Zugleich betonte sie,die Mehrheitsfraktion habe „keinen Mo-nopolanspruch“ mehr darauf, die IG Me-tall im Betrieb zu repräsentieren.

Obwohl beide Seiten unmittelbarnach der Wahl die Notwendigkeit einerRückkehr zu „sachlicher Auseinander-setzung“ betonten, verschärfte sich derKonflikt weiter. Es kam nicht nur keinegemeinsame Fraktion im neuen Be-triebsrat zustande. Die Betriebsräte derAlternative wurden auch von den Ver-sammlungen der gewerkschaftlichenVertrauensleute ausgeschlossen. Mög-lich machte dies eine Regelung in derGewerkschaftssatzung, wonach die IG-Metall-Betriebsräte in ihrer Funktion alsVertrauensleute von der Ortsverwaltungbestätigt werden müssen. Diese Bestäti-gung wurde den Alternative-Betriebsrä-ten verweigert, woraufhin sie eineöffentliche Kampagne gegen das „Funk-tionsverbot auf kaltem Weg“ starteten.

Trotz der Unterzeichnung eines Kon-senspapiers im September 2008, das dieStrömungen mit Blick auf die Betriebs-ratswahl 2010 wieder zusammenführen

sollte, blieb die Situation über längereZeit angespannt. Erst kurz vor derListenaufstellung zur Wahl 2010 kam eszum Kompromiss: Die IG Metall gestandder Alternative zu, ihre Zeitung weiter-hin eigenständig zu publizieren. Es han-delte sich um einen im Werk Untertürk-heim und bei der IGM Stuttgart histori-schen Bruch mit dem jahrzehntelangpraktizierten Dogma, wonach IG Metal-ler sich nur in einer einzigen Zeitung imBetrieb, nämlich in der offiziellen der IGMetall-Betriebsräte, zu Wort zu meldenhätten.

Zur Wahl sollte eine gemeinsameKandidatenliste aufgestellt werden, de-ren Zusammensetzung nach demD`Hondt-Verfahren im Verhältnis derbisherigen Stärke der Fraktionen be-rechnet würde. So geschah es dannauch. Die vereinigte Liste erhielt 8966oder 75,7 Prozent der Stimmen. Sie istseither mit 34 Mitgliedern im Betriebs-rat vertreten, neun von ihnen aus derehemaligen Alternative-Fraktion. 2006hatten IG Metall und Alternative zu-sammen 38 Mandate erzielt. Dass esdieses Mal vier weniger waren, hattezum einen mit der durch den Beschäfti-gungsabbau verursachten Verkleinerungdes Gremiums von 45 auf 43 Personenzu tun. Zum anderen war das Ergebnisder IG Metall im Werkteil Untertürkheimvergleichsweise schlecht: Hier stimmtendurchschnittlich 68,5 Prozent der Be-schäftigten für die gemeinsame Liste, inMettingen waren es 84,3 Prozent. Auchdie Wahlbeteiligung lag in der Hochburgder Alternative deutlich höher.

Von der relativen Schwäche der IGMetall im Werkteil Untertürkheim profi-tierten zum einen die Offensiven Metal-ler, die offenbar einen Teil des 2006 vonder Alternative kanalisierten Protestpo-tenzials nutzen konnten und mit zweistatt zuvor einem Mandat in den Be-triebsrat einzogen. Zum anderen eta-blierte sich mit dem „Zentrum“ eine voneinem rechtsradikalen, ehemaligenCGM-Betriebsrat2 geführte Liste, dieebenfalls im Werkteil Untertürkheimihre meisten Stimmen bekam und zweiSitze erreichte. Der CGM selbst wieder-um verlor zwei Mandate, weshalb dasErgebnis eine Verschiebung vom konser-vativen ins offen reaktionäre Lager be-deutete. Die 2010 erstmals mit einer

einheitlichen Liste angetretenen Unab-hängigen, die vor allem in Forschungund Verwaltung Unterstützung erhiel-ten, zogen mit drei Mitgliedern in denBetriebsrat ein.

Während das Resultat der Betriebs-ratswahl 2010 im Scheibenwischer(April 2010: 10) als Bestätigung für „denKurs der Beschäftigungssicherung der IGMetall“ gewertet wurde, betonten Alter-native-Vertreter: „Mettingen hat´s raus-gerissen. Ohne das Ergebnis und dieüberdurchschnittlich hohe Wahlbeteili-gung in Mettingen wäre das Ergebnisder IG Metall ein Desaster geworden.“Vor allem aber sei dies der Beleg dafür,dass offene Kritik und Diskussionen überden richtigen Kurs der Gewerkschaftnicht schaden. „Die ganzen Glaubensbe-kenntnisse der Co-Manager haben sichals völlig unhaltbar erwiesen, das Ge-schwätz, dass, wenn man Kritik an denBetriebsrats- und Gewerkschaftsführun-gen übt, dass man dann nicht mehr ge-wählt würde.“ Die Beschäftigten könn-ten offensichtlich „sehr wohl zwischeninhaltlicher Kritik an der IG Metall undder Notwendigkeit gewerkschaftlicherOrganisation unterscheiden“.

Bereits in diesen Stellungnahmenwurde deutlich, dass die unterschiedli-chen Deutungsmuster beider Strömun-gen auch nach der Wahl 2010 fortbe-stehen. Trotz einiger Skepsis hat sich derIntegrationsprozess seither dennoch po-sitiv entwickelt. Die Fronten scheinendeutlich weniger verhärtet zu sein. Kon-troversen werden größtenteils auf soli-darische Art innerhalb der gemeinsamenBetriebsratsfraktion und des IG-Metall-Vertrauenskörpers ausgetragen.

Dennoch haben beide Strömungendie regelmäßige Herausgabe ihrer Publi-kationen Scheibenwischer und Alterna-tive beibehalten. Darin werden auchimmer wieder unterschiedliche Bewer-tungen oder zumindest Betonungendeutlich, aggressive Attacken und Diffa-mierungen unterbleiben aber auf beidenSeiten.

Daniel Behruzi ist Journalist und Soziologe.Der Text ist ein redigierter Auszug aus seinerDoktorarbeit über Legitimitätsverluste vonBetriebsräten infolge betrieblicher Wettbe-werbsbündnisse, die voraussichtlich imHerbst veröffentlicht wird.

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Einige Quellen: Bergmann, T. (Hrsg.) 2007: „Klassenkampf und Solida-rität“ – Geschichte der Stuttgarter Metaller und Metallerinnen. Ham-burg: VSA · Grohmann, P./Sackstetter, H. (Hrsg.): Plakat. Zehn JahreBetriebsarbeit bei Daimler-Benz. · Hoss, W. 2004: Komm ins Offene,Freund. Autobiographie, herausgegeben von Peter Kammerer. Münster:Westfälisches Dampfboot

Anmerkungen:1 Den Schritt, eine eigene Betriebszeitung herauszugeben, wagte die

Gruppe kurzzeitig im Zuge einer Auseinandersetzung innerhalb derIG-Metall-Fraktion um die Einführung einer Wochenendschicht sowieeines neuen Lohnmodells mit Leistungsbeurteilung in der Produktionin den Jahren 1998/99. Beides lehnten die linken Kritiker ab. Sie

argumentierten u.a., die Ausweitung der Betriebsnutzungszeiten aufdas Wochenende werde dazu führen, dass diese Ausnahme schonbald zur Regel würde – eine Sichtweise, die sich später bestätigensollte. Da sie darin die einzige Möglichkeit sahen, ihre Position in die-sen Punkten kundzutun, veröffentlichten die Oppositionellen einevierseitige Betriebszeitung mit dem Namen Klärwerk. Es sollte jedochdie einzige Ausgabe bleiben.

2 Nach Angaben der IG Metall spielte der ehemalige CGM-Vertrauenskörperleiter in einer rechtsradikalen Skinheadband namens„Noie Werte“, von deren Texten er sich auch auf Nachfrage nichtdistanzierte (u.a. Scheibenwischer Juli 2007). Das AntifaschistischeInfoblatt bringt ihn gar mit dem Umfeld der Terrorgruppe „National-sozialistischer Untergrund“ (NSU) in Verbindung.

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Der Zweite Weltkrieg lag wenige Jahrezurück, die Bundesrepublik war geradeerst gegründet, als Jorge Antonio, rechteHand von Präsident Juan DomingoPerón, in Stuttgart anfragte, ob mannicht in Argentinien investieren wolle.Bis dahin hatte Antonio bei einem Au-tohändler gearbeitet, der Luxuslimousi-nen importierte. 1951 wurde MercedesBenz Argentina gegründet. Das war in-sofern praktisch, da die anderen deut-schen Unternehmen als „Feindeigen-tum“ beschlagnahmt waren und nur be-schränkt in Argentinien operieren konn-ten.

Nun wurden im grossen Stil Autosund Autoteile aus Deutschland an denRio de la Plata geschifft und Gelder, diewährend des Zweiten Weltkrieges imAusland, vor allem in der Schweiz, ge-bunkert worden waren, flüssig gemacht.Als Exporteinnahmen floss das Geld –ganz legal – in den Kreislauf der deut-schen Nachkriegsindustrie. Daimler-Benz wusste gar nicht, wohin mit demvielen Nazigeld, und wurde, fast überNacht, zum größten Investor im Lande.

1955 wurde gegen Perón geputscht,und das Unternehmen unter Zwangsver-waltung gestellt. Es dauerte Jahre, bis eswieder eröffnet wurde. Ein Staatsanwaltund eine parlamentarische Untersu-chungskommission ermittelten gegendas Unternehmen. Diese Unterlagen ha-be ich vor etwa zehn Jahren in einemKellerloch in Buenos Aires gefunden:schwarze Buchführung, manipulierte Bi-lanzen, Aufzeichnungen über Schmier-geldzahlungen und Kontoauszüge.

Ein Gerichtsurteil von 1957 verfügtedie Beschlagnahmung des gesamtenImperiums von Jorge Antonio – weil erdie Herkunft seiner Millioneninvestitio-

nen nicht erklären konnte. Legal hattenämlich Daimler-Benz keine einzigeMark überwiesen. Das belegen die Un-terlagen der Zentralbank.

Die Einwanderungsbehörde ließ michin den vergilbten Passagierlisten wüh-len. In der Führungsriege von Mercedes-Benz Argentina (MBA) waren alte Ka-meraden, die nach dem Zweiten Welt-krieg in Südamerika untergetaucht sind.

Darunter: Adolf Eichmann. Erneut in die Schlagzeilen kam MBA

wegen seiner Beteiligung an dem Ver-schwinden-Lassen seiner Betriebsräte inden Jahren 1976/77. Es herrschte eineMilitärdiktatur, und die Generälen wa-ren gute Kunden von Daimler-Benz. Esreichte damals aus, von der Personallei-tung als „Subversiver“ denunziert zuwerden, den Rest erledigten die Militärs.

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Mercedes-Benz Argentina – ein wahresTraditionsunternehmenNazigeldwäsche und 14 verschwundene Betriebsräte

Gaby Weber

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Sie kamen nachts in die Wohnungen derArbeiter, verschleppten sie in ihre Fol-terzentren und verscharrten sie danachin Massengräbern. Siebzehn MBA-Ge-werkschaftsaktivisten erging es so. Dreiüberlebten. Und von 14 fehlt weiterhinjede Spur.

Auch andere Firmen hatten ihre Ge-werkschafter denunziert, aber nur derFall MBA ging um die Welt. FünfzehnJahre lang versuchten Juristen, die Be-teiligung des deutschen Konzerns anden Morden von einem Gericht untersu-chen zu lassen. „Es klagten Habenichtseaus den Armenvierteln, die in Deutsch-land, Argentinien und den USA vor Ge-richte zogen“ – so Eduardo Fachal, da-mals selbst Betriebsrat und heute An-walt der Hinterbliebenen: In Berlin wur-de gegen den damaligen Produktions-chef Juan Ronaldo Tasselkraut Anzeigewegen Beihilfe zum Mord erstattet.Nach vier Jahren Ermittlungen stelltedie Staatsanwaltschaft das Verfahrenein, weil die Opfer nicht beweisen konn-ten, dass ihre Männer wirklich ermordetworden waren, sie seien ja nur „ver-schwunden“ und könnten eines Tageswieder auftauchen.

In Argentinien herrschten lange dieAmnestiegesetze. 2002 wurde dortStrafanzeige erstattet, beschuldigt wa-ren die Militärs, Mercedes-Benz, Tassel-kraut und der Gewerkschaftschef JoséRodríguez. Sie hatten sich verbündet,um gemeinsam Arbeiter verschwindenzu lassen, die für die Verbesserungen derArbeitsbedingungen und gegen die kor-rupte „Gewerkschaft“ SMATA kämpften.SMATA hatte laut Tarifvertrag ein Pro-zent des Umsatzes kassiert, um „negati-ve Elemente im Betriebs auszumerzen“.Als das durch meine Recherchen be-kannt wurde, störte sich die IG Metallnicht daran, schliesslich war Rodríguez25 Jahre lang Vizepräsident des Interna-tionalen Metallarbeiterbundes – dakennt man sich ja. Die Verfahren plät-schern in Argentinien vor sich hin. Nichteinmal den Raub von drei Kindern durchdie Familie Tasselkraut wurde straf-rechtlich belangt: verjährt oder archi-viert.

Dann brachte der „International LaborRights Fund” den Fall in San Franscicovor Gericht. Das Haupthindernis, soOpferanwalt Terry Collingsworth, war

die Frage der Zuständigkeit: „Das Beru-fungsgericht in San Francisco war unse-rer Meinung. Die Firma vertreibt aufdem US-Markt einen großen Teil ihrerProdukte und hatte sogar in Michiganeine zweite Firmenzentrale. Deshalbmüssen sie sich unseren Gesetzenunterwerfen. Und das Berufungsgericht(in Kalifornien) sah das (2010) genauso.“

Daimler rief den Obersten Gerichtshofan. Zugleich drohten jetzt mächtigeWirtschaftsverbände offen mit einemWirtschaftskrieg. Die Association ofGlobal Automakers schrieb dem Supre-me Court in einer Stellungnahme („Ami-cus Curiae-Brief“): „Die Konsequenzenwürden der US-Wirtschaft sehr schaden.Die ausländischen Investitionen würdenzurückgehen. 2009 haben ausländischeUnternehmen 14 Prozent der gesamtenEinkommensteuereinnahmen ausge-macht. 5,6 Millionen US-Arbeitsplätzebefinden sich in den Niederlassungenausländischer Firmen. Ausländermachen in den USA einen Umsatz von649,3 Milliarden und investieren jedesJahr 149 Milliarden.“

Zahlreiche andere Industrieverbändeschlossen sich dieser Argumentation miteinem eigenen „Amicus Curiae-Brief“an: die Automobile Manufacturers In-corporation, die Association of GlobalAutomakers, die US-Handelskammer, dieEuropean Banking Federation, der Bun-desverband der Deutschen Industrie unddie Schweizer Bankiersvereinigung, umnur einige zu nennen.

Der Supreme Court schlug sich aufdie Seite des deutschen Autobauers:„Der Neunte Gerichtsbezirk (in SanFrancisco) hat den Risiken für die inter-nationalen Gebräuche zu wenig Auf-merksamkeit geschenkt, als er seine all-gemeine Zuständigkeit erklärt hat. (...)Die allgemeine Zuständigkeit der US-Niederlassungen könnte ausländischeInvestoren entmutigen".

Trotz der Niederlagen an der juristi-schen Front, gelang es Daimler nicht,den Fall unter den Teppich zu kehren.Der Konzern konnte das Gerichtsverfah-ren in den USA zwar verhindern, musstedafür aber die mächtigsten Industriever-bände und Bankenvereinigungen auf-bieten. Kein Gericht hat ihn von denVorwürfen, sich mit Hilfe der Militärdik-

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MERCEDES-BENZ ARGENTINA

Gaby Weber über ihren Filmzu Daimler in ArgentinienIn meinem Dokumentarfilm „Wundergibt es nicht – milagros no hay“ stelleich dar, wie während der MilitärdiktaturGewerkschafter von Mercedes Benz Ar-gentina nachts aus ihren Wohnungenentführt, in Folterzentren verschlepptund ermordet wurden und wie ich dieÜberlebenden gefunden habe. In demFilm berichten die Opfer und Manager,die ich dem Wahrheitstribunal als Zeu-gen benannt habe: etwa der Folterer undKindesräuber Rubén Lavallén, Sicher-heitschef bei Mercedes. Die Firma hat, soder damalige Justiziar, medizinische Ge-räte für Frühgeburten an das Militärhos-pital Campo de Mayo geliefert. Dortmussten schwangere Gefangene ihreKinder zur Welt bringen, bevor sie er-mordet wurden. Fünf dieser Babys sindnachweislich oder mit hoher Wahr-scheinlichkeit bei Mercedes-Managerngelandet. Der Produktionschef, JuanRonaldo Tasselkraut, erinnert sich, dassdie Produktivität wegen Sabotage auf 30Prozent gefallen war, bis sie „normali-siert“ werden konnte. Ob ein Zusam-menhang mit den Morden an den Be-triebsräten bestand? „Wunder gibt esnicht, Euer Ehren“, so seine Antwort.

Der Film berichtet auch über die Be-mühungen, die Täter vor Gericht zu brin-gen. Obwohl ich den Dokumentarfilmmehrfach dem deutschen Fernsehen an-geboten habe, wurde er nie ausgestrahlt.Stattdessen zeigte die ARD im Dezember2013 eine „Softversion“. Sie verschweigtwesentliche Vorwürfe, interpretiert dieBeweise im Sinne der Firma um und ba-nalisiert die Komplizenschaft mit demFolterer und Kindesräuber Lavallen. DieFirma TVSchoenfilm hat meine langjäh-rige Recherche von Dritten nacherzählenlassen. Ihr Film ist voller peinlicher Feh-ler, bringt inhaltlich nichts Neues undstellt die von mir gefundenen Dokumen-te als eigene Recherche dar.

tatur seiner kämpferischen Arbeiter ent-ledigt zu haben, freigesprochen.

Gaby Weber hat über den Fall mehrereBücher geschrieben und einen Dokumentar-film verfasst, der bei Youtube angesehenwerden kann. Die Links sind auf ihrer home-page: www.gabyweber.com.

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Der Verfall und Bankrott von De-troit – kaum etwas symbolisiertdrei Jahrzehnte Niedergang dereinstmals mächtigen Gewerk-schaften in den USA so drastisch.Während die mit der Stadt ver-bundenen Großkonzerne GM,Ford und Chrysler längst mittelsStaatsgeldern und Subventionenwieder Profite für Aktionäre ab-werfen, ist die Gewerkschaftsbe-wegung von der Demontage dereinstigen Hochburg und derFlucht der Konzerne in gewerk-schaftsfeindliche Staaten inner-halb der USA gezeichnet. EineSpurensuche nach gewerkschaftli-cher Gegenwehr nach der Nach-Katastrophen-Phase.Zwei von drei Straßenlampen in Detroitbleiben jede Nacht so düster wie die

wirtschaftliche Lage der einstmalsleuchtenden Autometropole der USA.Auch zwei von drei Krankenwagen funk-tionieren nicht. Die New York Timesnennt das „post-post-apokalyptisch“:Alles ist schon so lange so schlimm, dasses jetzt ganz bestimmt aufwärts geht.Doch: „Von Detroits 380000 Immobilienwurden rund 114000 dem Erdbodengleichgemacht, weitere 80000 werdenals heruntergekommen eingestuft undmüssen sehr wahrscheinlich abgerissenwerden.“

„Ökonomen sorgen sich“, so das re-nommierte Blatt, „dass Detroit – inAbwesenheit der produzierenden Wirt-schaft auf der es aufgebaut wurde –keinen Grund mehr hat zu existieren“.

Mitte Oktober 2014 machte die Stadteinen weiteren Schritt im Insolvenzpro-zess, in dem sie einem Schuldengeber

weitere Werte der Stadt übereignete.Versicherungsgesellschaften und andereKreditoren werden mit wertvollen Ge-mälden u.a. von Pablo Picasso abgefun-den. In einem Modellverfahren wurdeUS-weit geurteilt, dass Bankrottverfah-ren von Städten durchaus drastischeKürzungen der Rentenzahlungen bein-halten dürfen – und das wurde exeku-tiert. Den vormals Beschäftigten imöffentlichen Dienst der Stadt wurdendie Renten um 4,5 Prozent gekürzt; inZukunft gibt es keinerlei Inflationsaus-gleich mehr. 3,5 Milliarden US-Dollaran Verbindlichkeiten gegenüber den23000 RentnerInnen wurden als Teil desSchuldenbergs in die Abwicklung derPleite einbezogen. StaatsdienerInnenbegannen, den 150000 Haushalten, dieihre Wasserrechnungen nicht mehr be-zahlen konnten, den Hahn zuzudrehen.

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Post-post-apokalyptische Gegenwehr in den USAStephan Kimmerle

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Ein nach Detroit entsandtes Team der Vereinten Nationen nannte dies eine „Menschenrechtsverletzung“ undforderte den sofortigen Wiederanschlussan die Wasserversorgung.

Am 18. Juli 2013 hatte sich die StadtDetroit offiziell bankrott gemeldet undwurde von einem Insolvenzverwalterübernommen. Die demokratisch gewähl-ten Gremien und Ämter wurden außerKraft gesetzt. Mit dem Kahlschlag derAutoproduktion in der Motown Stadtfiel die Bevölkerung von einstmals 1,8Millionen 1950 auf aktuell rund 700000– und verarmte völlig.

Doch die Autoproduktion in den USAhat sich von der „Großen Rezession“ er-holt. Die Auto-Verkaufszahlen waren2014 mit 16,4 Millionen die höchstenseit 2006. Deutsche Autobauer drängen,neben japanischen und südkoreanischen

Herstellern mit neuen Fabriken in denUSA auf den Markt. Diese Werke – wiemittlerweile viele der US-Herstellerselbst – stehen fast ausschließlich ingewerkschaftsfeindlichen Staaaten, vor-wiegend im Südosten des Landes.

Diese Bundesstaaten haben „Recht-auf-Arbeit”-Verweise in ihren Verfas-sungen. „Right to work“ ist OrwellscheSprachverdrehung pur. Konkret bedeutetes, dass Daimler sein Werk in Tuscaloo-sa, Alabama, angesiedelt hat, keinesfallsum ein „Recht auf Arbeit“ zu garantie-ren, sondern um von der dortigen Ein-schränkung gewerkschaftlicher Rechtezu profitieren. Es ist weltweit das einzi-ge Mercedes-Benz-Werk ohne gewerk-schaftliche Vertretung für die Beschäf-tigten. Die Gewerkschaft United Auto

Workers (UAW) hat erst 2014 damit be-gonnen, dort ein „local chapter“, eineBetriebsgruppe, aufzubauen.

Die Stärke der US-Gewerkschaftenberuhte über Jahrzehnte auf ihrerMacht, in Betrieben Kontrolle über Be-schäftigung auszuüben: nur Gewerk-schaftsmitgliedern hatten Jobs („closedshop“). Das wird in „right to work“-Staaten verboten. Dabei wird gleichzei-tig mit staatlicher Hilfe jede Form ge-werkschaftlicher Gegenmacht gebro-chen.

Volkswagen baute sein Werk in Chat-tanooga, Tennessee, das im April 2011seine Arbeit aufnahm. Tennessee istauch einer der mittlerweile 24 „right towork“-Bundesstaaten.

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ARBEITERKÄMPF IN DEN USA

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Gescheitertes ModellChattanoogaIm dortigen Werk versuchte die Autoar-beiter-Gewerkschaft UAW im Februar2014 die Beschäftigten zu organisieren.Allerdings mit einem Management-freundlichen Herangehen, an dessen Be-ginn das stand, was in den USA “bargai-ning to organize” heißt: es werden Zu-geständnisse gemacht, um überhaupterst gewerkschaftlich organisieren zudürfen. Um das in den USA übliche Uni-on-Bashing, die Hetze gegen die Ge-werkschaften und deren Versuche derOrganisierung zu vermeiden, machte dieUAW in einem Abkommen mit demKonzern-Management weitgehende Zu-geständnisse: als Ziel der Gewerkschaftim Betrieb wurde der „Erhalt der Wett-bewerbsfähigkeit“ und die „Zusammen-arbeit mit den Managern“ festgeschrie-ben.

Diese Konzessionen verhinderten kei-neswegs die großangelegte Anti-Ge-werkschafts-Kampagne, in der der repu-blikanische Gouverneur mit Arbeits-platzverlusten und Produktionsein-schränkungen im Werk drohte, falls dieGewerkschaft erfolgreich wäre. Wäh-rend die Gewerkschaft die Möglichkeitder aktiven Kontaktaufnahme zu denArbeiterInnen im Abkommen mit demManagement freiwillig einschränkte,übernahmen „unabhängige” Gruppendie Kampagne gegen die Organisierung.In dieser Kampagne wurde genüsslichaus dem UAW-Abkommen mit dem Un-ternehmen zitiert. Mehr noch, Detroitwurde zu einem entscheidenden Argu-ment. Mike Jarvis, der Sprecher einerGruppe von Beschäftigten gegen dieUAW, die in Medien groß präsentiertwurde, gegenüber der New York Times:„Seht doch mal, was den Autoherstel-lern in Detroit passiert ist und wie siesich durchkämpfen. Die alle haben einsgemeinsam: die UAW.”

