DAS HAMBURGER WELTERBE · schmuck des Bildhauers Richard Kuöhl versehen, der zudem auch die...

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Das Kontorhausviertel Das nördlich des Zollkanals lie- gende, vorwiegend in den 1920er und 1930er Jahren ent- standene Kontorhausviertel ist mit seinen überwiegend groß- maßstäblichen, teilweise block- füllenden Gebäuden mit Klinker- fassaden in expressionistischen und sachlichen Formen von ei- ner bis heute erlebbaren großen Homogenität geprägt. Es reprä- sentiert als erstes reines Büro- viertel auf dem europäischen Kontinent eine Verdichtung bis- heriger Erfahrungen in der Ge- staltung und Konzeption von Kontorhäusern. Die Gebäude der Kernzone, das Chilehaus, der Meßberghof, der Sprinkenhof und der Mohlenhof, die ein städtebauliches Ensemb- le bilden, stechen in qualitativer Hinsicht hervor. Besonderer Wert wurde auf flexible Grundrisse ge- legt, das heißt, tragende Innen- wände sollten möglichst ver- mieden werden, weshalb die Kontorhäuser in Skelettbauweise errichtet und die Erschließungen und Sanitärräume zu kompakten Kernzonen zusammengefasst wurden. Kennzeichnend für die Hamburger Kontorhaus-Tradition war zum einen eine moderne Er- schließung mit Hilfe von Pater- nostern, zum anderen der hohe Anspruch bei der Gestaltung der Gebäude. Dieser äußert sich so- wohl in künstlerischem Bau- schmuck und in sorgfältig gestal- teten, teilweise sehr aufwändig detaillierten Klinkerfassaden als auch in der repräsentativen Aus- stattung der Vestibüle und der Treppenhäuser, bei der bisweilen ein geradezu ostentativer gestal- terischer Aufwand betrieben wurde. Damit weisen diese Bauten hohe konzeptionelle und gestalterische Qualitäten auf, wie sie vergleichbar seinerzeit nur in den USA zu finden waren. Während aber die Büro- hausarchitektur dieser Zeit interna- tional noch durch den Beaux-Arts- Stil beziehungsweise andere historisierende Formen geprägt wurde, wiesen die Hamburger Bau- ten bereits moderne Klinkerfassa- den in expressionistischen Formen auf, die beim Chilehaus und beim Sprinkenhof eine kaum noch zu überbietende gestalterische und handwerkliche Virtuosität erlangten. Der Meßberghof, der weitgehend ohne Dekorationen und Gliederun- gen errichtet wurde, sodass schließlich kaum mehr als das flächige Klinkermauerwerk übrig blieb, war, auch international be- trachtet, eines der ersten Gebäude, die der Neuen Sachlichkeit den Weg ebneten. Der Mohlenhof mit seinen relativ schlichten, flächigen Fassaden kann sogar schon der Neuen Sachlichkeit zugerechnet werden. Die Bauten der Kernzone des Kontorhausviertels gehören da- mit auch im internationalen Ver- gleich zu den bedeutendsten Leis- tungen der Baugattung Bürohaus der 1920er Jahre und sind zudem auch als Werke bedeutender Archi- tekten von hohem künstlerischem Rang. 13 Treppenhäuser: Meßberghof (links), Sprinkenhof (rechts) Das Chilehaus Das 1922 - 1924 von Fritz Höger errichtete Chilehaus, das in kei- nem Standardwerk über die Archi- tektur des 20. Jahrhunderts fehlt, gilt als eine Ikone des Expressio- nismus in der Architektur. Diese Bedeutung verdankt es sowohl der charakteristischen Detaillie- rung seiner Backstein-Fassaden als auch seiner signifikanten Form mit der Überbauung der Straße Fischertwiete und der S-linienför- mig geschwungenen Fassade am Meßberg, vor allem aber der an einen Schiffsbug erinnernden Spitze im Osten. Indem er die Möglichkeiten des Stahlbetonbaus nutzte und diese mit traditionell gemauerten Flä- chen verband, entwickelte Höger mit dem Chilehaus zudem einen modernen, richtungweisenden Baukörper. Mit einer kaum zu überbietenden gestalterischen und handwerklichen Virtuosität schuf er mit dem Material Back- stein eine moderne