Das Goetheanum – Wasser

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1 22. Oktober 2011 | DAS GOETHEANUM Nr. 42 DAS GOETHEANUM WOCHENSCHRIFT FÜR ANTHROPOSOPHIE 22. OKTOBER 2011 | NR. 42 | CHF 4.50/€ 3.50 wasser + sloterdijk über rudolf steiner + philip nelson im porträt + drei besprechungen

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Wasser ist heute in der westlichen Wohlstandswelt zu einem alltäglichen Gebrauchsgegenstand, zu einem Konsumprodukt geworden. Woanders hingegen drohen Kriege um das kostbare Nass. Dabei birgt das Wasser ein offenbares Geheimnis an Lebenskraft. Mit Bildern von Charlotte Fischer und redaktioneller Koordination von Hans-Christian Zehnter lädt deshalb das ‹Goetheanum› ein, sich diesem Geheimnis zu nähern oder – wie man in frühen Tagen das Wasser eroberte – hineinzuspringen. Plus: Peter Sloterdijk über Rudolf Steiner, Wolfgang Held über Philip Nelson und 3 Besprechungen

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122. Oktober 2011 | Das GOetheanum nr. 42 Das Goetheanum Wochenschrift für anthroposophie22. oktober 2011 | nr. 42 | chf 4.50/€ 3.50

wasser+ sloterdijk über rudolf steiner+ philip nelson im porträt+ drei besprechungen

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Hans-CHristian ZeHnter

Wasser segnet

Zwischen Element und Äther

Ein milder Sommerregen. Er erinnert mich an meine Kindheit: Ich war nicht mehr zu halten. Drinnen, hinter den Fensterscheiben, die stickig war-me Luft. Draußen die ersten, noch schnell verdunstenden Tropfen auf dem sommerhitzigen Asphalt. Der Blick zur Mutter: «Darf ich? Barfuß? In Ba-dehose?» Die Andeutung ihres Nickens reichte, und schon hopste ich mit meinen Geschwistern raus auf die Straße. Wir konnten nicht genug davon bekommen. Ausgelassen und überglücklich ließen wir uns vom niederströ-menden Sommerregen berieseln, begießen, durchdringen. Es war herrlich!

Warum ist solch ein Sommerregen so unwiderstehlich für das Kind in uns? Was fällt da vom Himmel nieder, dass wir uns dem so ganz und gar hingeben möchten? Warum eigentlich fällt der Regen in Tropfen vom Himmel? Er könnte ja auch als ein großer Wasserschwall aus allen Wolken – wie ein Wasserfall – auf uns herunterbrechen. – «Ja, um Gottes Willen», mag man da sagen, «welch ein Segen, dass dem nicht so ist! Stellt Euch vor!?» – Zum Glück regnet es, es nieselt, es schüttet, es rieselt. Zum Segen für Erde und Mensch. Und warum trägt mich das Wasser, wenn ich vom Ufer aus hineingleite? Es könnte mich doch auch zur Gänze fallen lassen! Und warum reinigt Wasser? Es könnte doch auch wie Öl alles verschmieren? Ich frage jetzt nicht nach irgendwelchen molekularen ‹Ursachen›. Man wäre doch «buchstäblich nicht bei Sinnen, am Bergbach bloß von H2O zu reden», kommentiert pointiert Eduard Kaeser diese Fehlleitung des Denkens.1

«Das ist gerade das Merkwürdige, dass der Materialismus so unwissend ist über die Materie. Er weiß gar nichts über die Wirkung der Materie, weil man darüber erst etwas erfährt, wenn man die in der Materie wirksame Geistigkeit, die die Kräfte darstellen, ins Auge fassen kann. Und so ist es: Schreitet man durch die Meditation vor zu der imaginativen Erkenntnis, […] so findet man in allem Wasserweben der Erde zugleich das Ätherische. Es ist vor einer wirklichen Erkenntnis kindisch zu glauben, dass in alledem, was da webt – nehmen Sie das Meer, das Flusswasser, die aufsteigenden Nebel, die herabfallenden Was-sertropfen, die sich formenden Wolken, nehmen Sie das alles zusammen –, zu glauben, dass da nur dasjenige enthalten ist, was die Physiker und Chemiker von Wasser wissen […]. Denn in alledem […] wirken die Ätherströmungen, das Ätherweben, das sich einem enthüllt, wenn man das Denken so erkraftet hat, wie ich es auseinandergesetzt habe: in Bildern.»2

Warum das Wasser mich trägt, warum es erfrischt, gesundet, heilt – all das erfahren wir aus seinem Sosein. Das Wasser erzählt uns viel über sich: Wasser ist ein durch und durch sinnliches Erlebnis. Und doch auch wieder nicht. Es weist ständig über sich hinaus, als Spiegel, als Unaufhaltsames, als Fließendes, Nichtzufassendes, als Unbegrenztes, als Sich-Auflösendes, Verdunstendes, Entschwindendes, sich den Sinnen Entziehendes. Wasser ist nicht festzuhalten, schon gar nicht mit einem feststellenden Denken. Wer das Wasser begreifen will, der muss sein Denken selbst in Fluss bringen. Statt der Definition rückt der Bezug, der Zusammenhang in den Aufmerksamkeitsfokus. Verwandlung ist Lust des sich selbst ergreifenden Denkens, das dabei zuletzt auch bildhaft gerät. Einer solchen Metamorphose des Denkens wird der Weg gebahnt, wenn wir die Ursache etwa für all die Eigenschaften und Fähigkeiten des Wassers in seinem Wesen suchen. Des Wassers sinnliche Erscheinungsformen sind dann Bilder seiner selbst. Bemüht sich der Betrachter, diese zusammenzuhal-ten, so kann sich in seinem Innern Wesentliches offenbaren. Die verschiede-nen Beiträge dieses Heftes mögen zu solch einer Betrachtungsweise anregen.

1 Eduard Kaeser: Der Körper im Zeitalter seiner Entbehrlichkeit. Anthropologie in einer Welt der Geräte. Essay: Ethos des Stoffes, Wien 2008.

2 Rudolf Steiner: Anthroposophie – eine Zusammenfassung nach einundzwan-zig Jahren, (GA 234), Vortrag vom 2. Februar 1924.

Hans-Christian Zehnter geb. 1963, Biologe, Autor unter anderem von ‹Vö-gel – Mittler zweier Welten› (Dornach 2008) und ‹Zeitzeichen› (Dornach 2011)

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Was ist Wasser? Was für eine Frage! Das weiß doch jeder. Weiß er es oder erkennt er das Wasser nur wieder? Letztlich gilt für jeden Gegenstand, was Goethe in der Einleitung zu seiner ‹Farbenlehre› in Bezug auf das Licht sagt: «Eigentlich unternehmen wir umsonst, das Wesen eines Dinges auszudrücken. Wirkungen werden wir gewahr, und eine vollständige Geschichte dieser Wirkungen um-fasste wohl allenfalls das Wesen jenes Dinges. Vergeblich bemühen wir uns, den Charakter eines Menschen zu schildern; man stelle dagegen seine Handlungen, seine Taten zusammen, und ein Bild des Charakters wird uns entgegentreten.» Wenn wir nach den Eigenschaften, nach dem ‹Verhalten› des Wassers fragen, werden wir schließlich die charakteristischen Eigenschaften herausdes-tillieren können, die uns auf sein Wesen weisen.

Zur Phänomenologie des WassersTauchen wir eine Hand ins Wasser, so erfahren wir als Erstes – und wir nehmen jetzt jede noch so selbstverständliche Erfahrung ganz konkret –, dass es sich teilt, wenn die Hand es berührt und durchdringt. Es gibt dem eintauchenden Gegenstand Raum, es weicht aus und es umfließt ihn so vollständig, dass kein unbenetz-ter Raum frei bleibt. Holt man die Hand wieder heraus, so schließt sich die Lücke restlos.

Welche Gestalt hat Wasser selbst? Fällt ein kräftiger Regenguss auf den Erdboden, so bilden sich schnell Pfützen: Das Wasser fließt – seiner Schwere folgend – abwärts, bis es nicht mehr weiterkommt, und sammelt sich. Dabei nimmt es exakt die Außenform an, die ihm das Gelände bietet. Es fügt sich vollkommen in die Raumge-stalt, die zur Verfügung steht. Nur eine Eigengestalt kehrt immer wieder: Die Oberfläche ist spiegelglatt und horizontal. Bis auf sie ist das Wasser selbst gestaltlos. Und die Bilder, die es empfängt, spiegelt es unverzerrt zurück – oder lässt sie durch. Es bindet oder verschluckt sie nicht.

Kommt man am nächsten Tag zu einer Pfütze zurück, so ist sie wahrscheinlich verschwunden. Wohin? Einesteils ist sie versickert, andernteils ist sie verdunstet. Das Wasser ist also in der Luft und im Erdboden verschwunden. Den Boden durchfeuchtet sie. Am Himmel bilden sich Wolken. Sickert nun Wasser, das auf einen Berg geregnet ist, innerhalb der Erde des Berges auf einer schräg liegenden, wasserabweisenden Schicht abwärts, so wird es aus dem Berg austreten, wenn es an seinen Rand kommt: Eine Quelle entsteht, die ihrerseits weiter den Hang abwärts ins Tal fließt. Wer einmal Regenwasser gekostet hat, weiß, wie schal das Regenwas-

ser im Vergleich mit Quellwasser schmeckt. Es muss also in der Erde etwas stattgefunden haben, was dem Wasser diesen frischen Geschmack gegeben hat. Es ist, indem es in dem Berg langsam weitersickerte, mit vorher festen Erdenstoffen angereichert wor-den, die es auflösen und aufnehmen konnte; es ist ‹Mineralwasser› geworden. Auf dem Etikett einer Mineralwasserflasche kann man lesen, was nun in dem Wasser enthalten ist. Indem das Wasser die Erde durchdringt, durchdringt es sich mit den Stoffen der Erde, es ist «alldurchdringend, alldurchdrungen» (Goethe)!

Wie viel Substanz kann denn das Wasser überhaupt aufnehmen? Konkret: Wie viel Zucker könnte man im Kaffee auflösen? Drei, vier Löffel? Oder mehr? Der Imker, der seinen Bienen im Herbst Zuckerwasser zur Winterfütterung anbietet, löst tatsächlich in sechs Liter kochendem Wasser zehn Kilogramm Zucker! Wenn aber das Wasser kalt wird, kristallisiert aus gesättigter Lösung der Zucker in großen Kristallen aus. Nach demselben Prinzip kommen Bergkristall oder Turmalin in den Tiefen der Erde zu ihrer Eigen-gestalt. Das Wasser macht dies nicht, es ermöglicht es aber. Mit den gelösten Substanzen nimmt das selbst geschmacklose Wasser Geschmack an, je nach dem auch Geruch und Farbe.

Auch die Pflanze findet ihre Gestalt im Wasser: Die Wurzel nimmt mit feinsten Wurzelhaaren Wasser auf, in dem die Bodenminera-lien gelöst sind. In wasserleitenden Gefäßen steigt das Wasser in der Pflanze aufwärts, die Pflanze nimmt die Mineralien aus dem Wasser und baut sie in ihre Gestalt dort ein, wo sie sie braucht. Das Wasser aber verdunstet aus winzigen Poren. So ist die Pflanze von einem Wasserstrom durchzogen, den das Auge nicht sieht. Eine ausgewachsene Buche oder Birke wird an einem warmen Som-mertag von Hunderten Litern Wasser durchströmt. Das Wasser verschwindet unsichtbar, die Pflanze wächst im Wasserstrom und kann – nur wenn das Wasser strömt – ihre Eigengestalt ausbilden und bewahren.

Es sind also merkwürdigerweise gerade die Eigenschaften des Wassers, die wir zunächst negativ bestimmen, die am Wasser das Charakteristische sind: Gestaltlosigkeit, die es andere Dinge umflie-ßen, ausfüllen oder durchdringen lässt, Geschmack-, Geruch- und Farblosigkeit, die ermöglichen, dass es Geschmack, Geruch und Farbe annehmen, das heißt sich mit Substanzen durchdringen kann. Und diese Substanzen bindet es nicht, sondern trägt sie nur in Fluss und Meer, im unterirdischen oder innerpflanzlichen Wasserstrom, jederzeit bereit, sie wieder abzugeben. Geheim-nisvoll bleibt jener Prozess, in dem im Wasser beispielsweise ein

Volker Harlan

Was ist Wasser?Wasser und die Trinität

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Pflanzenauszug aufgelöst und dann solange zehnfach verdünnt wird, bis keinerlei Ausgangsstoff mehr im Wasser enthalten ist – dann trägt das Wasser nur noch die Bildekraft, die in der Pflanze an ihre Säfte gebunden war und nun befreit ist und wirken kann: Das Wasser ist potenziert – es trägt eine Wirkpotenz, die nicht die seine ist, als Kraft in sich.

Eigenschaften der Seele, die denen des Wassers entsprechenEs wäre noch manches hinzuzufügen. Aber es mag das Angeführte hier genügen, jetzt unmittelbar auf die Eigenschaften, das Eigen-schaftliche des Wassers zu blicken. Nach dem puren Wiedererken-nen eines früh im Leben Vertrauten, das man «Wasser» nennen kann, haben wir wesentliche Eigenschaften des Wassers herausge-arbeitet, von denen man versuchen kann, sie jetzt ungeachtet ihres sinnlichen Erscheinungszusammenhangs zu benennen. Natürlich trägt das Wasser als Erdenstoff keine Intentionalität in sich – und das macht gerade das Nicht-Willkürliche seines Charakters aus –, aber wenn ein Mensch, der sich um die Wahrnehmung des Wassers in der angedeuteten Weise bemüht, in sich die Eigenschaften des Wassers nicht nur spiegelt, sondern wirken lässt, welches Verhal-ten würde dann in ihm angeregt werden? Wie würde man einen Menschen nennen, der – wie das Wasser – ein Milieu herzustellen vermag, in dem eine andere Seele alles findet, was sie braucht, um zu sich selbst zu kommen, um ihren eigenen Charakter zu entwi-ckeln, um die Kräfte zu entfalten, die als Begabung in ihr stecken und die dem Menschen seine Freiheitsgestalt und seine Würde ermöglichen? Wäre dieser Mensch nicht selbstlos zu nennen (man erinnere sich an die -losigkeiten des Wassers) und zugleich liebevoll fürsorglich in der Bereitung des Milieus mit seinen ‹Substanzen›, die dem anderen dienen? Ja, würde man nicht schließlich jenes Wort für ihn verwenden dürfen, das im Neuen Testament mit ‹Aga-pe› bezeichnet wird? Es ist jene Menschenliebe, die der Christus jedem Menschen gegenüber pflegt – ganz gleich, welcher Nation oder Religion er angehört. Diese Nächstenliebe zu üben, trägt er den Jüngern als hervorragendstes Gebot auf. Sie schafft auch den Seelenraum, in dem sich Sozialgestaltungen bilden können. Was Schiller von der Pflanze sagt, ließe sich nun genauso vom Wasser sagen: Suchst du das Höchste, das Größte, / das Wasser kann es dich lehren; / was es willenlos ist, / sei du es wollend, das ist’s.

Das Wesen des WassersWir haben die Betrachtung des Wassers jetzt durch drei Erkennt-nisebenen geführt: erstens das Wiedererkennen, zweitens die

phänomenologische Beschreibung des Wassers, drittens das Her-ausarbeiten seiner typischen Eigenschaften, sodass sie als Verhal-tensweise beschrieben werden können, als Verhaltensweise, die auch die menschliche Seele kennt und benennen kann. Wenn wir jetzt auf der vierten Erkenntnisebene versuchen wollten, das, was wir beschrieben haben, als Eigenschaften eines Wesens aufzufas-sen, so muss auf ein Wesen geschaut werden, das Agape vollkom-men beherrscht – und zwar aus eigenem Willen, aus moralischer Kraft. Es darf jetzt mit aller Vorsicht auf jenes Wesen in der Trinität geschaut werden, das als Erlöser und als Mittler angesprochen wird. Das Wasser, das Wässrige, das Flüssige stellt in der irdischen Schöpfung, in der Natur, ein bestimmtes Prinzip dar – so wie die Liebe ein unverwechselbares, unaustauschbares Prinzip im freien Verkehr unter lebendigen, seelentragenden Ich-Wesen darstellt. Diesem Prinzip entspricht auf geistiger Ebene, also unter geistigen Wesen, das Christuswesen. «Er entäußerte sich seiner göttlichen Gestalt und nahm die Gestalt eines Dienenden an, er durchdrang eine menschliche Gestalt so vollkommen, dass er als Mensch erschien. In demütiger Selbsthingabe fügte er sich in irdische Seinsgesetzlichkeit und gab so auch schließlich dem Tod in sich Raum, dem Tod am Kreuz» (Phil. 2,6 ff). Dann überwand er den Tod.

