Das „Ortsstatut“ Freiburgs im Breisgau von 1887 – Symbol ... · wicklung dazu hatte der Brite...

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Quellen für den Unterricht 57 2. Das „Ortsstatut“ von 1887 Freiburg wies aufgrund seiner Standort- faktoren einige Nachteile für eine inten- sive Industrialisierung auf, insbesondere bezüglich der Infrastruktur und Energie- gewinnung. So erreichte die Eisenbahn in Gestalt der Nord-Süd-Strecke zwar bereits 1845 die Stadt, in Ost-West-Rich- tung konnte aber erst 1887 die Höllen- talbahn eröffnet werden, die zudem auf- grund der starken Höhenunterschiede des Schwarzwaldes teilweise Spezialloko- motiven mit Zahnradantrieb benötigte, um über eine Zahnschiene die größten Steigungen überwinden zu können. Vom Rhein lag Freiburg zu weit entfernt, um den Bau eines schiffbaren Kanals letzt- lich lohnend erscheinen zu lassen. Die Wasserkraft aus dem Schwarzwald, die seit dem Mittelalter mit dem Gewerbeka- nal genutzt wurde, erwies sich als für in- dustrielle Ansprüche ungeeignet, da der Wasserstand je nach Jahreszeit und Klima im Schwarzwald stark variierte. Dennoch gab es erste Ansiedelungen von Industrien im 19. Jahrhundert, vor allem östlich des Stadtzentrums in der soge- nannten Oberau. Beispielsweise sind hier die Seidenzwirnerei Karl Mez oder die Porzellanknopffabrik Jeremias Risler zu nennen. Später kamen industrielle Anla- gen im Stadtteil Im Grün südwestlich der Innenstadt dazu. Für ihre Produktion brauchen Fabriken Platz, sie stoßen Emissionen aus und bringen Arbeiter mit sich. Diese Folgen entsprachen nicht wirklich dem Selbst- bild Freiburgs, weshalb sich die städti- schen Behörden im ausgehenden 19. Jahrhundert nicht weiter um indu- strielle Ansiedelungen bemühten und 1887 das Ortsstatut (M 1) erließen. Die- Das „Ortsstatut“ Freiburgs im Breisgau von 1887 – Symbol des Sonderwegs einer Stadt?! Archivnachrichten 58 / 2019 51 1. Einleitung Zunächst ist Freiburg ein Rentnerheim, die alldeutsche Pensionopolis. […] Frei- burg ist jedoch nicht nur Rentnerheim, sondern auch eine der hervorragendsten Lebensstätten Deutschlands. […] Die Stu- denten haben an Zahl gewaltig zugenom- men. Der Reichstagskandidat der Fort- schrittspartei, Dr. von Schulze-Gaever- nitz, sah Freiburgs Zukunft in dieser vielbejubelten Rede von 1911 in seiner Attraktivität für vermögende Rentiers, Privatiers und Studenten (von Schulze- Gaevernitz, S. 3–5). Dieses Zitat steht für die Zusammenfassung einer Kommunal- politik, die sich im 19. Jahrhundert be- wusst von der Industrialisierung abge- wandt und auf alternative Einkommens- quellen gesetzt hatte. Freiburg hatte damit nach einem eigenen, singulären Weg gesucht, für den die Stadt mit dem Ortsstatut 1887 den Grundstein gelegt hatte. Ausgehend vom Ortsstatut wurde das Beschreiten besonderer Wege wichtig für das städtische Selbstverständnis, was exemplarisch anhand dreier Beispiele er- läutert werden wird: erstens mittels der Amtszeit des Oberbürgermeisters Dr. Otto Winterer von 1888 bis 1913, zwei- tens mit der Umsetzung der Gartenstadt- idee in Freiburg-Haslach und drittens in der Verwirklichung individualistischer Lebensformen im Stadtteil Vauban. Um den Erfolg dieser alternativen Raumpla- nung einzuschätzen, wäre es interessant zu schauen, ob und inwiefern sich in der Green City, wie Freiburg sich heute gerne nennt, die – um aktuelle Begriffe zu ver- wenden – Ziele der Lebensqualität und Naturverbundenheit verwirklichen lie- ßen. ses legte fest, dass die Errichtung von neuen gewerblichen Anlagen […] in den Stadtteilen östlich des Hauptbahnkörpers und südlich der Dreisam künftig nicht mehr zugelassen werde. Die Korrespon- denz mit anderen deutschen Großstäd- ten, darunter Mannheim und Hamburg, aus den Jahren 1884 bis 1887, die in der Akte des Stadtrats der Stadt Freiburg zum Ortsstatut enthalten ist, legt die Vermu- tung nahe, dass negative Folgen der In- dustrialisierung gleichsam ausgelagert werden sollten. Das Bürgertum wollte von den Segnungen der Industrie profi- tieren, ohne die Schadstoffquellen sowie politischen und sozialen Auswirkungen einer Arbeiterschaft zu spüren. Fabriken und deren Klientel sollten weder sicht-, noch riech- oder fühlbar für die vermö- genden Bürger sein und sich möglichst nicht im nach außen wirksamen Stadt- bild widerspiegeln. Konsequenterweise legte die Stadt zugleich mit dem Ortssta- tut eine Bauordnung als städtebauliches Steuerungsinstrument auf, mit dem Ziel, den Prozess sozialräumlicher Differenzie- rung zu befördern. Der damit begonnene Prozess kann dem Selbstverständnis Freiburgs entspre- chend durchaus als Alternative bezeich- net werden. Eine relativ unverschmutzte Natur sowie angenehme Wohn- und Le- bensverhältnisse konnten für die groß- bürgerliche Schicht – östlich der Bahn wohnend – sicherlich erreicht werden. Für die Arbeiterschaft bedeutete es hin- gegen eine Verdrängung an den westli- chen Stadtrand, was mit dem Bezirk Stühlinger einen Namen bekam. Bereits 1875 war begonnen worden, das Gebiet westlich des Bahnhofs, bis dahin eine eher sumpfige, flache Brache, zu erschlie- ßen. Erst zehn Jahre später wurde der Quellen für den Unterricht 57 Heike Bömicke