Bürohausar- chitektur, wie sie auch internatio- nal gesehen ohne Vorbilder war. Höger nutzte dabei sowohl die starke Spiegel- und Reflexwirkung der unregelmäßig gebrannten Klinker als auch den durch die Innenraumgestaltung bedingten kleinachsigen Pfeilerrhythmus für die künstlerische Gestaltung der Fassaden. Im Inneren erlaubte die Konstruktion die für ein modernes Miet-Kontorhaus unverzichtbare flexible Grundrisseinteilung, die an die unterschiedlichen Nutzer angepasst werden konnte. Die enge Reihung der Pfeiler ergibt in der Schrägansicht eine ruhige, fensterlos erscheinende Wandflä- che, die die Monumentalität des Baues verstärkt. Die im 45°-Win- kel aus der Fassade hervortreten- den Ziegelpfeiler sind durch Dre- hung jeder 7. Backsteinschicht in sich rhythmisiert, sodass sich in der nahen Schrägsicht auf die Fas- sade ein diagonales Muster auf der von den Pfeilern gebildeten Wand ergibt. Zusätzlich zu seiner kunstvollen Wandgestaltung ist der Bau mit baukeramischem Fassaden- schmuck des Bildhauers Richard Kuöhl versehen, der zudem auch die Terrakotta-Ausstattung der repräsentativen Eingangsbereiche und Treppenhäuser schuf. 16 Chilehaus 17 Chilehaus „Schiffsbug“ und Fassadendetails 18 Chilehaus Grundriss 19 Chilehaus Eingangsbereich Impressum Abbildungsnachweis 1 L.Wendemuth, W. Böttcher, Der Hafen von Hamburg, Hamburg 1928, Meissner & Christiansen 2 Längsschnitt durch ein Altham- burger Bürgerhaus; Katharinenstra- ße 10/11, Hermann Hipp, Freie und Hansestadt Hamburg, Köln 1989 Grundriss Althamburger Bürger- haus Katharinenstraße 10, Rudhard, Wolfgang, Das Bürger- haus in Hamburg, Tübingen 1975 3 Plan der Brookinseln vor dem Abbruch der Bebauung 1883, unten: mit Veränderungen durch den Bau der Speicherstadt mit farbiger Markierung der geplanten und verwirklichten Bauabschnitte: Rot, 1885-88, Blau,1891-96, Grün, 1899-1927. Die lilafarbenen Blöcke auf der Ericusspitze wurden nicht realisiert. Die Hamburger Freihafen-Lagerhausgesellschaft 1885–1910. Denkschrift zum 25-jährigen Jubiläum, Hamburg 1910 4 Architekten- und Ingenieur-Verein zu Hamburg (Hrsg.), Hamburg und seine Bauten, 1928 6 HHLA Immobilien 7 Aus dem Hamburger Freihafen- gebiet, Hamburg 1888, Strumper & Co. 9 Carl Koppmann 15 Wolfgang Voigt 16 Union Invest Real Estate 17 Chilehaus 1924, Reproduktion eines Fotos der Gebrüder Dransfeld Detail vom Chilehaus, Wikimedia Commons, Foto: Wolfgang Meinhart 18 Zentralblatt der Bauverwal- tung 45, 1925 Alle anderen Fotos: Staatsarchiv, Sabine Ganczarsky, Nicolai Wieckmann Texte und Redaktion Rita Clasen Dr. Agnes Seemann Layout Rita Clasen Bianca Flamming Bernd Paulowitz Welterbekoordinator Kulturbehörde Denkmalschutzamt Große Bleichen 30 20354 Hamburg [email protected] www.hamburg.de/welterbe V.i.S.d.P.: Andreas Kellner © 2017 15 Mohlenhof 14 Sprinkenhof 12 Meßberghof Altstadt Burchardplatz Johanniswall Depenau Niederbaumbr. Baumwall Kehrwieder Meßberg Brooktorkai Am Sandtorkai Willy-Brandt-Straße Bei den Mühren Ludwig-Erhard-Straße Oberbaumbrücke Kehrwiedersteg Am Sandtorkai fleet Wand- rahms- fleet Brooksfleet Kehrwieder- Oberhafen Ericusgraben Brooktorhafen brookfleet Holländisch- Zollkanal Binnenhafen Zollkanal Sandtorhafen Elbe Magdeburger Hafen X W S V U R P Q H O G N M E L D K 1 3 4 5 8 9 10 11 12 13 1a 7 6 2 Projektion: UTM32 0 50 100 150 200 250 Meter Karte zum Welterbeantrag Speicherstadt und Kontorhausviertel mit Chilehaus Freie und Hansestadt Hamburg Kulturbehörde Denkmalschutzamt Lagebezugssystem : ETRS89 Kartenhintergrund: DSGK (LGV, Oktober 2011) ¸ 1 Sichtachsennummer Legende Speicherstadt Nominierte Stätte Flächen/Außenanlagen Wasserflächen Pufferzone Sichtachsen Hamburg DAS HAMBURGER WELTERBE SPEICHERSTADT UND KONTORHAUSVIERTEL MIT CHILEHAUS