Natürlich ist auch klar, dass, wenn das ‹Christusprinzip› als allei-niges Schöpfungsprinzip wirksam wäre, die Welt nicht existieren würde – sie bliebe ohne Kontur. Sie bedarf neben dem Merkurprin-zip des Salprinzips, das der Welt Gestalt verleiht, und des Sulphur-prinzips, das chaotisiert und damit Neubildungen ermöglicht.*

Mit nur zwei Eigenschaftswörtern wird das Wasser im Taufritu-al der Christengemeinschaft, wie Rudolf Steiner es formulierte, charakterisiert: Seine «alldurchdringende Kraft» wird «weltenge-bärend» genannt. Diese Worte mögen nach unserer Betrachtung nachzuvollziehen und zu verstehen sein.

*Siehe dazu das Büchlein des Autors: Die sieben Substanzen der Sakramente, wo die drei Substanzen Wasser, Salz und Asche in ihrer Prozessualität und Qualität beschrieben werden. Stuttgart 2008.

Volker Harlan Dr. rer. nat., Priester in der Christengemein-schaft, Dozent für Naturphilosophie und Ästhetik an verschiede-nen Hochschulen, Publikationen in botanischer Morphologie und Kunstgeschichte, besonders zu Paul Klee und Joseph Beuys. Volker Harlan lebt in Bochum (DE).

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Zu den schönsten Erlebnissen eines Sommers gehört die Begeg-nung mit dem strömenden Wasser, dem Kommen und Gehen der Wellen am Meeresstrand, dem majestätischen Strömen eines gro-ßen Flusses oder dem quirligen Sprudeln eines Bergbaches. Ist das Gewässer frisch und klar, dann fühlen wir uns schon durch seinen Anblick erfrischt und belebt. Nehmen wir uns die Zeit, länger an einem Bergbach zu sitzen und uns in sein Fließen zu vertiefen, dann können wir eine große Vielfalt an ganz unterschiedlichen Strömungsbewegungen finden: Schnelles Schießen mit anschlie-ßendem Aufschäumen, Aufwallen, Aufstauen, Wirbeln hinter Hindernissen, ruhiges Kreisen in Buchten… Leonardo da Vinci, der sein Leben lang das Wasser intensiv erforschte, versuchte in einer Liste alle Bewegungsarten des Wassers zusammenzustellen und kam auf etwa 50 Begriffe, darunter «Wirbeln, Strudeln, schlän-gelndes Rinnen, Murmeln, stürmisches Stürzen, gemächliches Fließen, munteres Eilen, heftiges Drängen».1

RhythmusBeim Betrachten der verschiedenen Strömungsformen fällt auf, dass sie häufig rhythmisch auftreten – zeitlich und auch räumlich. Dies ist ganz offensichtlich bei den Wellenzügen, die über eine Was-seroberfläche laufen, und bei mäandrierenden Bächen oder Flüs-sen, die sich in rhythmischen Windungen durch eine Landschaft schlängeln. Aber auch im Inneren des bewegten Wassers lassen sich rhythmische Anordnungen sichtbar machen, beispielsweise bei der Wirbelstraße, die aus einer doppelten Reihe von Wirbeln besteht, die sich periodisch im Nachlauf eines umströmten Hin-dernisses ausbilden. Besonders die letzten Beispiele zeigen, dass im Wasser entstehende Formen glatt und ‹ohne Ecken› sind, eben ‹stromlinienförmig›, die wir als harmonisch empfinden und die zu Gebilden von großer Komplexität und atemberaubender Schönheit werden können. Wie kommt es nun, dass das Wasser – und mit ihm alle Flüssigkeiten in ähnlicher Art – zu diesen erstaunlich vielfältigen Strömungsbewegungen in der Lage ist, die so anders sind als die Bewegungen von festen Körpern oder Lebewesen? In

der Reihe der vier Elemente steht das Wasser zwischen der Erde, also dem Festen, und der flüchtigen Luft. Diese Stellung zeigt sich auch in seinen Eigenschaften, die zum Teil ähnlich denjenigen des Festen, zum Teil ähnlich denjenigen des Luftigen sind. Ähnlich dem Festen ist seine Oberflächenbildung, die – anders als feste Körper einheitlich zur Sphäre tendierend – eigene Formen bildet, und vor allem seine Masse, die es der Schwerkraft unterwirft und die es ermöglicht, dass das Wasser auch große Felsbrocken mitreißen kann. Ähnlich dem Festen ist auch der innere Zusammenhang des Wassers. Dieser ist zwar nicht so ausgeprägt wie bei den festen Stoffen, aber er ermöglicht dem Wasser, sich immer wieder neu zu einem Wasserkörper zu vereinigen. Mit dem Luftelement teilt das Wasser die Bereitschaft, sich an vorhandene Formen anzu-passen, die innere Gleichförmigkeit und Homogenität sowie die große innere Beweglichkeit. Diese führt dazu, dass Wasser, das zum Beispiel den Berg hinunterfließt, nicht nur wie ein rollender Stein als Ganzes in Bewegung ist, sondern auch in seinem Inne-ren in Bewegung gerät, was wir als Strömung erleben, wenn wir etwa die Hand in den Bach halten. Für unser an der Welt der festen Körper geschultes Denken ist es eine große Herausforderung, Strömungsvorgänge in ihrer Ganzheit denkerisch und durch die Vorstellung zu erfassen.

Durch und durch bewegtDie innere Beweglichkeit wird allerdings durch die Zähigkeit, die ein Aspekt des inneren Zusammenhangs des Wassers ist, begrenzt. Untersucht man die Entstehung der dargestellten Strömungsfor-men genauer, so stellt man fest, dass sie ohne die Wirkung der Zähigkeit nicht entstanden wären. Beweglichkeit und Zähigkeit stellen polare Eigenschaften des bewegten Wassers dar, durch deren Zusammenwirken die Welt der Strömungsformen entstehen kann, so wie nach Goethe die Farbenwelt auf dem Zusammen-wirken von Licht und Finsternis beruht. Was veranlasst nun die Strömungsbewegungen des Wassers in der Natur? Da Wasser kein Lebewesen ist, kann es sich nicht aus eigenem Antrieb bewegen,

MiCHael JaCobi, CHristian liess

strömendes WasserEine Herausforderung für unser Denken

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sondern benötigt äußere Impulse. Solche liefern der Wind an der Oberfläche der Gewässer und in globalem Maßstab der Mond durch Ebbe und Flut und die Wirkung der Erdrotation. Die für unsere Betrachtung wichtigsten Impulse werden durch die Schwerkraft der Erde bewirkt, die das Wasser, das durch den Regen in höhere Lagen gebracht wird, veranlasst, wieder nach unten zum Meer zu strömen. Sie wirkt auch im Inneren des Wassers, wenn dieses nicht vollständig homogen ist, sondern durch unterschiedliche Salzgehalte oder Temperaturen Bereiche unterschiedlicher Dichte entstehen. Dann sorgt die unterschiedliche Dichte dafür, dass die kälteren und schwereren Bereiche absinken und die wärmeren und leichteren aufsteigen. Solches spielt sich in jedem offenen Behälter ab, da sich das Oberflächenwasser durch Verdunstung abkühlt, absinkt und so eine Zirkulation in dem Behälter in Gang

setzt. Diese Wirkungen sind so allgegenwärtig, dass Wasser prak-tisch niemals innerlich in Ruhe ist, auch wenn es oberflächlich so aussieht. «Wasser ist Substanz gewordene Beweglichkeit»,2 fasste daher der Strömungsforscher Ernst-August Müller zusammen.

Wasser dient dem LebenWenn man diese ganze Wunderwelt des strömenden Wassers betrachtet, dann kann sich einem die Frage aufdrängen, woher die Impulse dafür kommen, oder einfacher ausgedrückt: Wer macht die Strömungsformen? Denn auch im Experiment, beispielsweise bei der Wirbelstraße, wird durch Setzen eines Hindernisses in die Strömung nur die Gelegenheit zum Entstehen der Wirbelstraße ge-geben, gemacht wird sie nicht. Dies ist ähnlich wie bei Lebewesen, denen wir auch nur Gelegenheit zum Entstehen und Aufwachsen

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geben können, die wir aber ebensowenig machen können. Schaut man sich die Wirkungen des Wassers in der Natur an, dann zeigt sich, dass das Wasser vor allem dem Leben dient. Dies beginnt schon bei der Zerklüftung der Gesteine zu feinem Sand, auf dem sich Pflanzen und Mikroorganismen ansiedeln können, und bei der Gestaltung der Erdoberfläche durch unermüdliche Erosion, durch die fruchtbare Täler und Auen geschaffen werden. Daran haben die mäandrierenden Flüsse, deren Lauf sich dauernd dadurch verändert, dass das Wasser Bodenmaterial von der Außenseite der Bögen zur Innenseite hin trägt, einen erheblichen Anteil.

Alle Lebewesen benötigen Wasser zum Aufbau ihres Organismus und um zu existieren. In der Gestaltung ihrer Organe treten ähnli-che Formen auf wie in Strömungen. Dies hat Theodor Schwenk in seinem Buch ‹Das sensible Chaos›3 erstmals ausführlich beschrie-ben. Dabei entstehen die meisten Organe nicht direkt aus Strömun-gen, sondern es handelt sich darum, dass ähnliche Bildekräfte in den Organformen und in den Strömungsformen wirksam sind.Dies zeigt sich auch, wenn man die Bewegung selbst – die Tatsache des Bewegtseins – ins Auge fasst. Wir sprechen vom ‹Fließen› und ‹Strömen› der Zeit, vom ‹Zeitenlauf› und ‹Zeitenstrom›. Zeit lebt in der Bewegung; ohne Bewegung oder Veränderung wäre kein Zei-terleben vorhanden. Das Strömen der Zeit ist aber in der heutigen, an der Physik orientierten Naturwissenschaft nirgends auffindbar. Es ist im Physischen nicht zu finden, weil es selbst nicht physisch ist. Seit einiger Zeit wird das auch von Physikern indirekt bestätigt.4 Man sagt: Zeit ist eine Illusion; es gibt sie nicht. Gemeint ist: In einer vollständig unbelebten ‹physikalischen› Welt kann es Zeit nicht geben. Das ist richtig und konsequent. Verständlich wird es aber erst, wenn man die ätherische Natur der Zeit beachtet. Alles Physische ist, wie schwimmend, eingebettet in die reale, in allem Lebenden wirksame Zeit. Und das zunächst unbelebte Physische wird, je nach seiner Beweglichkeit, mitgenommen und mitbewegt. Aber erst wenn es flüssig wird, wenn Bewegung im Innern eines Körpers stattfindet, kommt es zur Strömungsform, zur Gestaltbil-dung im bewegten Flüssigen. Die Gestaltbildung ist auf das Flüssig- und In-Bewegung-Sein angewiesen, auf die reale, wirksame Zeit.

Die Gestaltbildung im Strömenden mit ihren organähnlichen For-men zeigt, dass und auch wie in strömendem Wasser ätherische Bildekräfte tätig sind, die es an die Erde und die Lebewesen vermit-telt. Darauf deutet auch die Aussage Rudolf Steiners hin, dass das Wasser der «irdische Repräsentant des Weltenäthers»5 sei. So wird verständlich, warum wir belebt und erfrischt werden, wenn wir uns an einem Bachlauf oder Fluss eine Zeit lang dem Erlebnis des Strömens hingeben und uns in seinen Ätherstrom hineinbegeben.

1 Leonardo da Vinci: Das Wasserbuch, Ausgewählt und übersetzt von Marianne Schneider, München 1999.

2 Ernst-August Müller: Vorwort in Andreas Wilkens et al.: Die Versuchstechnik der Tropfbildmethode – Dokumentation und Anleitung, Herrischried 2000 .

3 Theodor Schwenk: Das sensible Chaos, Stuttgart 2010.

4 Titelthema von Spektrum der Wissenschaft 10, 2010: ‹Ist Zeit eine Illusion?›

5 Rudolf Steiner: Mysterienstätten des Mittelalters. Rosenkreu-zertum und modernes Einweihungsprinzip (GA 233a), Vortrag vom 19. April 1924.

Michael Jacobi geb. 1949, Studium der Physik und Astronomie, Waldorflehrer, Mitarbeiter des Instituts für Strömungswissen-schaften Herrischried.

Prof. Dr. Christian Liess geb. 1941, Studium Maschinenbau, Forschung, Industrietätigkeit und Lehre im Bereich Strömungs-technik, zurzeit freier Mitarbeiter des Instituts für Strömungswis-senschaften Herrischried.

Bild S. 7: Ringwirbel bei der Annäherung an die Wasseroberfläche, von oben gesehen. Bild S. 8: Wirbelstraße. Fotos von A. Wilkens

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linda tHoMas

Wasser rEinigTWasser fließt überall hin, verbindet, nimmt Schmutz auf.

Selbstloser geht es nicht.

Wasser hat seit alters mit Reinigung zu tun – ob für die Körperrei-nigung, für spirituelle Rituale oder zum Putzen. Immer braucht es dazu Wasser. Wasser ist durchsichtig, farblos, es löst, es nimmt auf, es breitet sich aus. All diese Eigenschaften dienen der Reinigung. Stellen Sie sich vor, Sie müssten sich morgens mit rotem Wasser waschen oder Sie müssten Ihre Möbel mit grünem Wasser abwi-schen! Am Wasser schätzen wir eben gerade seine Neutralität. Es ist universell. Es kommt vom Himmel, klar und unbefleckt, nimmt die Erdenstoffe in sich auf und wird selbst schmutzig. Das nennen wir reinigen.

Wischen Sie einmal mit einem trockenen Lappen über eine Kü-chenanrichte. Wenn er nicht gerade an klebrigen Stellen hängen bleibt, dann wischt er sozusagen über die Fläche drüber weg. Ein nur leicht angefeuchteter Lappen verbindet sich schon ganz anders mit der Oberfläche. Sie leistet nun – wie die Haut beim Streicheln – sanften Widerstand. Wasser verbindet.

Ein Geschenk des Himmels, dass es so etwas wie Wasser gibt, das klar und durchsichtig sein kann und einfach so da ist; das überall hinfließt, das verbindet und auch noch den Schmutz aufnimmt. Selbstloser geht es fast nicht mehr. Und mit so etwas putzen wir und benetzen damit unsere Möbel, unsere Böden, unsere Haut. Beim Reinigen mit Wasser überziehen wir alles mit diesem Wun-dermittel, das einen besonderen Glanz verleiht: Ein Natursteinbo-den leuchtet auf, solange er feucht ist, und wird wieder unschein-bar, kaum dass das Wasser entwichen ist.

Der Blick in den PutzschrankWenn ich an die vielen Putzschränke denke, die ich schon gesehen habe, kann man sich kaum vorstellen, dass das wichtigste Putzmit-tel das Wasser ist. Man kann mit Wasser putzen ohne Putzmittel, aber nie mit Putzmitteln ohne Wasser. Heute gibt es für alles einen Spray. Ein Spritzer – wegwischen – und siehe da: sauber! Dabei wird aber der aufgelöste Schmutz nur gleichmäßig verteilt.

Das Wasser bildet eine abschließende, begrenzende Oberfläche wie eine Haut – eine überaus reizbare, empfindliche Haut. Diese Haut, die Spannung, wird durch Tenside aufgelöst, um die Reinigungs-

kraft zu steigern. Dabei verliert aber das Wasser seine Spannung, seine Vitalität. Jedes Mittel, das wir dem Wasser zufügen, gefährdet sein Sosein. Auf solche Zusätze zu verzichten, dazu braucht es Mut, manchmal auch etwas Geduld. In der Küche Angebranntes und Flecken in der Wäsche lassen sich am besten durch Einweichen mit Wasser lösen.

Zum Glück wird immer mehr nach Mitteln gesucht, bei denen die Wasservitalität erhalten bleibt. Das mir bekannteste Produkt in dieser Richtung ist das Butzwasser. Es wird in dem sogenannten Lichtmatrixverfahren hergestellt. In einem mehrwöchigen Prozess erhält dieses spezielle Wasser seine reinigenden und pflegenden Ei-genschaften: Mit dem Butzwasser wird der Schmutz nicht aufgelöst und verteilt, sondern wirklich weggewischt. Sieben Tropfen davon auf einen Liter Leitungswasser in einer Sprühflasche machten es mir schon oft möglich, eine ganze Schulklasse für eine gemeinsame Putzaktion zu begeistern. Von der ersten bis zur zwölften Klasse wollten alle dieses ‹Zauberwasser› ausprobieren, das es schafft, innert Sekunden die klebrigen, schwarzen Greifspuren unter dem Stuhl wegzuwischen.