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2. Das „Ortsstatut“ von 1887

Freiburg wies aufgrund seiner Standort-faktoren einige Nachteile für eine inten-sive Industrialisierung auf, insbesonderebezüglich der Infrastruktur und Energie-gewinnung. So erreichte die Eisenbahnin Gestalt der Nord-Süd-Strecke zwarbereits 1845 die Stadt, in Ost-West-Rich-tung konnte aber erst 1887 die Höllen-talbahn eröffnet werden, die zudem auf-grund der starken Höhenunterschiededes Schwarzwaldes teilweise Spezialloko-motiven mit Zahnradantrieb benötigte,um über eine Zahnschiene die größtenSteigungen überwinden zu können. VomRhein lag Freiburg zu weit entfernt, umden Bau eines schiffbaren Kanals letzt-lich lohnend erscheinen zu lassen. DieWasserkraft aus dem Schwarzwald, dieseit dem Mittelalter mit dem Gewerbeka-nal genutzt wurde, erwies sich als für in-dustrielle Ansprüche ungeeignet, da derWasserstand je nach Jahreszeit undKlima im Schwarzwald stark variierte.Dennoch gab es erste Ansiedelungen vonIndustrien im 19. Jahrhundert, vor allemöstlich des Stadtzentrums in der soge-nannten Oberau. Beispielsweise sind hierdie Seidenzwirnerei Karl Mez oder diePorzellanknopffabrik Jeremias Risler zunennen. Später kamen industrielle Anla-gen im Stadtteil Im Grün südwestlich derInnenstadt dazu.Für ihre Produktion brauchen FabrikenPlatz, sie stoßen Emissionen aus undbringen Arbeiter mit sich. Diese Folgenentsprachen nicht wirklich dem Selbst-bild Freiburgs, weshalb sich die städti-schen Behörden im ausgehenden19. Jahrhundert nicht weiter um indu-strielle Ansiedelungen bemühten und1887 das Ortsstatut (M 1) erließen. Die-

Das „Ortsstatut“ Freiburgs im Breisgau von 1887 –Symbol des Sonderwegs einer Stadt?!