Ohne kämpferische Kampagne bliebdas „Detroit-Argument“ unbeantwortet.Der Versuch der Organisierung durch dieUAW scheiterte mit einer Abstimmungs-niederlage von 712 zu 626.

UAW erfolgreich in ToledoAnders gingen es die ArbeiterInnen inToledo bei einem Jeep-Zulieferer fürChrysler in Toledo, Ohio, an. Organisiert

von der UAW stoppten sie die Produkti-on beim Unternehmen Piston Automoti-ve am 17. April 2014 – und zwangen dieGeschäftsführung ganz unbürokratisch,die Gewerkschaft anzuerkennen – nachnur einem Tag Streik!

Löhne von 12,55 US-Dollar pro Stun-de (9,80 Euro) oder weniger waren bisdahin für erfahrene angelernte Arbeite-rInnen die Norm. 75 bis 80 Prozent derBeschäftigten hatten ihre Mitglied-schaft bei der UAW erklärt, aber dasManagement weigerte sich, das anzuer-kennen – bis zum Ausstand.

Jane Slaughter von „Labor Notes“kommentierte: „Es ist die Norm, dassUnternehmen sich weigern, neue [ge-werkschaftliche] Gliederungen anzuer-kennen, die Verhandlungen fordern,selbst wenn eine Mehrheit Gewerk-schaftsmitgliedsausweise unterzeichnet.Heutzutage ist der typische nächsteSchritt der Gewerkschaften, eine Ab-stimmung bei [der zuständigen staatli-chen Behörde] dem „National Labor Re-lations Board“ zu beantragen – aber dasgibt dem Boss die Möglichkeit, den Pro-zess zu verzögern und die Beschäftigtendurch eine Anti-Gewerkschafts-Pressedurchzuwringen. Streiks zur gewerk-schaftlichen Anerkennung, einst dasNormale, sind heute rar.”

Doch in Toledo ging das Kalkül auf:Die Unterbrechung der Jeep-Produktionvon Chrysler erhöhte den Druck auf denZulieferer drastisch und schnell – dieUnternehmer knickten ein.

Erfolg mit Demokratie inChicagos LehrergewerkschaftWährend die starken Bataillone der Ge-werkschaften – die Industriearbeiter-schaft und ihre Organisationen – nochmit einer Umkehr ringen, suchen andereTeile der Arbeiterbewegung sehr aktivnach Reorganisation und neuen Wegen.Mit 45 zu 36 Prozent führte Karen Le-wis, die Vorsitzende der Lehrergewerk-schaft CTU, die Umfragen zur Wahl desBürgermeisters der 2,7 Millionen Metro-pole gegen den Amtsinhaber der Demo-kratischen Partei, bevor sie krankheits-bedingt im Oktober 2014 das Feld räu-men musste. Trotzdem markiert das einErdbeben in der Hochburg der Demokra-ten und ist Resultat einer erfolgreichen,kämpferischen und demokratischen Re-

Organisation der Gewerkschaft.Am 10. September 2012 begannen

Chicagos Lehrkräfte einen erfolgreichenStreik, der national für Aufsehen sorgte.Kürzungen der Gehälter, mangelndeFinanzierung der Schulen, Reduzierungder Lehrkräftestellen, Privatisierungen –all das war und ist ein Mittel die maro-den Finanzen vieler Städte zu „sanieren“.Doch Chicagos LehrerInnen sagten Neinzu einem Tarifangebot, das moderateLohnerhöhungen mit Arbeitsplatzver-nichtung kombinieren sollte.

Es war der erste Streik der LehrerIn-nen in Chicago seit 1987 – und dererste für viele Beteiligte. Sie fordertenhöhere Löhne, kleinere Klassen, bezahlteVorbereitungszeiten und weniger zen-tralisierte Prüfungen, dafür mehr Mu-sik-, Kunst- und Sportunterricht.

HausmeisterInnen und Reinigungs-kräfte waren in den Streik ebenfalls ein-bezogen.

Dieser Streik wurde geführt vonCORE, dem „Zusammenschluss von Leh-rerInnen an der Basis“ („Caucus of Rankand File Educators - CORE”), einer ehe-mals oppositionellen Strömung in derChicago Teachers Union (CTU), die 2010unter der Führung der bereits erwähn-ten CTU-Präsidentin Karen Lewis dieMehrheit in der Lehrergewerkschaft ge-winnen konnte.

Drei fundamentale Veränderungenwurden von CORE eingeführt: Erstens,die eigene Gewerkschaft wurde alssoziale Bewegung der Mitglieder und alsTeil sozialer Bewegungen verstanden –das wird „social unionism“ genannt.

Zweitens – die umfassende Aktivie-rung und Demokratie in der eigenenOrganisation. Robert Bartlett, ein HighSchool-Lehrer, fasst zusammen: „Dieinterne Organisierung hatte das Ziel einAktionskomitee in jeder Schule aufzu-bauen. Komitee-Mitglieder sind verant-wortlich, mit jeweils rund zehn anderenBeschäftigten in Kontakt zu bleiben. Daswaren nicht nur Lehrkräfte, sondernauch Mitglieder anderer Gewerkschaf-ten. Interne Schulungen von Gewerk-schaftsdelegierten halfen ihnen, effekti-ver zu werden mittels Arbeitsgruppenzur Durchsetzung der Tarifverträge. Ein-schätzungen über die Schwächen ineinzelnen Schulen gaben ein Bild, in-wieweit die Mitgliedschaft auf einen

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Streik vorbereitet war. Regionale Treffenwurden abgehalten, offen für alle Mit-glieder, um die Informationen der Ge-werkschaft zu hören und Meinungen zuäußern. Systematische Telefonanrufewurden genutzt, um zielgerichtet mitbestimmten Gruppen innerhalb der Ge-werkschaft in Kontakt zu kommen – umdas Handeln der Führung zu erläutern,eine Vision zu vermitteln, wie die Ge-werkschaft sich organisiert, um zu ge-winnen, und um die Streikbereitschaftder Mitglieder einzuschätzen.” DiesesModell von aktiven Gewerkschaftsstruk-turen war die Basis des Streiks, umfas-sende Demokratisierung die Vorausset-zung für den Erfolg.

Drittens war die CTU bereit, sich mitdem Establishment der DemokratischenPartei, dem Obama-Vertrauten Bürger-meister Rahm Emanuel und dem Stadt-rat anzulegen. Das ist keine Selbstver-ständlichkeit. Die Demokratische Parteipräsentiert sich regelmäßig als das klei-nere Übel. Und das erscheint als starkesArgument angesichts der Gewerk-schaftsfeinde, organisiert in der Repu-blikanischen Partei, der treibenden Krafthinter den „right to work”-Gesetzen.Das hindert die Demokratische Parteiaber nicht daran, selbst Lohnraub, Priva-tisierungen und Einschränkungen vonArbeiterrechten einzuführen. Daher warKaren Lewis Schritt so wichtig, als„nicht-parteilich Gebundene“ ins Ren-nen um den Bürgermeister-Posten ein-zusteigen: GewerkschafterInnen, die ei-ne Alternative zu den reaktionären Re-publikanern und den big-business-höri-gen Demokraten anbieten – das öffneteinen neuen Graben in der politischenLandschaft.

Innergewerkschaftliche Demokratie,soziale Vernetzung, ein kämpferischesProgramm und sich nicht auf das ver-meintlich kleinere Übel verlassen – dasweist in die Zukunft.

Bewegung macht denUnterschiedGleichzeitg sind neue Anstrengungengefragt, Beschäftigte zu organisieren.Die Mitgliedschaft in US-Gewerkschaf-ten liegt inzwischen mit 14,4 MillionenOrganisierten bei 11,3 Prozent allerLohnabhängigen – ein Niveau der 1930er-Jahre. Im privatkapitalistischen Sek-

tor sind nur noch 6,6 Prozent organi-siert.

Unter den drakonischen Gewerk-schafts-Gesetzen suchen Gruppen wie„OUR Walmart“ oder „Fight for 15“ (inetwa „Kämpft für 15 Dollar Mindest-lohn“) nun nach niedrigschwelligerenAngeboten zur Organisierung, die formalnicht als Gewerkschaft gelten und daheraktiver vorgehen können. Personell undfinanziell unterstützt von Gewerkschaf-ten wie der UFCW (United Food andCommercial Workers, zum Beispiel Be-schäftigte in Supermarktketten) und derSEIU (Service Employees InternationalUnion, zum Beispiel HausmeisterInnen,Reinigungskräfte, Gesundheitsbereich),machen diese Kampagnen auf die Miss-stände bei Walmart oder in Fast-Food-Ketten aufmerksam, bieten Beschäftig-ten Vernetzung und Beratung – und denersten Schritt zur gewerkschaftlichenMitgliedschaft.

Inspiriert von der Occupy-Bewegungdes Jahres 2011 verbreiteten sich vorallem Proteste und Streiks von Fast-Food-Beschäftigten bei McDonald´s,Burger King, Wendy´s und vielen mehr.Generell handelt es sich bisher um Min-derheitenstreiks, die von AktivistInnenund sozialen Gruppen massiv unter-stützt werden und so mediale Aufmerk-samkeit sowie einen gewissen Schutzfür die Streikenden erreichen können.

Diese Bewegung konnte vor allemüber staatliche Regelungen Erfolge er-zielen. Einzelne Arbeitgeber wurden zuZugeständnissen gezwungen, aber vorallem wurden Städte und Bundesstaatenerfolgreich gedrängt, die örtlichen oderstaatlichen Mindestlöhne zu erhöhen.Während der nationale Mindestlohn bei7,25 Dollar liegt, brachte in Los Angelesder Bürgermeister einen Mindestlohnvon 13 US-Dollar ins Spiel, Stadträtefordern 15. In Chicago verspricht derBürgermeister nun 13 Dollar, während21 der 50 Stadträte 15 Dollar unterstüt-zen.

Seattle ist die erste größere Stadt derUSA, in der 15 Dollar pro Stunde verab-schiedet wurde und schrittweise einge-führt wird. Unter der Führung der imletzten Dezember neu gewählten sozia-listischen Stadträtin Kshama Sawantund der von ihr gegründeten Aktivisten-organisation „15 Now“ zusammen mit

gewerkschaftlichen Protesten undStreiks wurden die Stadträte und derBürgermeister gezwungen, 100000Beschäftigten mit Armutslöhnen in die-ser reichen Stadt eine bessere Zukunftzuzugestehen. Kshama Sawant siehtdrei Gründe für den Erfolg: „Erstens:Wenn sich Beschäftigte organisieren,dann können sie gewinnen. Zweitens:ArbeiterInnen können sich nicht daraufverlassen, dass die zwei Parteien des BigBusiness ihre Interessen vertreten wür-den. Drittens: Du musst keinE SozialistInsein, um Dich zu wehren – aber es hilft!Eine wirkliche Massenbewegung heißtjeden willkommen, der sich dem Kampfanschließen will, aber die Geschichtehat gezeigt, dass Bewegungen ameffektivsten sind, wenn sie eine Führunghaben, die die Grenzen des Kapitalismusnicht als gegeben akzeptiert und Mas-senunterstützung aufbauen kann für ei-ne Vision einer Alternative“.

Drei Milliarden Dollar an Umvertei-lung bringt Seattles Gesetzgebung denNiedriglohnarbeiterInnen über die näch-sten zehn Jahre. Vor allem aber greiftdiese Bewegung um sich und gibt ge-werkschaftlichen AktivistInnen US-weiteinen einzigartigen Schub. Der „Fight for15“, der Kampf für den Mindestlohn,zeigt, dass klare Forderungen, die geeig-net sind, ArbeiterInnen zu begeistern,Rückgrat zum Wiederaufbau der Ge-werkschaften sein können. Die Forde-rung nach einem 8-Stunden-Tag vor100 Jahren kondensierte mit einer kla-ren Vision, was Gewerkschaften bewir-ken können. Ähnliches scheint auchheute dringend nötig. Gewerkschaftenals soziale Bewegungen wie im Kampffür 15 Dollar, als Kraft, die sich aufStreiks besinnt wie in Toledo, als organi-sierendes Zentrum für bisher Unorgani-sierte wie den New Yorker Fastfood-Be-schäftigten, als Organisation, die ihrenMitgliedern die Macht gibt, sich demo-kratisch zu entfalten wie in Chicago –so könnte auch in Detroit das Licht fürgewerkschaftlich Gegenwehr wiederangehen.

Stephan Kimmerle ist Mitglied desCommittee for a Workers´ International undarbeitet in Seattle, USA, eng zusammen mitKshama Sawant und ihrer Organisation,Socialist Alternative.

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ARBEITERKÄMPF IN DEN USA

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Indien ist eine der weltweit amstärksten expandierenden Volks-wirtschaften. Eine der Schlüssel-industrien, an der sowohl Um-bruch als auch Widersprüche derneueren Entwicklung deutlichwerden, ist die Autoindustrie. In-dien gehört zu den Gewinnerre-gionen des seit der Krise verän-derten Weltautomobilmarkts.Zwischen 2001 und 2010 hat sich dieAutoproduktion Indiens mehr als ver-doppelt. 2013 wurden im Land 3,3 Mil-lionen Pkw hergestellt. Nimmt man ne-ben Pkw auch die Produktion von Nutz-fahrzeugen, von Mopeds, Motorrädernund Dreiräder-Kfz hinzu, so wurden2013 20,6 Millionen Fahrzeuge produ-ziert. Alle globalen Autoproduzentenhaben inzwischen eigene Werke errich-tet, wobei die Produktion von einigengroßen Konzernen wie die Suzuki-Toch-ter Maruti mit einem Marktanteil von37 Prozent im Pkw-Sektors, und Tatamit einem Anteil von über 50 Prozentbei den Nutzfahrzeugenn dominiertwird. Zusammen bestritten diese Unter-nehmen bis vor wenigen Jahren dreiViertel der indischen Kfz-Produktion.

Beeindruckend ist auch die Entwick-lung der Beschäftigung. Die Branchezählt heute mehr als 700000 Beschäf-tigte. Zählt man die Beschäftigten der2- und 3-Rad-Produktion hinzu, so wer-den sogar 13 Millionen direkt und indi-rekt Beschäftigte genannt. Trotz einemEinbruch in der Branche 2013 und 2014sollen in den nächsten Jahren mehrereMillionen Arbeitsplätze neu entstehen.Dies würde den Sektor zu einer dergrößten Beschäftigungsmaschinen die-ser Dekade machen. In den letzten zehnJahren kann zudem ein enormer Anstiegder Produktivität der Arbeitskraft beob-achtet werden. Dabei fällt zunächst dieSpaltung der Beschäftigten zwischen

Leiharbeitskräften und anderen prekärBeschäftigten einerseits und den Fest-angestellten andererseits auf. Schätzun-gen zufolge sind durchschnittlich 67Prozent der Beschäftigten in den Betrie-ben Leih- beziehungsweise Zeitarbeits-kräfte. Insbesondere in den neuenUnternehmen liegt der Anteil von prekärBeschäftigten zwischen 60 und 80 Pro-zent. In älteren Firmen arbeiteten prekärBeschäftigte zunächst in Dienstlei-stungsbereichen, während sie in denneueren Werken die gleichen Tätigkei-ten wie Festangestellte im Produktions-bereich ausüben. Leiharbeitskräfte wer-den zudem in vieler Hinsicht schlechterbehandelt als Festangestellte. Sie habenzumeist keine wirklichen Chancen aufFestanstellung, sondern sind im selbenWerk dauerhaft auf Basis von Zeitarbeittätig. Sie erhalten wesentlich geringereLöhne. Der indische Gewerkschaftsver-band NTUI gibt die Lohnunterschiedezwischen 3:1 und 7:1 an. Erzwungener-maßen arbeiten prekär Beschäftigte imDurchschnitt wesentlich länger als Fest-angestellte (eher zwölf als acht Stundenpro Tag). Des Weiteren zahlen Unter-nehmen für diese Beschäftigten oftnicht in die Sozialversicherung ein, diedamit trotz rechtlicher Zusicherungohne Krankenversicherung bleiben. DerStaat reagiert auf solche Verstöße in derRegel nicht. Prekär Beschäftigte berich-ten von vielen Erfahrungen hinsichtlichEntwürdigung und Respektlosigkeitihnen gegenüber. So erhalten sie inmanchen Betrieben entweder kein Essenin der Kantine oder nicht das gleicheEssen wie Festangestellte, keine Arbeits-kleidung oder individuelle Schutzmittelwie Schuhe oder Handschuhe. PrekärBeschäftigte dienen als Druckmittel zurProduktionssteigerung, denen mit Ent-lassung gedroht wird, wenn sie nicht'spuren'. Angst und das Gefühl, 'alles

akzeptieren zu müssen' herrschen vor.Festangestellten wiederum wird durchdie Arbeit der Prekären signalisiert, dassauch sie jederzeit austauschbar sind. Inder Regel sind Zeitarbeitskräfte nichtgewerkschaftlich organisiert und Ge-werkschaften unternehmen nur wenigeVersuche, dies zu ändern. Beschäftigteberichten von einer Vielzahl von Ent-wicklungen, die Autobeschäftigten in-ternational nur allzu bekannt sind. Sowurden in den letzten Jahren in denneueren Betrieben Teamarbeit und da-mit verbundene neue Formen der Hier-archisierung eingeführt. Teamleaderübernehmen Managementfunktionenund tragen damit neue Formen der Kon-kurrenz und Kontrolle unter die Be-schäftigten. Nach Aufspaltung von Un-ternehmen in Kostenstellen und ver-schiedene 'Einzelunternehmen' werdeneinzelne Bereiche outgesourct und Teileder Produktion ausgelagert. Seitdemgibt es eine Standortkonkurrenz mitWerken in anderen Bundesstaaten oderim Ausland. Innerbetrieblich erleben Be-schäftigte eine enorme Steigerung derArbeitsintensität. Neue Produktions-standards wurden zunächst über Prämi-enanreize erzielt und dann als neueStandards definiert. Immer wieder wer-den dabei Überstunden erzwungen,während der gesetzlich zustehendeUrlaub verweigert wird.

Metallindustrie als Vorreiter –Auseinandersetzungen MarutiDie Metallindustrie hat mit dem Einsatzvon Leihbeschäftigten und hinsichtlicheiner neuen Produktionsorganisation ei-ne Vorreiterrolle eingenommen. Ent-scheidend für diesen Umbruch war dieAuseinandersetzung beim Branchenfüh-rer Maruti Suzuki in Gurgaon in der Nä-he von Delhi. Ende der 1990er Jahrekam es zu mehreren Auseinanderset-

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

Autoproduktion und Arbeitskämpfe in IndienEin Wachstumsmodell, das auf verschärfter Ausbeutung und Gewerkschaftsfeindlichkeit basiert

Heiner Köhnen & Jörg Nowak

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zungen um die Produktivität. 2000/2001wurde ein Frontalangriff auf die festan-gestellten Beschäftigten zur Vorbedin-gung für die weitere Umstrukturierung.Der Konflikt um die Änderung der Prä-mien für die Produktivität mündete ineiner dreimonatigen Aussperrung, in de-ren Folge zunächst rund 500 Traineesihren Job verloren. Nach Ende der Aus-sperrung setzte das Unternehmen einFrühverrentungsprogramm durch. DieEinstellung von Leiharbeitskräften nahmzu. Durch Einschüchterung, Entlassun-gen und 'freiwillige' Vorruhestandsrege-lungen wurden bis zum Jahr 2006 3000

Festangestellte aus dem Werk gedrängt.Es arbeiteten nur noch 1300 festange-stellte Produktionsarbeiter und –arbei-terinnen dort, aber bereits 3700 Leihar-beitskräfte. „Wenn diese Ärger machen,werden sie gekündigt“, so ein Aktivistdes Gewerkschaftsverbands NTUI. Indiesem für die Arbeitsbeziehungen stra-tegischen Werk war es gelungen, die zu-vor engagierte Gewerkschaft auszu-schalten, sie durch eine gelbe Gewerk-schaft zu ersetzen und den Einsatz vonLeiharbeitskräften zu ermöglichen. DieProduktivität wurde dabei dramatischerhöht. Während 2001 ein Beschäftigter

pro Jahr 50 Fahrzeuge produzierte, wa-ren es 2006 bereits 110. Gleichzeitigberichten Beschäftigte von einer starkenZunahme von Stresserkrankungen. Rundsechs Jahre später erklärte der damaligeGeschäftsführer des Unternehmens imBlatt Economic Times, dass ohne dieseAuseinandersetzung 2001 die „neuenArbeitsbeziehungen“ nicht umsetzbargewesen wären. Parallel zum Angriff aufdie Festangestellten strukturierte dasUnternehmen seine Zulieferkette um.Die Anzahl der direkten Zulieferer wurdevon 800 im Jahr 1998 auf 400 im Jahr2000 reduziert.

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ARBEITSKÄMPFE IN INDIEN

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Dabei ist die Auseinandersetzung beiMaruti kein Einzelfall. Der Maruti-Streik2000 und viele Auseinandersetzungenzwischen 2000 und 2010 in der Regionbei Honda HMSI, Hero Honda, ShivamAutotech, Delphi und anderen Autoun-ternehmen und Autozulieferern sind ge-prägt durch Repression und Polizeige-walt gegen aktive Beschäftigte und Ge-werkschaften: Beschimpfungen undAussperrungen bis hin zu psychischerund physischer Gewalt gegenüber deneigenen Arbeitskräften durch Aufpasserund Schläger, die von den Fabrikinha-bern angeheuerte wurden. Gautam Mo-dy, der Generalsekretär der NTUI: „Es hatin den letzten 15 Jahren keine gewerk-schaftlichen Organisierungsversuche inneu gebauten Fabriken gegeben, dienicht zu Schikane und Opfern unter denBeschäftigten geführt haben. Und wennes gelang, Gewerkschaften zu gründenund diese überlebt haben, dann müssensie weiter dafür kämpfen, Kollektivver-handlungen führen zu können.“ Dort,wo kämpferische Gewerkschaften exi-stieren und nicht durch Repression aus-geschaltet werden konnten, wurdenzum Teil unternehmerfreundliche Ge-werkschaften aufgebaut.

Auch jüngste Auseinandersetzungenim Werk von Maruti in Gurgaon-Mane-sar 2011 und 2012 stehen in dieser Tra-dition. Dieses Werk wurde 2007 eröff-net. 75 Prozent sind Leiharbeitskräfte,die wiederum von über 60 Leiharbeits-firmen kommen. Die Löhne liegen we-sentlich niedriger als im Stammwerk.Die Leiharbeitskräfte verdienen mit rund9000 INR ( circa 110 Euro) im Monatetwa die Hälfte dessen, was die Festan-gestellten bekommen (17000 INR). Be-schäftigte wehrten sich gegen dieschlechten Arbeitsbedingungen und ge-gen die vom Unternehmen eingesetzteBetriebsgewerkschaft.

So war es den Beschäftigten nichterlaubt, während der Arbeit Wasser zutrinken oder auf die Toilette zu gehen.Sie wurden stattdessen aufgefordert,dies in den Pausen zu tun. Es gab Stra-fen für vermeintliche „Verstöße“ wie dasNichterreichen von Produktionszielen.Beschäftigte wurden zu unbezahltenÜberstunden gezwungen. Arbeitskräfteerhielten keine Gesundheitsversorgungtrotz anderslautender Verpflichtungen

in ihren Arbeitsverträgen.Gegen diese Bedingungen streikten

die Beschäftigten im Juni 2011 13 Tagelang und forderten eine unabhängigeGewerkschaft. Ungewöhnlich war dieEinheit zwischen den Vollzeitbeschäftig-ten und den prekär Beschäftigten, dieden Streik unterstützten. In den darauf-folgenden Monaten wurden Verhand-lungen geführt, die zu weiteren Arbeits-niederlegungen, Entlassungen, zu Ge-fängnisaufenthalt für die Gewerk-schaftsführer und wiederum zu einem14-tägigen Streik im Oktober führten.So wurden die Beschäftigten am 29.August ausgesperrt und durften nur indie Fabrik, nachdem sie eine Vereinba-rung unterschrieben hatten, keineAktionen mehr gegen das Managementzu unternehmen. Nur 20 Arbeiter ließensich darauf ein. Die anderen versammel-ten sich vor dem Tor. Das Managementrekrutierte darauf 800 neue Leihbe-schäftigte, um die Produktion aufrecht-zuerhalten. Schließlich unterschriebendie Beschäftigten rund einen Monatspäter die Vereinbarung, die vorher ge-kündigten Arbeiter wurden wieder ein-gestellt. Doch als sie die Arbeit wiederaufnehmen wollten, verweigerte manam 3. Oktober 2011 den etwa 1100 Leih-arbeitskräften den Zutritt. Daraufhinwurde am 7. Oktober nicht nur diesesWerk erneut besetzt, sondern auch dreiandere Fabriken von Suzuki, die Moto-ren und Motorräder herstellen. In achtweiteren Autofabriken gab es Solidari-tätsstreiks. Entscheidend dabei war, dassdie Festangestellten und Leiharbeiternicht nur zum zweiten Mal zusammenkämpften, sondern dass sich auch ande-re Fabriken anschlossen. Eine Wochespäter räumten 2000 Polizisten dieselbstorganisierte Kantine, woraufhindie Beschäftigten die Besetzung aufga-ben. Schließlich erklärte das Manage-ment, die ausgesperrten Leihbeschäftig-ten wieder zurückzunehmen.