DankWir verdanken dem Wasser Reinheit, Sauberkeit. Danken wir es ihm auch? Fragen wir uns oft genug, mit welchem Wunder wir da eigentlich arbeiten? Was tun wir für das Wasser?

Es wird berichtet, wie eine Hausfrau, die sich bei Rudolf Steiner be-klagt habe, dass der Haushalt ihr keine Zeit ließe, um seine Vortrags-zyklen zu lesen, als Antwort erhalten habe: «Wenn Sie Ihre Stube mit einem feuchten Lappen abstauben, erlösen Sie Elementarwesen. Wenn Sie einen Zyklus lesen, erlösen Sie keine Elementarwesen.»

Linda Thomas geb. 1953, Abitur in Südafrika, arbeitet als Leite-rin im Reinigungsdienst am Goetheanum, führt Beratungen und Fortbildungen durch und hält Vorträge und Seminare im In- und Ausland. Autorin von ‹Putzen!? Von der lästigen Notwendigkeit zu einer Liebeserklärung an die Gegenwart›, Dornach 2011.

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Schon die Wasseroberfläche bringt uns immer wieder zum Stau-nen. Eindrücklich können wir sie an einem windstillen, sonnigen Sommertag an einem kleineren See in den Bergen erleben. Vor mir breitet sich die Landschaft aus, darin erscheint der blaue Himmel noch einmal, unten wie oben – und die Wiesen, Bäume und Berge am jenseitigen Ufer sind spiegelbildsymmetrisch um die Uferlinie zweimal da, in voller Ruhe und Klarheit. «Du spiegelst mir etwas vor, was du nicht selbst bist! Du lenkst meine Blicke zum Himmel und in die Landschaft zurück und verbirgst dich darunter.»

Tatsächlich trennt uns die Wasseroberfläche von einer ganz an-deren Welt: Vom Inneren des Wassers her ist die Oberfläche ein Silberspiegel, der den Blick nur an einer kleinen Stelle nach außen dringen lässt. Im Wasser umfängt uns eine blaugrüne Dämmerwelt, eine unendlich in sich bewegliche, unsichtbar gleitend-strömende Bewegungswelt. Schon ihrer Natur nach entzieht sie sich allen gegenständlichen Vorstellungen, mit denen uns die Erde an sich bindet, denn die Bewegungswelt kann nur bildhaft-beweglich miterlebt werden.

Das bemerken wir schon an der Wasseroberfläche, wenn bei leichter Wind- und Wellenbewegung die klaren Spiegelbilder der Land-schaft in sich eine spielerische Beweglichkeit erlangen, ohne dass ihre Bildzusammenhänge ganz auseinanderweichen, sich aber ständig rhythmisch binden und lösen. So gibt sich das Wasser von außen her zu erkennen.

Wir folgen solchen Bewegungen meistens träumerisch mit unseren bewegten Gefühlen. Dabei geraten wir sogar leiblich ins Schlingern, selbst wenn wir ganz ruhig am Ufer sitzen. Wir können uns in die-sem Bewegungsspiel verlieren, wenn wir die Erscheinungsfolgen nicht willensaktiv in ihren Zusammenhang bringen.

Es wird mir deutlich, wie anders ich an der Luft- und an der Wasser-welt teilhabe: Die mich in lichter Luft allseitig umgebende bergige Landschaft zieht – wenn ich mit der Sonne schaue – meine Auf-merksamkeit in das Bild der Weiten hinein. Aufsteigend von unten werden die Farben des Landes immer zarter und atmosphärischer. In leichtem Dunst gehen sie in das lichte Hellblau des Himmels über, das sich nach oben intensiviert und vertieft und mich ruhig und frei in sich aufnimmt.

Der vor mir liegende See ist farblich so eingestimmt in die umge-bende Wiese, den Wald und die Berge, dass ich ihn fast übersehen könnte. Aber das nach unten gewendete Spiegelbild verrät ihn

untrüglich: Es ist wie das farbige Echo des Umkreises über der Tiefe.

Aber dann ist da unter dem Spiegel die spielerisch-flüssige Welt, de-ren vielfältige, innere Strömungen wegen der Klarheit des Wassers nicht direkt wahrnehmbar sind. Wollte ich solcher Bewegungsfülle innerlich folgen, so würde ich mich gänzlich darin verlieren. Nur zielgerichtet denkend kann ich mich im Flüssigen selbst bewahren. Was aber auf eigene Weise doch ganz mit den Strömungsformen des Wassers harmoniert, sind die Leibesformen und Bewegungen der Fische: Wie könnten sie sonst auch so schnell dahinhuschen! Sie sind wie aus dem Bewegungswesen des Wassers selbst her-ausgeboren – ja, es wird in ihnen sinnlich anschaubar, gewinnt seelisches Eigenleben im Fisch.

Geheimnisvolles InneresIm täglichen Leben haben wir mit dem Wasser oftmals rein äußer-lich als einer relativ schweren, trägen Masse zu tun; dabei bleibt sein Inneres gleichwohl geheimnisvoll. Denn welche Substanz auf der Erde – außer bestimmte Kristalle – ist so vollkommen klar und durchsichtig, so lichtverwandt wie das Wasser? So kann es lichtbedürftiges pflanzliches Wachstum in sich tragen und die Farbigkeit fester und gelöster Substanzen erscheinen lassen. Und dann ist da seine Fähigkeit, feste Körper um das Gewicht der von ihnen verdrängten Wassermassen zu erleichtern. Geradeso enthebt es sich aber auch in sich selbst ganz der Erdenschwere und strömt und wirbelt frei in sich, wenn es dazu veranlasst wird. Denn ohne Einwirkung bleibt das Wasser zwar bewegungsbereit und labil, aber in Ruhe. Bedenken wir doch: auf der Erde, aber im Wasser, gibt es ein Gebiet, das durch Auftrieb frei von Erdenschwere ist. Im sogenannten ‹Lichtkurs› (Steiner 1920) machte Rudolf Steiner darauf aufmerksam, dass unser Gehirn nur deshalb Grundlage un-seres bewussten Seelenlebens sein kann, weil es im Gehirnwasser schwimmt und durch Auftrieb weitgehend der Erdenschwere entho-ben ist. So wird eine Aufhellung des Willens zu Intelligenz möglich, während sich der Wille in unserem übrigen Leib mit der Schwer-kraft verbinden und deshalb dunkel und unbewusst bleiben muss.

Wir können das Besondere des Wassers auch mit unserem ganzen Leib erfahren. Auf trockenem Erdboden gehe ich aufrecht und sicher meinen Weg. Gehe ich dann aber in das allmählich tiefer werdende Wasser eines Sees, so wird meine Bewegung unsicher, weil ich auf den glitschigen Steinen des Grundes ausrutsche. Je tiefer ich eintauche, um so mehr Auftrieb verspüre ich und verliere

norbert Pfennig

die Welt des WassersWasser als universelles Mutterelement*

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schließlich ganz den Bodenkontakt. Schwimmend gehe ich in die Horizontale über und kann nun die Schwimmrichtung frei wählen und beibehalten oder für kürzere Zeit in tieferes Wasser abtauchen. Aufrichtung und Senkrechte verlieren an Bedeutung – mein Leib ist schwebend im Wasser getragen.

Diesen Leibeserfahrungen entsprechen bestimmte Bewusst-seinserfahrungen: Solange ich feste Vorstellungsbilder verbinde, mich an ihnen fortbewege oder mich an ihnen festhalte, bewege ich mich innerlich wie auf dem festen Land. Beginne ich dann aber zum Beispiel ein Vorstellungsbild denkend zu verändern und ganz aufzulösen, so erlebe ich mich frei schwebend tätig im grenzenlosen Erlebnisraum – so, wie ich mich leiblich im Wasser schwimmend erlebe.

Raum geben für anderesBetrachten wir noch eine weitere, dem Irdischen enthobene Fä-higkeit des Wassers, nämlich feste Substanzen zu lösen. In dem Maße, als sich zum Beispiel Zucker löst, wird er unsichtbar, und wir können dem Wasser nicht ansehen, dass es Zucker gelöst enthält. Es hat sich ganz mit dem Zucker durchdrungen, ist eins mit ihm geworden und hat sich dabei verwandelt: Ich kann nun schmecken, dass das Wasser süß ist, und kann mich mit der Süße eins fühlen.

Mit seinem Lösungsvermögen eröffnet uns das Wasser also einen Zugang zum seelischen Erleben der eigentümlichen Wirksamkeit des Zuckers, die die feste Substanz nicht haben kann. Nur gelöste, wasserverwandte Substanzen können chemisch miteinander re-agieren und dabei Platz machen für das Erscheinen einer neuen Qualität. (Entsprechendes gibt es auch bei Gasen im Gasraum.)

Wasser ist das universelle Mutterelement des Lebens aller Lebe-wesen auf der Erde. Lebendiges und Wasser – eine untrennbare Einheit.

So gewahren wir im Wasser Qualitäten, die uns im Denkerleben von den Erdenkräften lösen und uns dem Kosmischen verbinden: die klare Durchsichtigkeit und Lichtverwandtschaft; das weltoffe-

ne Aufnehmen und Lösen fester Formen; das sich Durchdringen und Einswerden mit dem Inhalt der Form, der Gebärdenerlebnis wird; das Verbinden mit anderem Inhalt und das Gewähren der Wandlung zu neuem Inhalt.

Ständig verlässt Wasser die Erscheinungswelt – wir sagen: es verdunstet. Vom sinnlichen Erscheinen kehrt es zu sich selbst zurück – in sein Wesen, in die Nachtseite (Dunkelheit) der Welt. Es wird reine Potenz, lichtes Willenswesen. Dazu schenkt sich ihm die Wärme der Sonne. Das Wasser wird Inbegriff seiner selbst, gewinnt die Lauterkeit der Himmelshöhen, wird Weltenwasser, von dem all sein Erscheinen in den Weiten des Umkreises und auf der Erde ausgehen kann.

«Ihr könnt mich zu allem bewegen, was eurem Leben und Gestalten dienlich ist», so spricht das Wasser zu uns Lebewesen. «Was fest und erdig ist, erlöse ich für euch, was kosmisch ist, wird durch mich wirken und erscheinen. Wenn mich die Sonne aber ganz durchwärmt, entsteige ich dem Erdenleben und finde mich in Himmelshöhen. In der Alloffenheit des Tropfens komme ich als Umkreisbote zur Erde, und im leuchtenden Farbenbogen lenke ich euer reines Farberleben in lichte Himmelsweiten.»

Literatur: Rudolf Steiner: Geisteswissenschaftliche Impulse zur Entwicklung der Physik, Erster naturwissenschaftlicher Kurs (GA 320).

*Gekürzte Fassung von Norbert Pfenning: Die Wirklichkeit der Bakterien als Prozesskeime und die Welt des Wassers, Elemente der Naturwissenschaft, Sondernummer zum 70. Geburtstag von Jochen Bockemühl, 1999.

Norbert Pfennig 1925 bis 2008, Mikrobiologe, bis zu seiner Eremitierung Ordinarius der Universität Konstanz, langjähriges Mitglied im Kollegium der Naturwissenschaftlichen Sektion am Goetheanum.

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Jörg soetebeer

alles fliesst ‹Wasser als Element› wird zu ‹Zeit als Erkenntnismedium›

«Alles fließt» – ein jedes gemäß seiner ZeitDas Fließen des Wassers kann Sinnbild für Gestaltungsprozes-se alles Lebendigen sein – sich darin aber ebenso steigern zum Ausdruck von Vergänglichkeit in den flüchtigen Erscheinungen der Wolken, wie es Erstarrung und Tod in der Eisbildung zu ver-körpern vermag. Der Mensch kennt im Angesicht des Meeres das Gefühl absoluter Verlassenheit und das ozeanische Bewusstsein des Einklangs mit dem Ganzen von Natur und Kosmos. In dieser Vielfalt offenbart sich aber ein gemeinsamer Grundzug, der alle Erscheinungsformen des Wassers verbindet: der Bezug zur Zeit. Entwicklung vollzieht sich im Modus der Zeit. Zeit verwandelt sich zu Raum, wird Gestalt. Wasser aber vermittelt die spezifische Signatur der Zeitlichkeit. Ob als zyklisches oder als gerichtetes Kontinuum verstanden, Sinnbilder von Zeit erinnern daran, dass alle Wesen in einer Scala verbunden sind und dem Prinzip im-merwährender Verwandlung folgen. Alles fließt – Identität des Menschen im Kontext von Wasser: Dieses Verhältnis soll exemp-larisch an historischen Miniaturen von Empedokles und Goethe vergegenwärtigt werden.

«Gestaltung, Umgestaltung, des ewigen Sinnes ewige Unterhaltung»1

Wasser erscheint als gestaltend gestaltetes Element in einer Fusion mit Erde, Luft und Feuer. Im fünften vorchristlichen Jahrhundert entwickelte Empedokles für den durch die Kräfte der Liebe und Feindschaft motivierten Gestaltungs- und Umgestaltungsprozess in der Natur das Ordnungsmuster der Elementen-Lehre: Feuer, Luft, Wasser und Erde – die Vierzahl generiert die Vielheit aller Phänomene und Gestalten im Naturganzen. Empedokles' Natur-philosophie markiert mit diesem Erkenntnismodell die janushafte Schwelle von einem mythischen Bewusstsein zu gedanklicher Weltanschauung. In den als ‹Wurzeln› bezeichneten Elementen erscheinen noch immanent in der Natur erlebte Götter: «Denn höre zuerst die vier Wurzeln aller Dinge: / Glanzvoller Zeus, leben-spendende Hera und Aidoneus / und Nestis, die mit ihren Tränen die sterbliche Quelle benetzt.»2 Die wirkenden Kräfte aber deuten schon auf eine Physik der Naturerkenntnis; zur Dynamik der Na-turprozesse heißt es: «Und dieser ständige Wechsel hört niemals auf, indem sie [die Elemente; J.S.] bald alle durch die Liebe in Einem zusammenkommen, bald durch den Hass des Streites voneinander weggetragen werden.»2 Der Verlust alter Eingebundenheit kenn-zeichnet die Epochenschwelle ebenso wie die emanzipatorischen

Verheißungen selbstbestimmter Vernunft und Erkenntnis. Indem die Fähigkeit verblasst, natura naturans zu schauen, entzündet sich an den Erscheinungen der Natur die Denkbewegung. Empedokles erfasst an der sich ständig verändernden Mannigfaltigkeit des Seienden den mit sich selbst identischen Grundzug alles Seins, den die Griechen ‹idea› nannten. Das sinnlich erfahrbare Feuer, die Luft, das Wasser und die Erde sind Erscheinungsformen und Wirkungen des Zusammenspiels der als Ideen verstandenen Ele-mente. Und es gibt eine Korrelation zwischen Natur und Geist. Im Wahrnehmen und Erkennen der Dinge setzt sich Gleiches mit Gleichem auseinander: «Denn durch Erde schauen wir Erde, durch Wasser Wasser, / Durch Luft göttliche Luft, durch Feuer aber / glänzendes / vernichtendes Feuer, / Liebe durch Liebe, Streit durch verderblichen Streit.»2

Das Erkenntnismodell von Empedokles prägt die Naturphilosophie bis in die Neuzeit: Natur wird als ein großer Organismus verstanden – Empedokles nennt dessen Harmonie ‹sphairos›2 –, in welchem nicht nur die Elemente, sondern alle Teile des Ganzen wechselseitig aufeinander wirken; es gibt Wahlverwandtschaft, Sonderung, nie aber völlige Isolierung auch nur eines Teiles. Auch Wasser lässt sich nach der Anschauung von Empedokles nicht allein, sondern nur in Korrespondenz mit den anderen Elementen verstehen. Und der Mensch ist mit seinem Anschauen und Erkennen integraler Bestandteil des erlebten Zusammenhangs der Welt.

«Wir wandeln alle in Geheimnissen. Wir sind von einer Atmosphäre umgeben ...»3

Auf seiner dritten Reise in die Schweiz sucht Goethe am frühen Morgen des 18. September 1797 den noch nebelumhüllten Rhein-fall von Schaffhausen auf. Er notiert in sein Tagebuch «bey heftig innern Empfindungen»:4 «Felsen, in der Mitte stehende, von dem höhern Wasser ausgeschliffne, gegen die das Wasser herabschießt. Ihr Widerstand; einer oben, und der andere unten, werden völlig überströmt. Schnelle Wellen. Locken Gischt im Sturz, Gischt unten im Kessel, siedende Strudel […]. Erregte Ideen. Gewalt des Sturzes. Unerschöpflichkeit als wie ein Unnachlassen der Kraft. Zerstörung, Bleiben, Dauern, Bewegung, unmittelbare Ruhe nach dem Fall […]. Bisher war Nebel, zu besonderm Glücke und Bemerkung des De-tails; die Sonne trat hervor und beleuchtete auf das Schönste schief von der Hinterseite das Ganze. Das Sonnenlicht theilte nun die Massen ab, bezeichnete alles vor- und zurückstehende, verkörperte die ungeheure Bewegung. Das Streben der Ströme gegeneinander

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schien gewaltsam zu werden. […] Stark spritzende Massen aus der Tiefe zeichneten sich beleuchtet nun vor dem feinern Dunst aus. […] Der Regenbogen erschien in seiner größten Schönheit; er stand mit seinem ruhigen Fuß in dem ungeheuern Gischt und Schaum, der, indem er ihn gewaltsam zu zerstören droht, ihn jeden Augenblick neu hervorbringen muss.»