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1. Einleitung

Zunächst ist Freiburg ein Rentnerheim,die alldeutsche Pensionopolis. […] Frei-burg ist jedoch nicht nur Rentnerheim,sondern auch eine der hervorragendstenLebensstätten Deutschlands. […] Die Stu-denten haben an Zahl gewaltig zugenom-men. Der Reichstagskandidat der Fort-schrittspartei, Dr. von Schulze-Gaever-nitz, sah Freiburgs Zukunft in dieservielbejubelten Rede von 1911 in seinerAttraktivität für vermögende Rentiers,Privatiers und Studenten (von Schulze-Gaevernitz, S. 3–5). Dieses Zitat steht fürdie Zusammenfassung einer Kommunal-politik, die sich im 19. Jahrhundert be-wusst von der Industrialisierung abge-wandt und auf alternative Einkommens-quellen gesetzt hatte. Freiburg hattedamit nach einem eigenen, singulärenWeg gesucht, für den die Stadt mit demOrtsstatut 1887 den Grundstein gelegthatte. Ausgehend vom Ortsstatut wurdedas Beschreiten besondererWege wichtigfür das städtische Selbstverständnis, wasexemplarisch anhand dreier Beispiele er-läutert werden wird: erstens mittels derAmtszeit des Oberbürgermeisters Dr.Otto Winterer von 1888 bis 1913, zwei-tens mit der Umsetzung der Gartenstadt-idee in Freiburg-Haslach und drittens inder Verwirklichung individualistischerLebensformen im Stadtteil Vauban. Umden Erfolg dieser alternativen Raumpla-nung einzuschätzen, wäre es interessantzu schauen, ob und inwiefern sich in derGreen City, wie Freiburg sich heute gernenennt, die – um aktuelle Begriffe zu ver-wenden – Ziele der Lebensqualität undNaturverbundenheit verwirklichen lie-ßen.

ses legte fest, dass die Errichtung vonneuen gewerblichen Anlagen […] in denStadtteilen östlich des Hauptbahnkörpersund südlich der Dreisam künftig nichtmehr zugelassen werde. Die Korrespon-denz mit anderen deutschen Großstäd-ten, darunter Mannheim und Hamburg,aus den Jahren 1884 bis 1887, die in derAkte des Stadtrats der Stadt Freiburg zumOrtsstatut enthalten ist, legt die Vermu-tung nahe, dass negative Folgen der In-dustrialisierung gleichsam ausgelagertwerden sollten. Das Bürgertum wolltevon den Segnungen der Industrie profi-tieren, ohne die Schadstoffquellen sowiepolitischen und sozialen Auswirkungeneiner Arbeiterschaft zu spüren. Fabrikenund deren Klientel sollten weder sicht-,noch riech- oder fühlbar für die vermö-genden Bürger sein und sich möglichstnicht im nach außen wirksamen Stadt-bild widerspiegeln. Konsequenterweiselegte die Stadt zugleich mit dem Ortssta-tut eine Bauordnung als städtebaulichesSteuerungsinstrument auf, mit dem Ziel,den Prozess sozialräumlicher Differenzie-rung zu befördern.Der damit begonnene Prozess kanndem Selbstverständnis Freiburgs entspre-chend durchaus als Alternative bezeich-net werden. Eine relativ unverschmutzteNatur sowie angenehme Wohn- und Le-bensverhältnisse konnten für die groß-bürgerliche Schicht – östlich der Bahnwohnend – sicherlich erreicht werden.Für die Arbeiterschaft bedeutete es hin-gegen eine Verdrängung an den westli-chen Stadtrand, was mit dem BezirkStühlinger einen Namen bekam. Bereits1875 war begonnen worden, das Gebietwestlich des Bahnhofs, bis dahin eineeher sumpfige, flache Brache, zu erschlie-ßen. Erst zehn Jahre später wurde der

Quellen für den Unterricht 57 Heike Bömicke

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tivität und Lebensqualität stringent um,jedoch nur für das gehobene Bürgertum.Arbeiter und die damit verbundenen so-zialen Probleme wurden möglichst ge-ringgehalten bzw. nur in Randbezirkenangesiedelt, was die im Ortsstatut 1887begonnene Segregation verstärkte. Dahergalten die Kriterien der Lebensqualitätund Naturverbundenheit weiterhin nurfür eine ausgewählte Bevölkerungs-schicht.