Der Staat verweigerte lange Zeit dieAnerkennung der neuen Gewerkschaftmit der Begründung, dass diese zu ei-nem illegalen Streik aufgerufen habe.Die Beschäftigten hielten durch. Am 27.Februar 2012 wurde die unabhängigeGewerkschaft Maruti Suzuki Workers‘Union (MSWU) offiziell anerkannt. Dieshat durchaus Symbolbedeutung für die

Region. Es konnte gezeigt werden, dasses möglich ist, der Unternehmenswillküreinen erfolgreichen Kampf für eigeneInteressen entgegen zu setzen. AuchJahre später, am 4. April 2014, hat dieGewerkschaft mit 80 Prozent der Stim-men der Festangestellten die Gewerk-schaftswahlen im Werk deutlich gewon-nen.

Dennoch gingen die Auseinanderset-zungen weiter, da das UnternehmenVerhandlungen über Lohnerhöhungenoder die Gleichstellung von Festen undLeihbeschäftigten verweigerte. Am 18.Juli 2012 wurde ein Arbeiter von einemVorarbeiter erst beleidigt und dann ge-kündigt. Nachdem Verhandlungen derGewerkschaft zu keinem Ergebnis führ-ten, kam es zu einem Gewaltausbruch.In dessen Verlauf brach ein Feuer aus,ein Manager kam zu Tode, mehr als 50Manager und höhere Angestellte wur-den verletzt. Nach dem Aufruhr wurdedie Fabrik einen Monat lang geschlos-sen; 546 Festangestellte und 1800 Leih-beschäftigte wurden ohne Begründungentlassen. In den Wochen nach demAufruhr nahm die Polizei mehr als 150Arbeiter fest, von denen viele an jenemTag gar nicht in der Fabrik gewesen wa-ren. Sie verbrachten lange Zeit im Ge-fängnis – ohne Urteil, ohne Kaution, an-geklagt wegen Mord. Proteste gegen dieVerhaftungen werden mit Gewalt unter-drückt, die Gefangenen gefoltert.

Weitere Konflikte in der Branche

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

LP21_ex_mb-in 26.03.2015 8:28 Uhr Seite 32

Im Juni 2013 brach bei Indiens zweit-größtem Motorradhersteller Bajaj inChakan bei Pune ein Streik aus. BajajAuto hat das Stammwerk in Pune 2007geschlossen. Bereits 2002 wurde im 15km nördlich gelegenen Chakan ein neu-es Werk eröffnet und junge Arbeitskräf-te eingestellt. Dort arbeiten etwa 1.200Festangestellte und 1000 Leihbeschäf-tigte. 2007 wurde die GewerkschaftVKKS gegründet. Sie schloss 2010 einenVertrag ab, der alle drei Jahre neu ver-handelt werden soll. Er beinhaltet einejährliche Lohnerhöhung von acht Pro-zent, die bei hohen Unternehmensge-winnen bis auf zwölf Prozent steigenkann. Als im März 2013 das erste Malnachverhandelt werden sollte, fordertedie Gewerkschaft 25 Prozent Lohnerhö-hung und feste Arbeitsverträge für dieprekär Beschäftigten. Auch hier gingenLeiharbeitskräfte und Festangestelltezusammen in den Streik. Das Unterneh-men schleuste neue Leihbeschäftigteein, um die Produktion fortzusetzen. 15Streikende wurden festgenommen, dasie angeblich Streikbrecher mit Gewaltam Betreten der Fabrik gehindert hät-ten. Nach 50 Tagen ging der Streik er-gebnislos zu Ende. Für Mai 2014 wurdejedoch bereits ein neuer Streik angekün-digt. Das Unternehmen blockiert bei denVerhandlungen bisher alle Forderungenund seit Dezember 2013 erhalten aktiveBeschäftigte im Werk im wöchentlichenRhythmus Disziplinarverfahren.

Auch wenn es bei Bajaj nicht zur Es-

kalation kam, gibt es wichtige Gemein-samkeiten zum Konflikt bei Maruti: DieUnternehmen setzen trotz Wachstumauf mehr Leihbeschäftigte und jüngereArbeitskräfte, was zu einer explosivenMischung führt. Die Reallöhne in derAutoindustrie in Indien sind seit demJahr 2000 um etwa 25 Prozent gesun-ken. Bei Maruti-Suzuki betragen dieLöhne zwei Prozent des Nettoumsatzes,ebenso bei Bajaj Auto.

Im Frühjahr 2014 gab es so auch inanderen Betrieben eine Reihe neuerStreiks und Betriebsbesetzungen. BeiAutofit in Dharuhera und Munjal Kiriuin Manesar kam es bereits im Dezember2013 und Januar 2014 längeren Konflik-ten. Die Beschäftigten bei Autofit konn-ten nach 59 Tagen Streik Lohnerhöhun-gen durchsetzen und die Beschäftigtenvon Munjal Kiriu konnten durch die Um-zingelung einer Polizeistation mit 4000Demonstrierenden durchsetzen, dass ge-gen vom Management bezahlte Schlä-ger ein Ermittlungsverfahren aufgenom-men wird. Mitte März 2014 kam es inzwei Toyota-Werken in der Nähe vonBangalore mit insgesamt 6500 Beschäf-tigten zu einer einwöchigen Aussper-rung, gefolgt von einem vierwöchigenStreik. Der Streik ging ergebnislos zuEnde, nachdem das Management zuge-sagt hatte, Kündigungen während desStreiks zurück zu nehmen. In drei Fabri-ken des Autozulieferers Napino Auto &Electronics in Manesar haben Arbeite-rinnen und Arbeiter Ende März für zehn

Tage ihre Werke besetzt. Dies war auchdeswegen ungewöhnlich, weil währendder Besetzung Männer und Frauen ge-meinsam im Werk übernachtet haben(bei Maruti arbeiten ausschließlichMänner). Ebenfalls bei einem Autozulie-ferer, im neuen Werk von Shiram Pistonsand Rings Ltd. in Pathredi, 40 Kilometersüdlich von Manesar, besetzten 1000Arbeiter für zwölf Tage ihr Werk. Am 26.April räumten 200 Polizisten das Werkund verletzten dabei 79 Arbeiter, 26 Ar-beiter sitzen bis heute im Gefängnis. DerProtest richtet sich gegen die Kündi-gung von 21 Kollegen. Der indischeBusiness Standard vermerkt hierzudurchaus anerkennend, dass die neueGeneration der Arbeiterinnen und Arbei-ter sich erst gar nicht damit aufhält,„eine Gewerkschaft zu gründen, sondernmit der direkten Aktion einer BesetzungForderungen nach Lohnerhöhungen undbesseren Arbeitsbedingungen aufstellt“.

Heiner Köhnen und Jörg Nowak sind fürdas Bildungswerk e.V. TIE (TransnationalsInformation Exchange) tätig. Seit Mitte derneunziger Jahre unterstützt TIE die Daimler-Koordination, um nationale und internatio-nale Kontakte zu koordinieren undHandlungsstrategien zu entwickeln.

Eine eindrückliche Schilderung der Situationvon prekär Beschäftigten sowie mehrererArbeitskonflikte und Streiks von Zeitarbeiter-Innen in Indien findet sich in einer von Wild-cat 2008 veröffentlichten Broschüre „Gurga-on, Indien: Neue Stadt, neues Glück, neueKämpfe?“

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ARBEITSKÄMPFE IN INDIEN

Oben: Streik bei Maruti-Suzuki im April 2014 (Foto: marutisuzukiworkersunion.wordpress.com)

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Outsourcing beziehungsweise dieAuslagerung von Arbeitsplätzeninnerhalb eines Betriebs tauchtein Brasilien im Zuge der aufkom-menden neoliberalen Politik inden neunziger Jahren auf. Es wur-de zunächst damit begonnen, diestaatliche Kontrolle des Öffentli-chen Dienstes zu begrenzen undMarktmechanismen auch in deröffentlichen Verwaltung einzu-führen.1 Fast zur selben Zeit wur-den auch verschiedene Formender Auslagerung im privatenSektor durchgesetzt.Heute sind Auslagerungen und unter-schiedliche Formen der Prekarisierung innahezu allen Bereichen der brasiliani-schen Wirtschaft präsent. In einer Ar-beitsmarktstudie aus dem Jahr 2012sieht das gewerkschaftliche Forschungs-institut DIEESE die Anzahl der Beschäf-tigten in ausgelagerten Bereichen beicirca acht Millionen,2 das entsprichtrund acht Prozent der ökonomisch akti-ven Bevölkerung. Der Gewerkschaftsver-band CUT spricht sogar von 13 Millio-nen ausgelagerten Beschäftigten.

Es überrascht daher nicht, dass Aus-lagerung ein zentrales Thema der brasi-lianischen Gewerkschaften wurde. Allegroßen Gewerkschaftsdachverbändefordern die Abschaffung von Auslage-rungen. Im Sommer 2013 stand dieseForderung ganz oben auf der Tagesord-nung, als ein ins Parlament eingebrach-ter Gesetzesentwurf (PL 4330) die weit-gehende Abschaffung von Auslage-rungsbeschränkungen anvisierte. Diemeisten Gewerkschaftsverbände erho-ben daraufhin dessen Ablehnung zurzentralen Forderung.

Während der Massenproteste imSommer 2013 organisierte ein Bündnismehrerer Gewerkschaftsverbände zweizentrale Aktionstage am 11. Juli und 30.August mit Demonstrationen, Streiksund Blockaden. Diese Aktionen wurden

zu den größten gewerkschaftlichen Mo-bilisierungen seit der Streikbewegungder späten siebziger Jahre. Die Forde-rung nach Ablehnung von PL 4330 wardabei zentral. Am 3. September wurdedie Abstimmung über den Gesetzesent-wurf in Brasilia durch eine Demonstrati-on verhindert.

Erfahrungen gewerkschaftlicherKämpfeGewerkschaften in Brasilien sind in eini-gen Fällen nach Branchen, meistensaber nach Berufsgruppen organisiert.Sie können die Beschäftigten einer Ge-meinde oder Stadt, aber auch mehrererGemeinden oder sogar ganzer Bundes-staaten umfassen. Ihr rechtlicher Statusist im sogenannten Arbeitsgesetzbuch(Consolidação das Leis do Trabalho, CLT)geregelt. Die zentralen Säulen des brasi-lianischen Gewerkschaftssystems sind 1.die Anerkennung des Staates als Vor-aussetzung für die Existenz von Ge-werkschaften; 2. das Prinzip der „unici-dade“, das nur eine Gewerkschaft proBerufszweig in einer bestimmten Regionerlaubt; sowie 3. die Gewerkschafts-steuer in Höhe von einem Tageslohn proJahr, die alle Lohnabhängigen, ob Ge-werkschaftsmitglied oder nicht, an denStaat bezahlen, der das Geld an die Ge-werkschaften weitergibt.

Das im zweiten Punkt erwähnte Sys-tem „nur eine Gewerkschaft pro Region“bedeutet, dass die Frage, ob die Be-schäftigten einer Profession in einerKommune von einer gegebenen Gewerk-schaft vertreten werden oder nicht, imWesentlichen dadurch bestimmt wird,ob eine andere Gewerkschaft den An-spruch auf ihre Vertretung erhebt odernicht. Wenn beispielsweise eine Metall-firma in der Stadt X die Sicherheitskräf-te auslagert, werden diese immer nochdurch die lokale Metallgewerkschaftvertreten, so lange es keine andereGewerkschaft gibt – in diesem Fall zum

Beispiel eine lokale Gewerkschaft fürSicherheitskräfte –, die sie repräsentiert(oder vorgibt, sie zu repräsentieren). So-bald es eine offiziell anerkannte Ge-werkschaft für diesen Berufszweig gibt,fällt die legale Vertretung automatischdieser Gewerkschaft zu (inklusive demRecht auf kollektive Verhandlungen).

Dieses System hat mit der Gründungunzähliger Gewerkschaften eine enormeZersplitterung der Gewerkschaftsbewe-gung bewirkt – eine Entwicklung, diesich in den letzten beiden Jahrzehnten(nach dem Ende der Militärdiktatur)noch verstärkt hat. In Brasilien gibt eshäufig juristische Auseinandersetzungenzwischen verschiedenen Gewerkschaf-ten über das Recht, Beschäftigte einesbestimmten Berufszweigs zu repräsen-tieren. Aktuell wird die Zahl brasiliani-scher Gewerkschaften auf 12-14000geschätzt.3 Aktive Gewerkschaftsmit-glieder weisen darauf hin, dass vieledieser Gewerkschaften nur auf dem Pa-pier oder als rein bürokratische Appara-te bestehen, ohne wirklich jemanden zurepräsentieren. Gewerkschaften werdendabei oft von Unternehmen unterstütztoder sogar direkt gegründet, um die Or-ganisierung der Beschäftigten zu be-kämpfen.

In der Metallindustrie, speziell in denAutofabriken, gibt es bemerkenswerteErfahrungen mit der Vertretung ausge-lagerter Beschäftigter. Während diemeisten Gewerkschaften die generelleAbschaffung von Auslagerungen for-dern, sehen sie sich in der Praxis mitderen breiter Anwendung konfrontiert.Deshalb sind Gewerkschaftsaktive und -funktionäre als zusätzliche Strategiedazu übergegangen, für die Vertretungder ausgelagerten Beschäftigten und dieVerbesserung von deren Arbeitsbedin-gungen zu kämpfen.

Der Prozess der Auslagerungen be-gann in der brasilianischen Metallindu-strie analog zur Entwicklung in anderen

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

Die Organisierung ausgelagerter und prekärbeschäftigter Arbeitskräfte bei Daimler BrasilienHeiner Köhnen

Rechts: Verwaltungsgebäude von Mercedes-Benz do Brasil inSão Bernardo do Campo. (Foto: wikipedia/ Jochen Jansen

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DAIMLER IN BRASILIEN

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Ländern mit Dienstleistungen wie Reini-gung, Kantine und Wachschutz. In jüng-ster Zeit wurde er auf Logistik, Maschi-nenwartung, Verpackung, Technik undandere Bereiche ausgeweitet. Die Ausla-gerung von Beschäftigten nimmt unter-schiedliche Formen an: Werkverträge,Leiharbeit, oder gar „Ein-Mann-Unter-nehmen“ (in Deutschland als „Ich-AG“und in Brasilien als „pessoa jurídica“ be-kannt). Diese neuen Beschäftigungsfor-men bewirkten einen Anstieg von nichtvon den Metallgewerkschaften reprä-sentierten Beschäftigten in den Fabrikenund eine Spaltung zwischen den Be-schäftigten. Das wird im Alltag in meh-reren Bereichen deutlich, zum Beispielwenn die ausgelagerten Arbeitskräftenicht dieselbe Cafeteria benutzen dür-fen. Als Reaktion darauf begann die Me-tallgewerkschaft der sogenannten ABC-Region4 mit der systematischen Organi-sierung der ausgelagerten Beschäftig-ten, vor allem bei Mercedes-Benz in SãoBernardo.

Mercedes-Benz in São BernardoZunächst wies das Fabrikkomitee5 ei-nem seiner Mitglieder die Aufgabe zu,sich ausschließlich um die ausgelager-ten Beschäftigten in der Fabrik zu küm-mern. Dadurch bekam die Gewerkschafteine Übersicht über die existierendenVertragsformen, Arbeitsbedingungen,gewerkschaftliche Vertretung usw. derausgelagerten Beschäftigten. Die Ge-werkschaft begann, Versammlungen derausgelagerten Beschäftigten zu organi-sieren und Mercedes-Benz für Verlet-zungen der Arbeitsrechte durch dieFremdfirmen verantwortlich zu machen.Ein Problem dabei war, dass die Gewerk-schaft nicht das Recht hatte, diese Ar-beitskräfte zu repräsentieren. Valter

Sanchez, Mitglied des Fabrikkomiteesbei Mercedes-Benz, hebt zwei Strate-gien als wichtig für die Erfolge der Ge-werkschaft hervor:

Erstens hat sich die Gewerkschaft nieauf ihre legalen Vertretungsrechte be-schränken lassen. Obwohl sie die ausge-lagerten Arbeitskräfte nicht offiziell ver-treten konnte, schreckte sie nie davorzurück, diese de facto zu vertreten. Sieorganisierte die ausgelagerten Beschäf-tigten in der Firma und handelte Tarif-verträge für sie aus, welche dannzwecks Legalisierung von den offiziellzuständigen Gewerkschaften unter-schrieben wurden.

Zweitens begann sie in den achtzigerJahren intensive internationale Koope-rationen und Austausche zu organisie-ren. Diese Zusammenarbeit ermöglichteunter anderem die Gründung einesWeltarbeitnehmerforums im Jahr 2002,welches die Arbeiterinnen und Arbeiteraus sieben Ländern vertritt. Dieser Welt-betriebsrat setzte sich unter anderemfür die Anerkennung der fundamentalenKonventionen der ILO ein, was 2002durch eine Vereinbarung über sozialeVerantwortung mit dem MutterkonzernDaimler erreicht wurde.

Heute haben viele internationale Un-ternehmen ähnliche Vereinbarungenunterschrieben, die jedoch wenig bewir-ken. Sie dienen allein der Öffentlich-keitsarbeit. Die betroffenen Beschäftig-ten wissen in der Regel nicht einmalvon ihrer Existenz. Die brasilianischenAktiven weisen aber darauf hin, dass esmöglich sei, diese Vereinbarungen zunutzen, um die Beschäftigten zu organi-sieren und Druck aufzubauen. Bedin-gungen sei jedoch, dass die Beschäftig-ten ihre eigenen Organisationen auf-bauen, um eine wirkliche Umsetzung

und Einhaltung solcher Vereinbarungauf der ganzen Welt zu erwirken und zukontrollieren. So war es ihrer Erfahrungnach entscheidend, dass im Daimler-Konzern ein Kontrollprozess eingeführtwurde. Es wurde erreicht, dass der Welt-betriebsrat als offizielles Kontrollorgananerkannt wurde. Eine weitere wichtigeErrungenschaft war, dass die Vereinba-rung auch die Zulieferkette des Kon-zerns umfasst, inklusive der ausgelager-ten Beschäftigten. Die Vereinbarungsieht vor, dass alle Beschäftigten überihren Inhalt informiert werden müssen.Sie wird als Anhang an alle Verträgeangefügt, die Daimler mit Zulieferfirmenabschließt.

Konkrete KämpfeAuf Grundlage dieser Vereinbarung hatdas Fabrikkomitee in São Bernardodamit begonnen, bessere Arbeitsbedin-gungen für ausgelagerte Arbeitskräftezu fordern und Verletzungen von Ar-beitsrechten in Fremdfirmen anzukla-gen. Die Vereinbarung wurde jedochnicht dadurch umgesetzt, dass ein Ver-trag unterschrieben wurde, sondern alsErgebnis von anhaltender Organisierungund aktiven Auseinandersetzungen amArbeitsplatz. Sanchez erklärt, dass dieVereinbarung für die Gewerkschaft da-bei eine Unterstützung war: „Eine Ver-einbarung ist ein Ausdruck der Kräfte-verhältnisse. Es ist der Kampf der Be-schäftigten, der die Einhaltung der Ver-einbarung sicherstellt.“6

Auch die Tatsache, dass die Metallge-werkschaft bei Mercedes-Benz seit1984 durch ein Fabrikkomitee vertretenist, ist bereits das Resultat des Kampfesder Beschäftigten. Zudem hat die Me-tallgewerkschaft des ABC erreicht, dassauch die ausgelagerten Arbeiterinnen

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

Oben: Großdemonstration bei Mercedes-Benz in São Bernardo (Foto: pstu.org.br)

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und Arbeiter durch von ihnen gewählteKomitees vertreten werden.

Im Folgenden werden zwei Beispieleangeführt, wie Arbeitsrechte bei Zulie-ferfirmen erfolgreich verteidigt wurden.

1. Mahle2003 hat Mahle, ein multinationalerAutozulieferkonzern aus Deutschland,drei Beschäftigte in Brasilien wegen derBeschädigung einiger Werkstücke ent-lassen. Als Protest gegen diese Entlas-sungen kam es in der Fabrik zu einemStreik. Daraufhin wurden alle Mitgliederdes Fabrikkomitees entlassen. Die Kolle-ginnen und Kollegen von Mercedes inSão Bernardo wurden über den Konfliktinformiert und beschwerten sich überdas Verhalten von Mahle bei ihrer Ge-schäftsführung. Mercedes sprach denFall bei Mahle an und bekam die Ant-wort, man sei deswegen noch im Ge-spräch – tatsächlich verweigerte Mahlejedoch jede Verhandlung. Die Geschäfts-führung von Mercedes erklärte schließ-lich, sie könne nichts weiter tun.

Daraufhin organisierte das Fabrikko-mitee von Mercedes eine Blockade derTeile, die von Mahle geliefert wurden,und schickte die Lkw am Tor zurück. DasKomitee forderte die Geschäftsleitungdazu auf, nun ihrer sozialen Verantwor-tung nachzukommen, der sie in derinternationalen CSR-Vereinbarungzugestimmt hatten. Im Ergebnis übteMercedes daraufhin Druck auf Mahleaus, deren Geschäftsleitung in FolgeVerhandlungen aufnahm. Die entlasse-nen Beschäftigten wurden innerhalbkurzer Zeit wieder eingestellt.

2. GrobBei der Firma Grob – ein weiterer deut-scher multinationaler Konzern, derMaschinen für Mercedes herstellt – hat-te die Gewerkschaft Schwierigkeiten beider Organisierung der Belegschaft. Alses gelungen war, zum ersten Mal einenVertreter der Beschäftigten im Betriebzu wählen, nutzte die Geschäftsleitungnach drei Monaten den erstbesten Vor-wand, diesen zu entlassen. Die Gewerk-schaft organisierte gegen diese Entlas-sung Aktionen vor der Fabrik. Der ent-lassene Vertreter war fast jeden Tag vorOrt. Abgeordnete, der Bürgermeister undPolitikerinnen und Politiker wurden ein-

geladen. Die Gewerkschaft informierteauch Mercedes über den Fall, aber nach70 Tagen gab es von Grob immer nochkeine Reaktion.

Das Fabrikkomitee von Mercedes or-ganisierte daraufhin eine Versammlungmit Beschäftigten aus den Abteilungen,die Maschinen von Grob verwenden.Dort beschlossen die Beschäftigten, vierder Maschinen für zwei Stunden abzu-schalten. Die Geschäftsleitung reagierteempört: Schließlich habe sie nichts mitdiesem Fall zu tun. Das Komitee ant-wortete mit dem Verweis darauf, dassdie unterschriebene CSR-Vereinbarungauch für die Zulieferfirmen Gültigkeithabe. Kurz darauf stellte Grob den Ver-treter der Gewerkschaft wieder ein.Mercedes versuchte den Arbeitern anden Grob-Maschinen für die Zeit desStillstandes Lohn abzuziehen. Das Komi-tee konnte auch das abwenden.

Weitere ErfolgeEine fundamentale Errungenschaft derGewerkschaftsaktiven bei Mercedes-Benz in São Bernardo ist die De-facto-Vertretung und Organisierung der aus-gelagerten Beschäftigten am Arbeits-platz. Auf deren Basis waren sie dazu inder Lage, Auslagerungen zu bekämpfenund/oder die Arbeitsbedingungen derausgelagerten Beschäftigten zu verbes-sern. In einem Fall hatte Mercedes eineZulieferfirma mit der Fertigung be-stimmter Teile beauftragt. Der Zuliefer-vertrag war auf drei Jahre angelegt. DieZulieferfirma hatte 42 Leute eingestellt,um den Auftrag zu erfüllen. Nach Endeder Laufzeit verlängerte Mercedes denVertrag jedoch nicht, und die Beschäf-tigten standen vor der Entlassung. Ineinem harten Kampf mit der Geschäfts-leitung, während dessen es auch zumStreik kam, hat die Gewerkschaft Mer-cedes dazu gebracht, die 42 Beschäftig-ten direkt einzustellen, deren Arbeit de

facto bereits ausgelagert war. Die Ge-werkschaft konnte auch einen Para-graph im Tarifvertrag7 mit dem folgen-den Inhalt durchsetzen: Wenn eine Zu-liefer- oder Werksvertragsfirma den Ver-trag mit Mercedes verliert, müssen de-ren Beschäftigte von einer neuen Firmaunter den gleichen Bedingungen weiterbeschäftigt werden. Auf diese Weisebleiben sie in der Mercedes-Fabrik be-schäftigt.

Zusätzlich etablierte die Gewerk-schaft ein wöchentliches Treffen mitausgelagerten Beschäftigten, bei wel-chem Arbeitsbedingungen und -rechtewie zum Beispiel Überstunden, Zuschlä-ge, Urlaub usw. diskutiert werden.