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Das Kontorhausviertel

Das nördlich des Zollkanals lie-gende, vorwiegend in den 1920er und 1930er Jahren ent-standene Kontorhausviertel ist mit seinen überwiegend groß-maßstäblichen, teilweise block-füllenden Gebäuden mit Klinker-fassaden in expressionistischen und sachlichen Formen von ei-ner bis heute erlebbaren großen Homogenität geprägt. Es reprä-sentiert als erstes reines Büro-viertel auf dem europäischen Kontinent eine Verdichtung bis-heriger Erfahrungen in der Ge-staltung und Konzeption von Kontorhäusern.

Die Gebäude der Kernzone, das Chilehaus, der Meßberghof, der Sprinkenhof und der Mohlenhof, die ein städtebauliches Ensemb-le bilden, stechen in qualitativer Hinsicht hervor. Besonderer Wert wurde auf fl exible Grundrisse ge-legt, das heißt, tragende Innen-wände sollten möglichst ver-mieden werden, weshalb die Kontorhäuser in Skelettbauweise errichtet und die Erschließungen und Sanitärräume zu kompakten Kernzonen zusammengefasst wurden. Kennzeichnend für die Hamburger Kontorhaus-Tradition war zum einen eine moderne Er-schließung mit Hilfe von Pater-nostern, zum anderen der hohe Anspruch bei der Gestaltung der Gebäude. Dieser äußert sich so- wohl in künstlerischem Bau-schmuck und in sorgfältig gestal-teten, teilweise sehr aufwändig detaillierten Klinkerfassaden als auch in der repräsentativen Aus-stattung der Vestibüle und der Treppenhäuser, bei der bisweilen ein geradezu ostentativer gestal-terischer Aufwand betrieben wurde.

Damit weisen diese Bauten hohe konzeptionelle und gestalterische Qualitäten auf, wie sie vergleichbar seinerzeit nur in den USA zu fi nden waren. Während aber die Büro-hausarchitektur dieser Zeit interna-tional noch durch den Beaux-Arts-Stil beziehungsweise andere historisierende Formen geprägt wurde, wiesen die Hamburger Bau-ten bereits moderne Klinkerfassa-den in expressionistischen Formen auf, die beim Chilehaus und beim Sprinkenhof eine kaum noch zu überbietende gestalterische und handwerkliche Virtuosität erlangten. Der Meßberghof, der weitgehend ohne Dekorationen und Gliederun-gen errichtet wurde, sodass schließlich kaum mehr als das fl ächige Klinkermauerwerk übrig blieb, war, auch international be-trachtet, eines der ersten Gebäude, die der Neuen Sachlichkeit den Weg ebneten. Der Mohlenhof mit seinen relativ schlichten, fl ächigen Fassaden kann sogar schon der Neuen Sachlichkeit zugerechnet werden. Die Bauten der Kernzone des Kontorhausviertels gehören da-mit auch im internationalen Ver-gleich zu den bedeutendsten Leis-tungen der Baugattung Bürohaus der 1920er Jahre und sind zudem auch als Werke bedeutender Archi-tekten von hohem künstlerischem Rang.