3b. Alternative Ideen – die Gartenstadt

Die Gründung der Gemeinnützigen Bau-genossenschaft Gartenstadt Freiburg 1913gilt als Geburtsstunde der Gartenstadtim heutigen Freiburg-Haslach mit demZiel kostengünstigen Wohnraum [zuschaffen …], den [...] Mietskasernen einmenschliches Maß entgegenzusetzen, hy-gienisches und gesundes Wohnen zu er-möglichen und mit Gärten und Ställen[… die] Möglichkeit der Selbstversorgunginsbesondere für Arbeiter zu bieten. DenBewohnern der Gartenstadt sollte einAusgleich zur monotonen Lohnarbeit ge-boten und das Gefühl vermittelt werdenmitten in der Natur zu leben. Ein Bebau-ungsplan sollte maximale Besonnung undDurchlüftung der Häuser sowie der gro-ßen Gärten erreichen, mittels stilistischerArchitekturelemente und ganzheitlicherRaumordnung wurde das Viertel berei-chert und bewusst gestaltet. Ursprüng-lich waren öffentliche Gebäude aufeinem zentralen, gartenähnlich gestalte-ten Platz vorgesehen, darum Wohnbe-bauung und erst außerhalb davon Indu-strie- und Gewerbeansiedlungen, die ggf.durch eine Eisenbahn mit der Stadt ver-bunden werden sollten. Ziel war dieKombination der Vorteile eines ländli-chen Lebens mit städtischer Infrastruk-tur. Das Modell planmäßiger Stadtent-wicklung dazu hatte der Brite EbenezerHoward bereits 1898 entwickelt. SeineIdee ging über das reine Wohnen hinaus,indem sozialreformerische Ziele mit ihrverbunden wurden, wie lebenslangesMietrecht oder Mitbestimmungsrechteder Bewohner.Das weitere Ziel der Kostenreduktionwurde mittels verschiedener Maßnah-men umgesetzt, um die Gartenstadt füreinkommensschwache Schichten attrak-tiv zu machen. So nutzte man in Frei-burg sieben standardisierte Haustypenzur Verringerung der Baukosten. Die