Die Gewerkschaft in São Bernardokämpfte auch gegen Prekarisierung inForm von Scheinselbständigkeit (Ich-AG). Diese Form der Anstellung intensi-viert die Prekarisierung: Diesen Beschäf-tigten werden nicht nur die Bedingun-gen der Mutterfirma vorenthalten. Sieverlieren praktisch alle grundlegendenArbeitsrechte und Leistungen, zum Bei-spiel Urlaub, Sozialversicherung und Be-zahlung von Überstunden. Die betroffe-nen Beschäftigten waren teilweise di-rekt angestellt gewesen, bevor sie ent-lassen und dann mit denselben Aufga-ben als Selbstständige beauftragt wur-den. Als Mercedes mit der Einführungsolcher Beschäftigungsverhältnissebegann, reagierte die Gewerkschaft: Sieblockierte die Tore und kontrollierte alleausgelagerten Beschäftigten, um derenStatus festzustellen. Durch entschlosse-nen Protest wurde erreicht, dass zu demZeitpunkt alle als Ich-AG beschäftigtenArbeitskräfte wieder eine reguläre Be-schäftigung bei einer Zulieferfirma be-kamen, inklusive aller geltenden Ar-beitsrechte.

Ähnliche Erfahrungen wurden in derRegion auch bei Volkswagen und Fordgemacht.

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DAIMLER BRASILIEN

Anmerkungen:1 vgl. O processo de terceirização e seus efeitos sobre os trabalhadores no Brasil, DIEESE 2007;

S.232 vgl. A situação do trabalho no Brasil na primeira década dos anos 2000, DIEESE, São Paulo

2012; S.3763 Zahlen zu Gewerkschaften enthalten oft die Arbeitergeberverbände, welche in Brasilien

ebenfalls „sindicatos“ genannt werden. Die hier angegebenen Zahlen enthalten diese nicht.4 ABC ist eine Abkürzung für die drei Gemeinden Santo André, São Bernardo & São Caetano

südöstlich von São Paulo. Gemeinsam bilden sie die größte Industrieansiedlung des Landes.5 In Brasilien sind rechtlich keine Beschäftigtenvertretungen am Arbeitsplatz beziehungsweise

im Betrieb vorgesehen. In einigen großen Firmen, vor allem in der Metallindustrie, haben dieGewerkschaften die Etablierung von Fabrikkomitees erkämpft.

6 Valter Sanchez in einem Interview mit TIE, 20137 Tarifverträge werden in Brasilien oft für einzelne Firmen abgeschlossen.

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Es gibt ausreichend Gründe dafür,bei der Formulierung einer radika-len Kritik an der Autogesellschaftweltweit und insbesondere inChina zurückhaltend zu sein. Wirleben in einer Region mit hoherPkw-Dichte. In Deutschland kom-men derzeit 517 Autos auf 1000Einwohner; in Österreich und inder Schweiz sind es sogar etwasmehr (521 und 529). Die USA hal-ten im übrigen mit 770 Pkw auf1000 Einwohner immer noch denPkw-Dichte-Rekord unter denFlächenstaaten.1Bereits die deutsche Pkw-Dichte liegtsieben Mal höher als diejenige in China.Dort gibt es, trotz einer atemberauben-den Aufholjagd bei der Massenmotori-sierung, im Jahr 2014 rund 100 Millio-nen Pkw bei 1,3 Milliarden Menschen.Damit kommen in diesem Land 75 Pkw

auf 1000 Einwohner. Einschließlich derLkw und Busse dürften es 130 Kraft-fahrzeuge (Kfz) auf 1,3 Milliarden Men-schen sein.

Dennoch ist eine radikale Kritik ander Fixiertheit auf das Auto angebracht.Auch hinsichtlich der Entwicklung inChina. Die Situation auf diesem Plane-ten Erde ist hinsichtlich der FaktorenKlimaveränderung, peak oil und Blutzolldurch Straßenverkehrsopfer viel zuernst.2

Von was reden wir? Die vorherrschende Form des Transportsvon Gütern und Personen basiert aufPkw, Lkw, Flugzeugen und Container-schiffen. Diese werden zu 99,9 Prozentmittels Verbrennung von Öl und Ölderi-vaten (Benzin, Diesel, Kerosin undSchweröl) angetrieben. Die Folgen sindkatastrophal – und weitgehend bekannt.

Klima- und UmweltbelastungDiese Verkehrs- und Transportformenhaben einen massiven Einfluss auf dieVerstärkung der Klimaveränderung: In-zwischen entfallen mehr als ein Drittelder von Menschen gemachten, das Kli-ma schädigenden Emissionen auf denStraßenverkehr, den Luftverkehr und dieContainerschifffahrt. Der Straßenver-kehr allein (Pkw und Lkw) trägt zu gut20 Prozent zu den weltweiten CO2-Emissionen bei. In den Städten liegt die-ser Anteil deutlich höher.

Diese Belastung ist keineswegs aus-schließlich ein Thema für die Zukunft.Sie stellt eine enorme Belastung für dieMenschen dar, die heute leben. So wur-den in Schanghai im Dezember 2013 ei-ne Feinstaubbelastung von 590 und inPeking im Januar 2013 eine solche von800 Einheiten auf der Feinstaubskalaregistriert; der EU-Grenzwert liegt bei

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

Car, Capital & ChinaDie Autogesellschaft im kapitalistischenWeltsystem und in China mit einer Skizze einer alternativenOrganisation von Mobilität

Winfried Wolf

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25, derjenige für Peking bei 80.3 Schät-zungen gehen davon aus, dass in Chinapro Jahr mehr als eine Million Men-schen an den Folgen der Luftverschmut-zung sterben. In den deutschen Städtenist der Straßenverkehr für mehr als 20Prozent der Feinstaubbelastung verant-wortlich.

Volkswirtschaftliche, Umwelt-und externe KostenDiese Verkehrsorganisation ist mit enor-men betriebswirtschaftlichen, volks-wirtschaftlichen und „externen“ Kostenverbunden. Die Behauptung, der Stra-ßenverkehr und der Flugverkehr würdenihre Kosten ganz oder weitgehend dek-ken, ist falsch. Einzurechnen sind diegewaltigen Kosten für das Straßennetz,für Stellflächen – vor allem in den Städ-ten. Für die erwähnten Klima- und Um-weltkosten und die Gesundheitskosten.

Und nicht zuletzt für die materiellenund immateriellen Schäden im Fall der-jenigen, die im Straßenverkehr getötetoder verletzt wurden. Nach unterschied-lichen Berechnungen machen dieexternen Kosten des Straßen- und Luft-verkehrs zwischen 7 und 10 Prozent desBruttoinlandprodukts der EU aus.

Der „Blutzoll“Mit dem Kfz-Verkehr sind enorm vieleTote und Verletzte verbunden. In der Eu-ropäischen Union mit 27 Mitgliedslän-dern („EU-27“) werden pro Jahr knapp40000 Menschen im Straßenverkehrgetötet. Damit wird in einer Dekade dieBevölkerung einer Großstadt mit400000 Einwohnern ausgelöscht. InChina gibt es jährlich offiziell 65000Tote im Straßenverkehr. Die Weltbankund die Weltgesundheitsbehörde WHOkommen auf einen deutlich höheren

Blutzoll von bis zu 200000 pro Jahr.4

Damit wird in China in einem Jahrzehntdurch den Straßenverkehr die Bevölke-rung einer Großstadt mit mindestens600000, wenn nicht eine solche mit biszu zwei Millionen Menschen ausge-löscht.

Diese Verkehrsform trägt auch inmassivem Maß zu Aggressionen und zueiner umfassenden zwischenmenschli-chen Brutalität bei. Dafür gibt es auchin China viele eindrucksvolle Beispiele(siehe Kasten).

Und was ist das Ergebnis?Extreme Zeitverluste undStaukosten Trotz dieser immensen Kosten, ist dieVerkehrsorganisation per Pkw erstaun-lich ineffizient: Je mehr Autos, destolangsamer der Verkehr. Konkret: Diedurchschnittliche Fahrgeschwindigkeit

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CAR, CAPITAL & CHINA

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in den Hauptverkehrszeiten liegt in Sin-gapur bei 27 Stundenkilometern, in Lon-don bei 16, in Tokio bei 11 und in Jakar-ta bei 5 km/h. Auch der Bau giganti-scher Highways mitten durch die Städteändert daran nichts. In Los Angeles, woes die größte Highway-Dichte gibt, liegtdie Durchschnittsgeschwindigkeit imPkw-Verkehr unter 15 km/h. In der chi-nesischen Hauptstadt Peking, die inzwi-schen eine mindestens ebenso großePkw-Dichte wie Berlin aufweist, ist diedurchschnittliche Pkw-Fahrtgeschwin-digkeit auf unter 10 Stundenkilometerngesunken.5

Diese Verkehrsgeschwindigkeiten ent-sprechen denen eines Fahrradfahrers;mancherorts liegen sie bei denen einesFußgängers. Der dabei betriebene Ener-gieaufwand ist absurd – es werden je-weils mehr als eine Tonne Stahl, Plastikund Blech mit oft mehr als 100 PS be-wegt, um eine Person oder zwei Men-schen im Schritttempo zu bewegen.

Damit stellen sich drei Frage: Erstens:Warum ist dieses Verkehrssystem derartvorherrschend, wenn dieses denn irra-tional, teuer, zerstörerisch und ineffi-

zient ist? Schließlich wird behauptet,der Markt und der Kapitalismus seienrational oder zumindest kostensensibel.Zweitens: Gibt es nicht längst Optimie-rungen dieser Transportart? Findet mög-licherweise, wie die Autoindustrie be-hauptet, sogar eine „Verkehrsrevolution“statt, in deren Zentrum Elektro-Autos,Agrokraftstoffe („Biokraftstoffe“) undModelle von Car-Sharing stehen? Drit-tens: Gibt es eine grundsätzliche Alter-native zur Autogesellschaft?

I. Die Geschichte des „westernway of mobility“ ist eng verbun-den mit der Wirtschaftsgeschich-te des 20. Jahrhunderts und derDurchsetzung der US-Hegemonieauf dem WeltmarktDie Eisenbahn setzte sich im 19. Jahr-hundert in der „modernen Welt“ nochweitgehend zeitgleich durch. Die erstenöffentlichen Eisenbahnen gab es 1825in England, 1829 in den USA, 1835 inDeutschland und 1837 in Russland. DaChina damals weitgehend abgeschottetvom Weltmarkt war bzw. Teile davonkolonialen Status hatten, gab es hier die

erste Eisenbahn erst 1904 bzw. 1910.6

Ganz anders im Fall von Auto undFlugzeug. Die Autoindustrie – und eben-so der Flugzeugbau – entwickelten sichzuerst in den USA. Im Jahr 1910 begannin einer Fabrik von Henry Ford die ersteMassenfertigung von Pkw („T-Modell“).In dem Maß, wie sich die USA zur füh-renden kapitalistischen Macht durch-setzten, setzten sie auch ihr „Mobili-tätsmodell“ durch: Der „American Wayof life & mobility“ wurde zum „globalway of life & mobility“. Entsprechendkam es zu einer enorm phasenverscho-benen Durchsetzung der Autogesell-schaft. Wenn wir als (alten) Maßstabfür „Vollmotorisierung“ einen Pkw aufvier Einwohner – oder 250 Pkw auf1000 Einwohner (immer Säuglinge undGreise inbegriffen) – nehmen, dannwurde dieses Stadium in den Regionendes westlichen Kapitalismus zu erheb-lich unterschiedlichen Zeiten erreicht:In den USA 1930, in Westeuropa 1960,in Japan 1980, in der DDR 1989, in Po-len, Ungarn, Tschechien und Slowakei1995 und in Bulgarien und Rumänienerst 2012.

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China: Das aggressive Klima der AutogesellschaftOffiziell gibt es in China im Jahr mehr als 60000 Verkehrstote; nach Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation sind esrund doppelt so viele.

Doch es ist nicht allein dieser direkt messbare Blutzoll, der erschreckend ist. Die Autogesellschaft trug auch zu einem enormaggressiven allgemeinen Klima bei. Ein Beispiel von vielen:

Am 13. Oktober 2011 wurde die zweijährige Wang Yue in der Stadt Fushan in der Provinz Guangdong von einem Auto erfasstund blieb auf der Straße liegen. Das Mädchen lebte noch. In der Folge wurde es noch von zwei Lastwagen überrollt. Auf Videos,die Augenzeugen mit Handys aufnahmen und ins Internet stellten, sieht man, wie sieben Minuten vergingen, in denen achtzehnPersonen achtlos und ohne Hilfe zu leisten, an dem Mädchen vorbeigingen. Es war am Ende eine Müllsammlerin, die ihr zu Hilfeeilte und sie ins Krankenhaus brachte. Sie starb dort.

Dieses Beispiel von Alltagsaggression im chinesischen Autoverkehr wurde in der Rede wie-dergegeben, die der chinesische Schriftsteller Liao Yiwu anlässlich der Verleihung des Frie-denspreises des Deutschen Buchhandels am 14. Oktober 2012 in Frankfurt am Mainhielt. Die Schriften von Liao Yiwu können in der VR China nicht veröffentlichtwerden.Angaben und Zitat nach: Frankfurter Allgenmeine Zeitungvom 15. Oktober 2012.

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In China könnte dieser Motorisie-rungsgrad im Jahr 2025 erreicht wer-den. Dann müsste es in China 350 Mil-lionen Pkw bei dann 1,4 MilliardenMenschen geben. Gegenwärtig sind es,wie erwähnt, knapp 100 Millionen beieiner Bevölkerung von 1,3 Milliarden.

Diese phasenverschobene Durchset-zung der Autogesellschaft hatte dreiwichtige Konsequenzen: Erstens istNordamerika die einzige Region in derWelt, in der die negativen Konsequen-zen von dieser Art Mobilität nur einge-schränkt zu Tage treten. Es handelt sichum ein Land mit fast unbegrenztem frei-en Land. Wobei der vorausgegangeneVölkermord an der einheimischen Bevöl-kerung eine Grundlage für diese Situati-on ist. Auch heute noch kommen in denUSA nur 32 Menschen auf einen Qua-dratkilometer (1929 waren es nur guthalb so viele). China ist mit 141 Perso-nen auf einen Quadratkilometer fastfünf Mal dichter besiedelt als die USA;Deutschland mit 229 Menschen je qkmsogar sieben Mal dichter.7

Zweitens. Die Stärke der USA auf demWeltmarkt im Zeitraum 1925 bis 1975konkretisierte sich in einer Stärke derUSA in den Sektoren Öl und Auto. 1965stammten noch gut 80 Prozent allerPkw, die irgendwo auf der Welt herge-stellt wurden, von den Fließbändern derUS-Autokonzerne: GM, Ford, Chryslerund American Motor und deren Töchterin Australien (Holden = GM) und in Eu-ropa (Vauxhall und Opel – beide GM;und Simca, zeitweilig eine Chrysler-Tochter). Kapitalexport der USA hieß oftBau von Autofabriken; Warenexportewaren oft Pkw-Importe.

Drittens. Auch die aktuelle Autoindu-strie ist erheblich von den „westlichenAutokonzernen“ beherrscht. Ford undGM hielten lange Zeit Beteiligungen anjapanischen und südkoreanischen Auto-konzernen. Der chinesische Automarktwird auch heute zu 55 Prozent von denAutokonzernen aus Deutschland, USA,Japan und Südkorea dominiert. Esscheint sogar so zu sein, dass in jünge-rer Zeit die nicht-chinesischen Konzerneihre Position auf dem chinesischenMarkt ausbauen konnten.8

In einer ausführlicheren Studie müss-te man die Geschichte des US-KapitalsEnde des 18. und Anfang des 19. Jahr-

hunderts darstellen, um zugleich zu ver-stehen, warum und wie sich das Autoweltweit durchsetzte. Hier nur verkürzt:Um diese Jahrhundertwende stiegenRockefeller (Öl) und Ford (Auto) zu denwichtigsten US-Unternehmen auf undbildeten die maßgebliche Kapitalfrakti-on – vor den Eisenbahnkapitalisten (u.a.Vanderbilt), die bis dahin das Sagen hat-ten. Parallel mit dem Siegeszug des US-Kapitals auf dem Weltmarkt, der Anfangdes 20. Jahrhunderts begann, setzte sichdamit auf globaler Ebene diese spezifi-sche Form der Verkehrs- und Transpor-torganisation durch.

Es sollte zu denken geben, wenn ak-tuell in China und in anderen Schwel-lenländern ein Mobilitätsmodell durch-gesetzt wird, das weitgehend parallelzum Siegeszug des US-Kapitals zumweltweit vorherrschenden wurde – einModell im Übrigen, das sich im Westenkeineswegs bewährt hat. Und dass diesausgerechnet zu einem Zeitpunkterfolgt, wo China dabei ist, die USA aufPlatz 1 als größte Industrienation abzu-lösen bzw. in einen Wettstreit um dieWeltmarkthegemonie einzutreten.

II. Die Organisation von Verkehrund Transport auf Basis von Pkw,Lkw, Flugzeugen und Schiffen istideal für die Durchsetzung desPrinzips „Privatisierung von Profi-ten und Vergesellschaftung vonVerlusten“Bei Eisenbahnen bilden der Verkehrsweg(die Schieneninfrastruktur) und der Be-trieb (das „rollende Material“ mit denFahrzeugen wie Loks, Waggons usw.) inder Regel eine betriebswirtschaftlicheEinheit. Die „externen Kosten“ – die vonder Umwelt, der Natur usw. „bezahlt“werden – sind niedrig. Fast alle be-triebswirtschaftlichen Kosten tauchen inder Bilanz des Unternehmens auf: beiden privaten oder staatlichen Eisen-bahnunternehmen.9

Völlig anders verhält es sich beimStraßenverkehr, beim Luft- und Schiffs-verkehr.

Fahrweg und Infrastruktur (Straßen,Flughäfen, Seehäfen) befinden sich fastimmer in öffentlichem Eigentum (odersie sind in anderer Weise getrennt vomBetrieb und werden massiv öffentlichsubventioniert). Die Fahrzeuge befinden

sich in Privateigentum: Entweder im Ei-gentum der „kleinen Leute“ (Pkw) oderim Eigentum einzelner Firmen (z.B. Spe-diteure). Die Hersteller – Autokonzerneund Flugzeugindustrie – sind nochmals„weiter weg vom Geschehen“ und eben-falls privatwirtschaftlich organisiert.

Die externen Kosten dieser Verkehrs-arten sind enorm. Sie werden jedochvon den privaten Eigentümern nicht –oder nur in marginalem Umfang – be-zahlt. Das wird durch die beschriebeneStruktur enorm begünstigt.

Durch die systematische Trennungvon Infrastruktur und Betrieb ist eineoptimale Durchsetzung des Prinzips„Privatisierung der Profite“ (u.a. bei denAutokonzernen, im Flugzeugbau und beiden Werften) und Vergesellschaftung ei-nes großen Teils der Kosten dieserTransportform (bei der öffentlichenHand, bei öffentlichen Versorgungssy-stemen wie Kranken- und Rentenkassen,bei späteren Generationen) möglich. Dasbedeutet zugleich, dass es möglich wird,dass die Pkw-Nutzer relativ niedrigeKosten bezahlen. Auch hier wird dergrößte Teil der realen Kosten für denmotorisierten „Individualverkehr“ ebennicht von den Individuen, sondern vonder Gemeinschaft der Steuerzahlendenoder späteren Generationen geschultert.Wie enorm hoch diese Kosten sind, wirddann schnell deutlich, wenn im Stadt-staat Singapur per Maut ein großer Teilder realen Autofahrt-Kosten verlangtwird.

Doch Singapur ist die absolute Aus-nahme – und in der praktizierten Formeher abschreckend, da dort praktisch„Freie Pkw-Fahrt für reiche Bürger“ gilt,während der öffentliche Verkehr völligunzureichend ausgebaut ist. Im Normal-zustand, mit der genannten Vergesell-schaftung der externen Kosten des Stra-ßenverkehrs, werden auf eine höchstsublime Art die tatsächlichen Kosten desStraßenverkehrs verschleiert. Es entstehtder Eindruck, dass sich „alles rechnet“.Würden jedoch alle tatsächlichen Kos-ten des Autoverkehrs den Nutzerinnenund Nutzern angerechnet, dann müss-ten sich die Kosten für eine Pkw-Fahrtgut verdoppeln, die für eine Lkw-Fahrtmehr als verdreifachen. Damit aber wür-den die Vorteile der anderen Verkehrsar-ten erst ins richtige Licht gerückt. Wo-

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CAR, CAPITAL & CHINA

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bei unter solchen Bedingungen ein Teilvon Verkehr erst gar nicht entstehenwürde – weil die Menschen bei deutlichhöheren Verkehrs- und Transportkostenihr Geld für anderes ausgeben würden.

Im übrigen ist bereits der Begriff „ex-terne Kosten“ Teil einer Ideologie. InWirklichkeit handelt es sich um „interneKosten“, um Kosten, die voll und ganzder Verkehrsart Straßenverkehr – undanalog dem Flugverkehr bzw. der Con-tainerschifffahrt – zuzurechnen sind.Die auf diese Weise viel zu niedrigenKosten für diese Verkehrsarten wirkenwiederum dahingehend, dass die ent-sprechenden Verkehrsleistungen infla-tionär zunehmen – und andere, volks-wirtschaftlich sinnvollere Verkehre oderProduktionen verdrängen.10

III. Die Autogesellschaft und dieBilligfliegerei wirken wie das alt-römische Prinzip von „Brot und

Spiele“ für den Erhalt von Herr-schaft. Mit ihnen wird die Ent-fremdung, die Lohnarbeit undKapital mit sich bringen, teilweisekompensiert.Oftmals wird darauf verwiesen, dass esdoch „die Menschen“ seien, die sich „einAuto“ leisten, die mit dem Billigflieger„in ferne Lande gelangen“ wollten. EinePolitik „gegen das Auto“ und „gegen dieBilligfliegerei“ sei eine Politik „gegen dieMehrheit der Bevölkerung“. Eine solchePolitik zu betreiben sei „politisch nichtdurchsetzbar“.

Das ist ebenso richtig wie verkürzt.Warum, so ist zu fragen, wünschen sichhunderte Millionen Chinesinnen undChinesen ein Auto, wenn sie doch wis-sen, dass sich dieser Traum zu ihrenLebzeiten nicht erfüllen wird? Und war-um verfolgen sie einen solchen Traumtrotz der erkennbaren massiven Beein-trächtigungen für Leben, Gesundheit,

Umwelt und Lebensqualität?Die Ursachen für die – unbestreitba-

ren – Wünsche und Sehnsüchte vonHunderten Millionen Menschen nachdem Besitz eines Autos liegen sehr tief.

Verkürzt gesagt geht es um das Fol-gende: Die kapitalistische Gesellschaftproduziert systematisch Entfremdung.Damit ist gemeint: Das Wesen desMensch-Seins, sich zu „vergegenständli-chen“, sich „außer sich zu setzen“, Sinn-volles zu tun und in diesem Sinn alsProduzent schöpferisch tätig zu seinund zu arbeiten, wird im Kapitalismusauf unterschiedliche Weise negiert. Un-ter anderem dadurch, dass das vonLohnabhängigen hergestellte Produktjemand anderem gehört: dem Kapitali-sten; dem Betrieb; dem Konzern. Oderdadurch, dass oft Unnötiges, Schrottund gar Zerstörerisches produziert wird.Auch gilt: Je mehr die lohnabhängig Be-schäftigten malochen, desto größer wird

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Die Öl-Auto-Struktur der größten chinesischen Konzerne1999 gab es in der Gruppe der 500 größten Konzerne erst 10 chinesische. 2005 waren es zwar doppelt so viel, doch mit 20immer noch wenig. 2013 waren es dann bereits 95. Dabei sind es inzwischen in einem erheblichen Maß Öl- und Autokonzerne,die das Bild bestimmen. Insgesamt 13 können dieser Gruppe zugeordnet werden. Es sind die folgenden (in Klammer jeweils alserstes der Rang unter den chinesischen Konzernen selbst und bei der zweiten Zahl der Rang in der Global-500-Gruppe):

Sinopec Group (1/3); China National Petroleum (2/4); China National Offshore Oil (11/79); SAIC Motor (13/85); China FAW-Group (17/11); Dongfeng Motor Group (18/113); China South Industries Group (30/16); Aviation Industry Corp. of China (31/178);Beijing Automotive Group (40/248); China National Aviation Fuel Group (59/314); Guangzhou Automobile Industry Group(72/366); Shaanxi Yanchang Petroleum Group (88/432) und die Zhejiang Geely Holding Group (92/466). Auffallend ist, dass sichin dieser Gruppe chinesischer Konzerne in der Global 500-Liste fast ebenso viele mächtige Energiekonzerne (wie State Grid, Chi-na Southern Power Grid, Shandong Energy Group oder China Huaneng Group) befinden, bei denen es wiederum Querverbindun-gen zu den Ölkonzernen gibt. Interessant ist schließlich, dass sich in dieser Gruppe auch drei Unternehmen aus dem BereichEisenbahnen befinden: China Railway Construction (12/80), China Railway Group (14/86) und China Railway Materials (89/442).

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die Kapitalmacht - eine Macht, die sichgegen sie und gegen die große Mehrheitder Bevölkerung richtet. Die Unterneh-men werden größer. Das Kapital konzen-trierter. Die Konzerne immer mächtiger.Die Reichen werden reicher – die Armenärmer; der Mittelstand verfällt.11 Undmit dem Reicherwerden der Reicheneinher gehen der Sozialabbau, die Ver-wandlung von Normalarbeitsplätzen inBilligjobs, Leiharbeit, ausgelagerte pre-käre Jobs; es kommt zum Abbau vonDaseinsvorsorge, zur Aushöhlung ele-mentarer Errungenschaften wie freieAusbildung, profunde Bildung undhochentwickelte Kultur.