Die Anmutungen einer unmittelbar erlebten Natur wirken im Duktus der Sprache, der Grammatik, in den Bildern des Textes. Natur wird Resonanzraum der Seele in ästhetischer Landschafts-erfahrung. Einbildungskraft imaginiert die Erscheinungsformen von Wasser im Zusammenspiel mit den anderen Elementen, dringt als Ahnung tief in die Geheimnisse der Natur ein: Wasserfall und Regenbogen sind symbolische Formen für Dauer im Wechsel.

Rationale EmpirieZu gleicher Zeit, zum Jahreswechsel 1797/98, beginnt Goethe mit Friedrich Schiller eine Debatte über methodologische Anforde-rungen der Naturwissenschaften im Anschluss an den Aufsatz ‹Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt› von 1792. Goethe setzt sich darin mit dem Verhältnis von Beobachtung und Theoriebildung auseinander; Schiller charakterisiert das wissen-schaftliche Verfahren Goethes in seinem Brief vom 12. Januar 1798 als «rationale Empirie». Dabei geht es Goethe um einen Wissen-schaftsbegriff, der die von Empedokles formulierte Korrespondenz zwischen Phänomenen der Natur und dem denkenden Erkennen als Paradigma aufgreift, aber auch von der Einsicht geleitet ist, dass alle Forschung der «Natur ihre geheime Encheiresis»5 lassen muss.

An Goethe erlebt man, unter diesen Vorzeichen betrachtet, eine spannungsvolle Durchdringung von lebendiger Anschauung, äs-thetischem Schaffen und naturwissenschaftlichem Forschen. Das kennzeichnet ihn als Gestalt einer bewusstseinsgeschichtlichen Wende. Goethes Weltanschauung ist an der Antike orientiert, steht aber unter den Bedingungen der Moderne. Mit Descartes' Zwei-Substanzen-Lehre, die Körper und Geist voneinander un-terscheidet, wird die Korrespondenz zwischen Naturordnung und Ordnung des Denkens zusehens fragwürdiger, Identität des Menschen kann sich nicht mehr wie selbstverständlich darauf gründen. Natur ist das Andere gegenüber der Vernunft; die prin-zipiell unerkennbaren Dinge an sich werden in der Erkenntnis durch Vorstellungen von den Dingen repräsentiert. Dass Goethe in seiner philosophischen Auseinandersetzung gegen den Zeitgeist vormoderne Konzepte aktiviert, ist bewusst gewollt. Goethe ist

überzeugt, dass alle Wesen in einer atmosphärischen Verbindung stehen, einer tieferen Harmonie der getrennt erscheinenden Dinge. Das Trennende zu überwinden, auf das jedes Teil auf seine Weise in einem Ganzen wirken kann, ist das Ziel von ästhetischer Produkti-on und naturwissenschaftlicher Forschung. Konkret fassbar wird dieses Anliegen im Commercium mit Schiller, wenn sich beide über wissenschaftliche Verfahren austauschen, und in dem erwähnten ‹Versuch›, wenn Goethe über Wissenschaft als einen kooperativen Prozess der Anregung und des Zusammenwirkens der Wissen-schaftler untereinander reflektiert. Seine Gedankenbildung bewegt sich im Medium der symbolischen Formen von Wasser – Fließen – Zeit: «Es lässt sich bemerken, dass die Kenntnisse, gleichsam wie […] lebendiges Wasser, sich nach und nach zu einem gewissen Niveau erheben, dass die schönsten Entdeckungen nicht sowohl durch die Menschen als durch die Zeit gemacht worden […].»6

1 Faust II, V. 6287f. Zu Empedokles und speziell zum Bezug Em-pedokles-Faust vgl. Jörg Soetebeer: Vom Anschauen der Welt bei Empedokles – Eine kulturgeschichtliche Skizze zur griechischen Elementenlehre. In: Olaf Oltmann (Hrsg.): Elemente und Äther-arten. Wirksamkeiten und Erscheinungsformen, Stuttgart 2008, S. 188–199. Dort auch Hinweise auf Darstellungen Rudolf Steiners zu Empedokles' Weltanschauung und den Bezug zu Faust.

2 Die Vorsokratiker. Bd. II: Parmenides, Zenon, Empedokles, grie-chisch-lateinisch-deutsch. Auswahl der Fragmente und Zeugnisse, Übersetzung und Erläuterung von M. Laura Gemelli Marciano, Düsseldorf 2009, Seite 167, 175, 275, 207 ff.

3 Goethe an Eckermann am 7. Oktober 1827.

4 Goethes Werke, Weimarer Ausgabe III, 2: 144–148; hier S. 144. Ta-gebucheintrag vom 18. September 1797. Die folgenden Zitate daraus.

5 Goethe am 21. Januar 1832, also zwei Monate vor seinem Tod, in einem Brief an Wackenroder.

6 Der Versuch als Vermittler von Objekt und Subjekt, in: Werke Bd. 13, a.a.O., S. 13.

Jörg Soetebeer geboren am 9. September 1959. Hauptamtlicher Dozent am Waldorflehrerseminar Kiel. Aktuelle Veröffentlichung: Jörg Soetebeer: Selbsttätige Bildungskraft – Versuch über ein Pa-radigma Friedrich Schillers, Stuttagrt 2010.

πάντα ρεῖ

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Mineralwasser im HandelTäglich benötigt der Mensch zwei bis drei Liter Trinkwasser, das er nur noch im seltenen Fall in naturbelassenen Quellen und Brunnen findet. Stattdessen verfügt er über gut untersuchtes Leitungs-wasser, das bis in seine Wohnung hinein reichlich fließt. Das in unseren Ländern kontrollierte Leitungswasser erweckt jedoch als Trinkwasser zunehmend Misstrauen, da das Bewusstsein über eine allgemeine Umweltbelastung wächst. Der Verbraucher greift zu Mineralwässern in Flaschen. Das Wasser wird zur aufwen-dig angepriesenen Ware. In einer 2011 durchgeführten Studie2 galt es zu untersuchen, wie es um die Qualität von abgepackten Mineralwässern bestellt ist, welche in Deutschland zumeist in Glasflaschen (Mehrweg), PET-Flaschen (Ein-/Mehrweg) oder als Kartonverpackung (TetraPak) erhältlich sind. Die Untersuchung war als Stichprobe angelegt: Zwölf Mineralwasserproben von sie-ben Abfüllbetrieben wurden ausgewählt, sechs in Glas-, fünf in PET-Flaschen sowie ein TetraPak-Gebinde. Zur Absicherung eines Materialeffektes wurden alle Flaschen gründlich gespült, mit einem bekannten Referenzquellwasser befüllt und erneut untersucht. Durch Verwendung von drei Untersuchungsmethoden, welche die Inhaltsstoffe, die innere Strömungsdynamik und die Wirkung auf den Menschen prüften, sollte ein möglichst vollständiges Bild der Wässer geschaffen werden.

Drei Untersuchungsmethoden im Vergleich:

Chemische Analyse Zur Qualitätsuntersuchung durch chemische Analyse (Gaschro-matografie und Massenspektrometrie) wurde der Blick auf die wasserfremden Stoffe gelenkt, die natürlicherweise nicht in Mi-neralwässern vorkommen.

TropfbildmethodeDie Tropfbildmethode überprüft die innere Beweglichkeit (Strö-mungsdynamik) eines Wassers im Vergleich zur Referenz, einem reinen Quellwasser, das in vielfältigen Bewegungen strömt. Durch regelmäßig hereinfallende Tropfen destillierten Wassers werden Be-wegungen angeregt, es entstehen Strömungsmuster. Aus Entwick-lung, Ausgestaltung und Anordnung der Strömungsmuster lässt sich ablesen, inwieweit das untersuchte Wasser einem natürlich reinen Wasser entspricht. Beeinträchtigungen der Beweglichkeit ei-nes Wassers zeigen bedeutende Eingriffe in seine Beschaffenheit an.

WirkungssensorikAus der Sensorik von Lebensmitteln ist bekannt, dass neben den Eigenschaften süß, sauer, salzig und bitter eine Fülle von zusätzli-chen Merkmalen erfasst werden können. Von erfahrenen Prüfern werden auch Bezeichnungen verwendet, die Nuancen einer Probe beschreiben. Als Beispiel seien zusammenziehend, füllig, rund, schwer, leicht, hebend, versprühend, licht und ähnliche genannt. Solche Bezeichnungen deuten darauf hin, dass Wirkungen auf den Organismus des Prüfers beschrieben werden, die dieser durch das Lebensmittel erfährt. Eine nähere Untersuchung aller Wahrneh-mungen zeigt, dass hier Prozesse innerhalb der Physiologie des Prüfers beschrieben werden, welche als gestaltende Kräfte der physischen Grundlage angesehen werden, auch als Bildekräfte be-zeichnet. Darüber hinaus können auch weitere Wirkungen auf den Probanden beschrieben werden.3 Innerhalb dieses Projektes wur-den vornehmlich die Wirkungen auf Bildekräfteebene angeschaut.

Flaschen auf die Probe gestelltDie wirkungssensorische Untersuchung der Wässer zeigte Charak-teristika, die viele gute Wässer auszeichnen, wie die einer Stärkung der inneren Aufrechtequalität, einer Umhüllung mit flutenden, lebendigen und kräftigenden Strömungen und einer Klärung des Bewusstseins. Außerdem traten Wahrnehmungen auf, welche den individuellen Charakter der Wässer beschrieben. Insgesamt ließen Glasflaschen die einzelnen Wässer am deutlichsten zur Geltung kommen, wenn diese nicht durch ungeeignete Verschlüsse wie einen Aluminiumdeckel mit weichem, geschäumtem Dichtungs-material beeinträchtigt wurden. Bei PET-Flaschen verschwanden wassertypische Wahrnehmungen und es zeigten sich solche von Erstarrung oder Verfestigung. Noch deutlicher ausgeprägt war diese Tendenz bei TetraPak. Der Blick auf die Strömungsdynamik der Wässer aus unbeeinträchtigten Glas- wie auch aus einigen PET-Flaschen mithilfe der Tropfbildmethode zeigt Strömungsei-genschaften weitgehend vergleichbar dem eines naturbelassenen Quellwassers. Bei einzelnen PET-Flaschen beziehungsweise dem TetraPak-Gebinde trat eine Überwirbeligkeit der Wässer auf, die oft einen Hinweis auf leichte Substanzeinflüsse darstellt. Je nach Deckeltyp traten zusätzlich bei manchen Flaschen deutliche Be-einträchtigungen auf. Deckel aus PE hatten keinen Einfluss auf die Wasserbeschaffenheit. Weiter war bei Wasserproben in Glas-Mehrwegflaschen die Strömungsdynamik deutlich eingeschränkt, was bei Einwegglasflaschen nicht auftrat und nach Durchspülen

Manfred sCHleyer, CHristine sutter-PiCariello, Peter stolZ, dorian sCHMidt1

qualität von mineralWasserglas- oder PET-Flaschen – ein Qualitätsvergleich mit drei Methoden

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der Mehrwegflaschen verschwand. Mittels chemischer Untersu-chung wurden verschiedene wasserfremde Substanzen in zumeist geringen Konzentrationen anhand von Referenzproben identifi-ziert und quantifiziert. Alle Messwerte lagen zwar unterhalb der derzeit geltenden gesetzlichen Grenzen, sind aber als vermeidbare Wasserverunreinigung anzusehen. Rückstandsfrei war nur die Glasflasche mit PE-Deckel. Geringe Konzentrationen wasserfrem-der Stoffe traten bei weiteren Glasflaschen auf, wahrscheinlich infolge der Dichtung des Deckels. Der Aluminiumdeckel mit wei-chem, geschäumtem Dichtungsmaterial gab deutliche Mengen von Weichmachersubstanzen ab. Die Glasflaschen wiesen im Vergleich zu PET-Flaschen kaum Funde von kunststofftypischen Substanzen sowie geringere Antimonwerte auf. Das TetraPak-Gebinde zeigte eine Vielzahl von wasserfremden Stoffen in geringen Konzent-rationen. Bei den Abfüllungen in Mehrwegflaschen ließen sich geringe Mengen tensioaktiver (die Oberflächenspannung des Wassers vermindernder) Stoffe nachweisen, die vermutlich von Reinigungsmittelrückständen herrühren.

Flasche ist nicht gleich FlascheDie heutigen Flaschenmaterialien lassen keine akuten gesund-heitlichen Beeinträchtigungen erwarten. Es zeigen sich aber zum Teil deutliche Qualitätsveränderungen je nach Flaschenmaterial, Deckelmaterial und Mehrwegverwendung. Glas ist als bestes Fla-schenmaterial zu betrachten, alle drei Methoden wiesen darauf hin. Es gibt keine wasserfremden Inhaltsstoffe ab, lässt das Strö-mungsverhalten unbeeinflusst und das Wasser in seiner Wirkung zur Geltung kommen. Dieses Urteil verändert sich bei Glas als Mehrwegmaterial. Die Strömungsqualität des Wassers wurde am stärksten durch die Tenside in unzureichend gespülten Mehrweg-gebinden beeinträchtigt. Eine weitere Einschränkung der Wasser-qualität bei Glasflaschen geschieht durch das Deckelmaterial. Die Wasserproben mit deutlich messbaren Weichmachermigrationen aus den Deckeldichtungen mit geschäumter Kunststoffeinlage wurden im Tropfbild als beeinträchtigte Proben eingestuft, sie waren bei der Wirkungssensorik jedoch nicht auffällig. PE-Deckel waren unbedenklich. Bei den Gebinden aus PET sowie TetraPak zeigten sich Stoffeinträge, und es waren bei der Wirkungssensorik verhärtende Wirkungen festzustellen. Sie wirkten sich zum Teil auch auf die innere Beweglichkeit der Wässer aus. Diese Bewertung konnte anhand der Komplementarität der drei angewandten Me-thoden erreicht werden. Alle drei erkannten die Glasflaschen mit PE-Deckel als das beste Material und fanden Beeinträchtigungen

der Wasserqualität durch die Kunststoffflaschen, besonders anhand der Wirkungssensorik. Auf die Strömungsdynamik wirkten sich nicht alle Kunststoffe aus. Die chemische Analyse zeigte Verun-reinigungen der Wässer in Glas-Mehrwegflaschen, deren Proben im Tropfbild bewegungsgehemmt strömten. Die Einwirkung der Weichmacher des Deckelmaterials wurde ebenfalls durch die che-mische Analyse und durch die Strömungsdynamik erkannt. Die wirkungssensorische Beobachtung hatte ihren Schwerpunkt in den Auswirkungen des Flaschenmaterials und in der feinen Charakteri-sierung jedes Mineralwassers. Die Trinkwasserverordnung enthält das Gebot zur Minimierung fremder Stoffe in Leitungswasser. Dies ist auch bei abgefülltem Wasser zu fordern. Die Untersuchung zeigt: Schon heute ist eine Abfüllung von Wasser ohne Beeinträchtigung in Glasflaschen mit geeignetem Deckel ohne Weiteres möglich.4

1 Am Projekt waren darüber hinaus beteiligt: Christian Liess, Mi-chael Jacobi und Andreas Wilkens.

2 Manfred Schleyer et al.: Untersuchung zur Auswirkung der Verpackung auf qualitative Eigenschaften von Mineralwasser, Herrischried 2011.

3 Weitergehende Beschreibungen zur Methode finden sich bei: Markus Buchmann: Bildekräfteforschung, in Vorbereitung; Dorian Schmidt: Lebenskräfte – Bildekräfte, Methodische Grundlagen zur Erforschung des Lebendigen, Stuttgart 2010; Jürgen Strube: Die Beobachtung des Denkens, Dornach 2010.

4 Diese Untersuchung war möglich dank der Unterstützung durch die Interessengemeinschaft für gesunde Lebensmittel, Fulda, sowie die Mahle-Stiftung, Stuttgart.