dehnten Sozialpolitik, weshalb hier voneiner Vorreiter-Rolle gesprochen werdenkann.Gemäß seinem stadtplanerischen Kon-zept wies Winterer den süd- und nörd-lich der Altstadt gelegenen VorortenWiehre und (später) Herdern die (groß-)bürgerliche und gehobene Wohnbebau-ung zu. Bis zu seinem Ausscheiden 1913verfolgte er die Entwicklung Freiburgs zueinem Wahlwohnort vermögender Pri-vatiers konsequent weiter und sorgte füreine Verdoppelung der Einwohner- undGebäudezahl. Dazu beauftragte derOberbürgermeister die Erneuerung bzw.Neuerrichtung wichtiger Infrastruktur-einrichtungen wie Wasserversorgung,Abwasserbeseitigung, Ausbau von Elek-trizität und Straßenbahn sowie Neu-gründung von Schulen. Um weitere rei-che Neubürger anzulocken, baute Winte-rer das kulturelle Leben der Stadt konse-quent aus, beispielsweise mittels einesNeubaus des Stadttheaters, welcher 1910fertiggestellt wurde. In seine Amtszeitfallen die Gründung der StädtischenSammlungen, der Umbau des NeuenRathauses sowie der Bau des heutigenKollegiengebäudes I der Albert-Ludwigs-Universität. Winterer lockte Studenten,Gelehrte und Offiziere an, bewarb nebenUniversität und Garnison die landschaft-lich reizvolle Lage sowie das prachtvolleMünster und suchte für Freiburg alsFremdenstadt den Tourismus zu erschlie-ßen. Frühzeitig sorgte er für den An-schluss des Stadtteils Günterstal an dasStraßenbahnnetz, um den Besuchernden Zugang zum Freiburger Hausberg,dem Schauinsland, zu erleichtern. Dane-ben wurden Panoramawege im Stadt-wald und um den Waldsee angelegt.Zwecks weiterer Steigerung der Attrakti-vität Freiburgs gestaltete Winterer dasStadtbild planmäßig zur mittelalterlichenStadt um. So initiierte er nicht nur denFreiburger Münsterbauverein und setztesich leidenschaftlich für den Erhalt desMünsters ein, sondern sorgte auch fürdie Erhaltung von Schwaben- und Mar-tinstor trotz Komplikationen mit demStraßenbahnbau und ließ diese gemäßseiner Mittelaltervorstellung umgestaltenund aufstocken. Berühmt ist sein Aus-spruch: Das Dorf hat Dächer – die Stadthat Türme (Müller, S. 123 und S. 16f.).Otto Winterer setzte seine klaren Vor-stellungen über eine (mittelalterliche)Identität Freiburgs und sein ganzheitli-ches Konzept zur Steigerung von Attrak-

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Stadtteil mit dem Bau einer Eisenbrückeüber die Bahngleise an die Innenstadtangeschlossen und 1886 nach demAdelsgeschlecht der Stühlinger benannt.Mit dem Ortsstatut erhielt er nun 1887seinen Ritterschlag.

3a. Die Stadtplanung unterOberbürgermeister Dr. OttoWintererDie planmäßige weitere Erschließung desStühlingers erfolgte unter dem für Frei-burg wegweisenden OberbürgermeisterDr. Otto Winterer ab 1888. Winterer ent-wickelte aus Ortsstatut und Bauordnungein zusammenhängendes stadtplaneri-sches Konzept, welches den einzelnenStadtbereichen unterschiedliche Funktio-nen zu[wies], u. a. der Arbeiterschaft denStühlinger. Symbolisch dafür steht dieVerlegung des städtischen Gaswerks ausder Wiehre in den Stadtteil hinter demBahnhof, an dessen alter Stelle die monu-mentale Johanneskirche gebaut wurde.Geplant wurde dieser Bezirk mit ortho-gonal zueinander liegenden Straßenzü-gen und geschlossener Bauweise ohneVorgärten als gewerbliches Mischgebiet,dessen Bebauung neben eher kleinen,handwerklichen Betrieben im Erdge-schoss die dazu gehörigen Arbeiter imoberen Stockwerk wohnend aufnehmensollte. Größere Betriebe waren nur ver-einzelt vorhanden, wie beispielsweise dieOrchestrionfabrik Welte. Einzige Auflok-kerung fand das Rechteckmuster durchdie ursprünglich nicht vorgeseheneHerz-Jesu-Kirche auf dem heutigenStühlinger Kirchplatz. Dieser Bau er-folgte von 1892–1897 und wurde durchzwei Schulgebäude hinter dem Chor er-gänzt. Die dadurch erfolgte Aufwertungtrug u. a. dazu bei, fast bürgerlich anmu-tende Häuserzeilen entstehen zu lassen,in denen die Wohnverhältnisse zwarauch eng und unhygienisch waren, abernicht wie in den Mietskasernen undHinterhöfen anderer Städte. Ein weitererGrund mag die quantitative Entzerrungder Arbeiterschaft gewesen sein. Zumeinen verfügte Freiburg über relativwenig industrielle Großbetriebe, zumanderen gab es frühe Bestrebungen einessozialen Wohnungsbaus, beispielsweisein den Stadtteilen Beurbarung undFreiau, den die Stadt ab 1886 selbst in dieHand nahm. Das soziale Engagementvon Fabrikanten, Bürgern und der Stadtentwickelte sich zu einer bewusst ausge-