Vor allem ist den meisten Menschenklar: Auf die wirklich wichtigen Ent-scheidungen in der Gesellschaft habensie so gut wie keinen Einfluss. Das trifftdurchaus auch auf Länder mit einer bür-gerlichen Demokratie zu. In Deutschlandgingen im September 2014 bei dreiLandtagswahlen nur noch rund 50 Pro-zent der Wahlberechtigten überhauptan die Wahlurnen (in Sachsen undBrandenburg waren es sogar weniger als50 Prozent).

Wenn also die Menschen den Arbeits-alltag entfremdet erleben, wenn ihnendie „große Freiheit“ ebenso wie einewirksame Beteiligung an den großenEntscheidungen über Klimaschutz, Kriegund Frieden, Rüstung oder Bildung usw.

verwehrt werden, dann suchen dieseihre Zuflucht bei den kleinen Freiheiten:Billigflug ans Meer. Sex-Kick im Inter-net. Die Fahrt mit der eigenen Blechki-ste ins Grüne (oder in den Dauerstau).

Vor diesem Hintergrund ist es einiger-maßen logisch, dass die wesentlichenFörderer der Autogesellschaft zugleichdiejenigen waren, die die Entfremdungauf den Höhepunkt trieben: Faschisten.Henry Ford war überzeugter Faschistund Antisemit (er wurde von der NSDAPmit dem höchsten deutschen Orden fürNicht-Deutsche ausgezeichnet). SeineFließband-Massenfertigung von Autos,deren Grundprinzipien von dem indu-striellen Massenschlachten in denSchlachthäusern Chicagos von Ende des19. Jahrhunderts übernommen wordenwar, war mit einem ausgesprochenmenschenverachtenden Weltbild ver-bunden. Mussolini ließ die ersten Auto-strade (Autobahnen) bauen; der italie-nische Faschismus förderte den Fiat-Konzern und verfolgte erstmals das Zieleiner „Volksmotorisierung“ mit demKleinwagen „Topolino“ (= „kleine Maus“;Fiat 500). Adolf Hitler und das NS-Re-gime betrieben den Reichsautobahnbauin großem Maßstab, propagierten eben-falls die „Volksmotorisierung“ (mit demModell VW-Käfer) und ließen das Volks-wagenwerk in Wolfsburg bauen – dasdann nach dem Zweiten Weltkrieg maß-

geblich zur westdeutschen Volksmotori-sierung beitrug.

Der deutsche Architekt Albert Speererhielt in China Großaufträge für Stadt-projekte, darunter auch einen für die„Autostadt Anting“. Albert Speer juniorhaftet nicht dafür, dass sein Vater, Al-bert Speer senior, der Chef-Architekt derNSDAP war, der unter anderem an derPlanung der „Kraft-durch-Freude-Stadt“von Volkswagen, dem späteren Wolfs-burg, beteiligt war. Doch Albert Speerjunior bekennt sich explizit zu wesentli-chen Prinzipien, die bereits sein Vatervertrat. So äußerte er: „Seine Idee [dieIdee von Albert Speer senior; W.W.], dieBahnhöfe aus den Städten hinauszule-gen und die Innenstädte frei von Schie-nen zu halten, finde ich auch heutesinnvoll.“12

IV. Es gibt nicht nur eine kapitali-stische Verfasstheit der Weltwirt-schaft. Es gibt vor allem auch einestoffliche Verfasstheit der kapitali-stischen Weltwirtschaft, die aufdas aktuelle Mobilitätsmodellausgerichtet ist.Die weltweit vorherrschende Wirt-schaftsweise ist – auch in China – vonden kapitalistischen Gesetzmäßigkeitenbestimmt: der Profitmaximierung, derWeltmarktkonkurrenz und dem Kampfum die Weltmarkt-Vorherrschaft. Dass

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diese Weltökonomie auch stofflich – inder konkreten Zusammensetzung desWeltkapitals – vom aktuellen Mobili-tätsmodell bestimmt wird, wird kaumthematisiert. Dabei hat dies enorme po-litische Folgen und erklärt zu einem er-heblichen Teil die Durchsetzung desaktuellen Mobilitätsmodells.

Im Juli 2014 erschien das neue Heftdes US-Kapitalblatts Fortune mit der2013er Liste der größten Konzerne undBanken der Welt.13 Bildet man in demEnsemble der „Global 500“ eine Unter-gruppe von Unternehmen, die der Ölin-dustrie, der Autoindustrie und demFlugzeugbau angehören, dann kommtdiese Gruppe auf rund 30 Prozent desaddierten Umsatzes der „Global 500“.14

Bei der Profitmasse kommt diese Unter-gruppe sogar auf 35 Prozent aller aus-gewiesenen Profite. Und hier sind nochnicht die Banken und Versicherungenund Hedge Fonds und deren Engage-ment bei Öl/Auto/Flugzeugbau berück-

sichtigt. Die Kapitalgruppe Öl-Auto-Flugzeugbau ist unter allen produktivenSektoren die mit Abstand wichtigsteinnerhalb der Global 500 – und damitauch die entscheidende Gruppe imWeltkapital.15

An diese Gruppe gekoppelt sindschlagkräftige Lobby-Armeen. Damitverbunden sind die größten Werbeetatsim kapitalistischen PR-Business. DieseLobbys nehmen wirksam Einfluss auf diejeweilige Verkehrs- und Strukturpolitikin Washington, Peking, Tokio, London,Moskau, Brüssel und Berlin. Sie habenerheblichen Einfluss bei den internatio-nalen Institutionen wie Weltbank, Inter-nationaler Währungsfonds oder Euro-päische Entwicklungsbank. Sie beein-flussen in großem Umfang die Medien,die Werbewelt und – äußerst wichtig! –das Fernsehen, die Filmindustrie und dieMode.

Die Zusammensetzung der chinesi-schen Wirtschaft unterscheidet sich in-

zwischen nur noch graduell von derjeni-gen der großen imperialistischen Länderwie USA, Deutschland und Japan. Sieweist deutliche Parallelen zu derjenigender weltweit größten Unternehmen auf.Innerhalb der Global 500 befanden sich2013 bereits 95 Unternehmen mit Sitzin China. Unter diesen 95 chinesischenGlobal-500-Unternehmen zählen 13direkt zum Sektor Öl, Auto und Flug-zeugbau. Wobei die zwei größten chine-sischen Konzerne auf dieser Liste –Sinopec Group und China NationalPetroleum – reine Ölkonzerne sind, wasder Situation an der Spitze der US-ame-rikanischen Konzerne in der Global-500-Gruppe ähnelt, wo Exxon Mobil undChevron auf den Rängen 2 und 3 plat-ziert sind (auf Rang 1 rangiert der Ein-zelhandels-Riese Wal Marts).

Der addierte Umsatz dieser 13 chine-sischen Auto-Öl-Flugzeugbau-Konzernehat laut Fortune das Volumen von –umgerechnet – 1508 Milliarden US-Dol-

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Elektro-Pkw – das Beispiel NorwegenDas skandinavische Land Norwegen ist führend beim Anteil von Elektro-Pkw an allen neu verkauften Pkw – und führend bei derSubventionierung dieser Transportform. Im Land gibt es weitgehend Steuerfreiheit beim Kauf eines Elektro-Pkw: es wird keineMehrwertsteuer und keine Kfz-Steuer erhoben. Eine aktuelle Studie aus dem Jahr 2014 ergab: Pro Jahr (!) wird in Norwegen ein

Elektro-Pkw mit 6200 Euro aus Steuermitteln subventioniert. Währendder rund zehnjährigen Lebensdauer zahlt der Staat also 62.000

Euro an Subventionen je Elektro-Pkw.93 Prozent der Käufer eines Elektro-Pkw verfügenbereits über ein Auto mit konventionellem Antrieb.

Damit wird mit Elektro-Pkw die gesamte Pkw-Flotteeher noch vergrößert. Die Käufer von Elektro-Pkw

leisten sich für den Stadtverkehr einen Zweit-oder gar Drittwagen. Sie blockieren dort dieBusspuren und behindern damit den öffentli-chen Verkehr. Für Touren mit größeren Ent-fernungen wird weiterhin ein Pkw mit Ben-zin- oder Dieselkraftstoff-Antrieb genutzt.Wobei dieser Pkw, wenn er nicht benutztwird, in der City einen Stellplatz benötigt.Elektroautos verstärken damit den Trend,den es seit zwei bis drei Jahrzehnten gibt:Das Auto als allgemeines Verkehrsmittel

wird aufgespalten in viele Autos für unter-schiedliche Zwecke: Stadtauto (gerne als e-

car), Familienauto („Van“), Freizeitauto (SUV),Kleintransporter und Tourenwagen. Damit aber

wird die Zahl der Pkw nochmals deutlich erhöht. Angaben nach: Studie von Anders Skonhoft, Universität

Trondheim, 2014 (www.ntnu.edu/employees/anders.skondhoftund www.ntnu.edu/documents/140152/622066862/Skondhoft

_2014.pdf). Wiedergegeben in: Tageszeitung, 9.9. 2014.Grafik: J.Römer

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lar. Das entspricht bereits 25,8 Prozentdes gesamten Umsatzes aller chinesi-schen Konzerne unter den Global 500(siehe Kasten S. 42).

Zurück zur weltweiten Dimension:Das Irritierende ist: 1973, zur Zeit derersten Ölkrise, als der „Club of Rome“den Bericht vom „Ende des Wachstums“veröffentlichte, wurde erstmals die Pro-blematik der Öl-Auto-Gesellschaft the-matisiert. Damals lag der Anteil derGruppe Öl-Auto-Flugzeugbau an denGlobal 500 erst bei rund 20 Prozent.Seitdem hat er sich um mindestens das1,5fache erhöht.

In Deutschland gibt es den dummenMacho-Spruch von den „Milchmäd-chen-Rechnungen“, die angeblich un-stimmig sind. Tatsächlich musstenMilchmädchen gut rechnen können –sie mussten haushalten. Jedes Milch-mädchen hätte Mitte der 1970er Jahregesagt: Wenn Öl und die anderen fossi-len Brennstoffe endlich sind, wennderen Erschöpfung droht, dann müssenwir mit deren Konsum entsprechendhaushalten – wir müssen wegkommenvon Öl-Auto-Flugzeug. Eine von Milch-mädchen bestimmte Gesellschaft würdediese Umstrukturierung der Weltwirt-schaft planvoll vollziehen – und hierfürauch Mehrheiten erringen.

Doch leider werden wir nicht vonMilchmädchen regiert. Die kapitalisti-sche Welt wird nicht von deren Rechen-künsten und Logik bestimmt.

V. Es gibt keine überzeugende„innere Reform“ der Autoge-sellschaften. Elektro-Pkw, Agro-kraftstoffe (Biokraftstoffe) undCarsharing bieten keine Alter-nativeDa in jüngerer Zeit die Kritik an der Au-togesellschaft sich verschärfte und peakoil, das Ende des Ölzeitalters, sich ab-zeichnet, kam es zu einer „Beruhigungs-Offensive“. Seit rund einem Jahrzehntverkündet die Autolobby: Wir habenlängst Alternativen zum Auto mit kon-ventionellem Antrieb und zum Pkw inPrivatbesitz. Es werde in Bälde massen-haft Elektro-Pkw oder Autos geben, diemit Agrokraftstoffen angetrieben wer-den. Darüber hinaus würden sich clevereSysteme für Miet-Pkw und Car-Sharingausbreiten. Die kritische Auseinander-setzung mit dieser behaupteten „inne-ren Reform“ der Autogesellschaft kannhier aus Platzgründen nur in einer Skiz-ze erfolgen.

Bei allen hier aufgeführten „Alterna-tiven“ bleiben wesentliche Kritikpunkte,die es im Fall eines auf Pkw basierenden

Transports gibt, bestehen. Der Pkw-Ver-kehr benötigt rund vier Mal mehr Flächeals ein Verkehrssystem, das auf Fußwe-gen, Radfahren und öffentlichen Ver-kehrsmitteln beruht. Er ist für dicht be-siedelte Städte schlicht nicht geeignetbzw. er zerstört Lebensqualität und Ur-banität. Der beschriebene immense undextrem überproportionale hohe Blutzollbleibt grundsätzlich derselbe.

Agrokraftstoffe, die fälschlich als„Biokraftstoffe“ bezeichnet werden,steigern dann, wenn sie, wie das längstder Fall ist, massenhaft zur Anwendungkommen, den weltweiten Hunger. Esgibt nicht nur „peak oil“, sondern auch„peak soil“: nicht nur die Öl- und Gas-vorräte sind endlich. Auch der landwirt-schaftlich bebaubare Boden ist natürlichbegrenzt.

Die CO2-Bilanz von Elektro-Pkw istdann, wenn auch die Herstellung derPkw und der Batterien in die Bilanz ein-bezogen wird, bereits in Europa weitge-hend identisch (schlecht) wie diejenigedes Pkw-Verkehrs mit konventionellenMotoren. In China schneiden Elektro-Pkw nochmals deutlich schlechter ab, dader Strom-Mix zu einem großen Teil vonKohlekraftwerken bestimmt wird. Jemehr Elektro-Pkw es gibt, zu desto mehrCO2-Emissionen kommt es bei den Koh-

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lekraftwerken. Die gesellschaftlichenKosten eines auf Elektro-Pkw basieren-den Transports sind gewaltig. Die Sub-ventionen je Elektro-Pkw betragen inChina umgerechnet zwischen 7000 und13000 Euro. Überall, wo Elektro-Pkw imEinsatz sind, erhalten die Nutzer zusätz-lich enorme Privilegien wie freie – für E-Cars reservierte – Parkplätze, Mitbenut-zung von Busspuren, kostenloser oderstark subventionierter Strom. Dennochkonnten im Jahr 2013 weltweit nur200000 Elektro-Pkw verkauft werden;2014 waren es nur unwesentlich mehr.In China wurden 2013 gerade einmal17600 sogenannte new energy cars ver-kauft, darunter befanden sich bereits3000 Hybridfahrzeuge. Reine Elektro-fahrzeuge wurden 15500 verkauft. AllePkw mit alternativem Antrieb machtenin China gerade mal 0,4 Prozent desgesamten Pkw-Verkaufs aus. Auf welt-weiter Ebene geht es um eine ähnlicheGrößenordnung. 2013 wurden weltweitgut 70 Millionen Einheiten Pkw mitkonventionellem Antrieb verkauft – unddarunter die genannten 200000 E-cars).16

Hinzu kommt: Die meisten Käufer vonE-Pkw sind entweder Behörden und Un-ternehmen in öffentlichem Eigentum. In

diesem Fall werden zusätzliche Steuer-gelder dafür eingesetzt, dass ein grünerSchein produziert wird. Wenn denn malPrivatpersonen ein Elektroauto kaufen,dann handelt es sich meist um einenZweit- und Drittwagen. (Siehe Kasten zuE-Autos und Norwegen)

Bei Car-sharing ist ebenfalls der An-teil derjenigen, die bereits einen Pkw inPrivatbesitz haben, sehr hoch. Trotz er-heblicher Subventionierung von Car-sharing-Modellen kostet der Personen-transport per Car-sharing die Nutzerin-nen und Nutzer mindestens doppelt soviel wie die Nutzung öffentlicher Ver-kehrsmittel.17 Damit ist Car-sharingweitgehend das Mobilitätsmodell desgehobenen Mittelstands. Wobei nichtbestritten werden soll, dass die Pkw-Nutzung in Form von Car-sharing zwei-fellos besser ist als ein motorisierterIndividualverkehr mit privatem Pkw.

Die „Alternativen“, die die Autolobbybietet, stellen damit vor allem ein„green-washing“ der Autogesellschaftdar. Interessant dabei ist, dass die Auto-konzerne E-car-Modelle entwickeln, vondenen sie selbst nicht überzeugt sind.Typisch ist hierfür das Beispiel BMW inChina. Der deutsche Autokonzern stellteim November 2013 zusammen mit sei-

nem chinesischen Partner Brilliance inGuangzhou (ehemals Kanton) das neueElektroauto-Modell „Zinoro“ der Öffent-lichkeit vor. Doch zur Weltpremiere wa-ren nur chinesische Journalisten zuge-lassen; deutsche Medienvertreter wur-den explizit ausgeschlossen. Ein BMW-Sprecher begründete dies damit, dassdas Fahrzeug „für den Rest außerhalbChinas nicht relevant“ sei. Dabei ist Chi-na der weltweit größte Automarkt über-haupt – und somit außerordentlich„relevant“ für den „Rest der Welt“. DerGrund für die vornehme Zurückhaltungbesteht laut Frankfurter Allgemeine Zei-tung im Folgenden: Das Modell wurde„unter dem Druck der chinesischen Re-gierung“ entwickelt. Diese verlange, sodie FAZ, „dass Ausländer eine rein chi-nesische Marke etablieren und dass sieein in China entwickeltes und gebautesFahrzeug mit alternativem Antrieb aufden Markt bringen.“18

Auch der Daimler-Konzern verstecktsein für China entwickeltes und 2014vorgestelltes E-Pkw-Modell „Denzo“.Und bei dem Marktführer in China, VW,äußert man sich äußerst zurückhaltendzu den neuen, VW-eigenen E-Car-Mar-ken „Carely“ und „Tantus“. Dabei finan-ziert die deutsche Bundesregierung

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gemeinsam mit Chinas „Nationaler Ent-wicklungs- und Reformkommission“ –dem mächtigen Planungsministerium –seit 2013 ein Pilotprojekt zum Aufbaueiner Ladeinfrastruktur für Elektro-Autos in chinesischen Städten.

Die Funktion dieser „Elektro-Mobili-tät“ als pures Greenwashing ist in Chinadeutlich durchsichtiger als in Europa.Die Frankfurter Allgemeine Zeitungschrieb dazu: „Alle deutschen Autokon-zerne entwickeln in China eigene Mar-ken für Elektrofahrzeuge. […] Es ist einoffenes Geheimnis, dass die Herstellerdamit gleich zwei Auflagen der Regie-rung erfüllen wollen: eine eigene China-Marke sowie ein im Land entwickeltesund produziertes E-Fahrzeug produzie-ren zu können. Im Austausch (!) für die-se Zugeständnisse erhalten die Auslän-der Genehmigungen zur Expansion, etwafür den Bau neuer Werke. So zieht VWsieben seiner zehn neuen Produktions-stätten in China hoch…“19

Es handelt sich dann natürlich umWerke zur Herstellung konventionellerAutos…

Daimler-Entwicklungsvorstand Tho-mas Weber traf den Nagel auf den Kopf,als er erklärte: „Beim [Elektro-Pkw-Modell] Denzo handelt es sich um die

beste Alternative zur Rückkehr zumFahrrad.“20

Genau darum geht es: Bitte nicht zu-rück zum Fahrrad! Bitte keine Rückkehrzu Nachhaltigkeit und Vernunft!! Nachdieser Logik ist es besser, die Irrationali-tät des konventionellen Autoverkehrsmit der Irrationalität der – weitgehendvirtuellen – E-car-mobility zu toppen.

VI. Eine Annäherung an die Alter-native. Oder: Berlin und Guang-zhou im Vergleich zwischen frü-her und heuteOft wird man bei der Entwicklung einerVision in der Vergangenheit fündig.Nehmen wir hierzu als Beispiele die bei-den Städte Berlin und Kanton (Guang-zhou).

Beginnen wir mit der HauptstadtDeutschlands.

In Berlin gab es 1929 4,3 MillionenEinwohner. In der Stadt waren 28200Pkw und rund 50000 Motorräder regi-striert. Die Zahl der Fahrräder lag beiknapp zwei Millionen, wobei – sieheunten – der Nutzungsgrad der Fahrräderausgesprochen hoch war. Neben dennichtmotorisierten Verkehrsarten – zuFuß gehen und Fahrrad fahren – war dieStraßenbahn das entscheidende Ver-

kehrsmittel; die Tram verfügte über einNetz mit 550 Kilometern Länge. Damitwurde fast die gesamte Fläche der Stadtmit Straßenbahnlinien abgedeckt. Dieanderen Verkehrsmittel – S-Bahn, U-und Hoch-Bahn und Busse – ergänztendie Tram. Insgesamt wurden 1929 mitallen öffentlichen Verkehrsmitteln –Straßenbahn, Hoch-und U-Bahn, Busseund S-Bahn – 2 Milliarden Fahrgästebefördert. Beim modal split – der Auf-teilung der Wege im Personenverkehrentsprechend der Verkehrsmittelwahl –entfielen knapp 50 Prozent aller Wegeauf Fußwege und Fahrradfahrten, 49Prozent auf die öffentlichen Verkehrs-mittel und rund drei Prozent auf Pkwund Taxen. Beim öffentlichen Personen-nahverkehr wiederum trug die Tram fastdie Hälfte der gesamten ÖPNV-Ver-kehrsleistung; der Rest verteilte sich re-lativ gleichmäßig auf S-Bahn, Hoch-und U-Bahn und Busse.21

Dabei sind zwei besondere Umständehervorzuheben. Erstens. Die öffentlichenVerkehrsbetriebe (BVG – Berliner Ver-kehrsbetriebe) waren bis Ende der1920er Jahre profitabel und leisteteneinen finanziellen Beitrag für das Stadt-säckel. Zweitens. Berlin galt damals alsdie Kulturstadt Europas. Wer in jener

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Zeit New York – die US-Metropole wardamals schon eine Autostadt – und Ber-lin miteinander verglich, der sah beiBerlin ziemlich sicher nicht in dem Feh-len von Autos einen Nachteil.

Heute gibt es in Berlin – trotz Wie-dervereinigung – nur noch 3,5 MillionenEinwohner; es sind 800000 weniger als1929. In jüngerer Zeit hat der Fahrrad-verkehr in Berlin zwar wieder zugenom-men. Er liegt jedoch deutlich unter demNiveau von 1929. Das gilt auch für denFußgängerverkehr. Das hat vor allem da-mit zu tun, dass die Stadt vom Auto be-herrscht wird. Zu Fuß gehen und Fahr-radfahren ist oft mühsam und gelegent-lich gefährlich.

Es gibt zwei wichtige Unterschiedegegenüber 1929: Die Zahl der Pkw, diein Berlin registriert sind, liegt bei 1,14Millionen. Sie hat sich demnach gegen-über 1929 vervierzigfacht. Das Autowurde zum wichtigsten Transportmittel.Allein die Fläche, die diese zusätzlichenPkw beanspruchen, entspricht mehr alsder Fläche, die für eine Million Einwoh-ner benötigt wird. Was auch erklärt,warum die Fläche, auf der heute die 3,4Millionen Berlinerinnen und Berliner le-ben, deutlich größer ist als die Fläche,auf der 1928 die 4,3 Millionen gelebt

haben. Vor allem hat sich im Stadtge-biet die Zahl der ÖPNV-Fahrgäste hal-biert – von gut 2 Milliarden auf rundeine Milliarde Fahrgäste im Jahr. DerGrund für die Reduktion des öffentli-chen Verkehrs liegt nicht allein in derrelativ großen Zahl von Pkw. Vielmehrgab es eine erhebliche strukturelle Ver-änderung bei den öffentlichen Verkehrs-mitteln: weg von der effizienten undrelativ preisgünstigen Tram und hin zur(für die öffentliche Hand) sündhaft teu-ren U-Bahn.

Heute gibt es in Berlin ein relativ gro-ßes U-Bahn-Netz mit insgesamt 150Kilometern Netzlänge. Doch dieses U-Bahn-Netz ist im Vergleich zum ehema-ligen Straßenbahnnetz mit 550 km Län-ge eher klein. Es bewältigt im Jahr „nur“rund 500 Millionen Fahrgäste – gerademal die Hälfte dessen, was 1929 dieStraßenbahn bewältigte. Das Straßen-bahnnetz hingegen hat heute nur nocheine Länge von 180 km – ein Drittel derLänge von 1929. Dabei ist ein sehr gro-ßer Teil des ÖPNV-Kapitals im Bau undUnterhalt der U-Bahn gebunden. DerBau eines Kilometers U-Bahn-Netzkostet mindestens zehn Mal so viel wieder Bau eines Kilometers einer ebensoleistungsfähigen Straßenbahn.

Nehmen wir als Beispiel die seit 2013in Bau befindliche neue U-Bahn-StreckeAlexanderplatz – Brandenburger Tor. Mitihr wird die „Kanzler-Bahn“, die Stum-mel-U-Bahn Berliner Hauptbahnhof –Brandenburger Tor, bis zum Alex verlän-gert und somit erstmals in das U-Bahn-Netz integriert. Ende 2016 soll der neueStreckenabschnitt fertig sein; allerdingswird laut Plan der Betrieb erst 2019aufgenommen. Für diesen relativ kleinenStreckenabschnitt von 4,5 Kilometernwerden offiziell 400 Millionen Euro aus-gegeben; am Ende werden es deutlichmehr als 500 Millionen sein. Damitkönnte man mindestens 50 KilometerTrambahn-Strecke bauen – also im Ver-gleich zur U-Bahn die zehnfache Länge.Dabei ist die Effizienz einer modernenStraßenbahn nur wenig geringer als dieeiner U-Bahn. Das Mindeste was sichsagen lässt, ist: ÖPNV-Investitionen füreine Straßenbahn haben eine minde-stens fünf Mal größere Effizienz als sol-che in eine U-Bahn.22

Eine Konsequenz ist: Der gegenwärti-ge öffentliche Verkehr in Berlin kommtauf ein jährliches Defizit auf von mehre-ren hundert Millionen Euro.23

Berlin ist heute wieder eine der be-liebtesten Städte Europas. Das verdankt

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Berlin vor allem dem kulturellen Ange-bot und seinem Charakter als einer mul-tikulturellen Stadt. Negativ zu verbu-chen ist jedoch, dass Berlin zur Auto-stadt wurde und dass vor allem im Som-mer die Belastung mit Feinstaub undOzon die Grenzwerte übersteigt.

