Das innenpolitische »System« Putins · Beurteilung 21 Herausdrängung der Oligarchen aus der...

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SWP-Studie Stiftung Wissenschaft und Politik Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit Eberhard Schneider Das innenpolitische »System« Putins S 25 September 2001 Berlin

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SWP-StudieStiftung Wissenschaft und PolitikDeutsches Institut für InternationalePolitik und Sicherheit

Eberhard Schneider

Das innenpolitische»System« Putins

S 25September 2001Berlin

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Inhalt

Problemstellung und Empfehlungen 5

Machtsicherung durch Kaderaustausch 7Administration des Präsidenten 7Regierung 10Wirtschaft 11Bewertung 11

Stärkung der Zentralgewalt 14Die bisherigen Präsidentenvertreter 14Die neuen föderalen Bezirke 14Die neuen Generalgouverneure 15Tätigkeit der neuen Generalgouverneure 16Schwächung des Föderationsrats 19Absetzung regionaler Exekutivchefs undAuflösung regionaler Volksvertretungen 20Beurteilung 21

Herausdrängung der Oligarchen aus der Politik 23

Formierung der Medienlandschaft 25Akteure und Ereignisse 25Beurteilung 27

Wichtige politische Reformvorhaben 28Parteienreform 28Justizreform 29Gerichte 30Staatsanwaltschaft 30Rechtsanwaltschaft 31Kritiker der Justizreform 31

Gesamteinschätzung Putins 32

Abkürzungen 32

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SWP-BerlinDas innenpolitische

»System« PutinsSeptember 2001

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Problemstellung und Empfehlungen

Das innenpolitische »System« Putins

Am 14. August 2001 hat sich zum zweiten Mal der Taggejährt, an dem Wladimir Putin vom damaligen Präsi-denten Boris Jelzin zum Regierungschef ernanntwurde. Am 31. Dezember 1999 trat Jelzin vorzeitigzurück und bestimmte Putin zum amtierenden Präsi-denten. Bereits im ersten Wahlgang wurde Putin am26. März 2000 mit 52,94% der Stimmen zum Präsiden-ten gewählt. In wenigen Wochen, am 25. September,wird Putin Deutschland seinen ersten Staatsbesuch alsgewählter Präsident abstatten. Während am Anfangviele fragten: Wer ist Putin?, weil er ihnen als Personunbekannt war, wird jetzt vor allem gefragt: Was willPutin?

In Putins zweijähriger Tätigkeit an der Spitze derrussischen Regierung und später des russischenStaates hat sich ein innenpolitisches »System« heraus-gebildet, das aus folgenden Elementen besteht: Ab-sicherung der Macht durch Neubesetzung der Spitzen-positionen, Stärkung der Zentralgewalt, Herausdrän-gen der Oligarchen aus der Politik, Formierung derMedienlandschaft und Einleitung wichtiger Reform-vorhaben.

Die Analyse seiner bisherigen innenpolitischenMaßnahmen erlaubt Rückschlüsse auf das DenkenPutins. Ist er ein Modernisator à la Andropow, der alsehemaliger Geheimdienstchef am besten über denmiserablen Zustand der Sowjetunion Bescheid wußteund das System reformieren wollte, um es als Ganzeszu erhalten? Oder ist er, der den Zusammenbruch desKommunismus in Dresden erlebt hat, ein überzeugterDemokrat und Marktwirtschaftler? Für die längerfri-stige Gestaltung des deutsch-russischen Verhältnissesist die Beantwortung dieser Fragen wichtig.