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Baugenossenschaft kaufte beim erst 1890eingemeindeten noch recht dörflichenHaslach billiges Ackerland, um dieses inwertvolleres Bauland umzuwandeln. Derdabei entstehende Spekulationsgewinnsollte einen Teil der Baukosten tragen.Das Land selbst wurde über Erbpachtvergeben und blieb damit genossen-schaftliches Gemeinschaftseigentum. DieMieter sollten Genossenschaftsmitgliederwerden und neben einem Dauermiet-recht auch von niedrigen Mieten profi-tieren, die lediglich nach dem Kosten-deckungsprinzip erhoben werden soll-ten.Zwar siedelte auch die Gartenstadtideedie Arbeiterschaft vor der Stadt an undtrug so zu einer Segregation bei, wie sieauch das Ortsstatut 1887 vorsah. Jedochherrschte hier das hehre Ziel eines ge-sunden Lebens im Grünen, von Lebens-qualität und Naturnähe für die Arbeiter,womit die Gartenstadt gleichsam als Ge-genentwurf zum Stühlinger gelten kann.Das Ziel der lebenswerten Stadt sollte denmenschenunwürdigen Lebensbedingungenin den Mietskasernen der Städte entge-gengesetzt werden. Leider meinte es dieRealität nicht gut mit der Gartenstadt.U. a. der Erste Weltkrieg sorgte dafür,dass unter Mithilfe der Bewohner mög-lichst billiger Wohnraum gebaut werdenmusste, der den Menschen die Möglich-keit zur Selbstversorgung bot, weshalbdie Gartengrundstücke prioritär demObst- und Gemüseanbau sowie derKleintierhaltung dienten. Bemängeltwurden neben der schlechten Bausub-stanz kleine Küchen und fehlende Bäder.Dennoch wurde der Wohnraum in derFreiburger Gartenstadt schnell für deneinfachen Arbeiter zu teuer, sodass letzt-endlich mit niedrigen Angestellten zwarimmer noch kleinbürgerliche Schichtendavon profitierten, aber nicht die ur-sprüngliche Zielgruppe. Auch wurdenMitbestimmung und freie Entfaltungbeispielsweise durch eine strenge Haus-ordnung, die die Tierhaltung und ge-naue Nutzung der Gärten regelte, dieeinen ordentlichen Eindruck zu machenhatten, eingeschränkt, sodass sich dieUmsetzung insgesamt vom eigentlichenIdeal einer Gartenstadt entfernt zeigte.