Es spräche viel dafür, die Tugendender Vergangenheit neu zu beleben: denFußgänger- und Fahrradverkehr zu för-dern und insbesondere wieder ein flä-chendeckendes Straßenbahnnetz aufzu-bauen. Das würde zugleich zu einer Re-duktion des ÖPNV-Defizits beitragen.

Nehmen wir das Beispiel Guangzhou.Diese Stadt zählte 1993 rund 7 Millio-nen Einwohner. Sie war damit knappdoppelt so groß wie Berlin im Jahr1929. Es gab in Guangzhou damals320000 Kraftfahrzeuge; darunter rund70000 Pkw. Hinzu kamen 200000 Mo-torräder. Das entspricht weitgehend denAnteilen von Pkw und Motorrädern, diees in Berlin 1929 gab. In Guangzhouwurden 1993 noch 2,8 Millionen Fahr-räder registriert. Auch dies entsprichtweitgehend dem geschilderten Anteilvon Fahrrädern, die es 1929 in Berlingab. Der Fahrradverkehr bestimmte vorzwei Jahrzehnten noch das Straßenbildund bildete das Rückgrat des Personen-

transports. Damals konnte man in einerdeutschen Zeitung lesen: „Die Radfahrerhaben die Straßen fast für sich. Mankommt ohne starre Verkehrsregeln aus.An den Kreuzungen fließen die Strömeder Radler wie Fischschwärme aneinan-der vorbei.“24

2013 leben in Guangzhou rund 13,5Millionen Einwohner; knapp doppelt soviel wie vor zwei Jahrzehnten. Die Stadtwird inzwischen vom Autoverkehr be-herrscht – wie im heutigen Berlin. DieZahl der registrierten Pkw dürfte beimehr als 3 Millionen liegen. Motorräderwurden im Innenstadtbereich verboten.Das mag sinnvoll gewesen sein, weil da-durch der Lärm und die Zahl der Unfällereduziert werden konnten. Die Maßnah-me dürfte jedoch im Endresultat vorallem den PKW-Verkehr gestärkt haben.

Der Fahrradverkehr spielt in Guang-zhou heute so gut wie keine Rolle mehr.

Die Stadt rühmt sich ihres großen U-Bahn-Netzes. Dieses hat eine Länge vonknapp 250 Kilometern. Im Jahr werdenauf demselben rund 1,2 Milliarden Per-sonen befördert. Bei Berücksichtigungder unterschiedlichen Größen der Städteentspricht in Kanton die Länge des U-Bahn-Netzes desjenigen von Berlin; dieBeförderungsleistung liegt je Netzkilo-

meter deutlich höher als in Berlin, wasauch an dem größeren Raumprofil lie-gen dürfte.25

Doch auch hier zeigt sich: ObgleichChina im Allgemeinen und Kanton imBesonderen relativ reich sind und diejeweilige Verkehrspolitik einigermaßeneffizient ist, fallen das U-Bahn-Netzund die Leistungen auf demselben letz-ten Endes bescheiden aus. Es gibt hierschlicht ein Strukturproblem: Eine U-Bahn als Hauptverkehrsmittel ist grund-sätzlich eine problematische Option. Siebasiert darauf, dass die Nutzerinnen undNutzer des ÖPNV in den Untergrund ab-gedrängt werden, dass die Oberflächeweitgehend für Autos reserviert wird.Ein wesentliches Resultat einer U-Bahnist nach kurzer Zeit die Zerstörung vonNähe und die „Produktion von Ferne“;also die Zerstörung kleinteiliger Struktu-ren und die Förderung großer Entfer-nungen bei den Verkehren des Alltagsle-bens.

Vor allem wird auf diese Weiseimmens viel Kapital gebunden. Die Rela-tion von Kapitaleinsatz zu Verkehrslei-stung ist höchst unbefriedigend. Noch-mals als Vergleich: Diese beeindrucken-de U-Bahn in Guangzhou hat ein halbso großes Netz wie die Berliner Tram im

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Jahr 1929 – wobei die Bevölkerung vonBerlin knapp ein Drittel so groß war wiedie heutige Bevölkerung in Kanton. Alleöffentlichen Verkehrsmittel von Guang-zhou zusammen – U-Bahn und Bussevor allem – bringen es auf weniger als 2Milliarden Fahrgäste. Damit liegt dieÖPNV-Leistung in Guanghzou heuteniedriger als diejenige von Berlin 1929.Die Einwohnerzahl ist jedoch drei Malgrößer.

Guangzhou ist zweifellos eine beein-druckende Metropole. Allerdings dürfteder dominierende Autoverkehr nicht zuden positiven Merkmalen dieser Stadtzählen. Seine Folgen sind vergleichbarderjenigen in anderen chinesischenStädten: Lärm, stark belastete Luft,Dauerstau, viele Verkehrstote und Ver-letzte; die Existenz eines aggressivenStadtklimas.

Der Grund, weswegen die chinesi-schen Städte zu Autostädten wurden,liegt nicht primär in den Entscheidun-gen der Mehrheit der Bevölkerung. Eswaren in erster Linie die Entscheidungender politischen Führung und der Ver-kehrspolitiker, die diese Veränderungenherbeiführten. Und es gab auch eineinternationale Einflussnahme. Die Welt-bank finanzierte den Bau von Autobah-nen. Die deutsche Bundesregierung lei-stete finanzielle Unterstützung beim

Bau der U-Bahnen in den chinesischenStädten Kanton und Schanghai.

Der U-Bahn-Bau war mit der Zielset-zung verbunden, dass die Fahrräderweitgehend von den Straßen der chine-sischen Großstädte verschwinden müss-ten, um dem Auto Platz zu machen undeine Massenmotorisierung damit zubegünstigen.26

Ende der 1980er Jahre, zu einemZeitpunkt, als das Fahrrad gerade dabeiwar, in Europa wieder neu als Massen-verkehrsmittel entdeckt zu werden,wurde das Fahrrad in China als „unmo-dern“ dargestellt und verdrängt. Als„modern“ galt nunmehr das Auto.

Es handelte sich dabei gewisserma-ßen um kapitalistische Planwirtschaftpur: Carl H. Hahn war 1990 der Top-Manager bei VW. Anlässlich eines Be-suchs in China äußerte er damals in derGroßen Halle des Volkes in Peking: „Wirin Deutschland denken langfristig. Ichkann mir vorstellen, dass eines Tages inChina mehr Volkswagen gebaut undverkauft werden als bei uns.“27 Genaudieses Ziel des VW-Bosses wurde er-reicht. Während in Europa die Zulas-sungszahlen von Pkw seit sieben Jahrenrückläufig sind, während in vielen Städ-ten überlegt wird, wie man von derDominanz des Autos wegkommen kann,werden in China die Fehler, die der kapi-

talistische Westen beging, wiederholt. China rettet derzeit die Autoindustrie

des Westens.28Damit stellt sich auch hier die Frage:

Warum nicht einen Blick zurück in dieVergangenheit werfen? Können wir dar-aus nicht für den Verkehr der Zukunftlernen? Ansätze für eine solche erfor-derliche Verkehrswende gibt es auch inChina.

So wird in der Hauptstadt der VR Chi-nas seit 2013 in ein aufwendiges Miet-System für Fahrräder investiert. DieStadtverwaltung gab dabei die Paroleaus: „Wir erobern Beijing wieder zurückfür das Fahrrad“. Immerhin galt die chi-nesische Hauptstadt einmal als „König-reich der Fahrradfahrer“.29 Allerdingsdürfte das – bislang – eher ein frommerWunsch sein. Bisher fiel Jahr um Jahrder Anteil derjenigen, die mit dem Radzur Arbeit und zurück pendeln, „umzwei bis fünf Prozent“, so ein aktuellerausführlicher Report in einer Zeitungaus China. Danach wird die neue Nut-zung des Fahrrads vor allem von denje-nigen entdeckt, die bereits per Automobil sind. So heißt es dort, „dass einewachsende Zahl von Mittelklasse-Men-schen neu mit dem Fahrradfahrenbegonnen haben und dies als Teil einesoptimistischen Lebensstils verstehen.“Viele Leute würden „am Wochenende

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Anmerkungen:1 Hier immer nur die Zahlen für die Pkw-Dichte, also nicht für die Kfz-Dichte

(bei der Busse und v.a. Lkw mit berücksichtigt wären). Im Fall der USA wur-den die SUVs (Geländewagen, Pickups usw.) mit berücksichtigt. Offiziell gel-ten diese in den USA nicht als Pkw, sondern als Nutzfahrzeuge, weswegen invielen internationalen Statistiken die Pkw-Dichte der USA mit einem Wertunter 500 wiedergegeben wird. Auch die deutschen Werte sind fragwürdig.Ab 2008 wurde die Grundlage der Statistik dahingehend geändert, dass„vorrübergehend abgemeldete Fahrzeuge“ nicht mehr erfasst sind. Damit fie-len von 2007 auf 2008 6,2 Mio Kfz, darunter 5,4 Mio Pkw, komplett aus derStatistik „Bestand an Kfz“ heraus. Die Pkw-Dichte lag nach der altenBerechnung 2005 bei 559 Pkw auf 1000 Einwohner.

2 „Das Niveau der Kohlendioxid-Belastung in der Atmosphäre stieg im vergan-genen Jahr [2013] so schnell wie in den vergangenen 30 Jahren nie zuvor.[…] Der Anstieg der Emissionen von CO2, dem entscheidenden Treibhausgas[…], stellt nach Auffassung der UN-Wissenschaftler den maßgeblichenTreiber für die weltweite Erwärmung dar.“ Financial Times (London), 10.September 2014.

3 Nina Trentmann, Schmutziges Geschäft – Der Smog wird für die Chinesenzum ernsten Gesundheitsrisiko, in: Die Welt vom 10.7.2014.

4 Nach offiziellen Angaben wurden 2010 in China 65225 Menschen imStraßenverkehr getötet. Diese Statistik definiert als Straßenverkehrstotejedoch nur Menschen, die sieben Tage nach einem Straßenverkehrsunfall denTod fanden. Nimmt man, wie im Fall der EU-Statistik, die Definition „Todnach Straßenunfall binnen 30 Tagen“ und berücksichtigt man andereFormen der Verschleierung der tatsächlichen Straßenverkehrsopfer, danndürfte es real jährlich mehr als 100000 Straßenverkehrstote in China geben.Die Weltgesundheitsbehörde WHO kam unter Berücksichtigung andererFaktoren für China und im Jahr 2007 auf 220783 Straßenverkehrstote. Sieheim Detail Klaus Gietinger, Totalschaden, München 2010, S. 245ff.

5 Rechnet man die Pkw je offizielle Bevölkerung, so liegt die Pkw-Dichte in

Beijing mit 5 Millionen Pkw auf 12 Millionen Einwohner bereits höher alsdiejenige in Berlin. Wird die tatsächliche Einwohnerzahl – die deutlich über15 Millionen liegen dürfte – genommen, so ist die Pkw-Dichte in ChinasHauptstadt in etwas gleich wie diejenige in Berlin.

6 Die Schantung-Eisenbahn auf der 395 km langen Strecke vom HafenTsingtau über Kiautschou und Tschantien bis nach Tsinanfu konnte am 1.Juni 1904 voll befahren werden. Sie wurde mit deutschem Kapital imRahmen der deutschen Kolonialpolitik in China erbaut.

7 Zum Vergleich einige andere interessante Beispiele der Bevölkerungsdichten:Bangladesch 1154; Taiwan 649; Südkorea 492, Niederlande 406; Indien 376,Japan 336, Großbritannien 261; Schweiz 171, Österreich 96, Brasilien 24 undSchweden 22.

8 Im Jahr 2013 kamen die folgenden ausländischen Pkw-Hersteller auf insge-samt 53,7 Prozent Anteil bei der Autoproduktion in China (Anteile jeweilsohne die chinesischen Partner wie SAIC und FAW bei VW oder Brilliance beiBMW usw.): VW 19,5%, General Motors 10,4%, Hyundai 6,6%, Toyota 4,5%,Nissan 3,9%; PSA-Citroen 3,6%; Ford 3,3%; BMW 1,1%; Mercedes-Benz0,6% und Fiat 0,2%. Gemessen am Umsatz dürfte der Ausländeranteil beimehr als zwei Drittel liegen. Angaben nach: Morgan Stanley Research, April2013; in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 2.4.2013.

9 Die EU will im Rahmen der Privatisierungspolitik diese Einheit aufsprengen,was in fast allen EU-Mitgliedsstaaten formal erfolgte (in Deutschland ist dieTochter des Bahnkonzerns, DB Netz, die Infrastrukturgesellschaft), in einigenLändern, z.B. in Großbritannien, gibt es auch eine materielle Trennung: dieInfrastrukturgesellschaft ist nicht mehr über eine Holding mit denBetreibergesellschaften verbunden. Diese Aufspaltung ist mit enormenVerlusten und Problemen (letzteres hinsichtlich Sicherheit und Komfort) ver-bunden. Vor allem kommt es jetzt ebenfalls zur Vergesellschaftung vonVerlusten (bei den meist staatlichen Infrastrukturgesellschaften) undPrivatisierung von Gewinnen (bei den zunehmend privatkapitalistisch struk-turierten Betreibergesellschaften).

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ihre schicken Fahrräder auf dem Dachihrer luxuriösen Autos befestigen und ineine schöne grüne Gegend oder in dieBerge fahren, um dort eine kleine Rad-tour zu unternehmen.“30

VIIChina und die historischeDimension der AutogesellschaftDie Zahl der Pkw hat sich weltweit zwi-schen 1985 und 2014 von 335 Millionenauf eine Milliarde verdreifacht, währendsich die Weltbevölkerung „nur“ von 4,8auf 7,2 Milliarden Menschen oder um50 Prozent vergrößerte. Dabei hat inden letzten Jahren in den Schwellenlän-dern eine massive Beschleunigung derAutomotorisierung eingesetzt.

Für eine weitere Verdopplung derPkw-Zahl bis spätestens 2030 werdengegenwärtig die Investitionen getätigt.Und sie werden in entscheidendem Maßin China getätigt – von den chinesi-schen Autokonzernen und nicht zuletztvon den Autokonzernen aus Nordameri-ka, Europa, Japan und Südkorea mitProduktionsstätten und joint ventures inChina. Allein VW will in China die Pro-duktionskapazitäten in den nächstenfünf Jahren verdoppeln – auf gut 4,5Millionen Einheiten Output bis 2020.31

Wenn in China „nur“ die Pkw-Dichteerreicht wird, die es heute im Durch-

schnitt der EU (mit gut 500 Pkw auf1000 Einwohnern) gibt, so wird alleindies einen Schub von weiteren 650 Mil-lionen Einheiten als Teil der weltweitenPkw-Flotte mit sich bringen.32 Eine ver-gleichbare Aufholjagd bei der Pkw-Motorisierung in Indien bringt – zusam-men mit der Entwicklung in China –bereits die genannte Verdopplung dergesamten Pkw-Flotte der Welt mit sich.Da ist dann noch nicht die Automotori-sierung in den anderen Schwellenlän-dern mit eingerechnet – ganz zuschweigen vom allgemeinen Trend, beidem ja selbst in den angeblich „gesät-tigten“ Märkten die Zahl der Autos wei-ter wächst.

Die heutige Pkw-Flotte mit 1 Milliar-de Einheiten setzt sich zu 99,5 Prozentaus Pkw mit konventionellem Antriebzusammen. Die für 2030 angepeiltePkw-Flotte von gut 2 Milliarden Einhei-ten wird zu rund 95 Prozent von solchenherkömmlichen Autos bestimmt sein.Dabei lehren uns die vergangenen zweiJahrzehnte, dass sich diese Entwicklungnochmals beschleunigen und das Ziel„zwei Milliarden Pkw weltweit“ bereits2025 erreicht werden könnte.

Die Frage lautet jedoch: Lässt sich einsolches Ziel tatsächlich verwirklichen?Und was sind die Folgen für Umwelt,Klima, die Lebensqualität in den Städ-

ten und die Zahl der Straßenverkehrsto-ten und –verletzten? Welche Folgen hatdies vor dem Hintergrund von peak oil?Welche gigantischen und zerstöreri-schen Maßnahmen müssen ergriffenwerden, um für eine solche Pkw-Flotteden Kraftstoff zu fördern – durch Explo-ration in der Arktis, durch Ölförderungaus Sand, durch das gefährliche Frak-king, durch immer größere Landflächen,die für Agrokraftstoffe genutzt werden?Welche Folgen hat die zeitweiligekünstliche und politische betriebeneVerbilligung des Rohölpreises, wie wirdies Seit Ende 2014 erleben?33

Offensichtlich ist eine solche Ent-wicklung nicht förderlich für Mensch,Natur und Klima. Mehr noch: Sie hatkatastrophale Folgen für das Klima, dieUmwelt und das menschliche Zusam-menleben auf diesem Planeten.

Anders als vor 100 oder vor 50 Jahrensind heute die Gefahren, die aus derPerspektive fortgesetzter Motorisierungresultieren, bekannt. Grundsätzlich istauch klar, dass eine Verkehrswende aufweltweiter Ebene erforderlich ist. Unbe-streitbar ist auch: Der kapitalistischeWesten hat eine besondere Verantwor-tung und muss die ersten Schritte zueiner radikalen Auto-Abrüstung unter-nehmen: In „unseren“ Regionen wird dieAutogesellschaft in extremem Umfang

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CAR, CAPITAL & CHINA

10 So führt z.B. die Billigkeit des Containerverkehrs und dessen umfangreicheSubventionierung oft zu absurden Transportketten. In Deutschland istWalnusseis das zweitbeliebteste Speiseeis, direkt gefolgt hinter Vanille-Eis.Das in diesem Sektor führende Unternehmen Mövenpick importiert fast alleWalnussbestandteile für diese Eissorte aus der VR China. Derweil werdenjedes Jahr in der EU Hunderte Tonnen Walnüsse nicht geerntet; sie verrottenunter den Bäumen. Zugespitzt gesagt: Der Transport der Walnüsse aus Chinanach Europa ist preiswerter als Menschen in Europa dafür zu bezahlen, dasssie sich bücken und die Walnüsse ernten.

11 Das Ergebnis der Entfremdung, die die Menschen im Kapitalismus erleben,sieht Karl Marx wie folgt: „Es kommt daher zum Resultat, dass der Mensch(der Arbeiter) nur mehr in seinen tierischen Funktionen, Essen, Trinken undZeugen, und höchstens noch Wohnung, Schmuck etc., sich als freitätig siehtund in seinen menschlichen Funktionen [als Arbeiter] nur mehr als Tier.“ KarlMarx, Pariser Manuskripte 1844, hier nach: Karl Marx, Texte zu Methode undPraxis II, Pariser Manuskripte 1844, Frankfurt/M. 1966, S.55.

12 In: Der Spiegel 45/1999.13 Global 500 –The world´s largest corporations, in: Fortune, July 21, 2014, S.

61ff.14 Ich fasse Öl-Auto-Flugzeugbau zu einer Untergruppe zusammen, da die

entsprechenden Unternehmen direkt von Öl und dessen Derivaten Diesel,Benzin, Kerosin abhängen. Man könnte noch Heavy Fuel Oil (Schweröl) hin-zunehmen und in diesem Fall den Schiffsbau (Werften) und großeReedereien, vor allem die Containerschifffahrt, mit einbeziehen. Im Fall derchinesischen Global-500-Unternehmen wären dies z.B. China ShipbuildingIndustry (Rang 87 unter den chinesischen Global-500-Konzernen; Rang 403auf der Global-500-Liste) und China Ocean Shipping (90/451).

15 Damit soll nicht in Frage gestellt werden, dass der Finanzsektor letztenEndes entscheidend ist. Doch eben dieser Finanzsektor ist auch an dieeigentliche Produktion gebunden – die eben, wie dargelegt, von Öl-Auto-Flugzeugbau dominiert ist.

16 Angaben zu China hier nach: China Daily, 22.9.2014.17 Bei einem car-sharing-Großversuch des Daimler-Konzerns mit Namen

„Car2Go“, der seit gut fünf Jahren in Ulm mit massiver kommunalerSubventionierung durchgeführt wird, zahlen die Nutzer am Ende dennochfast das Dreifache dessen, was die ÖPNV-Nutzung kosten würde.

18 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.11.2011.19 Christian Geinitz, Wie China die deutsche Autoindustrie vorführt, in:

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 10.1.2014.20 In: Handelsblatt, 22.4.2014. Im übrigen schreiben die Unternehmen, die

ausschließlich Elektro-Pkw herstellen, trotz der Subventionen rote Zahlen(z.B. Tesla in Kalifornien, USA). Das gilt auch für den Elektro-Pkw-Bereich deschinesischen Unternehmens BYD (Build Your Dreams).

21 Der genaue modal split sah aus wie folgt: 37,7% Fußwege, 10,3%Fahrradfahrten (damit kam der nicht motorisierte Verkehr zusammen auf48%), 23,8% Tram, 11% S-Bahn, 7,1% Hoch- und U-Bahn und 7,1% Busse.Damit hatte der öffentliche Verkehr – ohne Taxen - insgesamt 49%Marktanteil. Auf den Pkw-Verkehr entfielen 2,5% und 0,5% waren Fahrtenmit Taxen. In absoluten Zahlen verteilte sich der ÖPNV 1929 wie folgt: Tram:930 Millionen Fahrten; S- u. Fernbahn (letzteres = Regionalbahn) 445Millionen Fahrten; Hoch- und U-Bahn 277 Millionen Fahrten und Busse 278Millionen Fahrten. Gesamt damals 1930 Millionen Fahrten. In den Jahren1930 bis 1933 gab es, bedingt durch die Weltwirtschaftskrise, einen massi-ven Einbruch (1934 waren es nur noch rund 1,3 Milliarden ÖPNV-Fahrten).Dann ging es erneut aufwärts. 1939 wurde wieder das Niveau von 1929erreicht. Bis 1942/43 stieg der Berliner ÖPNV sogar noch auf 2,25 MilliardenÖPNV-Fahrten an. Siehe Winfried Wolf, Berlin – Weltstadt ohne Auto? EineVerkehrsgeschichte 1848-2015, Köln 1994, S. 247 und S.73.

22 Angaben zum Berliner U-Bahn-Bau nach: Tagesspiegel, 2.10.2014.23 Natürlich wissen auch Kapitalisten, dass U-Bahnen deutlich rote Zahlen

schreiben müssen. 1926 verkauften die privaten Eigentümer der BerlinerHochbahngesellschaft die Hoch- und U-Bahn Berlins an die Stadt Berlin.

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

Dazu schrieb Jan Gympel: Dies „geschah nicht zuletzt aus der Einsicht derAktionäre heraus, dass der Bau von Tunnelstrecken Summen verschlingt, diesich durch den Fahrkartenverkauf kaum amortisieren lassen.“ Jan Gympel, U-Bahn Berlin, o.J. (ca. 2002); S. 256.

24 Hans Dieter Sauer, Fahrräder raus aus der Stadt, in: Frankfurter AllgemeineZeitung, 9.12.1993.

25 Für Berlin entsprechen die 500 Millionen Fahrgäste bei 170 km Netzlängeknapp 3 Millionen Fahrgäste im Jahr je Netzkilometer. In Kanton entsprechendie 1,2 Milliarden Fahrgäste bei 250 km Netzlänge 4,8 Millionen Fahrgäste jeNetzkilometer.

26 Aus einem Zeitungsbericht im Jahr 1993: „In der südchinesischen Ha-fenstadt Guangzhou gehen die Pedalritter schlechten Zeiten entgegen. Umdas alltägliche Verkehrschaos zu bändigen, wollen die Behörden der blühen-den Wirtschaftsmetropole ab Juni [1993] ausgerechnet das Fahrradfahrenverbieten – zumindest auf den Hauptverkehrsadern der Stadt. […) DieBefürworter der Pedalkraft reagieren mit einem Aufschrei der Entrüstung.´Warum haben die sich ausgerechnet das Fahrrad vorgenommen´, fragt der28-jährige Arbeiter Lai Sheng erbost. ´Es ist das bei weitem schnellsteVerkehrsmittel.´“ Nach: Südchinas Metropole verbannt die Drahtesel, in:Frankfurter Rundschau, 1.4.1993.

27 Die Kader der Volksrepublik China sollen vom Fahrrad auf den Golf umstei-gen“ in: Ostfriesen-Zeitung, 23.11.1990.

28 Im Bereich der Tabakindustrie ist die Entwicklung noch weiter vorange-schritten. In so gut wie allen westlichen Ländern hat sich die Einsicht durch-gesetzt, dass Rauchen extrem gesundheitsschädigend ist – und dass derStaat dagegen vorgehen muss. Entsprechend ist in den meisten LändernNordamerikas und Europas Rauchen in öffentlichen Räumen untersagt oderstark eingeschränkt. Der Rauchkonsum geht teilweise drastisch zurück. Dochdie internationalen Tabakkonzerne boomen weiter. Warum? Weil sie vorallem in Asien und Afrika expandieren.