Für die deutsche Politik ergeben sich folgende Emp-fehlungen:

Man sollte Putin mit seinem Bekenntnis zu Demo-kratie und Marktwirtschaft beim Wort nehmen, auchwenn ihm das Geschehen in Tschetschenien offen-kundig widerspricht. Putin scheint das Militär inTschetschenien nicht mehr kontrollieren zu können,weswegen er im Frühjahr den Oberfehl dem FöderalenSicherheitsdienst (FSB) übertrug. Sowohl auf bilatera-ler als auch auf europäischer Ebene (EuropäischesParlament, Europarat) sollen die Menschenrechts-verletzungen in Tschetschenien angesprochen und aufZulassung der internationalen Beobachtermissionen

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Problemstellung und Empfehlungen

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gedrängt werden. Putin ist wohl klar geworden, daßeine militärische Lösung in Tschetschenien nichtgefunden werden kann. Der einzige Ausweg ist einepolitische Lösung, doch Putin weiß nicht, wie sie aus-sehen soll und mit wem er auf tschetschenischer Seitedarüber verhandeln kann. Im Rahmen der OSZE,deren Mitglied Rußland ist, könnten Putin Vermitt-lungsdienste in Tschetschenien angeboten werden.

Ein wichtiges Element einer in Rußland zu schaf-fenden civil society ist die Freiheit der Massenmedien.Vielfach wird seit den Ereignissen um NTV eine gravie-rende Einschränkung der Presse- und der Meinungs-freiheit in Rußland befürchtet. Sollten sich dieseBefürchtungen bewahrheiten, wäre zu prüfen, ob dieseinen Verstoß gegen die OSZE-Charta von Paris dar-stellt. Käme die Prüfung zu diesem Ergebnis, wäre dieBundesregierung gehalten, im Rahmen der OSZE vor-stellig zu werden.

Der Entwicklung einer bürgerlichen Gesellschaftdient das TACIS Program for Democracy der Europäi-schen Union. Die Mittel dieses Programms solltennicht gekürzt, sondern eher aufgestockt werden, weilin seinem Rahmen förderungswürdige Programmemit russischen NGOs durchgeführt werden, die aufdiese Weise gestärkt werden. Die NGOs sind die civilsociety-Inseln im Meer einer Gesellschaft, die in ihrerGesamtheit noch nicht als bürgerlich bezeichnetwerden kann.

Programme und Projekte, die der Vertiefung demo-kratischer Überzeugungen und der Verankerungmarktwirtschaftlicher Verhaltensweisen in derrussischen politischen Elite und der Bevölkerungdienen, sind zu fördern. In diesem Sinne wäre konkretdie Einrichtung einer Europäischen Akademie inMoskau als Diskussionsforum für politische undgesellschaftliche Entscheidungsträger und als Infor-mationsbasis für Multiplikatoren zu erwägen.

Ebenso bedenkenswert wäre die Gründung einerDeutsch-russischen Universität in Moskau. DasStudienprogramm und die Bildungsabschlüsse solltenauch in Deutschland anerkannt werden können. Einesolche Universität mit einem weitgehend deutsch-sprachigen Lehrangebot würde zur Heranbildungeiner deutschfreundlichen politischen und ökonomi-schen Elite beitragen, was sich mittelfristig, wenn dieAbsolventen entsprechende Positionen in Politik undWirtschaft erreicht haben, positiv für die praktischeGestaltung der deutsch-russischen Beziehungen unddes Handels auswirken dürfte.

Putin stützt sich hauptsächlich auf den Mittelstand,der jedoch erst im Entstehen begriffen ist. Seine Her-

ausbildung ist die soziologische Grundlage für diedauerhafte Implementierung demokratischer Struk-turen innerhalb der Gesellschaft. Deshalb sollten diegegenwärtigen Programme zur Förderung der Klein-und Mittelunternehmen in Rußland ausgebautwerden.

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Administration des Präsidenten

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Machtsicherung durch Kaderaustausch

Um seine neue Machtposition zu sichern, die Putinohne große Vorbereitung praktisch zugefallen war,brachte er als Premier, amtierender Präsident undschließlich als Präsident »seine Leute«1 in führendePositionen in der Administration des Präsidenten, inder Regierung und in der Wirtschaft.