13 Treppenhäuser: Meßberghof (links), Sprinkenhof (rechts)

Das Chilehaus

Das 1922 - 1924 von Fritz Höger errichtete Chilehaus, das in kei-nem Standardwerk über die Archi-tektur des 20. Jahrhunderts fehlt, gilt als eine Ikone des Expressio-nismus in der Architektur. Diese Bedeutung verdankt es sowohl der charakteristischen Detaillie-rung seiner Backstein-Fassaden als auch seiner signifi kanten Form mit der Überbauung der Straße Fischertwiete und der S-linienför-mig geschwungenen Fassade am Meßberg, vor allem aber der an einen Schiffsbug erinnernden Spitze im Osten.

Indem er die Möglichkeiten des Stahlbetonbaus nutzte und diese mit traditionell gemauerten Flä-chen verband, entwickelte Höger mit dem Chilehaus zudem einen modernen, richtungweisenden Baukörper. Mit einer kaum zu überbietenden gestalterischen und handwerklichen Virtuosität schuf er mit dem Material Back-stein eine moderne Bürohausar-chitektur, wie sie auch internatio-nal gesehen ohne Vorbilder war.

Höger nutzte dabei sowohl die starke Spiegel- und Refl exwirkung

der unregelmäßig gebrannten Klinker als auch den durch die Innenraumgestaltung bedingten kleinachsigen Pfeilerrhythmus für die künstlerische Gestaltung der Fassaden. Im Inneren erlaubte die Konstruktion die für ein modernes Miet-Kontorhaus unverzichtbare fl exible Grundrisseinteilung, die an die unterschiedlichen Nutzer angepasst werden konnte. Die enge Reihung der Pfeiler ergibt in der Schrägansicht eine ruhige, fensterlos erscheinende Wandfl ä-che, die die Monumentalität des Baues verstärkt. Die im 45°-Win-kel aus der Fassade hervortreten-den Ziegelpfeiler sind durch Dre-hung jeder 7. Backsteinschicht in sich rhythmisiert, sodass sich in der nahen Schrägsicht auf die Fas-sade ein diagonales Muster auf der von den Pfeilern gebildeten Wand ergibt.

Zusätzlich zu seiner kunstvollen Wandgestaltung ist der Bau mit baukeramischem Fassaden-schmuck des Bildhauers Richard Kuöhl versehen, der zudem auch die Terrakotta-Ausstattung der repräsentativen Eingangsbereiche und Treppenhäuser schuf.

16 Chilehaus

17 Chilehaus „Schiffsbug“ und Fassadendetails

18 Chilehaus Grundriss 19 Chilehaus Eingangsbereich

Impressum

Abbildungsnachweis

1 L.Wendemuth, W. Böttcher, Der Hafen von Hamburg, Hamburg 1928, Meissner & Christiansen

2 Längsschnitt durch ein Altham-burger Bürgerhaus; Katharinenstra-ße 10/11, Hermann Hipp, Freie und Hansestadt Hamburg, Köln 1989

Grundriss Althamburger Bürger-haus Katharinenstraße 10, Rudhard, Wolfgang, Das Bürger-haus in Hamburg, Tübingen 1975

3 Plan der Brookinseln vor dem Abbruch der Bebauung 1883, unten: mit Veränderungen durch den Bau der Speicherstadt mit farbiger Markierung der geplanten und verwirklichten Bauabschnitte: Rot, 1885-88, Blau,1891-96, Grün, 1899-1927. Die lilafarbenen Blöcke auf der Ericusspitze wurden nicht realisiert. Die Hamburger Freihafen-Lagerhausgesellschaft 1885–1910. Denkschrift zum 25-jährigen Jubiläum, Hamburg 1910