29 Johnny Erling, „Strampeln gegen Luftverschmutzung“, in: Die Welt vom 23.

April 2014.30 Liang Chen, „Two wheels rising“, in: Global Times (Beijing) vom 28.September 2014.31 2012 produzierte VW in China zusammen mit seinen beiden chinesischenPartnern SAIC und FAW 2,5 Millionen Pkw. 2018 sollen es bereits 4 Millionenund 2020 mindestens 5 Millionen sein. Bis 2018 werden von VW und dengenannten Partnern umgerechnet 18 Milliarden Euro investiert werden. SieheBörsenzeitung vom 17. Mai 2013 und Frankfurter AllgemeineZeitung vom 14.Januar 2014.32 Wir reden noch nicht von der Pkw-Dichte der USA, die bei 720 Pkw je 1000Einwohnern liegt.33 Die Reduktion des Rohölpreises von gut 100 US-Dollar je Fass (Barrel) imSommer 2014 auf teilweise unter 45 US-Dollar je Fass Anfang 2015 stehtscheinbar in Widerspruch zur Endlichkeit des Öls und zum erwarteten „peakoil“, dem Zeitpunkt, an dem das Maximum an Ölförderung stattfindet. Esspricht viel dafür, dass dieser unerwartete Preisverfall politisch gezielt herbei-geführt wurde, von den USA (begünstigt durch die Flut von Fracking-Gas undFracking-Öl) zusammen mit ihrem Bündnispartner Saudi-Arabien. Er richtetsich vor allem gegen Russland, Venezuela und den Iran. Siehe Winfried Wolf,Öl als Waffe, in: Lunapark21, Heft 28, Winter 2014/2015.34 Das exakte Zitat lautet: „Freiheit ist immer Freiheit des anders Denkenden.“(Rosa Luxemburg, Gesammelte Werke 4, Berlin 2000, S. 359), ein Satz, der imübrigen als Kritik an der beginnenden „Parteidiktatur“ innerhalb der bolschewi-stischen Partei formuliert wurde. Gemeint ist der Satz jedoch grundsätzlich,wonach die Schranken der individuellen Freiheit bei der Freiheit der anderenMenschen zu sehen sind.35 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main 1999, BandV/2, Das Passagenwerk, S. 1232.

praktiziert. Der Westen trug wesentlichzu ihrer weltweiten Durchsetzung bei.Er ist mit „seinen“ Autokonzernen maß-geblich an der Motorisierung derSchwellenländer, nicht zuletzt in China,beteiligt.

Allerdings richtet sich der Appell, einesolche Wende zu vollziehen, an alleMenschen mit Verstand und Gefühl fürSolidarität – insbesondere an Menschen,die sich dem Ziel der menschlichenEmanzipation verpflichtet fühlen. Indiesem Zusammenhang ist zumindestinteressant, dass in Nordamerika undWesteuropa seit gut einem Jahrzehntdie Wertschätzung für einen eigenenPkw bei jungen Menschen einen massi-ven Einbruch erlebte. Das wurde in die-ser Form vor 15 Jahren von niemandemvorhergesehen.

Vor 25 Jahren war es in Westeuropaund in Nordamerika auch nicht vorstell-bar, dass in Bälde das Suchtmittel Tabakgesellschaftlich geächtet und aus demöffentlichen Raum – und aus Filmenund TV-Produktionen! – weitgehendgebannt sein würde. Warum sollte esnicht Vergleichbares bei der Droge Autogeben? Die vielfachen Verweise darauf,dass Marktwirtschaft schließlich gleich-bedeutend mit der Freiheit der Individu-en bei ihren Konsumentscheidungen sei,sind in vielfacher Hinsicht nicht akzep-

tabel. Ganz grundsätzlich gilt, was RosaLuxemburg formulierte, wonach Freiheitimmer die Freiheit der anderen sei.34 DieFolgen der „individuellen Pkw-Freiheit“sind jedoch für die Allgemeinheit ausge-sprochen einschneidend. Das ist ja auchdie wesentliche Begründung für dieerheblichen Einschränkungen bei derFreiheit, zur Droge Nikotin zu greifen.Diese Freiheit wird in Nordamerika,Europa und anderswo vor allem dort, woder Nikotingenuss die freie Entfaltunganderer beeinträchtigt und derengesundheitliches Wohl schädigt, dra-stisch eingeschränkt.

Im Fall von China gibt es einen ande-ren passenden Bezug. Die „Ein-Kind-Politik“ stellt einen drastischen Eingriffin die individuelle Freiheit von Hunder-ten Millionen Menschen dar. Sie wurdejüngst - Anfang 2014 – seitens derneuen KP-Parteiführung unter Xi Jinpingbestätigt. Einmal abgesehen davon, dasses viele gute Argumente dafür gibt, die-se erhebliche Einschränkung individuel-ler Freiheiten aufzugeben, ist es absurd,einerseits eine solche Regelung zu ver-teidigen und sich andererseits auf eineindividuelle Freiheit bei der Wahl einerspezifischen Form von Mobilität zuberufen, die jährlich zehntausendenMenschen den Tod bringt, viele Hun-derttausende schwer verletzt und die

Gesundheit der gesamten Bevölkerungenorm schädigt.

Es geht dabei im übrigen auch umGrundsätzliches. Es ist eine Tragödie lin-ker Politik, dass unter „Revolution“ fastimmer nur eine andere Form der glei-chen technologischen Entwicklung,nicht eine andere Qualität von Entwick-lung verstanden wurde. Lenins Losung„Sozialismus ist Elektrizität plus Räte“war hier klassisch – auch wenn sie fürdie damalige Zeit nachvollziehbar war.

Walter Benjamin schrieb: „Marx sagt,die Revolutionen sind die Lokomotivender Weltgeschichte. Aber vielleicht istdem gänzlich anders. Vielleicht sind dieRevolutionen der Griff des in diesemZug reisenden Menschengeschlechtsnach der Notbremse.“35

Benjamins Bildersprache zum Charak-ter von Revolutionen im Allgemeinenverdeutlicht überaus überzeugend dieNotwendigkeit der Verkehrsrevolutionim Besonderen.

Oder auch: Eine andere Welt ist mög-lich – eine andere Mobilität ist nötig.

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Als Dieter Zetsche Anfang Februar2015 die Zahlen des Daimler-Kon-zerns für das vorausgegangeneJahr präsentierte, hielt er es fürnotwendig, den aggressiven Re-kordkurs des Unternehmens wiefolgt zu beschreiben: „Wir feuernweiter aus allen Rohren“.1Wir wissen nicht, an welche „Rohre“ derHerr „Dr. Z.“ dabei gedacht hat. Tatsache

ist, dass bei Daimler der Profit aus drei,mitunter auch aus vier Rohren befeuertwird. Wer diese vier Möglichkeiten derProfitproduktion in der Automobilindu-strie im Allgemeinen und bei Daimler imBesonderen analysiert, hat bereits vielvon dem komplexen Charakter kapitali-stischer Produktion verstanden. Aus-gangspunkt ist dabei die von Karl Marxgetroffene Unterscheidung der gesam-

ten Wirtschaft in zwei grundlegendeProduktionsabteilungen: in die Produkti-onsmittel herstellende „Abteilung I“ undin die Konsumtionsmittel herstellende„Abteilung II“. Abteilung II stellt nebenden klassischen Konsumgütern wie Nah-rungsmittel auch langlebige Konsumgü-ter her – etwa private Pkw. ROHR-01 beider Daimler-Produktion zielt damit aufdie Massenkaufkraft, überwiegend auf

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DER KONZERN

Feuern aus vier RohrenDie wechselvolle Geschichte des Daimler-Imperiums

Winfried Wolf

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die Nachfrage der lohnabhängigenBevölkerung.2

Ein Teil der Konsumgüter herstellen-den Abteilung produziert Luxusartikel,im Fall der Autobranche sind das Pkwder Oberklasse. Das aufwendig ver-chromte ROHR-02 in der Daimler-Ferti-gung zielt damit auf die Einkommen derReichen und der Vermögenden, derenKaufkraft sich überwiegend aus Profitenund aus verschiedenen Formen von Ge-winnübertragungen (z.B. resultierendaus dem Besitz von Wertpapieren)speist.

Drittens stellt die Produktionsmittelherstellende Abteilung neben Maschi-nen und Fabrikanlagen auch Nutzfahr-zeuge her; dieses ausgesprochen dickeROHR-03 bei Daimler zielt damit über-wiegend auf die Nachfrage von Unter-nehmen. Schließlich und endlich mussman die erwähnten grundlegenden Pro-duktionsabteilungen noch um eine wei-tere Abteilung, die Rüstungsgüter her-stellt, ergänzen. ROHR-04 zielt damitüberwiegend auf die staatliche Nach-frage nach Waffen aller Art.

Was bei anderen Konzernen höchstselten anzutreffen ist, beim Daimler-Konzern sind immer drei und in be-stimmten Perioden der 120-jährigenKonzerngeschichte auch alle vier Nach-fragearten mit relevanten Umsatzantei-len vertreten. Es wird eben „aus allenRohren gefeuert“. Dieser Dauereinsatzder ROHRE 01 bis 04 mit einer gewissenFlexibilität hinsichtlich des verstärktenEinsatzes einzelner Rohre in einerbestimmten Periode gepaart machtenden Daimler-Konzern zu dem, was er ist:zu einem der führenden kapitalistischenIndustrieunternehmen der Welt. Und vorallem: zu einem der profitabelsten Kon-zerne.

Das soll im Folgenden ausgeführtwerden – in umgekehrter Rohr-Reihen-folge.

Daimler und Rüstung – ROHR-04Bereits im Ersten Weltkrieg spielte derRüstungsbereich bei den Vorgängerge-sellschaften des heutigen Daimler-Kon-zerns, bei den zwei Unternehmen Benzund Daimler, eine herausragende Rolle.In der Zeit der NS-Herrschaft dominiertedieser Bereich das Unternehmen, das in-

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

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zwischen zur Daimler-Benz AG zusam-men geschlossen war. Bereits kurz vorBeginn des Zweiten Weltkriegs bestandder Daimler-Benz-Umsatz zu 90 Prozentaus Rüstungsproduktion; der Umsatzverzehnfachte sich binnen fünf Jahren –nicht zuletzt durch den umfassendenEinsatz von Zwangsarbeit. Der Daimler-Dreizack-Stern steht auch für die Aus-sage, das Unternehmen sei zu Land, inder Luft und im Wasser militärischaktiv.3

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab sichDaimler-Benz zunächst betont zivil. Undauch heute präsentiert sich der Konzernin der Regel so, als habe es Rüstung injüngerer Zeit im Unternehmen nicht ge-geben. Dabei war in Wirklichkeit runddie Hälfte der Firmengeschichte seit1945 in erheblichen Maß erneut von derFertigung von Kriegsmaterial bestimmt.Und dieser Kurs zur Rüstungsfertigungwurde, wie bereits im Zweiten Welt-krieg, wesentlich durch die DeutscheBank als Daimler-Großaktionär be-stimmt. Diese Geschichte verlief wie imFolgenden beschrieben.

Anfang der 1970er Jahre verkaufteder frühere NS-Förderer und Daimler-Benz-Großaktionär Friedrich Flick seinAktienpaket an die Deutsche Bank. Da-mit war diese wieder – wie in der Peri-ode 1925-1945 – wichtigster Großak-tionär des Unternehmens. Anfang derachtziger Jahre und vor allem in der Äravon Edzard Reuter als Vorstandsvorsit-zendem (1987-1995) übernahm Daim-ler-Benz eine Reihe Rüstungshersteller,so MTU (Triebwerke), Dornier (Luft- undRaumfahrt), AEG (Elektronik) und MBB(Raumfahrt, Raketen, Panzer). Gleichzei-tig beteiligte sich der Konzern an Airbus

und übernahm Fokker (beides Flugzeug-hersteller). Die Rüstungs-, Luft- undRaumfahrt-Sektoren wurden später inder Daimler-Tochter Dasa (DeutscheAerospace Aktiengesellschaft) zusam-mengefasst. Der Chef dieser Konzern-Sparte war Jürgen Schrempp. Dasa bil-dete im Jahr 2000 einen der zweiGrundbestandteile bei der Bildung desneuen, deutsch-französischen Rüs-tungskonzerns EADS.4

Der in den 1980er Jahren begonneneKurs zum Wiedereinstieg von Daimler inden Rüstungssektor wurde im wesentli-chen von der Deutschen Bank orche-striert, deren Chef damals Hilmar Kop-per war; Kopper agierte nach seinerAufgabe des Chefpostens bei der Deut-schen Bank im Jahr 2007 fast ein Jahr-zehnt lang (1998 bis 2007) als Auf-sichtsratsvorsitzender bei DaimlerChrys-ler. Die Deutsche Bank nahm damit einelange Zeit in erheblichem Umfang Ein-fluss auf die strategischen Entscheidun-gen des Konzerns und bestimmte auchdarüber, wer Vorstandsvorsitzender warbzw. wie lange eine solche Nummer 1dies bleiben konnte.

Die offizielle Unternehmensphiloso-phie, mit der der Einstieg Daimlers beiden Rüstungsunternehmen verbrämtwurde, lautete: „Bildung eines integrier-ten Technologie-Konzern“. Tatsächlichbetrieb der Konzern damals eine fürWestdeutschland bzw. für das neue Ge-samtdeutschland strategisch weitsichti-ge Politik mit doppelter Zielsetzung:Erstens ging es um die Schaffung einerneuen, konzentrierten deutschen Rüs-tungsindustrie als Ausgangsbasis für ei-nen europäischen militärisch-industriel-len Komplex. Zweitens wurde die „na-

tionale“ industrielle Kapitalkonzentrati-on vorangetrieben, womit die deutscheWirtschaft ihre heutige hegemonialePosition in Europa aufbauen konnte.

Der Daimler-Konzern spielte im Pro-zess der Europa-Orientierung der deut-schen Konzerne eine maßgebliche Rolle.Edzard Reuter wurde 1988 Mitglied desEuropean Round Table (ERT), ein Zusam-menschluss von zunächst zwei Dutzendeuropäischen Topindustriellen, der seitMitte der achtziger Jahre die wichtig-sten EU-Projekte wie Maastricht-Ver-trag, Einheitswährung Euro und EU-Rüstungssektor entwickelte und voran-trieb.

Im Jahr 2000 veröffentlichte dieDeutsche Bank, obgleich sie nur indirekt(über ihr Aktienpaket an DaimlerChrys-ler) an EADS beteiligt war, anlässlich derEADS-Gründung eine Broschüre mitdem Titel „A star is born“. Auf derHauptversammlung am 6. April 2005betonte Jürgen Schrempp: „Ohne unshätte es EADS nicht gegeben.“ Er ver-wies ausdrücklich auf die „lange Durst-strecke“, auf die vorausgegangenenhohen Verluste und darauf, dass maneben „keine kurzfristigen Ziele“ verfol-gen würde. Was eigentlich grotesk ist,da Schrempp explizit mit der Devise an-getreten war, seine drei Unternehmens-ziele seien „Profit, Profit, Profit“.

2012 begann der Ausstieg von Daim-ler bei EADS; 2013 verkaufte Daimlerdie letzten EADS-Aktien. Damit trenntesich der Daimler-Konzern nach fast dreiJahrzehnten von seinen größten Beteili-gungen im Rüstungsgeschäft. Der Kon-zern stellt aber weiterhin Rüstungsgüterher, die auf einer von dem zivilen Unter-nehmen säuberlich getrennten Internet-

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DER KONZERN

GeschäftswagenSeit mehreren Jahren besteht die Mehrzahl der in Deutschland zugelassenen Neuwagen aus Geschäftswagen (Dienstwagen, Fir-men-Pkw). Bei den Herstellern Daimler, BMW und Audi liegt der Anteil der Zulassung als Geschäftswagen an allen neu zugelas-senen Pkw nochmals höher.

Bei den Geschäftswagen handelt es sich – hinsichtlich der Nutzung – weiterhin überwiegend um Pkw, die der persönlichenMobilität dienen. Und in der Regel handelt es sich um die Mobilität von – besser gestellten – Lohn- und Gehaltsempfängern.Man kann die Überlassung dieser Pkw an Lohnabhängige auch als Lohn- und Gehaltsbestandteil definieren. Faktisch zielenjedoch solche Dienstwagen, ähnlich den Nutzfahrzeugen, auf die Nachfrage der Unternehmen. Die Firmen zahlen die Kosten fürdiese Pkw, vor allem die Anschaffungskosten. Diese Pkw tauchen bei den Unternehmen, in deren formellem Besitz sie sich befin-den, in der Bilanz auf. Sie werden Jahr für Jahr abgeschrieben. Damit verbuchen die entsprechenden Unternehmen Kosten, dieden Gewinn und die Steuern mindern. Auf diese Weise findet eine enorme staatliche Subventionierung der Autoindustrie statt.Gleichzeitig werden die konjunkturellen Schwankungen, denen die Massenkaufkraft unterliegt, reduziert.

Da diese Umstrukturierung mit den Millionen Geschäftswagen relativ neu ist, da sie weltweit bei weniger als 10 Prozent derMassen-Pkw eine Rolle spielt und da schließlich Deutschland hier – bislang – eine Sonderrolle spielt, ist die oben erfolgtegrundsätzliche Aussage für die Weltautoindustrie zutreffend: Massen-Pkw – preiswerte Pkw der Kompakt- und Mittelklasse –zielen überwiegend auf die kaufkräftige Nachfrage der Lohnabhängigen.

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plattform präsentiert werden (siehe:www.mb-military-verhicles.com). Er be-lieferte und beliefert Diktaturen mitmilitärischen Ausrüstungen – so dasLibyen unter Ghadafi, das monarchisch-autokratische Regime von Saudi-Ara-bien und die ägyptischen Militärs.5

Daimler als Nutzfahrzeug-hersteller – ROHR-03Die Produktionsmittel herstellende Ab-teilung des Daimler-Konzerns, die Ferti-gung von Lastkraftwagen, Bussen, Sat-telschleppern und anderen Nutzfahrzeu-gen, gab es zu allen Zeiten in der Kon-zerngeschichte. Sie stellt bei Daimlertraditionell eine stark ausgeprägte Spar-te dar. Der Umsatz dieser Nutzfahrzeug-sparte schwankt zwischen einem Anteilam gesamten Konzernumsatz von 25 bis40 Prozent.6 Die Sparte Nutzfahrzeugewird repräsentiert von den folgendenMarken: Setra (Busse Europa), ThomasBuilt (Schulbusse USA), Orion (Stadtbus-se USA), Mercedes-Benz (Busse und Lkwweltweit), Freightliner und Western StarTrucks (Lkw in Nordamerika), Fuso (Lkwin Japan und in anderen Teilen vonAsien), BharatBenz (Lkw in Indien) undAuman (Lkw in China, die Daimler dortzusammen mit dem Partner Foton baut).

Der Bereich Nutzfahrzeuge weist na-turgemäß die geringsten konjunkturel-len Schwankungen auf: Transporte fin-den zu allen Zeiten statt. Die Globalisie-rung und die ständig steigende „Trans-portintensität“ sind ein wesentlicherTreibsatz für diese Sparte.7

Das Busgeschäft wächst zudem indem Maß, wie die Eisenbahnen privati-siert und zerstört und wie der Busfern-verkehr liberalisiert werden. Die Annah-me liegt nicht fern, dass Daimler aufdiese Verkehrs- und Bahnpolitik im Kon-zerninteresse Einfluss nimmt.8

Weltweit ist Daimler der größte Her-steller von Nutzfahrzeugen. Die wesent-lichen Konkurrenten sind Volvo Trucksund VW mit den seit jüngerer Zeit inte-grierten Herstellern Scania und MAN.Insbesondere VW versucht mit dem Zu-sammenrücken der VW-Töchter Scaniaund MAN und mit seiner engen Verbin-dung zum chinesischen Hersteller FAWdie vorherrschende Position von Daimlerin diesen Sektor anzugreifen.9

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Daimler & Luxus – ROHR-02Als im Mai 2013 die neue S-Klasse desDaimler-Konzerns vorgestellt wurde,gab es in den Medien einiges Gerauneüber den Umstand, dass das Vorzeige-Exemplar mit einem Airbus A300 vonStuttgart nach Hamburg geflogen undauf der Airbus-Werft in Finkenwerderzur Weltpremiere vorfuhr. All das doku-mentiere, so Zetsche, dass Daimler indiesem obersten Segment „die Luftho-heit“ habe. Sicher ist, dass der Konzernauf diesem Gebiet eine Rekordrenditeeinfährt. Von Margen bis zu 40 Prozentist die Rede; davon, dass die S-Klassemit jährlich „nur“ rund 90000 herge-stellten Pkw mehr als eine MilliardeEuro an Gewinn pro Jahr einfahre.10

Die Abteilung Luxus-Pkw war beiDaimler-Benz traditionell immer einSchwerpunkt, zumal in Westeuropa Pkwbis Ende der fünfziger Jahre kaum Mas-senprodukt waren und zu einem großenTeil auf Luxuskonsum zielten. In derPhase 1949 bis Ende der achtziger Jahrewar der Konzern in besonderem Maßvon dieser „Abteilung“ bestimmt. Andersals die Autohersteller VW, GM (mit sei-nen Töchtern Opel und Vauxhall) und

Ford, die bereits sehr früh auf die kauf-kräftige Massennachfrage orientierten,konzentrierte sich Daimler-Benz aufteure Pkw. Das Unternehmen nahm da-bei auf dem deutschen und teilweiseauf dem westeuropäischen Markt langeZeit fast eine Monopolstellung ein,nachdem der Konkurrent Borgward1963 in die Pleite getrieben wurde undBMW erst in den 1980er Jahren alsKonkurrent in diesem Segment in grö-ßerem Umfang Fuß fassen konnte.

Die Produktion von Luxus-Pkw stelltin so gut wie allen Zeiten kapitalisti-scher Konjunktur ein gutes Absatzgebietdar. Insbesondere aber in Krisenzeiten,wie wir sie seit den 1980er Jahren erle-ben, in denen die Massenkaufkraft kaummehr wächst und der Reichtum explo-diert, bieten Luxus-Pkw eine Profitga-rantie. Das hat der ehemalige Boss vonChrysler, Lee A. Iacocca, bereits Anfangder achtziger Jahre gut beschrieben:„Um sich abzusichern, braucht man ...Autos der Luxusklasse, denn man weißja nie, wann der kleine Mann seinen Jobverliert. Auf eines scheint man sichselbst während einer Rezession verlas-sen zu können, nämlich dass die Rei-

chen immer reicher werden. Deshalbmuss man für die immer Leckerbissenbereit halten.“11

Daimler entwickelte mit Maybachauch eine „High-End-Marke“, die 2002mit großem Getöse startete und Luxus-Pkw ab 390000 Euro aufwärts im Pro-gramm hatte. Noch unter Dieter Zetschewurde mehr als eine Milliarde Euro indas Maybach-Abenteuer investiert.Doch Maybach unterlag in der Konkur-renz zu Bentley (VW) und Rolls Royce(BMW); in einem Jahrzehnt wurden ge-rade mal 3000 Maybach-Limousinenverkauft. 2013 wurde die Marke May-bach scheinbar endgültig eingestellt –und etwa zur gleichen Zeit die neue S-Klasse von Mercedes präsentiert.12

Dennoch: Wie stark Daimler auchheute noch auf das Luxussegment ab-zielt, zeigt der folgende Vergleich: ImJahr 2015 liegt in Deutschland derdurchschnittliche Preis für einen neuenPkw bei 27189 Euro. Der durchschnittli-che Preis für einen Pkw der Marke Mer-cedes liegt bei 42040 Euro. Bei VW be-trägt der durchschnittliche Pkw-Preis24400 Euro, was knapp 60 Prozent desDaimler-Werts entspricht. Bei den VW-

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DER KONZERN

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Schwerpunkte der Konzern-PolitikDaimler-Chef

1

Umsatz

2a 2b 3a 3b 4a 4b 5a 5b

Jahr Mio. $ Rang* Mio. $ Rang* Rang* in Tsd. Rang*

Profite*** Beschäftigte Kfz-Produktion

1980 14625 k. A. k. A. k. A. 185500 k. A. 738 k. A. G. Prinz W. Breit-schwerdt

Deutsche Bank übernimmt Flick-Anteile; dominiert Konzern

1986 30170 17 k. A. k. A. 319000 k. A. 820 k. A.

Edzard Reuter Offensive Aufkaufpolitik(MTU, MBB, Fokker, AEG)

JürgenSchrempp

Übernahme von Chrysler (1998) &Mitsubishi (2001); Einstieg beiHyundai

Dieter Zetsche Trennung von Chrysler (2007).Ausstieg der Deutschen Bank,Einstieg Kuweit.Ausbau China-Engagement.Verkauf EADS-Anteile.

1989 40570 k. A. 1317 k. A. 360000 k. A. 803 k. A.

1992 62276 39 1123 k. A. 350000 k. A. 725,7 k. A.

1994 64131 k. A. 552 k. A. 350700 k. A. 884,7 k. A.

1998 154348 2 5602 15 455000 31 4512**** k. A.