Administration des Präsidenten

Quasi als Nachfolge-Apparat des Zentralkomitees (ZK)der KPdSU richtete sich Jelzin eine riesige Administra-tion mit 1945 Mitarbeitern2 ein, die sinnigerweise imehemaligen ZK-Gebäude residiert. Schätzungsweise 60bis 70% aller wichtigen politischen Entscheidungenwerden in der Präsidialadministration vorbereitet undkonzipiert. Es ist daher auch kein Wunder, wennzwischen der Regierung, die ebenfalls vom Präsiden-ten gebildet wird, und der Präsidialadministration einKonkurrenzverhältnis herrscht.

Einen Überblick über die komplizierte Struktur derPräsidialadministration gibt das Schema auf der Folge-seite. Es ist unvollständig, weil relativ wenig Informa-tionen über den Aufbau der Präsidialadministrationveröffentlicht werden und vor allem über die kon-kreten Unterstellungsverhältnisse kaum Einzelheitenbekannt sind. Die personelle Besetzung der Spitzen-positionen in der Präsidialadministration kann derTabelle auf S. 9 entnommen werden.

In der Präsidialadministration besetzte Putinfolgende Positionen neu:

Erster Stellvertretender Leiter der Administrationdes Präsidenten (seit 3.6.2000):

Dmitrij Anatoljewitsch Medwedew, geb. 1965 in Leningrad (das seit 1991 wieder St. Peters-burg heißt), studierte Jura an der Universität seinerGeburtsstadt, bevor er von 1990 bis 1999 dort alsDozent tätig war. Im November 1999 wurde er Stell-

1 Quellen: Informacionno-ėkspertnaja gruppa »Panorama« [Exper-tengruppe »Panorama«] (Hg.), Gipertekstovaja baza dannych»Labirint« [Hypertextdatenbank »Labyrinth«]; Ulrich-JoachimSchulz-Torge (Hg.), Die Gemeinschaft Unabhängiger Staaten(GUS), Loseblattsammlung, Bonn 1993ff.2 Izvestija, 14.2.1998.

vertretender Leiter des Regierungsapparats unterPremier Putin, dann Leiter von Putins Wahlkampfstab.Im Dezember 1999 ernannte ihn Putin zum Stellver-tretenden Leiter der Administration des Präsidenten.

Stellvertretender Leiter der Administration desPräsidenten und Leiter der Hauptverwaltung Kader[Personalchef] (seit 5.1.2000):

Wiktor Petrowitsch Iwanow,Generalleutnant des FSB, geb. 1950 in Nowgorod,studierte mit Putin an der KGB-Hochschule und warspäter für den FSB in Leningrad tätig. Von 1994 bis1998 war er Chef der Verwaltung AdministrativeOrgane beim Oberbürgermeister von St. Petersburg,während Putin zwischen April 1994 und Juni 1996Erster Stellvertretender Oberbürgermeister war. An-schließend leitete Iwanow die Verwaltung für Eigen-tumssicherheit des FSB. Von April 1999 bis Januar2000 war er Stellvertreter des FSB-Chefs (Putin warFSB-Chef von Juli 1998 bis August 1999).

Stellvertretender Leiter der Administration desPräsidenten, zuständig für die Koordinierung derGesetzgebung (seit 4.6.2000):

Dmitrij Nikolajewitsch Kosak,geb. 1938 im Gebiet Kirowograd (Ukraine), studierteJura an der Universität Leningrad. Von 1990 bis 1996leitete er die juristische Verwaltung beim Stadtrat unddann beim Oberbürgermeister von St. Petersburg, an-schließend war er Vorsitzender des Rechtsausschussesder Kanzlei des St. Petersburger Oberbürgermeistersund seit Januar 1998 dessen Stellvertreter. Von August1999 bis Juni 2000 leitete er den Apparat der russi-schen Regierung unter Premier Putin (August 1999 bisMai 2000).