4 Architekten- und Ingenieur-Verein zu Hamburg (Hrsg.), Hamburg und seine Bauten, 1928

6 HHLA Immobilien

7 Aus dem Hamburger Freihafen-gebiet, Hamburg 1888, Strumper & Co.

9 Carl Koppmann

15 Wolfgang Voigt

16 Union Invest Real Estate

17 Chilehaus 1924, Reproduktion eines Fotos der Gebrüder Dransfeld

Detail vom Chilehaus, Wikimedia Commons, Foto: Wolfgang Meinhart

18 Zentralblatt der Bauverwal-tung 45, 1925

Alle anderen Fotos:

Staatsarchiv, Sabine Ganczarsky, Nicolai Wieckmann

Texte und Redaktion

Rita ClasenDr. Agnes Seemann

Layout

Rita ClasenBianca Flamming

Bernd Paulowitz

WelterbekoordinatorKulturbehördeDenkmalschutzamtGroße Bleichen 3020354 Hamburg [email protected]

www.hamburg.de/welterbe

V.i.S.d.P.: Andreas Kellner

© 2017

15 Mohlenhof

14 Sprinkenhof

12 Meßberghof

Altstadt

Burchardplatz Joha

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Niederbaumbr.

BaumwallKehrwieder

Meßberg

Brooktorkai

Am Sandtorkai

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Projektion: UTM32

0 50 100 150 200 250Meter

Karte zum WelterbeantragSpeicherstadt und Kontorhausviertel mit Chilehaus

Freie und Hansestadt HamburgKulturbehördeDenkmalschutzamt

Lagebezugssystem : ETRS89Kartenhintergrund: DSGK (LGV, Oktober 2011)

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1 Sichtachsennummer

Legende

SpeicherstadtNominierte Stätte

Flächen/AußenanlagenWasserflächenPufferzoneSichtachsen

Hamburg

DAS HAMBURGER WELTERBE

SPEICHERSTADT UND KONTORHAUSVIERTEL

MIT CHILEHAUS

Im 19. Jahrhundert begann sich die Globalisierung der Wirtschaft und des Handels zu intensivie-ren, gefördert durch die Idee des Wirtschaftsliberalismus und den Kolonialismus, begünstigt eben-falls durch die Industrialisierung, durch neue Techniken, durch eine sowohl umfangreichere als auch arbeitsteilige Produktion sowie schnellere Transportmöglichkei-ten. Diese Entwicklung zog nicht nur große Auswirkungen auf die Weltwirtschaft nach sich, sie be-wirkte unter anderem auch einen städtebaulichen Wandel in den Hafen- und Handelsstädten der Welt.

Deutschland profitierte in beson-derem Maße von den Entwick-lungen, denn es stieg in nur vier Jahrzehnten, von der Reichs-gründung 1871 bis zum Ersten Weltkrieg, zur zweitgrößten In-dustrienation der Welt nach den USA auf. Gleichzeitig verzehn-fachte sich die Beförderungsleis-tung der deutschen Handels-schifffahrt auf den Weltmeeren. Ein entscheidender Grund für diese Entwicklung war unter an-derem die enorme Erhöhung der Transportkapazitäten beziehungs-weise die Steigerung der Trans-portgeschwindigkeit. Der Ausbau der Eisenbahnlinien und der Hä-fen sowie der Aufschwung im Schiffbau, hier insbesondere der Bau neuer Dampfschiffe, trugen dazu bei.

Als Hafen- und Handelsstadt hat-te Hamburg einen wesentlichen Anteil an dieser Entwicklung. Dank des vorausschauenden Han-delns der Verantwortlichen der Stadt konnte sie nicht nur ihre

Vorrangstellung in Deutschland mit weitem Abstand behaupten, sondern entwickelte sich auch zum bedeutendsten Hafen in Kontinentaleuropa. Einen wichti-gen Impuls gab die vollständige Eingliederung der Stadt in den Deutschen Zollverein 1888 und die damit verbundene Erweite-rung und Modernisierung des Hafens, in deren Rahmen auch die Speicherstadt entstand. In-nerhalb von nur zwei Jahrzehn-ten rückte Hamburg nun in die Spitzengruppe der Welthäfen auf, sodass schließlich nur noch in London und New York mehr Gü-ter umgeschlagen wurden als an der Norderelbe.