3c. Alternative Ideen – das Vauban

Seit 1991 entstand auf dem ehemaligenKasernengelände der französischen

Streitkräfte im damaligen Stadtteil Frei-burg-St. Georgen nach deren Abzug dasQuartier Vauban, benannt nach demfranzösischen Festungsbaumeister Séba-stien Le Prestre de Vauban. EngagierteBewohner suchten ihre städteplanerischeVision eines neuen Stadtteils mit konse-quent nachhaltiger Umweltpolitik unterEinsatz von erneuerbaren Energien, bür-gerschaftlicher Zusammenarbeit, sozia-lem Miteinander sowie lebendiger Nach-barschaft umzusetzen. Der Stadtteilsollte zum Modellprojekt für eine nach-haltige und an ökologischen Zielen ausge-richtete Stadtentwicklung werden. ZurUmsetzung dieser Ideen gründete sich1994 das Forum Vauban, dem 2005 derStadtteilverein Vauban e. V. folgte.Das Ziel der ökologischen Verantwor-tung und Nachhaltigkeit wurde einer-seits mittels eines autoreduzierten Ver-kehrskonzept[es] realisiert, für das sehrgute Straßenbahn- und Busverbindun-gen sowie kurze Versorgungswege ge-plant wurden. Andererseits gibt es einenweitreichenden Einsatz von Solarenergieund Passivhaus- bzw. Niedrigenergie-bauweise sowie die Nutzung nachwach-sender Rohstoffe zur Wärmegewinnungmittels eines Blockheizkraftwerkes, wel-ches mit Holz bzw. Erdgas betriebenwird und neben einigen Photovoltaikan-lagen auch für die Stromversorgung zu-ständig ist. Mit dem Green-City-Hotelentstand eine Herberge mit Passivhaus-Standard als Inklusionsunternehmen,was zum selbstgewählten Anspruch dessozialen Engagements führt. Dieser An-spruch fand seinen Niederschlag u. a. imVorrang privater Baugruppen und genos-senschaftlicher Wohn-Projekte. Zu nennenwäre hier beispielsweise die sozialinte-grative Baugruppe GENOVA, das genera-tionenübergreifende Wohnprojekt Son-nenhof oder der Erhalt einiger Kasernen-gebäude im Rahmen der Selbstorgani-sierte Unabhängige Siedlungsinitiative(Projekt – für günstigen Wohnraum),des Studentenwerks bzw. als Veranstal-tungszentrum im Haus 037, einem selbst-verwalteten Stadtteilzentrum oder derDienstleistungs-, Kunst- und Handwerks-haus. Zur Unterstützung von nachbar-schaftlicher Zusammenarbeit wurde eingenossenschaftlich organisierter Quar-tiersladen gegründet, es gibt Second-handläden, einen gemeinsam zu nutzen-den Backofen und vieles mehr zur För-derung von Gemeinschaftssinn und of-fene[r] Lebenskultur. Nahe bei

entstanden ein Kinderabenteuerhof amDorfbach und ein Grünareal mit Wei-dendom sowie Möglichkeiten des urba-nen Gärtnerns. Die nahen Schönberg-wiesen und eingeplante Grünspangentragen viel zur hohen Lebensqualität desStadtteils bei.Auffällig sind die sehr dichte Besiede-lung des Stadtteils und das im Durch-schnitt junge Alter der Bewohner. Letzte-res lässt darauf schließen, dass das Quar-tier vor allem von Familien mit (kleinen)Kindern bewohnt wird. Zusammen mitder niedrigen Arbeitslosenrate, demhohen Akademikeranteil und dem gerin-gen Anteil von Bewohnern mit Migrati-onshintergrund lässt das auf eine relativgroße Homogenität der Bevölkerungschließen. Die meisten Einwohner schei-nen sich in einer ähnlichen Lebenssitua-tion mit einem vergleichbaren Hinter-grund und einer übereinstimmendenSozialisation zu befinden. Sie interessie-ren sich für Umwelt, Nachhaltigkeit unddie politische Ausrichtung ist eher grün-alternativ. Bestätigung findet diese An-nahme in der im Stadtteil sehr gebräuch-lichen Formulierung des Wohnens aufVauban, die den Vergleich mit einer Inselsuggeriert, auf der man lebt im Gegen-satz zum Wohnen in einem Bezirk odereiner Stadt. Ist dadurch ein Rückschlussauf eine besondere Geschlossenheit desViertels möglich? Tatsache ist, dass imVauban viele Ideen der Nachhaltigkeit,des Umweltschutzes und der Naturnäheumgesetzt wurden. Die Lebensqualitätscheint relativ hoch zu sein. Die Anlagevon solidarisch zu nutzenden Angebotenstärkt den kommunalen Zusammenhaltim Stadtteil. Inwiefern das zu einerselbstgewählten Segregation führt, lässtsich nur vermuten. Interessant wäre die-ses in Bezug auf eine Umkehrung desOrtsstatutes, welches die Industrie undArbeiterschaft absondern wollte, wäh-rend sich hier das Bürgertum selbst ab-und eingrenzen würde. In jedem Fall er-scheint das Vauban als ein besonderesQuartier, das sich vor allem aus bürger-schaftlichem Engagement entwickelte,aber vielleicht die Atmosphäre einerStadt wie Freiburg brauchte, um auffruchtbaren Boden zu fallen.