Stellvertretender Leiter der Administration desPräsidenten und Leiter der Kanzlei des Präsidenten(seit 31.12.1999):

Igor Iwanowitsch Setschin,geb. 1960 in Leningrad, Romanist. Von 1991 bis 1996leitete er den Apparat des Ersten StellvertretendenOberbürgermeisters Putin in Leningrad, 1998 denApparat Putins in seiner Amtszeit als Erster Stellver-tretender Leiter der Präsidialadministration und von

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Machtsicherung durch Kaderaustausch

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Außenpolitik

Organisation

Kanzlei

Kader

Auszeichnungen

Begnadigung

Territorien

Information

Experten

Bürgereingaben

Referentur

Kosakentum

Sicherheitsrat

Helfer Präsident

Referenten Präs.

Vertreter Präs.: - Parlament - Verf.-Gericht - Föd. Bezirke

Richterkammer

Protokoll

PresseWirtschaft

Administration des Präsidenten

© Eberhard Schneider, 16.11.2000

Verwal-tungen

Hauptver-waltungen

Staat/ Recht

Innenpolitik

Kontrolle

Progr.-techn. Versorgung

Geheimsachen

Datenbanken

Kommissionen

Menschenrechte

Abteilungen

Staatsprämien

Zentrale <=> Regionen

Rehab. polit. Verfolgter

Archiv

Bibliothek

Präs.-Programme

Sekretariat

Sonstige

Apparat

Arbeitsapparat

Staatsbürgerschaft

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Administration des Präsidenten

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Spitzenpositionen in der Präsidialadministration*

Hierarchische Position Name Sonstige Funktion Zuständigkeit

Leiter Woloschin,

Aleksandr Staljewitsch

Erster Stellvertretender Leiter Medwedew,

Dmitrij Anatoljewitsch

Vorsitzender

des Direktorenrats

von GASPROM

Stellvertretender Leiter Abramow,

Aleksandr Sergejewitsch

Sekretär des Staatsrats

Stellvertretender Leiter Lissow,

Jewgenij Kusmitsch

Leiter der Hauptverwaltung

Kontrolle

Stellvertretender Leiter Iwanow,

Wiktor Petrowitsch

Leiter der Verwaltung

Kader

Stellvertretender Leiter Kosak,

Dmitrij Nikolajewitsch

Koordinierung der

Gesetzgebung

Stellvertretender Leiter Pollyjewa,

Dshochan Redshepowna

Tätigkeit der

Ghostwriter

Stellvertretender Leiter Prichodko,

Sergej Eduardowitsch

Leiter der Verwaltung

Außenpolitik

Stellvertretender Leiter Setschin,

Igor Iwanowitsch

Leiter der Kanzlei

des Präsidenten

Stellvertretender Leiter Surkow,

Wladislaw Jurjewitsch

Innenpolitik und

Zusammenarbeit mit

Staatsduma, Föderations-

rat, Zentraler Wahl-

kommission und

Verfassungsgericht

Popow,

Andrej Anatoljewitsch

Leiter der Hauptverwaltung

Territorien

Kosopkin,

Aleksandr Sergejewitsch

Leiter der Hauptverwaltung

Innenpolitik

Brytschewa,

Larissa Igorjewna

Leiterin der

Hauptverwaltung

Staat und Recht

* Kursiv gesetzt sind die Namen der von Putin berufenen Personen.

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Machtsicherung durch Kaderaustausch

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November bis Dezember 1999 das Sekretariat desPremiers Putin.

Geschäftsführer des Präsidenten (seit 12.1.2000): Wladimir Igorewitsch Koshin,geb. 1959 im Gebiet Tscheljabinsk, absolvierte dasElektrotechnische Institut in Leningrad. Von 1993 bis1994 war er Generaldirektor des Verbandes derGemeinschaftsunternehmen (mit ausländischen Part-nern) von St. Petersburg, als Putin beim Oberbürger-meister von St. Petersburg Vorsitzender des Komiteesfür Auslandsbeziehungen war (1991–1996), dessenSchwerpunkt auf Außenwirtschaft lag. Anschließendleitete er das Regionalzentrum Nord-West des Födera-len Dienstes für Währungs- und Exportkontrolle undab 1999 diesen gesamten Föderalen Dienst.