Der Beitritt Hamburgs zum Deut-schen Zollverein hatte den Bau der Speicherstadt zur Folge, eine Entwicklung, die nicht nur zum Abbruch der Häuser eines ge-samten Stadtteils und der Vertrei-bung von über 16.000 Menschen führte, sondern auch die in Ham-burg tradierte Lebensform, Woh-nen, Wirtschaften und Kontor unter einem Dach zu vereinigen, auflöste. Dies zog eine Trennung der drei Bereiche nach sich, die schon mit dem Umzug des Bür-gertums in die neuen Villengebie-te an der Außenalster um 1850 begonnen hatte und in der Folge-zeit zur Schaffung von monofunk-tionalen Dienstleistungsvierteln führte.

Geschichtlicher Hintergrund der Entstehung von Speicherstadt und Kontorhausviertel

Hamburg auf dem Weg zur modernen City

3 Entwicklung der Speicherstadt

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1 Phasen des Hafenausbaus in Hamburg 1865 - 1925

Im Zuge der Industrialisierung und der beginnenden Globalisierung der Wirtschaft und des Handels setzte im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert in den Metropolen der Welt die City-bildung ein, erfasste weltweit im-mer mehr Innenstädte und führte zu einer funktionalen Entmischung sowie zur Verdrängung der Wohn-bevölkerung und anderer Nutzer durch den expandierenden Dienst-leistungssektor.

Durch verschiedene Ereignisse vollzog sich dieser Prozess in Hamburg besonders schnell und gründlich. Als Katalysatoren wirk-ten unter anderem der Große Brand von 1842, in dessen Folge die kleinteilige mittelalterliche Struktur der betroffenen Gebiete in der Altstadt den damals modernen Standards rechtwinkliger Straßen-blöcke angepasst und dabei die ärmere Wohnbevölkerung weit-gehend verdrängt wurde. Wei-terhin sorgte die Aufhebung der Torsperre 1860 dafür, dass die Kaufleute, die zuvor in der Altstadt in ihren Bürgerhäusern wohnten und ihren Geschäften nachgingen, nun dauerhaft in die im Grünen ge-legenen Vororte ziehen konnten, wo sie teilweise zuvor schon Som-merhäuser besaßen. Mit dem Bau der Speicherstadt in den 1880er Jahren wurde der Transformationsprozess weg von durchmischter Stadt hin zur mo-dernen City mit monofunktionalen Vierteln in Hamburg dann rigoros umgesetzt. 16.000 Menschen, die zuvor auf den Brookinseln gelebt hatten, mussten dem Bau der Speicherstadt weichen. Gleichzei-tig wurden die ersten Kontorhäu-ser errichtet, was ebenfalls zu ei-

ner sukzessiven Verdrängung der Wohnbevölkerung führte. Forciert wurde diese Entwicklung noch, als die Elendsviertel der Innen-stadt, die sogenannten Gängevier-tel, nach der Cholera-Epidemie 1892 saniert wurden, wobei in der Altstadt weitgehend auf den Bau neuer Wohnungen zugunsten von Kontorhäusern verzichtet wurde. Die Folge war, dass sich die Ein-wohnerzahl in der Innenstadt von 171.000 (1880) auf 68.600 (1937) verringerte, wovon nur noch 15.500 auf die Altstadt entfielen.

Abgesehen von London war diese Entwicklung in Europa zu diesem Zeitpunkt noch ein nahezu unbe-kanntes Phänomen, und selbst in den USA wurden seinerzeit nur die zentralen Bereiche von New York und Chicago vom Dienstleistungs-sektor dominiert. Es wurden zwar auch andernorts immer mehr Bü-rohäuser errichtet, im Unterschied zu Hamburg gelang es dem tertiä-ren Sektor dort aber nicht, die Wohnbevölkerung großräumig zu verdrängen. Die Innenstädte be-hielten vielmehr weiterhin ihren Charakter als funktional durch-mischte Wohn- und Arbeitsviertel. Die beiden monofunktionalen, sich funktional ergänzenden Quar-tiere Speicherstadt und Kontor-hausviertel sind daher geeignet, in weltweit einmalig erhaltener Kon-zentration und Größenordnung die Idealvorstellungen einer moder-nen, tertiärisierten Stadt mit funk-tionaler Zonierung sowie die Ci-tybildung Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhunderts zu doku-mentieren. Darüber hinaus verfü-gen beide Quartiere auch einzeln gesehen über herausragende Qualitäten.