Manfred Schleyer Mikrobiologe, Institut für Strömungsfor-schung, Herrischried, Wasserqualität und Strömungsvorgänge im Vergleich zu Gestaltbildungs- und Entwicklungsprozessen von Lebewesen | Christine Sutter-Picariello Ingenieurin für Umwelttechnik, Institut für Strömungsforschung, Herrischried, Qualitätuntersuchung von Wasser, Konstellationsforschung | Peter Stolz Dipl. Chemiker, kwalis Qualitätsforschung Fulda GmbH, Rückstandsanalytik von Fremd- und natürlichen Inhaltsstoffen in Wasser und Lebensmitteln | Dorian Schmidt Gärtner, gründete die Unternehmung ‹Qualitätsuntersuchungen im biologischen Garten-bau›, die 2004 in den Verein für Bildekäfteforschung überführt wur-de. Verschiedene Forschungsarbeiten, daneben Seminartätigkeit.

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«Des Menschen Seele / gleicht dem Wasser: Vom Himmel kommt es / zum Himmel steigt es und wieder nieder / zur Erde muss es / ewig wechselnd.» So beginnt Goethes Gedicht, durch welches der Staubbachfall im Lauterbrunnental berühmt geworden ist. In einer allgemeinen Betrachtung wird das Wasser als Gleichnis der menschlichen Seele dargestellt, die auf einfachste Art von Wiederverkörperung spricht.

Wasser als NaturerscheinungAuf diesen Beginn folgt die Beschreibung einer sehr konkreten sinnlichen Beobachtung: «Strömt von der hohen / steilen Felswand der reine Strahl, / dann stäubt er lieblich in Wolkenwellen / zum glatten Fels.» Wir sehen das Wasser weit oben über die Felskante stürzen, zunächst eine Strecke in freiem Fall in einer Art welligem Eigenrhythmus, dazu durch den Wind stärker oder schwächer zerstäubend. Bei stärkerem Wind scheint der Fall sich ganz in eine Wolke aufzulösen. Dann aber sammelt der Strahl sich wieder auf dem leicht abwärtsgewölbten Fels: «[...] und leicht empfangen / wallt er verschleiernd, leisrauschend / zur Tiefe nieder.» Dieses Rauschen verstärkt sich weiter unten zwischen Fels und Geröll. «Ragen Klippen / dem Sturz entgegen, Schäumt er unmutig / stufenweise / zum Abgrund. / Im flachen Bette / schleicht er das Wiesental hin, / und in dem glatten See / weiden ihr Antlitz / alle Gestirne.»

In der Talsohle vereinigt der Bach sich mit der weißen Lütschine, einem inzwischen begradigten Flüsschen, sodass die sich durch das Tal schlängelnde Bewegung heutzutage nicht mehr nachvollziehbar ist. Und der glatte See, der Brienzersee, ist immerhin einige Kilo-meter entfernt. Auch dort gibt es das bedeutsame Zusammenspiel von Wasser und Wind: «Wind ist der Welle / lieblicher Buhler; / Wind mischt von Grund aus / schäumende Wogen.» Zum Schluss kehrt das Gedicht zum Anfangsgleichnis zurück: «Seele des Men-schen, / wie gleichst du dem Wasser. Schicksal des Menschen, / wie gleichst du dem Wind.» Dieses ganze Gebilde nennt Goethe: ‹Gesang der Geister über den Wassern›.*

Was sind das für Geister, die solches singen und sagen? Geister, die zugleich in den Elementen und in der menschlichen Seele wirksam sind und sprechen? Die die Beziehung des Menschen zu den Elementen repräsentieren? – Man hat sie seit alter Zeit ‹Elementarwesen› genannt

Nixen erzählen MärchenIn Märchen und Sagen wird von Begegnungen mit elementari-schen Wasserwesen erzählt, von Nixen, Undinen, Wassermännern oder Wasserjungfrauen, die halb Fisch und halb Mensch sind. Es gibt eine märchenhafte Überlieferung aus der Ukraine unter der Überschrift ‹Wer die Märchen ersinnt›, die Folgendes zu berichten weiß: Im Frühling oder Frühsommer, wenn das Eis der Flüsse ge-brochen ist, kommen die Wasserjungfrauen aus den Tiefen hervor, setzen sich auf die Steine am Ufer und erzählen den Menschen die Märchen und lehren sie Lieder.

Das heißt: Aus dem Reich unter dem Wasser, wir können auch sagen, aus dem unbewussten Teil der Seele, stiegen einst die Wahr-bilder der Märchen auf. In fließendem Sprechgesang strömten die jungfräulichen Weisheiten des Lebens den Menschen zu, die kamen und es hören wollten. Die Wasseroberfläche bildet eine scharfe Grenze zwischen unten und oben, seelisch gesprochen zwischen Unbewusstem und Bewusstem. Was unter dem Wasser ist, sehen wir nicht, was darüber ist, tritt in unser Bewusstsein.

In den Märchen ‹Die Goldkinder› und ‹Von dem Fischer und syner Fru› (beide bei Grimm) sind die Gaben, die der goldene Fisch be-ziehungsweise der Butt aus den Tiefen unter dem Wasser in die sichtbare Wirklichkeit über der Oberfläche holen kann, mit dem Tabu des Schweigens belegt. Wird das Tabu gebrochen, so ver-schwinden sie wieder. Man kann das so sehen, dass ein übersinn-liches Erlebnis, das spontan (als Geschenk) auftritt, so lange nicht besprochen werden darf, bis es selbst erarbeitet und verinnerlicht worden ist (das heißt bis der Fisch gegessen wurde).

Die saugende Kraft der TiefeAus dem Unbewussten steigen unsere Gefühle auf, insbesondere die körpergebundenen Triebe. Insofern birgt es auch Gefahren, abgründige Tiefen, die etwas Saugendes haben können. Wasser-nixen sind verführerisch, ein Bild der Liebestriebe, wie es die oft zitierten Zeilen aus Goethes Ballade ‹Der Fischer› aussagen: «Halb zog sie ihn, halb sank er hin / und ward nicht mehr gesehn.»

In dem Grimm’schen Märchen ‹Die Nixe im Teich› spendet die Nixe dem Müller zwar Reichtum, sie zieht aber dafür seinen Sohn (seine zukünftige Entwicklung) in die Tiefe. Hier ist sehr schön dargestellt, wie dieser Sohn von der Frau, die ihn liebt, stufenweise aus der Gewalt der Nixe befreit wird. Erst taucht das Haupt aus dem Wasser auf, als sie sich die Haare mit einem goldenen Kamm

alMut boCkeMüHl

Was singen die Wassergeister? Die Bilderwelt des Wassers

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kämmt und diesen anschließend der Nixe schenkt, dann der hal-be Leib mithilfe einer goldenen Flöte und schließlich der ganze Mensch durch ein goldenes Spinnrad. Über einen Menschen, der im Haupt, durch den Atem und durch die Glieder aktive Eigentä-tigkeit entfaltet, hat die Nixe keine Gewalt mehr.

Das Reich unter dem Meer, eine EigenweltDas symbolische Bild des Wassers kann aber auch noch stärker von der Sinneserfahrung abgezogen sein als die bisher vorgeführ-ten Beispiele. Es gibt Märchen, die erzählen von einem König im Reich unter dem Wasser, den der Held der Geschichte aufsuchen muss, was immer mit Ängsten verbunden ist. Da ist das russische Märchen ‹Der König des Meeres und Wassilissa, die Allweise›: «Der Zarewitsch Iwan aber begab sich in das Königreich unter dem Wasser. Und was sieht er? Dort leuchtet das gleiche Licht wie bei uns, dort sind Felder, Wiesen und grüne Haine, und die liebe Sonne wärmt.» Wir haben es hier also nicht mit einer Erscheinungsform des Wassers zu tun, sondern mit einer Gegenwelt, anthroposo-phisch gesprochen, der ätherischen Welt. Meistens ist der Weg zurück in die Erdenwelt schwieriger als der Hinweg. Der König des Meeres stellt Bedingungen. Entsprechendes gibt es auch in Rudolf Steiners Mysteriendrama ‹Die Pforte der Einweihung›: «Wenn ihr den Weg zurück nicht findet, gedeiht ihr nimmermehr.» In dem König des Meeres muss man wohl weniger ein Elementarwesen sehen als eine Art Wassergott wie den griechischen Poseidon.

Fluss oder Ufer als Grenze zur anderen WeltDie ‹andere Welt› oder ‹Jenseitswelt›, wie man in der Märchenfor-schung sagt, kann auch durch einen Fluss abgegrenzt sein, den es zu überschreiten gilt. Wir kennen das Motiv aus der griechischen Mythologie, den Lethefluss mit dem Wasser der Vergessenheit, den die Verstorbenen zu überqueren haben. Auf diesem Wege gibt es kein Zurück, wohl aber bei dem entsprechenden Weg in die geistige Welt, der bei der Einweihung zurückgelegt werden muss. Von einem solchen Brückenbau erzählt das bekannte Goethe’sche Märchen.

Der Übergang in die geistige Welt findet bei der Einweihung statt, aber auch allabendlich beim Einschlafen. Bei Rudolf Steiner kommt immer wieder das Bild des Meeres für die geistige Welt vor, sowohl in Vorträgen als auch in der Spruchdichtung. Beispielsweise in ei-ner Morgenmeditation: «Lichterstrahlende Gebilde, / leuchtendes Wogenmeer des Geistes, / euch verließ die Seele, / in dem Göttli-chen weilte sie [...].» Hier haben wir das schöne Wort ‹Gebilde›, in dem das Wort ‹Bild› enthalten ist, aber in einer sehr prozessualen, flüssigen Weise.

Das Wasser des LebensDie Lebensgrundlage unseres Leibes sind die ‹Bildekräfte›. Ohne Wasser ist kein Leben möglich. Darauf verweist das in vielen Märchen vorkommende Motiv vom ‹Wasser des Lebens›: «Es war einmal ein König, der war krank, und niemand glaub-

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te, dass er mit dem Leben davonkäme.» (Grimm) Seine Söh-ne erfuhren nun, dass nur das ‹Wasser des Lebens› ihm helfen kann, und der jüngste findet auch den Weg dorthin. «Es quillt aus einem Brunnen im Hofe eines verwünschten Schlosses.» In diesem verwünschten Schloss gibt es auch eine schöne Königs-tochter zu erlösen. Diese macht ihn darauf aufmerksam, dass er den Schlosshof mit dem Brunnen bis Schlag zwölf Uhr ver-lassen haben muss, «sonst schlägt das Tor zu und du bist einge-sperrt». Hier spielt ‹die rechte Stunde› eine wesentliche Rolle.

Das ‹Wasser des Lebens› im Märchen ist die Lebenskraft, die alles durchzieht, die alles heilt, was krank ist, die jung macht, was über-altert ist. Wo finden wir es? Weit von hier, am Ende der Welt, hinter dreimal neun Ländern. Indem man es findet, verbindet man sich zugleich mit dem jungfräulichen Wesen des Wassers. So erzählen die Märchen, in denen das ‹Wasser des Lebens› das Hauptthema ist.

Die belebende Kraft der NaturKehren wir nach diesem Ausflug in die Märchenwelt nochmals zur Dichtung zurück, deren Bildhaftigkeit ja mehr ein Spiegel eines in-dividuellen Erlebens ist als bei den Märchen. Wir begannen mit der Frage, was für Geister es waren, die Goethe sein schönes Gedicht über den Staubbachfall zugeraunt haben. Es waren solche, die in fließenden Gewässern plätschern, rauschen, strömen, sozusagen auf der Außenseite der Natur. Es gibt aber auch Wesen, die man erst bemerkt, wenn man auf die Innenseite der Natur gerät, die die Natur von innen durchpulsen, durchatmen und durchseelen. Das sind nicht die Nixen, sondern die Nymphen: «So wie angehaltner Atem steht, steht die Nymphe in dem vollen Baume», schrieb Rilke am 3. Februar 1922.

Es geht hier um die erfrischende, heilende, kräftigende Wirkung von Pflanzen, Bäumen, Landschaften. Alles, was man darin erspüren kann, hat eine besondere elementarische Wirksamkeit, hat Wasser-qualität, auch wenn es sich nicht um fließende Gewässer handelt. Das sind die Nymphen, die auch Goethe kannte, denn er widmete ihnen das folgende Gedicht, mit dem ich meine Wasserbetrachtung abschließen möchte: «Die ihr Felsen und Bäume bewohnt, o heilsa-me Nymphen, / Gebet jeglichem gern, was er im Stillen begehrt. / Schaffet dem Traurigen Trost, dem Zweifelhaften Belehrung, / Und dem Liebenden gönnt, dass ihm begegne das Glück. / Denn euch gaben die Götter, was sie dem Menschen versagten: / Jeglichem, der euch vertraut, tröstlich und hilfreich zu sein.»

* Siehe auch Johannes Kühl: Wasser-Gesten im Lauterbrunnental, in: ‹Das Goetheanum› Nr. 29/2005, S. 7.

Almut Bockemühl Germanistin mit Spezialgebiet Volksmärchen, ist Autorin mehrerer Bücher und zahlreicher Zeitschriftenbeiträge. Sie betreut die Märchenarbeit am Goetheanum. Nächstes Seminar: Der Morgen ist weiser als der Abend. Nachterlebnisse im Märchen, 11. bis 13. November, Goetheanum.

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«Von einem fremden Planeten angeschaut, würde die erde als ein großer Wassertropfen im Weltenall erscheinen. Dieser

ist gar nichts anderes als ein riesiger Quecksilbertropfen.

nach Rudolf steiner, ‹Das miterleben des Jahreslaufes in vier kosmischen Imaginationen› (Ga 229), Vortrag vom 6.10.1923

»

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Zusammenleben auf einem gefährdeten Planeten peter sloterdijk über rudolf steiner

Die Frage nach dem künstlichen Menschen, nach dem Projekt des lebenslangen Lernens oder auch nach so etwas wie der Selbstver-antwortung im Steuerwesen – immer hat Peter Sloterdijk mit bildkräftigen Gedanken dem Verstehen darüber Fahrt und Richtung gegeben. Seinen Blick auf Rudolf Steiner anlässlich der Ausstellungseröffnung ‹Al-chemie des Alltags› geben wir hier in weiten Zügen wieder. Die Rede des Philosophen mit Walter Kugler, Rudolf-Steiner-Archiv, und moderiert von Mateo Kries, Kurator der Ausstellung, könnte gleichfalls ein Ge-sprächsfeld erzeugen.

Freitag, 14. Oktober 2011: Austragungsort war das pfeilschnelle Feuerwehrhaus des Vitra-Campus, dem ersten vollendeten Bau von Zaha Hadid. In den sausenden Beton-geraden wurde es selbst den Feuerwehr-männern schwindelig, sodass diese recht bald wieder auszogen. Entsprechend diesen Räumen überschlugen sich die Gedanken-wendungen und Gesprächsbeiträge. Der ehemalige Fuhrpark wurde voll bestuhlt und mit reichlich Tontechnik ausgestattet, um dem Meister-Nuschler Sloterdijk gerecht zu werden. Matheo Kries stellte seine erste Frage nach dem Zusammenhang von Anth-ropotechnik, Sloterdijks Terminus für den postreligiösen, sich selbst vervollkommnen-den, übenden Menschen, und Anthroposo-phie. Woraufhin Sloterdijk meinte, Steiner stehe für ihn in einem geistesgeschichtli-chen Sternbild an einer markanten Stelle.

Sloterdijk: «Die Grundsituation ist, dass das Christentum im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts an Glaubwürdigkeit einzu-büßen beginnt. Man hat das Gefühl, das Christentum kann seiner eigenen Entro-pie [Wärmetod] nicht entgehen. Das ist ein Ausgangspunkt Nietzsches gewesen. Nietzsche stellt sich die Frage, wie können wir die menschliche Existenz in einer Ver-tikalspannung erhalten, die dem Menschen

als metaphysisches Tier Gerechtigkeit wi-derfahren lässt? Wie können wir einen Zug von oben erzeugen, wenn die Leiter, auf der der Mensch nach oben klettert, dort nicht mehr angelehnt werden kann, weil die an-dere Seite des Ufers nicht mehr gegeben ist?

Sie können das schon in der mittelalterli-chen Buchmalerei beobachten. Da haben die Maler dieses Problem mit rein grafischen Mitteln zu lösen versucht, indem man die Leiter an die Wolke anlehnt. Was statisch fragwürdig ist, aber immerhin im metaphy-sischen Sinne erbaulich. Man sieht die Engel auf der Himmelsleiter auf- und absteigen. Wir wissen, die absteigenden Engel sind sehr interessant, was ja auch mit dem Stei-nerianismus in einer gewissen Korrespon-denz ist. Das sind die eigentlichen Engel, die die Botschafterfunktion ausüben. Während die aufsteigenden eher an Verklärung inte-ressiert sind und die haben keine Botschaft. Sie haben nur noch eine Emanation.