Generalgouverneur des Föderalen BezirksNord-West (seit 27.5.2000):

Wiktor Wassiljewitsch Tscherkessow,Generalleutnant, wurde 1950 in Leningrad geboren. Erstudierte mit Putin Jura in Leningrad und leitete von1992 bis 1998 die dortige FSB-Verwaltung zusammenmit dem Ersten Stellvertretenden OberbürgermeisterPutin. Von 1975 bis 2000 war er im KGB bzw. FSB tätig.Zu Sowjetzeiten erlangte er in St. Petersburg wegender Verfolgung von Dissidenten zweifelhafte Berühmt-heit. Im August 1999 beförderte ihn Putin in das Amtdes Ersten Stellvertretenden FSB-Chefs. Während desPräsidentenwahlkampfes 1999 war er Mitarbeiter inPutins neuem Think-Tank »Zentrum für strategischeAusarbeitungen«3. Aus gemeinsamer KGB-Tätigkeitstammt die heute noch bestehende persönlicheFreundschaft zu Putin.4

Regierung

In der Regierung wurden folgende Stellen mit Putin-Leuten neu besetzt:

Stellvertretender Premierminister und Finanz-minister (seit 18.5.2000):

Aleksej Leonidowitsch Kudrin,geb. 1960 in Dobele (Lettland), studierte Ökonomie ander Universität Leningrad. Von 1994 bis 1996 war er

3 Zum Strategiezentrum vgl. Bernd Knabe, Putins »Strategie-zentrum«, Köln 2000 (Aktuelle Analysen des Bundesinstitutsfür ostwissenschaftliche und internationale Studien, Nr. 27/2000).4 Nezavisimaja gazeta, 4.11.2001.

wie Putin Erster Stellvertretender Oberbürgermeistervon St. Petersburg, anschließend bis 1997 Stellvertre-tender Leiter der Administration des Präsidenten undLeiter von deren Kontrollhauptverwaltung. Zur selbenZeit war Putin Stellvertretender Geschäftsführer desPräsidenten, Kudrin praktisch Stellvertretender Per-sönlicher Referent. Von 1997 bis Mai 2000 war KudrinErster Stellvertretender Finanzminister, mit einerkurzen Unterbrechung zwischen Januar und Juni2000, als er die Funktion eines Ersten Stellvertreten-den Vorstandsvorsitzenden des Elektroenergiekon-zerns JeES Rossii hatte.

Verteidigungsminister (seit 28.3.2001): Sergej Borissowitsch Iwanow,Generalleutnant des FSB, geb. 1953 in Leningrad,studierte Philologie an der dortigen Universität.Iwanow besuchte wie Putin das KGB-Institut, anschlie-ßend übte er verschiedene Tätigkeiten beim KGB, FSBund im neuen russischen Auslandsaufklärungsdienstaus. Unter Putin (1998–1999) war er StellvertretenderFSB-Chef und anschließend Nachfolger Putins alsSekretär des Sicherheitsrats (November 1999–März2001). Von allen neuen Funktionsträgern steht SergejIwanow Putin am nächsten.

Innenminister (seit 28.3.2001): Boris Wjatscheslawowitsch Gryslow,1950 in Wladiwostok geboren, lebt seit seinem viertenLebensjahr in Leningrad und war dort bis zu seinerWahl in die Staatsduma am 19. Dezember 1999 imBildungsbereich und als Geschäftsmann tätig. In derStaatsduma war er Vorsitzender der Fraktion der»regierenden Partei« – wie sie in Moskau genannt wird– »Einheit«.