4. Fazit

Interessant ist abschließend ein kurzerVergleich der exemplarisch betrachtetenFreiburger Stadtteile, um mit einem

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M 1 Ortsstatut über Anlage gewerblicher Etablisse-ments mit Stadtplan, 1884/87.Vorlage: Stadtarchiv Freiburg, Sign. C2/71/7.

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Bezug zum Ortsstatut zu schließen. Allendrei Bezirken gemeinsam sind ein kon-struktiver Umgang mit örtlichen Beson-derheiten bzw. die Suche nach regiona-len Alternativen sowie eine daraus er-wachsene konsequente und holistischeStadtplanung. Überall fand eine Art vonSegregation statt, ob erzwungen oderselbstgewählt, und in jedem Stadtteil istdie Suche nach einem ganzheitlichenSelbstkonzept zu finden, wobei immerwieder die Ziele Lebensqualität und Na-turnähe aufblitzen. Die raumplanerischeUmsetzung erscheint bisweilen fast diri-gistisch und relativ geschlossen, oft visio-när, aber auch ein wenig dogmatisch.Städtebaulicher Wildwuchs wurde kaumgeduldet und wenig dem Zufall überlas-sen.Aufgrund der Bereitschaft, Neues aus-zuprobieren und umzusetzen, kann Frei-burgs Weg seit der Industrialisierung zu-sammenfassend zu Recht als Sonderwegbezeichnet werden. Das Ortsstatut von1887 hat sicherlich keine Auswirkungenmehr auf die Raumplanungen des 20.und 21. Jahrhunderts, dennoch kannihm eine symbolische Bedeutung als

Ausgangspunkt einer Suche Freiburgsnach stadtplanerischen Alternativen zu-geschrieben werden, in der eine Atmo-sphäre entstand, die Innovationenimmer wieder zu- und entstehen ließ.

Literatur

Wolfgang Zamzow: Die Industrialisie-rung im 19. und 20. Jh. am Beispiel Frei-burg. Dokumentationsarbeit R11 SSDLBS Freiburg.Heinrich Müller: OberbürgermeisterDr. Otto Winterer – ein Vierteljahrhun-dert Entwicklungsgeschichte der StadtFreiburg. Freiburg 1916.John Mez: Freiburger Verkehrspro-bleme. Freiburg 1913.Geschichte der Stadt Freiburg i.B. – Vonder badischen Herrschaft bis zur Gegen-wart. Hg. von Heiko Haumann undHans Schadek. Bd. 3. Stuttgart 1992.100 Jahre Stühlinger: 1885–1985. Hg.vom Lokalverein Freiburg-Stühlingere. V. Freiburg 1885.

Der Stühlinger – Festschrift zur 850-Jahrfeier der Stadt Freiburg i. B. Hg. vomLokalverein Freiburg-Stühlinger e. V.Freiburg 1970.Aktionskomitee 100 Jahre Gartenstadt;Geschichte und Geschichten – 100 JahreGartenstadt Freiburg-Haslach. Freiburg22015.Infotafel Quartier Vaubanhttps://www.freiburg.de/pb/site/Freiburg/get/params_E1371700308/647912/Info-tafeln_Vauban_de.pdf [aufgerufen am02.01.2019].Gerhart von Schulze-Gaevernitz:Wovon lebt Freiburg? – Rede des Reichs-tagskandidaten Dr. v. Schulze-Gaevernitzin der Festhalle zu Freiburg i. B. am7. Dezember 1911. Freiburg 1911.

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Heike Bömicke ist Landeskundebeauf-tragte des Kultusministeriums Baden-Württemberg und lehrt am StaatlichenSeminar für Didaktik und Lehrerbildung(Berufliche Schulen) Freiburg.

M 2 „Vogelperspektive von Freiburg im Breisgau“,1852, von Joseph Wilhelm Lerch (1817–1901).Vorlage: Augustinermuseum Freiburg, Inv.Nr. D2875.

M 3 Freiburg im Breisgau um 1900, Photochrom-druck.Vorlage: Library of Congress, Prints and Photo-graphs Division, Photochrom Prints Collection, LC-DIG-ppmsca-00298.