Nietzsche hat aus dieser Konstellation he-raus die intellektuellen Isobaren, Isoterme des kommenden Jahrhunderts definiert. Steiner liegt nach meinem Dafürhalten auf demselben spirituellen Drucksystem und hat dieselbe spirituelle Hitze wie Nietzsche. Das Epochenthema ist ab Neunzehnhun-dert, Nietzsche hat das in seinem ganzen Werk artikuliert: Lebensreform. Und das ist die epochale Alternative zu dem Begriff, der seit der französischen Revolution das Bewusstsein von der Veränderbarkeit der Welt strukturiert hat. Es ist der nicht po-litische Begriff des Wandels. In dieser Zeit wird es klassisch gemacht durch eine Kons-tellation von Geistern, zu denen Nietzsche, Steiner und eine Reihe von anderen auch gehören. … Die Notwendigkeit zu verstehen, dass zwischen einem gut gebauten Satz und einer sauber gezeichneten Türklinke, der-selbe ethische Druck steht, dass dieselbe formale Askese, im einen wie dem anderen

ticker

››› Die Mathematische sektion am Goe-theanum lud am 13. oktober zu einem besuch in die paul-schatz-stiftung in basel ein. ‹Die Zukunft liegt in den Archiven› gilt auch für diese schatz-kammer, wo neben dem nachlass des forschers paul schatz auch Maschi-nen zu sehen sind, die zur reinigung von Gewässern dienen könnten. www.paul-schatz.ch ››› am 14. oktober tra-fen sich etwa 50 Menschen in der Ju-gendsektion in Dornach, um constanza kaliks und ihre neuen Mitarbeiterinnen Lisa seidel und che Wagner zu begrü-ßen. ››› Hunderttausende haben am 15. Oktober in über 950 städten welt-weit demonstriert und vor wichtigen banken ihre Zelte aufgeschlagen. Die protestbewegung rekrutiert sich aus allen Gesellschaftsschichten und ver-breitet sich über das internet, wo sie mehr anhänger besitzt, als zahlenmä-ßig bisher auf den straßen erscheinen. www.15october.net ››› An der Univer-sität für Bodenkultur Wien findet vom 21. bis 22. oktober das symposium ‹Wertschöpfung bodenkultur – rudolf steiner als Wegbereiter ökologischer und sozialer Gesellschaftsperspekti-ven› statt. www. rudolf-steiner-2011.com ››› Das neu gegründete ‹Eurythmie Studio Focus› will jungen eurythmisten helfen, ihre eigene stimme zu finden. aufführungen: 30. oktober in aesch und 20. november in basel. www.eu-rythmie-studio-focus.org ››› Die Deut-sche Gesellschaft für energetische und informationsmedizin veranstaltet ein Drei-Länder-Wasser-Symposion zum thema ‹energetisiertes und infor-miertes Wasser›. 22. bis 23. oktober in Lindau am bodensee. www.dgeim.de ››› Das kunst haus Wien würdigt bis zum 6. november Friedrich Hun-dertwasser mit einer sonderausstel-lung. www.kunsthauswien.com ››› Der naturschutzbund Deutschland fordert ‹Roundup›-Verbot. Unter diesem han-delsnamen wird weltweit ein hoch to-xisches herbizid angepriesen. www.nabu.de ››› ‹Von der Philosophie der Freiheit zum Nationalökonomischen Kurs. rudolf steiners beitrag zu einer erneuerten Wirtschaftswissenschaft›. seminar im rudolf-steiner-haus frank-furt am Main vom 28. bis 30. oktober.

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Bereich, gewahrt werden müsse. […] Von Wittgenstein ist berichtet, dass er einmal ein schlechtes Buch im Bücherschrank seines Freundes gefunden hat. Er nahm es heraus, zerriss es mit den Händen und tram-pelte mit den Füßen darauf herum. Also das ist Lebensreform, meine ich. Ich weiß jetzt nicht, worauf Steiner herumgetrampelt hat, ob das in seinem Affektspektrum angelegt war. Aber die Evidenz, dass man das Leben von Grund auf verändern muss, dass es kei-nen Sinn hat, ein paar politische Phrasen einzuüben und in einem Hinterzimmer eines Lokals eine neue Partei zu gründen, sondern dass es darauf ankommt, aus dem Molekularen heraus das ganze Leben neu aufzubauen, das gibt dem Begriff der Le-bensreform eine so epochale Spannung.

Das 20. Jahrhundert hat mit der Erkennt-nis geendet, dass die Revolutionäre un-recht hatten und dass die Lebensreformer recht hatten. Heute stehen wir wieder an diesem Punkt, vielleicht mit dem einen Unterschied, dass seit 30 Jahren die Er-wähnung des Namens Steiners für viele Menschen weniger peinlich ist als früher. Die Angst vor der Gurukratie hat sich ein wenig gelegt. Und man ist heute eher be-reit, in Steiner nicht so sehr einen Guru zu

sehen, sondern ein ganz normales Genie.»

Die Begriffe ‹Vertikalspannung› und ‹Le-bensreform› griff Walter Kugler auf.

Kugler: «Ein Großteil der Lebensreform-bewegung bewegte sich im Horizontalen. Der Schweizer Schriftsteller Hürlimann hat gesagt, seine metaphysischen Antennen zappeln ins Leere, denn alles läuft nur noch in der Horizontale und das Auto ist die Fort-setzung der Aufklärung in der Horizontale. Dann kommt Steiner und richtet darauf eine Vertikale aus, die Blickrichtung muss sich ändern. Ich muss den Blick nach oben und nach unten richten können. Der Himmel ist offen, man muss nur hinschauen. Man kann pendeln zwischen dem Heiligen und dem Profanen. An die Stelle des kategorischen Imperativs muss man die freie Fantasie set-zen, so Steiner.»

Die geistige Landschaft, in der Rudolf Stei-ner wuchs und die er schließlich überrag-te, war damit beschrieben. Doch warum, so fragte Matheo Kries, verschwand Rudolf Steiner von der Bildfläche?

Sloterdijk: «Dass hat auch mit der Ge-schichte der Medien zu tun. Die wenigen Anthroposophen, die ich in den 60er- und 70er-Jahren gekannt habe, die fielen fürs

freie Auge auf. Sie sind alle so gegangen, als würden sie einen Engel nachahmen, der gerade übt, wie ein Mensch zu gehen. Sie hatten eine Sprachkultur, die nicht von unserer Zeit ist. Das sind Menschen vor dem Mikrofon. Wir haben uns inzwischen längst etwas zu eigen gemacht, was in der Mediengeschichte zuerst in den 30er-Jahren aufgekommen ist, dass einer im Radio mit einer nicht rhetorischen Intonation zu Men-schen spricht. Dass so etwas wie ein öffent-liches Parlando möglich wird. Das ist eine Möglichkeit, die in den Steinerianern der älteren Generation nicht vorgesehen war, weil sie immer zur Menschheit gesprochen haben. Da war immer ein höherer Ton, das war immer so, als kämen sie gerade von der Sprecherziehung. Das gibt es auch heute noch, was übrigens sehr lobenswert ist, denn man hört, wie stark das Informelle und wie stark das Parlando in das Theater selbst zurückgekehrt sind, sodass man ohne Textbuch auch Sprechtheater heute nicht mehr versteht …

In den 60er-, 70er-Jahren waren die Anth-roposophen total phasenversetzt gegenüber der Umgebungskultur. Denn da hatte schon längst die Popkultur ihre Spuren in die In-dividuen eingeprägt und die kamen immer

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noch mit der Eurythmie daher. Selbst in der Diskothek hat man den Anthroposophen sofort erkannt. Aber diese Phasenverschie-bung löst sich im Moment, glaub ich, in einem sehr günstigen Sinne auf. Und wir haben jetzt neue Gründe zu fragen, worin die Aktualität dieser Bewegung besteht. Und meine Vermutung geht dahin, dass wir auf breiter Front mit den Antworten der zeitge-nössischen Philosophie auf die Frage nach dem Individuum, nach dem Wesen der Sub-jektivität nicht mehr einverstanden sein können. Mit Steiner beginnt etwas, was für viele Zeitgenossen zunächst obszön schien, aber auf die Dauer unvermeidlich, er hat die menschliche Subjektivität nach oben anschlussfähig gemacht. Er hat den Stecker entdeckt, mit dem man Energien anzapfen kann, die normalerweise aus der Konver-sation zwischen bürgerlichen Individuen längst verbannt war. Er hat Vertikalität neu definiert und er hat es auch in eigener Per-son praktiziert.

In seiner Lebensgeschichte gibt es ja diesen eigenartigen Umschwung, als ob plötzlich ein manischer Generator in ihm gestartet worden wäre. Ab 1902/03, plötzlich wird er zu einem inspirierten Redner, er entwickelt eine neue Form des mündlichen Philoso-phierens, die es zu dieser Zeit in Deutsch-land, auf dieser Tonlage nicht gegeben hat. Selbst Nietzsche hat in seinem Zarathustra Schriftphilosophie vorgetragen. […] Steiner war ja der größte mündliche Philosoph des Jahrhunderts und man hätte ihn gerne mal im Original reden hören. Es kann peinlich gewesen sein, wie wenn Sie den späten Beuys gehört haben, ich fürchte: Es klang ähnlich. Da ist dann oft ein Übermaß an Gutgemeintem da und man denkt an diesen bösen Satz von Gottfried Benn: ‹Denker, die ihrem Weltbild sprachlich nicht gewachsen sind, pflegt man in Deutschland Seher zu nennen.›»

Als Matheo Kries die Wandtafeln von Rudolf Steiner erwähnte, entwickelte Sloterdijk den Begriff des Mediumismus.

Sloterdijk: «Er soll ja auch vor den Tafeln improvisiert haben. Er hat sich darauf verlassen, dass die Idee ihn rechtzeitig ergreift. Rudolf Steiner hat eine Form des philosophischen Mediumismus erfunden, die sonst nur Kanzelredner im religiösen

Kontext erfahren. Ich glaube, der Begriff Mediumismus ist zum Verständnis dessen, was Rudolf Steiner getan hat, sehr wichtig und er löst vielleicht auch einen Teil der Fas-zination aus, die von seinem Werk und ihm ausgeht. Weil inzwischen alle Menschen be-griffen haben, dass eine allein maschinen-bezogene Definition von Medialität nicht ausreicht und wir zurückgehen müssen zu dem im 19. Jahrhundert geprägten Begriff des Mediums. Aus meiner Sicht hat Rudolf Steiner die Powerpoint-Präsentation mit Kreide erfunden und die war viel intensiver als die heutige, weil die wirkliche ‹Power› kommt von der Tatsache, dass ihm in dem Augenblick, wo er das Bild zeichnet, eine be-stimmte Form von Evidenzerlebenis zuhilfe kommt. Da wechselt er dann die Farbe. [...]

Ihn als Medium zu sehen, ist nach wie vor eine fruchtbare Sache, weil Medien die An-tennenmenschen sind, von denen Hugo Ball in einem bedeutenden Aufsatz sagt: Alle Welt ist medial geworden. Das heißt, alle Menschen haben sich so verändert, dass sie anfangen, auf einer ganz neuartigen Weise Empfänger zu werden. Nicht nur Leser, nicht mehr nur Hörer des Wortes im gottesdienstlichen Kontext, sondern sie hö-ren jetzt als neue Antennenmenschen den Äther mit Botschaften aufgeladen. Das ist die Medientheorie von Hugo Ball. Steiner war einer, der dies schon zwei Jahrzehnte zuvor nicht nur verstanden, sondern rea-lisiert hat. Er hat vorgemacht, wie es ist, wenn man auf Empfang ist, und dass man dann etwas zu sagen hat, komischerweise, weil es nicht das Eigene ist, was den Ein-druck der Bedeutsamkeit der Botschaft vermitteln kann. Es ist dies bei dem ganz anders, der nicht in diesem Antennenraum ist, sondern der das tut, was man fatalerwei-se seit den 60er-Jahren die Diskurstheorie, um mit Michel Foucault zu reden, nennt. Diskurs heißt wörtlich: hin- und herrennen, aber nicht auf Empfang sein.»

Kugler: «Steiner hat immer ohne Manu-skript geredet. In den Stenografien spürt man seine Präsenz, aber die ist nicht im-mer am Anfang seiner Vorträge gleich da. Er muss sich durch den Raum tasten, das Publikum abtasten, um an den Punkt der Inspiration zu kommen. Für manche ist die Sprache Rudolf Steiners schwer greifbar.

Das liegt daran, dass sie nicht laboriert ist, nicht präpariert ist. Sie entsteht klanglich-lautlich, aus dem, was mit den Gedanken verbunden ist.»

Sloterdijk: «Steiners Lebenskurve endet ge-nau dort, wo das Medialwerden der Mas-sen mit Hilfe des Unterhaltungsrundfunks beginnt. 1923 beginnt es, 1925 stirbt Rudolf Steiner, 1930 hat jeder fünfte deutsche Haus-halt einen Radioempfänger und es entsteht eine neue Form der sozialen Synthesis über das Ohr. – Tonaufnahmen von Rudolf Stei-ner wären interessant gewesen: der Tonfall einer Stimme bei anwesender Evidenz.»

Matheo Kries lenkte das Gespräch auf die Entfaltung der Anthroposophie am Ende des 20. Jahrhunderts.

Kugler: «Es setzt sich jetzt etwas frei. Sehn-süchte, die mit direkter Demokratie oder ökologischen Dingen zu tun haben, da ist doch durchgedrungen, dass Steiner ein Bild entwickelt hat, das nicht nur wahr ist, son-dern auch Sinn macht. Er weist Zusammen-hänge auf, die von vielen aufgegriffen wur-den zu einem neuen Sinnkatalog. Das war in den 60er- und 70er-Jahren nicht möglich, die stark von der linken Philosophie geprägt waren, die sehr materialistisch war. Es geht um das Spiel zwischen Geist und Materie, man muss diese Gegensätze lieben können. Vielleicht ist Steiner früher von Anthroposo-phen zu moralisierend behandelt worden.»

Sloterdijk: «Die Zyklen der Lesbarkeit von Steiner hängen an der Geschichte der ‹Cool-ness›. Der Kälteeinbruch in die Sphäre der Geisteswissenschaften mit einer ganz an-deren Tragweite als das, was Paul Valery meinte, etwas altväterlich-cartesianisch: ‹Guter Geist ist trocken›. In den 20er-Jahren heißt es ‹Guter Geist ist kalt›. Wenn man diese Position als Hintergrund des 20. Jahr-hunderts wahrgenommen hat, dann wird einem sofort klar, dass ein System wie das steinersche immer wieder in Gefahr lau-fen muss, als uncool wahrgenommen zu werden. Ja, es ist der Gipfel an Uncoolness in mancher Hinsicht, auch wenn es bei nä-herem Hinsehen verblüffend kühle Züge darin gibt. Aber als Ganzes gehört es doch in den sogenannten Wärmestrom der refor-merischen Bewegung. Coolness will norma-lerweise mit Lebensverbesserung nichts zu tun haben. Der Zeitgeist ist heute so, dass er

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bestimmten Formen von Uncoolness wieder mehr Spielräume gewährt. Wenn der Rezi-pient so durchgekühlt ist, dass er ein paar zusätzliche Kalorien im Raum tolerieren kann, dann bricht, glaube ich, wieder eine Steiner-Stimmung an.»

Matheo Kries brachte ein, dass auch im De-sign eine Tiefe Sehnsucht nach Sinnaufla-dung bestehe, die die Berührungsängste zu Steiner abbaue. Auf seine Bitte nach einem Resumee, schloss Peter Sloterdijk:

«Ich glaube, Steiner ist wichtig und bleibt wichtig, weil er einer von denen war, die die Antennen ausgefahren haben – schon vor dem Rundfunk. Er hat eine Antennnenan-thropologie geschaffen, die wir nicht ohne Weiteres entbehren können. Seitdem hor-chen ja tatsächlich die Menschen in den Äther hinein und wollen erfahren, was zu tun ist. Martin Buber hat einen schönen Satz geprägt: ‹Wir horchen in uns hinein und wissen nicht, welch Meeresrauschen wir hören.› Mit anderen Worten: Die Sender sind noch nicht genau eingestellt. Gleichzeitig hat bei Steiner ein viel präziserer Empfang begonnen und er hört gewissermaßen im Äther einen Auftrag für eine Lebensreform.