FSB-Chef [Putin-Nachfolger in dieser Funktion](seit 17.8.1999) und Mitglied des Sicherheitsrats(seit 27.5.2000):

Nikolaj Platonowitsch Patruschew,Armeegeneral des FSB, geb. 1951 in Leningrad, absol-vierte das Leningrader Schiffbauinstitut. Anschließendwar er beim KGB und später beim FSB tätig. 1998wurde er Stellvertretender Leiter der Administrationdes Präsidenten unter Putin als Erstem Stellvertreten-dem Leiter der Präsidialadministration. Wiederumunter Putin war er von 1998 bis 1999 Stellvertretenderund dann Erster Stellvertretender FSB-Chef.

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Wirtschaft

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Stellvertretender FSB-Chef (seit Herbst 2000):Jurij Jewgenjewitsch Saostrowzew,Jahrgang 1956. Bis 1993 war Jurij Saostrowzew im KGBtätig, dem bereits sein Vater gedient hatte; dann imRang eines Oberst im FSB im Bereich wirtschaftlicheSicherheit. Von 1993 bis 1996 versuchte er sich in derWirtschaft, unter anderem in der Gruppe »Sibirskijaljuminium«. Im Juli 1998 wurde er Referent Patru-schews, der damals die Kontrollhauptverwaltung derPräsidialadministration leitete. Im November 1998kehrte Saostrowzew zum FSB zurück und übernahmdie Leitung der Abwehr von Aktivitäten, die gegen dieFinanzsphäre des FSB gerichtet sind. Saostrowzewkoordinierte auch die Maßnahmen gegen Media-MOST(s.u.). Ein weiteres Betätigungsfeld ist der Kampf gegenKapitalflucht, vor allem durch GASPROM.5

Minister für Wirtschaftliche Entwicklung undHandel (seit 18.5.2000):

German Oskarowitsch Gref,geb. 1964 in Irtysch (Kasachstan), Rußlanddeutscher,studierte Jura an der Universität Omsk. Von 1992 bis1998 war er Stellvertretender Leiter, dann Leiter desKomitees für Immobilienvermögen in St. Petersburg.Von 1998 bis 2000 amtierte er als Erster Stellvertre-tender Minister für Staatsvermögen. Im Dezember1999 übernahm er die Leitung des neuen Putin-Think-Tanks »Zentrum für strategische Ausarbeitungen«.

Minister für Kommunikation und Informatisie-rung (seit 11.11.1999):

Leonid Dododshonowitsch Rejman,geb. 1957 in Leningrad, absolvierte das Institut fürElektrotechnik und Fernmeldewesen in Leningrad.Von 1994 bis 1999 war er Erster StellvertretenderGeneraldirektor der »Peterburgskaja telefonija« AG,anschließend Erster Stellvertretender, dann Vorsit-zender des Staatskomitees für Telekommunikationunter Putin als Premier.

Gesundheitsminister (seit 19.8.1999):Jurij Leonidowitsch Schewtschenko,Generaloberst der Medizinischen Dienste, geb. 1947 inJakutsk, studierte an der Leningrader Militärakademiefür Medizin. Von 1992 bis 1999 leitete er das Institutfür Herz- und Gefäßchirurgie in St. Petersburg. Daskorrespondierende Mitglied der Russischen Akademieder Wissenschaften kennt Putin seit vielen Jahren.

5 RFE/RL Newsline, 5 (3.7.2001) 126, Part I.

Direktor des Föderalen Dienstes der Steuerpolizei(seit 28.3.2001):

Michail Jefimowitsch Fradkow,geb. 1950 in Moskau, absolvierte das Moskauer Institutfür Werkzeugmaschinenbau und die Akademie fürAußenhandel. Er war hauptsächlich im BereichAußenwirtschaft tätig: 1992 als StellvertretenderMinister und 1997 als Außenwirtschaftsminister. 1999wurde er Bildungs- und im selben Jahr Handelsmini-ster. Im Mai 2000 wurde er zum Ersten Stellvertreten-den Sekretär des Sicherheitsrats unter Putin als Sicher-heitsratsvorsitzendem ernannt.

Wirtschaft

Auch in der Wirtschaft versucht Putin mit seiner Seil-schaft Fuß zu schaffen:

Vorsitzender des Direktorenrats von GASPROM(seit Juni 2000):

Dmitrij Anatoljewitsch Medwedew,(Kurzbiographie siehe S. 7).