2001 136897 7 -593 442 372470 16 4364 5

2003 156602 7 507 298 362060 13 4231 5

2005 186106 7 3536 112 382720 16 4815 5

2007 177167 11 5446 75 272380 37 2096 13

2009 109700 30 -3669 490 256400 50 1447 12

2010 129481 24 5957 75 260100 54 1940 12

2011 148139 21 7880 62 271370 49 2137 12

2012 146886 23 7832 55 275090 52 2195 12

2013 156628 20 9083 55 274620 51 2400 14

2014 168900 k. A. 13800 k. A. 279970 k. A. 2500 k. A.

Tabelle: 35 Jahre Daimler-Konzern – eine wechselvolle Geschichte in Zahlen, Vorstandsvorsitzenden undSchwerpunkten

* Rang unter den 500 größten Unternehmen der Welt (Global 500 / US-Blatt Fortune) · ** Rang unter allen Kfz-Herstellern der Welt ·*** Gewinne vor Steuern und Zinsen · **** Davon 3,2 Mio in den USA produzierte Pkw; weit überwiegend Chrysler

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

Töchtern Skoda und Seat und bei Opelsind es sogar nur jeweils rund 20000Euro, was der Hälfte des durchschnittli-chen Preises eines Daimler-Pkw ent-spricht.13 Damit lässt sich sagen, dassDaimler als Pkw-Hersteller überwiegendauf Luxusnachfrage abzielt.

Daimler als Massenhersteller –ROHR-01In der zweiten Hälfte der 1990er Jahreund mit dem Antritt des langgedientenDaimler-Mannes Jürgen Schrempp alsneuer Vorstandsvorsitzender wurde einneuer Umbau des Konzerns gestartet.Daimler wurde zum Massenherstellervon Pkw – und zielte damit, wenn auch„nur“ für knapp ein Jahrzehntals – über-wiegend auf die kaufkräftige Massen-nachfrage. Die genannte „Abteilung II“begann, das Unternehmen zu prägen.Die Fertigung von Mercedes-Pkw dermittleren Preisklasse (A-, B-Klasse)spielt eine wachsende Rolle.14 Die Klein-wagen-Marke Smart wurde entwickelt.Vor allem versuchte Daimler mit denzwei großen Übernahmen Chrysler undMitsubishi hinsichtlich Umsatz undMassenproduktion zur Weltspitze vor-zustoßen. Was durchaus gelang – wennauch nur für ein knappes Jahrzehnt.

1998 übernahm der Daimler-KonzernChrysler, den drittgrößten, damals hoch-profitablen US-Hersteller, der vor allemPkw für den Massenmarkt, zunehmendaber auch bereits SUVs, herstellte.15

2000 stieg DaimlerChrysler bei dem ja-panischen Massenhersteller MitsubishiMotors (MMC) ein; 2002 übernahmDaimler dort auch die operative Füh-rung. Diese Orientierung wurde ergänztdurch den Einstieg bei dem größtensüdkoreanischen Autobauer Hyundai. Indieser Periode, in der Schrempp von der„Welt-AG“ sprach, lag Daimler kurzeZeit auf Rang 2 der größten Unterneh-men der Welt. Mit 4,5 Millionen herge-stellten Pkw erreichte der Konzern for-mell Rang 6 unter den weltweit größtenAutoherstellern. Berücksichtigt man,dass Daimler zeitweilig bei Mitsubishiauch die operative Führung innehatteund dort den CEO stellte, wären dierund 1,4 Millionen Mitsubishi-Pkw hin-zuzurechnen, womit Daimler mit 6,2Millionen Kfz kurze Zeit hinter GM undToyota und weitgehend gleichauf mit

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Ford der dritt- bzw. viertgrößte Kfz-Her-steller der Welt war.

Die Orientierung auf Daimler als Mas-senhersteller wurde spätestens mit demAusstieg bei Chrysler 2007 massiv zu-rückgefahren. Zuvor, 2004, hatte Daim-ler bereits das Engagement bei Mitsub-ishi aufgegeben.

Die Bosse kommen und gehenInteressant ist, wie in der Öffentlichkeitdie Daimler-Bosse immer mit einzelnenPhasen des Konzerns identifiziert wer-den (siehe dazu die tabellarische Dar-stellung). Unter Reuter war das der„integrierte Verkehrskonzern“. UnterSchrempp die „Welt-AG“. Und unter Zet-sche die „Rückbesinnung auf die Kern-marke“. In Wirklichkeit fielen die strate-gischen Entscheidungen anderswo – z.B. bei der Deutschen Bank. Oder siewurden durch Veränderungen des Welt-markts herbeigeführt. Und für diese un-terschiedlichen Phasen der Profitpro-duktion wurden dann entweder die ent-sprechenden Führer-Figuren gefunden –oder die Top-Manager hängten ihrFähnlein in den Wind und passten sichden neuen Anforderungen an. So warSchrempp ein treuer Knecht seines Mei-sters Reuter und unter diesem der Chefdes Rüstungsbereichs Dasa. Doch als eran die Daimler-Spitze geholt wurde undgemäß den Vorgaben der DeutschenBank die Orientierung Welt-AG betrieb,da rechnete er gnadenlos mit Reuterund dessen Vision des „Technologie-Konzerns“ ab.16 Zetsche wiederum warein Sklave in Schrempps Daimler-Reich;Zetsche war vor allem Boss von Chrysler,als dieser US-Autohersteller zum Daim-ler-Imperium gehörte. Doch als Zetschean die Daimler-Spitze rückte, kippte eremotionslos Chrysler aus dem Konzern-verbund und warf den US-Autoherstel-ler einer Heuschrecke mit Namen Cer-berus in den Höllenschlund. Ähnlich wiezuvor Schrempp mit der Reuter-Ära ab-gerechnet hatte, wurde jetzt unter Zet-sche das Chrysler-, Mitsubishi- undHyundai-Engagement als Irrweg abge-tan und als eine Art Schrempp-Spleenpräsentiert.

In Wirklichkeit stecken zwischen die-sen scheinbar stark unterschiedlichenPhasen strategische Überlegungen undgrundlegende Veränderungen des Welt-

markts. Die Reuter´sche Rüstungsphaseentsprach, wie beschrieben, der Zielset-zung der in Deutschland herrschendenKreise, nach der Wiedervereinigung dasEU-Projekt und einen EU-Rüstungskon-zern voranzutreiben. Als dieser Job ge-tan war, schritt Daimler unter Schremppzu den neuen Ufern einer Welt-AG. Da-bei spielte eine große Rolle, dass damalsder Weltmarkt noch von einer imperiali-stischen Triade bestimmt wurde, beste-hend aus USA, Japan und der EU. Daim-ler suchte entsprechend in Nordamerikaund in Japan eine feste Verankerung.Bei der Wahl Mitsubishi wurde auchversucht, sich mit einem Kernbereichdes japanischen Imperialismus zu ver-netzen.17

Der Ausstieg bei Chrysler und Mitsub-ishi entsprach teilweise einer profitori-entierten Neuorientierung, zugleichwurde damit eine geographischen Neu-justierung vorgenommen

Die Neuorientierung meinte ein mas-sives Zurückfahren von Daimler alsMassenhersteller von Pkw der mittlerenKlasse. Die zunehmenden Krisenerschei-nungen und die weltweit verstärkteneoliberale Politik mit der Stagnationund den Rückgängen der Massenkauf-kraft in Nordamerika, Japan und Europalieferten für diese Konzernpolitik guteGründe. Zumal bereits 1997 im Südender USA, in Tuscaloosa, ein eigenesDaimler-Werk errichtet wurde, aus demim übrigens die Automobilarbeiterge-werkschaft UAW bis 2014 komplett her-ausgehalten werden konnte. In Japankonnte vor dem Ausstieg bei Mitsubishidie wertvollste Mitsubishi-Tochter, derLkw-Hersteller Fuso, herausgebrochenund ins Daimler-Imperium überführtwerden.18

Mit dem Verkauf von Chrysler undden Ausstiegen bei Mitsubishi undHyundai wurde der Umsatz von Daimlervon 177 Mrd US-$ auf rund 110 Mrd US$ radikal reduziert und die Zahl produ-zierter Kraftahrzeuge mehr als halbiert.Diese radikale Kehrtwende machte vorallem in Kombination mit der geogra-phischen Neujustierung Sinn. Die USAerlebten seit Ende der 1990er Jahre aufwirtschaftlicher und politischer Ebeneeinen erheblichen Bedeutungsverlust.Der japanische Kapitalismus erlebte gareine nunmehr seit 15 Jahren anhalten-

de Stagnations- und Depressionsperi-ode. Gleichzeitig stieg China zur neuenkapitalistischen Weltmacht auf – nichtzuletzt als Kfz-Produzent und als welt-weit größter Absatzmarkt für Pkw. Eindeutscher Daimler-Konzern, der miteinem großen japanischen Herstellerverbunden ist, wäre hier bereits ein Pro-blem gewesen. Eine Verbindung mitMitsubishi, der Inkarnation des japani-schen Imperialismus und der japani-schen Rüstungsindustrie, hätte sich alsein enormes Hindernis beim großange-legten Eintritt in den chinesischenMarkt erwiesen.

Und so steht Zetsche angeblich fürdie Rückbesinnung auf die „Kernmarke“.In Wirklichkeit steht Daimler in seineraktuellen Phase vor allem für die – spä-te – Erkenntnis des Stuttgarter Top-Managements, dass die neue Schlachtin der Weltautoindustrie in China ge-schlagen wird. Seitdem findet eine gna-denlose Aufholjagd statt, bei der Daim-ler vor allem mit Audi und BMW kon-kurriert. Bei Zetsches Antritt 2007 lagder Anteil, den der chinesische Marktam gesamten Daimler-Umsatz aus-machte bei rund 3 Prozent. 2010 warenes 5 Prozent und 2014 bereits rund 20Prozent. 2015 dürfte die VR China mitrund 25 Prozent und mehr als 250000verkauften Kraftfahrzeugen erstmalsden größten Absatzmarkt des Konzernsüberhaupt darstellen – größer alsDeutschland, größer als die USA undgrößer als Westeuropa ohne Deutsch-land.

Dabei ist Daimler auch bereit, dieKernmarke Mercedes zugunsten des chi-nesischen Partners BAIC in Frage zustellen bzw. den Mercedes-Stern zumin-dest hintan zu stellen. Inzwischen istselbst eine Ankerbeteiligung eines chi-nesischen Investmentfonds am Daimler-Kapital vorstellbar.19

Wobei auch für Daimler in China gilt:Es wird aus allen vier Rohren geschos-sen. Daimler ist in China präsent mitNutzfahrzeugen – mit der Marke Au-man, mit Lkw, die von Daimler gemein-sam mit dem Daimler-Partner Fotonproduziert werden. Daimler ist über die12-Prozent-Beteiligung an chinesischenAutohersteller BAIC im Sektor Massen-herstellung von Mittelklasse-Pkw enga-giert. Daimler erzielt schließlich in Chi-

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UNTERRUBRIK

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DAIMLER WELT WELTAUTO –

Anmerkungen:1 Thomas Fromm und Max Hägler, Die Wandlung des Dr. Z., in:

Süddeutsche Zeitung 6.2.2015.2 Hier gibt es allerdings in jüngerer Zeit zumindest in Deutschland eine

wesentliche Veränderung. Siehe den Kasten zu Geschäftswagen.3 Bereits im Jahr 1938 machte die Rüstung 90 Prozent des Daimler-

Benz-Konzernumsatzes aus. Die „Konversion“ von ziviler auf Rüs-tungsproduktion betrieb langfristig der Großaktionär des Unter-nehmens, die Deutsche Bank. Diese stellte seit 1925 mit Emil Georgvon Stauß den Daimler-Aufsichtsratsvorsitzenden. In dem OMGUS-Report der US-Militärverwaltung, der nach dem Zweiten Weltkriegerstellt wurde, heißt es dazu: „Es war Emil Georg von Stauß von derDeutschen Bank, der die Reorganisationen (von BMW und Daimler-Benz; W.W.) betrieb […] Er war weitgehend dafür verantwortlich, dassdie Produktionsvorhaben ... lange vor Ausbruch des Krieges von derzivilen Autoproduktion auf die Herstellung von Flugzeugmotorenumgestellt wurden.“ Nach OMGUS-Report, Ermittlungen gegen dieDeutsche Bank, Nördlingen 1985, S.149f. Der Umsatz desUnternehmens entwickelte sich von 100 Millionen Reichsmark (RM)1935 auf rund eine Milliarde RM 1944. Eine Verzehnfachung desUmsatzes in neun Jahren – mit noch stärkerem Wachstum der realenProfite – ist im normalen kapitalistischen Geschäftsleben nichterreichbar. 1986 brachte die Plakat-Gruppe Daimler-BenzUntertürkheim (siehe Seite 18 ff) zusammen mit Mitgliedern derAnti-Apartheid-Bewegung die Broschüre heraus: 100 Jahre Daimler-Benz – Kein Grund zum Feiern. Diese höchst verdienstvolleVeröffentlichung hatte vor allem die Daimler-Benz-Tradition in derRüstung zum Schwerpunkt.

4 EADS gab sich 2013 einen zivilen Tarnanstrich und benannte sich umin „Airbus Group“, die wiederum hat einen militärischen Ge-schäftsbereich mit der Bezeichnung „Airbus Defence and Space“, wasdem früheren EADS-Bereich EADS Cassidian entspricht.

5 Siehe ausführlich unter: www.aufschrei-waffenhandel.de/Daimler.6 Nehmen wir als Beispiel die Struktur im Jahr 2007. Damals lag der

Gesamtumsatz der Daimler-Unternehmensgruppe bei rund 135 Mil-liarden Euro. Das Geschäft mit Lkw, Transportern und Bussen beliefsich auf rund 43 Mrd. Euro – knapp ein Drittel des Gesamtumsatzes.Rechnet man Anteile des Geschäftsfelds Daimler Financial Servicesund die Einnahmen aus Tollcollect, dem Lkw-Maut-System auf deut-schen Autobahnen, an dem Daimler maßgeblich beteiligt ist, hinzu,dann dürften bis zu 40 Prozent des Gesamtumsatzes auf den BereichNutzfahrzeugen entfallen.

7 Unter Transportintensität versteht man die Summe an Transportki-lometern, die in einer Ware enthalten sind. In einem Computer oderin einem Joghurt-Becher sind heute in der Regel 50 Prozent mehrKilometer, die auf Straßen, per Schiff, in Eisenbahnen oder perFlugzeug zurückgelegt wurden, „enthalten“.

8 Seit 1990 kamen drei von vier Bahnchefs (Heinz Dürr, HartmutMehdorn und Rüdiger Grube) aus der Daimler Kaderschmiede. UnterGrube kaufte die Deutsche Bahn AG 2013 für gut 3 Milliarden EuroArriva, den größten Betreiber von Busfernverkehrslinien in Europa.Fast zeitgleich erfolgte in Deutschland die Liberalisierung desBusfernverkehrs. Die Deutsche Bahn ist auch in Deutschland imBusfernverkehr engagiert und betreibt zunehmend Busfernver-kehrsstrecken in Konkurrenz zu bestehenden (oder dann eingestell-ten) Schienenverbindungen. Siehe ausführlich: Bernhard Knierim /Winfried Wolf, Bitte umsteigen! 20 Jahre Bahnreform, Stuttgart 2014,S.61ff.

9 2013 wurden bei Daimler 355000 Lkw gefertigt. Nr. 2 im Weltmarktwar Dongfeng Motor Corp. mit 246000 Einheiten, gefolgt von FAW(China), von VW (MAN-Scania) und Volvo Trucks mit je 128000Einheiten. VW und FAW sind über ein joint venture miteinander ver

bunden. BAIC-Foton – eng verbunden mit Daimler – brachte es auf140000 Einheiten. Da Daimler und Volvo überproportional schwereLastkraftwagen herstellen, muss ihre Position, wenn an denUmsätzen gemessen, stärker gewichtet werden.

10 Nicolaus Doll, Kampf um die Lufthoheit in der Branche, in: Die Welt17.5.2013.

11 Lee A. Iacocca, Eine amerikanische Karriere, Düsseldorf und Wien1985, S. 386.

12 Siehe Georg Kacher, Warum Maybach nie eine wirkliche Chancehatte, in: Süddeutsche Zeitung 5.12.2011. Ende 2014 hieß es, dass einneues und verlängertes S-Klasse-Modell (BR 222, dann als „BR222X“) den Zusatz „Maybach“ erhalten soll.

13 Nikolaus Doll, Neuwagen sind so teuer wie noch nie, in: Die Welt9.2.2015. Der durchschnittliche Preis eines Pkw der Marke Dacia, alsoder Renault-Tochter für preiswerte Pkw, liegt sogar nur bei 11682Euro, was einem Drittel des Verkaufspreises eines Mercedes-Pkw ent-spricht.

14 Die A-Klasse-Modelle beginnen 2015 bei einem Neuwagenpreis von24500 Euro, die B-Klasse bei 27000 Euro

15 Es handelte sich von vornherein um eine reine Übernahme. Die Be-hauptung, es sei ein „merger of equals“ waren pure Show undStreicheleinheiten für Kapitalanleger in den USA.

16 Schrempp ließ dabei Projekte verschrotten, die er zuvor betriebenund in den siebten Himmel gehoben hatte. So hatte Schrempp alsDasa-Chef in den Niederlanden den Flugzeugbauer Fokker aufgekauftund dabei von „my love baby“ gesprochen. Als Vorstandsvorsitzendervon Daimler-Benz ließ er dann den Flugzeughersteller mit seinen8000 Arbeitsplätze gnadenlos in den Ruin zu treiben.

17 Mitsubishi Motors ist Teil des informellen, nach dem ZweitenWeltkrieg offiziell aufgelösten traditionsreichen Mitsubishi-Konglo-merats, das, vergleichbar mit Daimler-Benz im NS-Deutschland, bis1945 die Rüstung für den imperialistischen japanischen Krieg or-ganisiert hatte. Zum Mitsubishi-Imperium zählen heute die MMC-Großaktionäre das Handelshaus Mitsubishi Corp, der Rüstungs- undMaschinenbauer Mitsubishi Heavy Industries und das Bankhaus Bankof Tokyo-Mitsubishi. Edzard Reuter hatte bereits 1990 vergeblich einestrategische Allianz Daimler-Mitsubishi angepeilt. Er fabulierte in der„Zeit“ davon, dass „die Welt durch globale Konzerne Schritt fürSchritt zu einer Einheit zusammengeschweißt“ werde. „Le Monde sahdamals darin eine „gefährliche Wiedergeburt deutsch-japanischenGrößenwahns“. Zitiert bei Winfried Wolf, Autoindustrie und Opel-Streik 2004/2005, Berlin-Wilhelmshorst 2005, wolfs flugschrift nr. 3,S. 53.

18 Anfang 2003 gliederte DaimlerChrysler bei MMC den Lkw-HerstellerFuso, bis dahin eine hundertprozentige MMC-Tochter, aus und über-nahm die Aktienmehrheit beim neu formierten Unternehmen FusoBus & Truck. Das Fuso-Engagement ist wichtiger als das bei MMC, daFuso profitabel arbeitet und in Japan im Lkw-Geschäft einenMarktanteil von 30 Prozent, MMC hingegen im Pkw-Bereich nureinen Anteil von 10 Prozent hält.

19 Die Deutsche Bank stieg bei Daimler bereits vor einigen Jahren aus.Bis 2012 war Abu Dhabi mit dem Staatsfonds Aabar und einem Anteilvon 3,1 Prozent einer der wenigen Großaktionäre. Doch Aabar mach-te 2012 Kasse und stieg aus. Aktuell sind noch Kuwait (mit 7,6 %)und Renault-Nissan (mit 3,1 %) als Großaktionäre präsent. ZweiDrittel der übrigen Anteile werden von institutionellen Investoren,gut 20 Prozent von privaten Anlegern gehalten. Diese Eigentümer-Struktur gilt als labil. Immer wieder war im Gespräch, dass als neuerGroßinvestor der Staatsfonds CIC –China Investment Corporation –einsteigen könnte. Angaben nach: Handelsblatt 8.1.2013.

20 Presseerklärung Daimler-Konzern 10.10.2014.

na die größten Umsatzanteile mit Auto-mobilen der Luxusklasse. Schließlichexistiert eine Verbindung von Daimlerzum chinesischen Rüstungsunterneh-men und Waffenexporteur Norinco.

Nachdem es 1998 bei Daimler mit

Chrysler eine deutsch-amerikanischeAllianz gab, nachdem es mit Daimler-Mitsubishi 2002 zu einer deutsch-japa-nischen Partnerschaft kam, spricht Zet-sche 2014 von der „chinesisch-deut-schen Partnerschaft“ und davon, dass

„wir zuversichtlich sind für unsere Zu-kunft im entscheidenden Markt fürAutos, in China“.20

Winfried Wolf ist Chefredakteur vonLunpark21 und Verfasser von Büchern u.a.zur Autoindustrie und Verkehrspolitik.

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Das vorliegende Heft Lunapark21 Extra10 zum Thema DaimlerWelt-AutoWelt wird herausgegeben von der Redaktion Lunapark21, der Daimler-Koordination und demNetzwerk TIE (Transnationals Information Exchange). Zur Charakterisierung der zwei letztgenannten Gruppen siehe die Kurzporträts oben und das Vorwort.Redaktionelle Koordination bei diesem Heft: Aron Amm Einzelheft-Preis für das vorliegende LP21Extra10: 5 Euro.In allen Abo- und Vertriebsangelegenheiten bitte wenden an: E-Mail [email protected] | Postadresse: AVZ · Storkower Str. 127a · 10407 Berlin | Tel.: 030– 42804030. | Redaktionsangaben: Lunapark21 GmbH · An den Bergen 112 · D-14552 Michendorf | E-Mail-Adresse (nur für Redaktionsangelegen-heiten): [email protected] | Geschäftsführer Sebastian Gerhardt | Registrierung der Lunapark21 GmbH beim Amtsgericht Potsdam unter HRB21525P | Heftgestaltung: Joachim Römer (www.unterblicken.de) | Druck: Brandenburgische Universitätsdruckerei und Verlagsgesellschaft PotsdammbH | Lunapark21 wird auf FSC-zertifiziertem Papier gedruckt | Lunapark21 – Zeitschrift zur Kritik der globalen Ökonomie erscheint vier Mal im Jahr.Zusätzlich gibt es pro Jahr zwei Extra-Hefte zu Schwerpunktthemen (wie das vorliegende zu DaimlerWelt-AutoWelt). | LP21-Redaktion: Dr. WinfriedWolf (Chefredakteur; V.i.S.d.P.) · Daniel Behruzi · Thomas Fruth · Sebastian Gerhardt · Dr. Hannes Hofbauer · Dr. Gisela Notz | Einzelpreis des norma-len Heftes (der Quartalszeitschrift): 5,90 Euro + Porto | Normalabo (= vier Ausgaben im Jahr und für Deutschland/Österreich): 24,00 Euro. | AboPLUS(sechs Ausgaben im Jahr, davon zwei Sonderhefte LP21-Extra zu Schwerpunkthemen; ebenfalls für Deutschland/ Österreich): 32 Euro. | Alle Abopreisesiehe www.lunapark21.net/service/ | Konto Lunapark21: IBAN DE69 1605 0000 3527 0038 00 | BIC WELADED 1PMB | Die Rechte für Fotos und Texte liegen bei den Autorinnen und Autoren. Die Verwendung ist nur mit deren Einwilligung und mit Quellenangabe gestattet. | © Copyright 2015 by Lunapark21 GmbH | ISSN 1866-3788

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In der Automobilbranche begleitet tie nationale und internationale Netzwerke von Gewerkschafts-aktvistInnen. So unterstützt tie innerhalb des Daimler-Konzerns bereits seit über 25 Jahren einen interna-tionalen Erfahrungs- und Informationsaustausch zwischen Beschäftigten, um auf diese Weise gemeinsamegewerkschaftliche Positionen und Strategien zu erarbeiten,konkrete Solidaritätsaktionen zwischen den Be-schäftigten sowie eine Gegenwehr zur Unternehmensstrategie des gegenseitigen Ausspielens verschiede-ner Standorte zu organisieren.Weitere Infos: www.tie-germany.org

Die Daimler-Koordination …… ist ein Arbeitsforum, das dem regelmäßigen Informationsaustausch von Betriebsgruppen, kritischen Ver-trauensleuten der IG-Metall, Betriebsräten und anderen interessierte KollegInnen aus deutschen Daimler-Werken dient. Wir verstehen uns als an der Basis orientiert und von dem Interesse getragen, über den eige-nen Tellerrand hinaus auch internationale Zusammenhänge zu begreifen und entgegen engstirnigem„Standortdenken“ Solidarität in der BRD und darüber hinaus zu fördern. Innerhalb des Forums werdenManagement-Strategien kritisch beleuchtet und eigene Positionen erarbeitet. Der Kontakt zwischen Be-legschaften ist für den gegenseitigen Erfahrungsaustausch und das Suchen nach gemeinsamer und solida-rischer Gegenwehr unentbehrlich.

Entgegen der mehrheitlichen Politik in den Gewerkschaften und den Betriebsräten vertritt die Koordina-tion eine Position gegen Konzessions- und Standortpolitik, da diese keine Standorte sicherer macht, sondernnur den Erpressungsdruck auf die einzelnen Belegschaften erhöht.

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