Und es ist interessant: 100 Jahre später nach diesem verlorenen Jahrhundert, in spiritu-eller Hinsicht war es verloren, stehen wir wieder an diesem Punkt. Die Menschen fahren wieder die Antennen aus und wis-sen wieder nicht, welch Meeresrauschen sie hören. Der absolute Imperativ unserer Zeit ‹Du must dein Leben ändern› gilt nicht mehr nur christlich, buddhistisch oder stoisch dekodiert, sondern als Auftrag, eine Lebens-form zu entwickeln, die die Koexistenz der Menschen auf dem gefährdeten Planeten möglich macht. Wenn man die Antenne fei-ner einstellt, dann hört man das. Ich glaube, sehr viele Menschen empfinden das heute so, und Steiner ist ein idealer Transmitter für diese Botschaft.»

Aufgeschrieben und Zusammengefasst von Wolfgang Held, Jonas von der Gathen und Philipp Tok. Fotografie (Walter Kugler, links, und Peter Sloterdijk) von Wolfgang Held.

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Mit federndem Gang, zielstrebig mit einem schwingenden dunkel-blonden Zopf – so sieht man Philip Nelson auf der Straße. In einem vollen Gesicht blitzende blaue Augen, die ein halbes Leben lang Pinsel und Spachtel die Richtung geben. Heutige Augen müssen viel lesen, prüfen, verstehen und durchschauen, das gibt ihnen Abstand zur Welt – nicht bei Philip Nelson, sie sprühen Wohlwollen. Dabei hilft ihm sicher das amerikanische Blut, das den Blick jung hält. Sein Vater hat als Architekt an der Universität Arizona gearbeitet. Die Wüstenlandschaft sei es gewesen, die Philip Nelsons Kindheit ausgemacht habe. Tatsächlich sind es die Pole der Wüste – Sonne und Stein –, die seine Kunstwerke bestimmen. Es gibt kein Bild, bei dem er zu den Farben und Materialien nicht Quarzsand mischt, um «das Licht in die Bilder zu bringen», wie er sagt.

Im doppelten Sinne ‹malt› Nelson mit Steinen. Halbedelsteine und Edelsteine werden im Mörser gemahlen und finden dann auf die Leinwand. Es scheint widersprüchlich, aber die Farben gewin-nen so zugleich Transparenz und Tiefe. Dieses Wort war es auch, das Philip Nelson vor einigen Jahren im Gespräch mit Bodo von Plato und mir aussprach, als wir uns über den Weg der heutigen Kunst austauschten. «Mehr Tiefe.» Philip Nelson macht nicht viele Worte. Diesem Anspruch unterstellt er sich selbst, indem er die elementarste und zugleich schwierigste Aufgabe ergreift, die die Kunst bereithält: die Verwandlung der Materie. «Aller Stoff muss transformiert werden.» Er nimmt einen Flaschenverschluss in die Hand und sagt: «So etwas ist doch wunderschön, es ist auch verwandelt worden, in der Fabrik, unbewusst. Mit der Kunst hat man die Möglichkeit, es bewusst zu leisten – das ist etwas völlig anderes.» Und noch einmal kommt er auf den Quarz zu sprechen: «In unseren Computern ist viel Quarz verarbeitet, gefangenes

Licht. Ich arbeite mit Quarzsand, um eine Balance zu schaffen, um das Licht zu befreien.»

Karton, Schwefel, Teer, Stofffetzen oder Eisen, Keramik, Rost, ver-branntes Holz, Beton – alle diese Dinge, die mal mehr, mal weniger von ihrer Geschichte erzählen, finden auf seine Gemälde oder besser: in seine Gemälde. Sie erhalten jenseits ihrer Notwendigkeit einen Umkreis, in dem sie nicht mehr das eine, sondern etwas Neues, nie Dagewesenes meinen dürfen, wie die Schiffsplanke, die er in der Bretagne aufgelesen hat und die nun von einem Draht beschützt wird. Wie kann denn Draht beschützen? Ja, kann er.

Wer so wie Philip Nelson alles auf der Palette zulässt, betritt einen Raum grenzenloser Beliebigkeit, und Beliebigkeit ist der Feind der Kunst, denn was Kunst groß macht, ist die Bedeutung, ist die Einmaligkeit, dass etwas so ist und nicht anders sein kann. «Ich male aus dem Chaos, aber nie im Chaos», beschreibt Nelson diesen Zustand, aus der Unendlichkeit des Möglichen das Eigentliche zu schaffen, das jenseits der Sprache zu erzählen vermag oder den Betrachter anregt, seine Erzählung zu finden. Wie das große mit krümeligem Gold belegte Rund auf gelbem Grund, das auf einer gebogenen hervortretenden Treppe ruht. Sicher: Rundes Gold, das ist die Sonne, an der man sich nicht sattsehen kann. Endlich kann man in die Sonne blicken, ohne dass sie etwas von ihrer Er-habenheit verloren hätte. Aber was soll die Treppe, warum links und rechts unterschiedlich hohe Niveaus? Wer solch ein Bild kauft, will diese Frage beantworten oder vielmehr zu stellen lernen.

Viele von Philip Nelsons Bildern sind in einem Eisenrahmen gefasst, ein Halt, der die stille Kraft, die man in vielen Bildern findet, herausträgt und zugleich deren Wärme unterstützt. Ja,

Wolfgang Held

man geht tief in die erdePhilip nelson malt seit 30 Jahren und hat mit seinen Bildern und Skulpturen einen großen Kreis aufgebaut. Seine aktuelle Arbeit: abstrakte Bilder zu den Kulturepochen der menschheitlichen Entwicklung. Die ersten Bilder dieses Zyklus zeigt er in seiner Ausstellung.

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sie hätten ‹Power›, sagt Nelson mit dem kaum zu übersetzenden Begriff. Ein anderes Wort ist es, für das man umgekehrt keinen amerikanischen Ausdruck findet: ‹Güte›. In allen Bildern findet man sie. Trotz Brechungen und Brandstellen, trotz Klüften und 15 Kilogramm Beton auf einem Bild, immer diese Eigenschaft. Jedes Bild würde durch einen Feuerprozess gehen, so Nelson. Während er im freien Umgang mit den Stoffen am Bug des Zeitgeistes steht, ist in den Bildern etwas, das in seiner Innerlichkeit eine religiöse Dimension hat, an die Renaissance erinnert. Anders: Man findet in den Bildern nichts Böses. Man findet sehr wohl die Verletzung, den Riss, aber zugleich dessen Segen, die Perspektive.

Perspektive braucht Vertrauen, und das wächst nirgendwo so ele-mentar wie durch den Grund, auf dem man steht – ein Grund, der sich heute immer mehr entzieht. Vermutlich hat deshalb der Anthroposoph Jörgen Smit einer Studentin, die ihn wegen fortwäh-renden Angstgefühlen aufsuchte, den Rat gegeben, den Gempen hinaufzulaufen, um das, was trägt, unter die Füße zu bekommen. Heute, der Welt fremd geworden, gelingt es immer weniger, sich so des eigenen Seins zu vergewissern. Ja, selbst seelisch ist das Band gerissen: Was früh als ‹Mutter Erde›, als ‹Vaterland› Klang besaß und Halt schenkte, vermag einem heimatlosen Bewusstsein nichts mehr zu geben. Der menschliche Geist selbst scheint es zu sein, der auf sich gestellt seinen Boden zu finden sucht.

Dieses geistige Feld zu öffnen, zu dem, was so offensichtlich und zugleich so verborgen das Leben trägt, das kennzeichnet Philip Nelsons Arbeit. «Meine Bilder sind dazu da, die Menschen zu-sammenzubringen, denn die soziale Kunst ist die höchste Kunst», sagt er. Aber er meint damit, dass man nur dann eine Beziehung zum Menschen finden kann, wenn man Brücken zum Stoff, zum

Irdischen, zur Materie zu schlagen lernt. Diese Brücken müssen

in einer Zeit, in der das Wirkliche immer weniger mit Händen,

sondern vielmehr mit dem Geist zu fassen ist, ebenfalls geistige

Erfahrungen sein.

In der aktuellen Ausstellung zeigt Philip Nelson nun erste Ergeb-

nisse seines Vorhabens, zu den Kulturepochen der menschlichen

Geschichte einen Bilderkreis zu schaffen. Es basiert auf einem

40-jährigen Studium, ein Zeitraum, in dem seine Bibliothek um

etwa 1500 Bände zur Bewusstseinsgeschichte gewachsen ist. Sein

siebengliedriger Zyklus hat sicher zehn Jahre Genese hinter sich

und doch, so sagt Philip Nelson, sei er von dem Ergebnis überrascht.

Kraftvolle Farben in Schwarz, Türkis und Purpur, begrenzt von

strenger Geometrie. Was sind die Kulturepochen? Es sind Physio-

gnomien, Kräfte und Farben des Zeitlichen, die das im Menschen

zu prägen vermögen, was sein Freistes, sein Ungebundenes ist, das

Bewusstsein und seine Fußspuren in der äußeren Wirklichkeit.

So, wie die Erde, die Materie, die Füße trägt, ist es diese Struktur

in der Zeit, die den menschlichen Geist zu tragen vermag. Somit

bleibt Philip Nelson seiner Frage treu, der Frage nach dem, was

das Leben trägt, denn die Kulturepochen sind es, die das geistige

Leben des Menschen tragen.

Ausstellung: 29.10. bis 27.11.2011, Öffnungszeiten: Mi., Do., Fr., 15.30

bis 19.30 Uhr, Sa. und So., 13 bis 18 Uhr, Apéro: 13.11. um 11 Uhr,

Atelierhaus, Brunnweg 3, CH–4143 Dornach, Tel. +41 61 701 59 92

Fotografie von Monica Nelson im Atelier des Malers

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besprechungen

Andreas DelorAtlantis – nach neuesten hellsichtigen und wissenschaftlichen Quellen. 390 Seiten, € 25, Verlag Ch. Möllmann, Hamborn 2011

von Jens GökenEiN VERSUNKENES tHEmA

1 Von einem ‹Kampf um Atlantis› (Frankfurt a. M. 2004) kündete das

erste Buch, das Andreas Delor im Jahr 2004 veröffentlichte und damit seine trotz des 11. Septembers 2001 immer noch verschla-fenen Leser irritierte: «Was, wie bitte, ein Kampf? Wo denn ...?» Und tatsächlich, in anthroposophischen Kreisen drückte man sich wieder einmal davor, diesen – freilich geistigen – Kampf auch wirklich zu führen, dessen Ursachen und Brennpunkte Andreas Delor schonungslos offengelegt und damit zur Auseinandersetzung freigegeben hatte. Wieder einmal wurden Leistungen nicht (an)erkannt, wieder einmal fanden keine ernsthaften Gespräche statt, obwohl der Brandherd ganz im Zentrum aufloderte und im Sinne Delors etwa so charakteri-siert werden musste: Liegt unserem Herzen als Anthroposophen eigentlich inzwischen die materialistische Wissenschaft näher als die Geisteswissenschaft Rudolf Steiners?! Delors dringende Anfragen wurden nicht ernst genommen, und so zog sich der weite-re Kampf zurück auf das Feld, auf dem heute in der Tat so mancher geistige Kampf allein ausgetragen wird, nämlich in das Seelen-leben, Bewusstseinsleben eines einzelnen Menschen, Andreas Delors in diesem Falle. Und dieser tat etwas, das in anthroposo-phischen Kreisen alles andere als selbst-verständlich geworden ist, weil man auch dort inzwischen die staatlich abgesegneten Posten und satten Gehälter einem Leben am permanenten Abgrund vorzuziehen pflegt: Er nahm diesen Kampf, wie ehemals Zeyl-mans mit seiner Wegman-Arbeit, als seinen eigenen an, ließ ihn in sich toben und setzte sich mit seiner ganzen Existenz sieben Jahre lang diesem Kampf aus, um nun, im Jahr 2011, mit einem neuen Atlantis-Buch her-vorzutreten: ‹Atlantis nach neuesten hell-sichtigen und wissenschaftlichen Quellen, Band 1: Der südliche Auswanderungsstrom aus Atlantis› (Borchen 2011), dem ersten von

drei geplanten Bänden, an den sich freilich wieder einmal nur der immer verdienst-voller sich in die anthroposophische Ver-lagslandschaft stellende Verleger Christoph Möllmann herangewagt hat und welcher einen ersten Umriss dessen liefert, was dem Autor aus dem schmerzvollen Ringen mit den so tief hinabreichenden Atlantis-Fragen heraus aufzuscheinen begann.

2 Nun will ich ohne Umschweife zugeben: dass es auch mir nicht behagt, wenn

der Autor seine Überlegungen verschiede-nen Hellseherinnen vorlegt und diese dann ihre «hellen Sichten» auf die angefragten Aspekte zum Besten geben. Ist das nicht der Gipfel der Unselbstständigkeit, dass Andre-as Delor, statt seine Gedanken ganz in sich selber zur Klarheit zu bringen, sie von Hell-seherinnen bejahen oder verneinen lässt, um sie dann entweder weiterzuverfolgen oder aber entsprechend zu modifizieren? – Aber ich bin auch in der Lage, die Sache einmal anders herum zu sehen: Wenn wir als selber denkende Menschen Wissenschaftler nach ihren Forschungsergebnissen befra-gen und diese in unsere Erwägungen mit einbeziehen, dann ist das nicht nur legitim, sondern im wissenschaftlichen Arbeitspro-zess sogar geboten. Warum sollten wir mit den Forschungsergebnissen von Hellsichti-gen prinzipiell anders verfahren? Wenn wir Hellsichtige für geisteskrank halten, dann freilich, aber als Anthroposophen wissen wir, dass es in unseren Tagen immer mehr und mehr Menschen geben könnte, die über ein «natürliches Hellsehen» verfügen, sowie gewiss auch manche esoterisch geschulte Hellseher, die sich heute einfach nicht mehr so verstecken müssen wie früher im 20. Jahr-hundert. Diese Menschen sind da, treten seit der Jahrtausendwende auch verstärkt an die Öffentlichkeit und gehören gewiss nicht alle zu den verwirrten Irrgängern, deren ober-flächlich antrainierte Fähigkeiten zu einer babylonischen Sprachenverwirrung im ok-kulten Wahrnehmen beitragen, wie es sich ja teilweise bereits abzuzeichnen beginnt, auch wenn der eigentliche Schub dieser Ver-wirrungen noch bevorsteht. Man mag den Hellsichtigen darum vielleicht nicht gerne und schon gar nicht ohne Weiteres trauen, aber was zieren wir uns: Sie sind ein Faktum, mit dem wir fortan rechnen müssen!

3 Es kommt noch eins hinzu, und das ist entscheidend: Wenn wir nämlich

als anthroposophische Erkenntnistheore-

tiker oder Soziale-Dreigliederer, vielleicht auch als Pädagogen oder goetheanistische Naturforscher meinen, wir wollen mit sol-chem okkulten Schmuddelkram nichts zu tun haben, sondern bei unserer glas-klaren, sauberen Methodik bleiben, dann haben wir leicht reden, denn bis zu einem gewissen Punkt kommen wir auf diesen Ge-bieten noch immer ganz gut ohne solchen «Schmuddelkram» aus. Für den Atlantisfor-scher sieht dies aber von Anfang an in dop-pelter Hinsicht anders aus: Denn erstens ist die für ihn so wichtige Ethnologie voll von okkulten Phänomenen, die im Leben der Na-turvölker zur Alltagsrealität gehören und die zu ignorieren ein moderner Völkerkundler sich nicht mehr leisten kann, wenn er sei-nem Forschungsgegenstand ernsthaft und nicht mehr mit der ignorantisch-imperialis-tischen Geste des 19. Jahrhunderts begegnen möchte. Und zweitens liegt die Realität der alten Atlantis in einer Vergangenheitsstufe unseres Erdplaneten, in der nicht nur das Bewusstsein von uns Menschen, sondern auch unser äußeres Erdensein noch ganz anders gearteten Gesetzen unterlag als unser heutiges. Zumindest als Anthropo-sophen sollte uns dies bewusst sein und sollten wir endlich den Mut haben, nach den Lebensbedingungen einer Nebel-Wasser-Atmosphäre zu fragen, in der die Menschen schwebend herumschwammen, statt wie heute mit festen Tritten auf dem Erdboden herumzustapfen. Wir sollten fragen, nach welchen Gesetzen sich jenes Wasser und jene Luft bewegten, was dies für die Ver-teilung der Gewässer, der Seen und Meere und Flüsse bedeutete – und was es eigent-lich auf sich hat mit der von Rudolf Steiner beschriebenen «Weichkörprigkeit» von uns Menschen in jenem atlantischen Zeitalter. Wir können all solchen Fragen natürlich ausweichen – und dann die Mär vom Affen-menschen der Establishment-Wissenschaft zu teilen beginnen und zur Beruhigung aller bürgerlich bestallten Gemüter behaupten, als «moderne» Anthroposophen gingen auch wir selbstverständlich davon aus, dass Affen und Menschen einen gemeinsamen Vorfahren haben (der, da nicht Mensch, also Tier sein muss!) und dass es nicht der Mensch ist, der das ganze Tierreich aus sich entlassen hat, wie es Rudolf Steiner immer wieder sehr radikal vertreten hat. – Oder wir können, als «moderne» Esoteriker, die Tristesse solchen Affenmenschentums ge-gen die Wahnbilder einer vorsintflutlichen

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Hightechzivilisation eintauschen, die nach mahabharatischen Atomkriegen mit dem Kontinent Atlantis untergegangen ist. Wir können aber auch sagen, wir glauben bei-des nicht, obwohl an beidem auch Wahres dran ist: Der Mensch war ein nach außen hin viel primitiverer, stark mit der Natur verbundener, der aber über ein reiches spirituelles Innenleben verfügte und aus diesem heraus allerdings auch wieder die Natur magisch-ätherisch zu beherrschen wusste, dessen Kultur also durch und durch eine magisch-ätherische Zivilisation war, in der die Gesetze der Schwerkraft durch Beherrschung der Leichtekräfte immer wieder auf erstaunliche Weise überwun-den und wie mühelos riesige Felsbrocken bewegt und bearbeitet und «Boote» als Fahr-zeuge durch die Luft-Wasser-Atmosphäre gesteuert werden konnten. Nicht weil dies sensationell klingt, sondern weil immer mehr und mehr Fakten aus Archäologie, Ethnologie, Mythologie und Geologie, wenn man sie im Sinne Rudolf Steiners wirklich unbefangen anzuschauen bereit ist, dafür sprechen, dass die Welt der atlan-tischen Menschheit so gewesen ist, darum entwirft Andreas Delor hier solche Bilder.