4 Sanierungsgebiet südlich der Steinstraße

5 Luftbild Speicherstadt und Kontorhausviertel

Die Hamburger Speicherstadt

Die Hamburger Speicherstadt mit ihren zahlreichen Speicher- und Funktionsbauten, ihrer spezifischen funktionalen, baulichen und städte-baulichen Struktur mit gepflasterten Straßen, Wasserstraßen, Brücken und Eisenbahnanschlüssen ist zwi-schen 1885 und 1927 in drei Bauab-schnitten unter der Leitung des städtischen Oberingenieurs Franz Andreas Meyer als größtes und mo-dernstes Logistikzentrum seiner Zeit entstanden. Es hielt großzügige Lagerflächen bereit, die standard-mäßig ausgerüstet waren mit Neue-rungen wie elektrischem Licht und hydraulisch angetriebenen Winden. Für Druckwasser und Strom sorgte ein eigenes Kraftwerk. Die Speicher boten durch ihre Konstruktionswei-se ein stabiles Raumklima, in dem die empfindlichen Waren ohne zu-sätzliche Heizung oder Kühlung ge-lagert werden konnten.

Ein charakteristisches Merkmal der Speicherstadt ist die Skelettbauwei-se, überwiegend aus vorgefertigten Eisenelementen, aber auch aus Holz und betonummantelten Guss-eisenstützen. Damit wurde eine weitgehende Entlastung der Au-ßenwände von einer statischen Funktion erreicht, die nunmehr in erster Linie als Klimahüllen dienen. Die modularen Strukturen der Fas-saden, deren Maße im Sinne der „Hannoverschen Schule“ konse-quent aus dem genormten Ziegel-format abgeleitet sind, prägen die

Architektur der Speicherstadt. Den-noch entstand kein schematischer und nüchterner Lagerhauskomplex, sondern ein schmuckreiches, viel-gestaltiges Ensemble in überwie-gend neogotischen Architekturfor-men von starker stadträumlicher Wirkung – ein Effekt, der durch die exponierte Lage auf einer Inselgrup-pe am Rand der Innenstadt noch verstärkt wird.

Durch den behutsamen Wiederauf-bau konnte trotz der Einwirkungen des letzten Krieges das einheitliche Bild, das die Speicherstadt bis heu-te prägt, erhalten respektive wieder hergestellt werden. Die Speicher-stadt stellt noch heute das größte zusammenhängende, einheitlich geprägte Speicherensemble der Welt dar. Sie zeichnet sich nicht nur durch eine hohe architektonische und städtebauliche Geschlossen-heit aus, die aus der einheitlichen Gestaltung mit roten Backsteinfas-saden resultiert, sondern auch durch eine bildmächtige Inszenie-rung, die ihren für die Bauaufgabe ungewöhnlich repräsentativen Cha-rakter unterstreicht. Diese demons-trativ herausgestellte repräsentati-ve Funktion macht die Speicherstadt gleichsam zum architektonischen Aushängeschild des Hamburger Hafens und verleiht ihr, neben ihren Dimensionen, im Vergleich mit den Lagerhauskomplexen anderer Ha-fenstädte sowohl national als auch international eine Sonderstellung.

6 Speicherstadt Baualter und Konstruktion

8 Wasserschlösschen

7 Querschnitt des Zollkanals und des städtischen Freihafengebiets, Hamburg 1888

9 Fleet um 1900 10 Block V 11 Block P

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2ERDGESCHOSS

2.STOCK

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Kontor

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Luke

Prunkzimmer oder Lager für feine Waren

Speicher

Diele

Wohn- oder Prunkzimmer

Schlafzimmer der Eltern oder Kinder

Schlafzimmer

Lagerboden

Schlafzimmer für Kinder, Gäste oder Angestellte

2 Katharinenstraße 10