4 Andreas Delor ist einen weiten Weg gegangen: Bereits als Jugendlicher

schob er die Kontinente im Sinne von Alfred Wegener zusammen und begeisterte sich für die Abenteuerfahrten von Thor Heyer-dahl, der ihm zur Schlüsselfigur wurde, die spätatlantische Kultur noch einmal ganz frisch und unbefangen neu zu entdecken als eine Kultur der Schilfboote und des See- und Wasserlebens auf schwimmenden Schilfin-

seln. Damit ist nicht, wie Delor selber auch zwischenzeitlich geliebäugelt hatte, das geologische Problemthema des im Atlan-tik gelegenen und ebendort versunkenen Kontinents, den Rudolf Steiner immer wie-der ausdrücklich so verortet hat, von dem aber heute kaum noch jemand etwas wissen will, elegant vom Tisch gefegt (im Gegen-teil: Delor verzeichnet die Bruchstücke von Spätatlantis nicht mehr ausschließlich im Norden, sondern durchaus auch wieder be-trächtlich im südlicheren Atlantikraum!), aber es ist eine auf der lebendigen Schilf-pflanze gegründete Kulturform erahnbar geworden, die so bisher in unseren Schul-büchern noch nicht vorkommt. – Was aber Andreas Delor vor allem zu unternehmen beginnt und was sich erst nach der Kenntnis von Band 3 in seinem vollen Umfang erah-nen lassen wird, ist der intellektuelle Kraft-akt, in das schier unübersehbare Geflecht der alten Völker und ihrer Wanderungen, Begegnungen, Kämpfe und Vermischun-gen eine gewisse Ordnung und Übersicht hineinzubringen. Dies konnte vor sieben Jahren nur erst im allzu Groben gestam-melt werden, während sich jetzt völlig neue Ordnungsperspektiven herauszuschälen beginnen, von denen wir bisher nichts ah-nen konnten. Was bei Rudolf Steiner als der südliche Auswandererstrom aus der Atlantis bezeichnet wird, erhält hier erstmals diffe-renziertere Konturen und erweist sich als weltweiter Impulsgeber der Megalithkultur, welche also ausdrücklich nicht nordisch, sondern südlich-mediterran verortet wer-den muss! Außerdem kann Delor zum Bei-spiel zeigen, dass nicht die Indianer von den Mongolen abstammen, sondern die Bewe-gung genau umgekehrt zu denken ist! Un-zählige Forschungsergebnisse sowohl aus den etablierten als auch und besonders aus den Außenseiterwissenschaften, die hier nämlich mit besonderem Eifer geforscht und gefunden haben, hat Delor in seine Überlegungen einbezogen und in seine Gesamtschau integriert, die sich in diesem Band vor allem mit der atlantischen Spät-zeit und den Wellen des Untergangs befasst, um dann in Band 2 und 3 den nördlichen Auswandererstrom und die viel früheren atlantischen Lebensumstände auszuloten.

Es war der goetheanistische Geologe Dank-mar Bosse, der 2002 das geologische Tor zur alten Atlantis wieder öffnete, und es ist nun, neun Jahre später im Jahr 2011, And-

reas Delor, der das völkerkundliche Tor weit aufgestoßen hat und einen Blick freigibt auf eine Welt, die so ganz anders war als unse-re heutige und die wir doch auch kennen müssen, wenn wir das Wiedererwachen magisch-ätherischer Wirklichkeiten an vielen Orten unserer Erde nicht den Grau- und Schwarzmagiern überlassen, sondern es christlich künstlerisch und gedankenklar mitgestalten wollen.

Eine ungekürzte Fassung dieser Bespre-chung erscheint in ‹Gegenwart› 4/2011

Rezitation: Im Auge des Sturms. Rudolf Stei-ner und seine Begegnungen mit Dichtern und Künstlern im Berlin der Jahrhundert-wende: 1897 bis 1914, Christine Görner, Beate Krützkamp, Ursula Ostermai, Marija Ptok, 15. Oktober, Scala Basel

von GabrieLa JünGeLmitEiNANDERWEBEN im SPRAcHLicHEN

Der Untertitel des Programms ‹Im Auge des Sturms› klingt wie eine wissenschaftliche Studie: ‹Rudolf Steiner und seine Begegnun-gen mit Dichtern und Künstlern im Ber-lin der Jahrhundertwende: 1897 bis 1914›. Von Anfang an hat das Programm jedoch einen flotten, spritzigen und auch herben Charme. Wir werden zunächst auf das Berlin der Jahrhundertwende literarisch einge-stimmt, etwa durch das Gedicht ‹Berlin› von Christian Morgenstern: «Ich liebe dich bei Nebel und bei Nacht [...]» Besonderes eindrucksvoll war, dass die jeweilige Künst-lerpersönlichkeit, um die es gerade ging, auf

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seiner Rhapsodenkunst – und man hat den Eindruck: mit diesen Überlegungen auch ‹erden›. Mit differenzierter Mimik und gut gesetzten Gesten und einer ausdrucksstar-ken Körperhaltung (oft vorn auf dem Stuhl sitzend) bringt er Lebendigkeit und eine lockere Natürlichkeit in das Gespräch. Auch die differenzierte Tempogestaltung macht fast vergessen, dass es sich ab der Begrü-ßung um eine szenische Lesung handelt.

Ion in seiner frischen Jugendlichkeit wirkt ebenso natürlich. Seine Bewegungen spre-chen vom spontanen, begeisterungsfähigen jungen Rhapsoden, der sich gelegentlich im Stuhl locker anlehnt – also nicht so gedan-kenbewusst wie Sokrates aufrecht bleibt. Christian Richter zeigt Ion in seiner feinen Ehrfurcht gegenüber Sokrates, wie er zuhört und ihm immer wieder herzlich zustimmt. Dabei hat er ja oft nur kurze Antworten zu geben, zustimmend oder nachforschend. Doch einmal lässt ihm Sokrates das Rede-feld, als ihm angeblich Verse von Homer nicht einfallen. Ion entfaltet sogleich seine begeisterte, lebendige Sprachgewandtheit und Ausdruckskraft. Man taucht sofort ganz in die geschilderte Szene ein. Hier wie auch sonst konnte meine Seele mit großem Inte-resse und Freude an Inhalt und Gestaltung mitschwingen. Gegen Ende provoziert Ion zweimal Sokrates, indem er gegen seine zwingenden Gedankenfolgen rebelliert und beispielsweise auf die typische Ent-scheidungsfrage des Sokrates antwortet: Es wäre weitaus «schöner» für einen gött-lichen (statt unrechtlichen) Mann gehalten zu werden, statt zu sagen, er wolle für einen göttlichen gehalten werden.

Die einzelnen Gedankengänge gliedert die Musik (Leier: Michael Heim): einfache, melodiöse Tonfolgen von Bevis Stevens. Sie nehmen die Stimmung des Gespräches auf, erweitern sie auch zum Teil, wie eine fließende Verbindung, ein ‹Fluss› von einer Stufe zur weiteren Stufe der Erkenntnis.

Warum aber heute Platons ‹Ion›? Weil sich die Frage stellt, ob es Sprache, die, «von Gott begeistert», vorgetragen, auch heute gibt. Peter Engels hat uns eingeladen, uns die-se Frage zur michaelischen Zeit zu stellen. Nur wir Menschen können sie ergreifen, und wir selbst brauchen sie, um wirklich Menschen zu werden.

Weitere Aufführung: 17. November 2011, 20 Uhr, Goetheanum.

einer Tafel abgebildet war: Blatt für Blatt wurde man von Angesicht zu Angesicht mit dem Künstler vertraut.

Aus Briefen und anderen Dokumenten tru-gen die Sprachgestalterinnen tiefsinnige Gedanken, groteske Aussprüche, künstle-risch-komische Episoden und anekdoti-sche Begebenheiten der Berliner Künstler-Boheme vor. Einigen dieser Künstler war Rudolf schon in Weimar begegnet, zum Beispiel Otto Erich Hartleben. Seit Steiner Schopenhauer als ein «borniertes Genie» bezeichnet hatte, entwickelte sich eine tiefe Freundschaft zu Hartleben. Als Hartleben Peter Hiller in den frühen Morgenstunden im Berliner Tiergarten auf einer Bank schla-fen sah, suchte er mit ihm ein Zimmer. In der darauffolgenden Nacht traf Hartleben Hille wieder im Tiergarten auf der Bank. Sie stellten fest, dass sie sich beide die Ad-resse der schon für zwei Monate im voraus bezahlten Wohnung nicht gemerkt hatten.

Jede der zehn Künstlerpersönlichkeiten tauchte in ihrer Eigenart auf, darunter Paul Scheerbath mit seiner ironischen Selbstein-schätzung, er sei der «einzige konsequente Alkoholiker», oder Erich Mühsam, der sich als «größter Künstler, der mit Grazie nichts tut», verstand. Es war spannend nachzuvoll-ziehen, wie Rudolf Steiner in das Wesen dieser Menschen schaute und erkannte, was zum Beispiel in Scheerbath für ein feiner Geist, «heller Kopf» und «goldenes Herz» lebte. Und so förderte Steiner beispielsweise Else Lasker-Schüler, indem er zehn ihrer neuen Gedichte im von ihm redigierten ‹Ma-gazin für neue Literatur› veröffentlichte und so einen Zugang zu ihrer tiefen, poetischen Seele ermöglichte. Leuchtete bei Marie von Sivers und Christian Morgenstern eine neue Geistigkeit auf, so ist doch bei allen ein Rin-gen um den Geist und die Suche nach ihm erlebbar, eine Suche, die Rudolf Steiner in feinsinniger Güte und mit Liebe in sich auf-nahm.Durch den Ausbruch des Ersten Welt-kriegs 1914 war dem ein jähes Ende bereitet. Für Steiner wurde nun Dornach schick-salsmäßig der Mittelpunkt seiner Arbeit.

So, wie Steiner die Individualität eines je-den zu erfassen vermochte, gaben ihnen die Sprecherinnen durch ihre Persönlich-keit mit Lebendigkeit und Echtheit eigene Farbtöne. Ihr Aufeinanderlauschen und das Bauen an einem gemeinsamen Bild in der Art ihres Sprechens, Zuhörens und Stand-orteinnehmens war überzeugend – denn all

die Künstler ‹blühten› vor einem noch ein-mal lebendig auf und konnten sich ‹ausspre-chen›. Ein Bild für das Miteinanderweben im Sprachlichen war am Schluss noch einmal Morgensterns Gedicht ‹Berlin›: In das solisti-sche Sprechen stimmten nach und nach die anderen Stimmen ein, bis sich der Sprech-raum wieder auflöste, als die vier Frauen, im Weitersprechen, allmählich abgingen.

Aufführungen: 29. Oktober, 20 Uhr, Goethea-num, Dornach (CH); 11. November, 20.15 Uhr, Seminar für Waldorfpädagogik, Hamburg (DE); 12. November, 20 Uhr, Rudolf-Steiner-Haus Hamburg.

Kontakt: [email protected]

Szenische Lesung: Platons ‹Ion›, mit Peter Engels und Christian Richter, 13. Oktober 2011 am Goetheanum

von GabrieLa JünGeL<PLAKAt AUF mEiNEm ScHREiBtiScH>DURcH SPRAcHE mENScH WERDEN

Auf Anfang: Leierklang. Und ein still für sich selbst stehender Sokrates (Peter En-gels), mit dem Rücken schräg zum Pub-likum, den Blick nach oben. Zu den Ster-nen? Ion (Christian Richter) erscheint mit jugendlichem Schwung und wird von Sok-rates sogleich herzlich begrüßt. Zwischen beiden entwickelt sich auf Einladung des Sokrates ein Gespräch – oder müsste man sagen: vorwiegend ein Gedankenmonolog des Sokrates? Denn Ion, der Rhapsode, ist es eigentlich, der etwas zu erzählen hätte: Er hat gerade den ersten Preis beim Wett-streit beim Fest des Asklepion in Epidau-ros gewonnen. Sokrates indes, von Engels dargestellt als ein herzlich warmer, väter-licher ‹Professor›, möchte den jungen Ion zur Klarheit führen, zu neuer Erkenntnis

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Wolfgang held

Warum Wasser?

Was würde geschehen, wenn man die heu-tige Wohlstandskultur wie ein fremder von außen betrachten würde? besonders irri-tieren würde wohl der Wasserhahn. Was in der natur als Meer, fluss und regen ein kosmos an bewegung, ein ‹sensibles chaos› ist, lässt sich mit einem Male in Wanne und becken leiten, per hebel ein und ausschal-ten. an der alltäglichkeit des Wasserhahns lässt sich die entfremdung von der natur beziffern. vermutlich gibt es kaum etwas, für das Goethes ausspruch ‹Wahrlich, man weiß nicht, was man aneinander hat, wenn man sich immer hat› solche Gültigkeit besitzt wie für die verfügbarkeit des Wassers in den industrienationen. Dass in afrika oder dem nahen osten kriege drohen um das kostbare nass, dass die europäische kul-tur einem fluss ihre existenz verdankt, all das gehört zum Wasser. es ist ein stoff, der wie seine beschaffenheit alle Lebensfelder durchfließt, vom christlichen sakrament auf der stirn über den schluck aus dem Glas bis zum kühlkreislauf der automotoren. Wenn zur heutigen Lebensgestalt gehört, im all-täglichen das besondere, im profanen das heilige zu entdecken, nirgends kann man so zum Goldgräber werden wie beim Wasser – ein offenbares Geheimnis an Lebenskraft. Mit bildern von charlotte fischer und redak-tioneller koordination von hans-christian Zehnter lädt deshalb das ‹Goetheanum› ein, sich dem offenbaren Geheimnis des Wassers zu nähern oder – wie man in frühen tagen das Wasser eroberte – hineinzuspringen.

Das GoetheanUMnr. 42 | 2011

wasser

hans-christian ZehnterWasser seGnet

Zwischen element und Äther 2

volker harlanWas ist Wasser?

Wasser und die trinität 4

Michael Jacobi, christian LiessströMenDes Wasser

eine herausforderung für unser Denken 6

Linda thomasWasser reiniGt

Wasser fließt überall hin, verbindet, nimmt schmutz auf. selbstloser geht es nicht. 9

norbert pfennigDie WeLt Des Wassers

Wasser als universelles Mutterelement 10

Jörg soetebeeraLLes fLiesst

‹Wasser als element› wird zu ‹Zeit als erkenntnismedium› 12

Manfred schleyer, christine sutter-picariello, peter stolz, Dorian schmidt

QUaLitÄt von MineraLWasserGlas- oder pet-flaschen –

ein Qualitätsvergleich mit drei Methoden 14

almut bockemühlWas sinGen Die WasserGeister?

Die bilderwelt des Wassers 16

peter sLoterDiJk über rUDoLf steiner 20

Wolfgang heldMan Geht tief in Die erDe

Zu besuch beim Maler philip nelson 24

Drei besprechUnGen 26buch: ‹atlantis›

rezitation: ‹im auge des sturms› szenische Lesung: ‹ion›

ein ticker 20