Vorsitzender des Vorstands von GASPROM(seit 30.5.2001):

Aleksej Borissowitsch Miller,geb. 1962 in Leningrad, absolvierte das LeningraderFinanzökonomische Institut. Nach einer kurzen Tätig-keit als Vorsitzender des Direktorenrats des Lenin-grader »Europa-Hotels« leitete er in der Zeit, als PutinErster Stellvertretender Oberbürgermeister dieserStadt war, eine Verwaltung im Komitee für außenwirt-schaftliche Verbindungen der Administration vonSt. Petersburg. Von 1999 bis 2000 war Miller General-direktor des Baltischen Pipelinesystems. Im Juli 2000wurde er zum Stellvertretenden Energieministerernannt.

Bewertung

An Putins neuen Mitarbeitern fallen bestimmteGemeinsamkeiten auf: Entweder kommen sie ausSt. Petersburg (Gryslow, Gref, Rejman, Schewtschenko)und haben dort (Kosak, Setschin, Koshin, Kudrin,Rejman, Schewtschenko, Miller) oder in Moskau(Medwedew, Fradkow, der allerdings nicht ausSt. Petersburg stammt) mit ihm zusammengearbeitet.Eine weitere Personengruppe kommt aus St. Peters-burg und war zudem beim FSB tätig, den Putin von

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Machtsicherung durch Kaderaustausch

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Juli 1998 bis August 1999 geleitet hat (Tscherkessow,Wiktor Iwanow, Sergej Iwanow, Patruschew, Saostrow-zew). Die St. Petersburg-Connection ist nicht zu über-sehen. Der FSB-Hintergrund dominiert weniger quanti-tativ als qualitativ, wenn man die Positionen betrach-tet, die Personen mit diesem Hintergrund innehaben:Personalchef des Präsidenten, Verteidigungsminister,FSB-Chef.

In wichtigen Funktionen hat Putin zwei Mitgliederder Jelzin-»Familie« belassen: Michail Kassjanow alsPremier und Alexander Woloschin als Leiter der Präsi-dialadministration. Immer wieder werden Vermutun-gen laut, daß Putin beide ablösen würde. Ungeachtetdessen hatte Putin am 31. Dezember 1999, als Jelzinzurücktrat und ihn zum amtierenden Präsidentenernannte, seinem scheidenden Vorgänger zugesagt,für ein Jahr keine personellen Veränderungen in den»Machtministerien« vorzunehmen. 1994 hatte sichPräsident Boris Jelzin drei »Machtministerien«, wie siein Rußland genannt werden, direkt unterstellt: die Mi-nisterien der Verteidigung und des Innern sowie denFöderalen Sicherheitsdienst (InlandsgeheimdienstFSB), dazu das Außenministerium. Die Chefs dieserRessorts unterstehen nicht dem Premierminister,sondern direkt dem Präsidenten. Später unterstelltesich Jelzin noch das Ministerium für Angelegenheitender Zivilverteidigung und Ausnahmesituationen sowiedie Föderalen Dienste für Auslandsaufklärung (Aus-landsspionage), für den Schutz Rußlands (vor allemden Präsidentenschutz) und für den Schutz derGrenzen (Grenzschutztruppen). Mit der Herauslösungdieser Exekutivorgane aus der Premierunterstellungwurde die Regierung praktisch auf den Status einesWirtschafts- und Verwaltungskabinetts reduziert.

Putin erfüllte das Jelzin gegebene Versprechen undverlängerte das Moratorium auf ein Jahr und zweiTage Amtszeit als gewählter Präsident. Nach dessenAblauf ernannte er im März 2001 die beiden wichtig-sten neuen »Machtminister« für Verteidigung und fürInneres. Die Neuernennungen, die auch einige Stell-vertretende Minister betrafen, lassen den WillenPutins erkennen, die schwierige Militärreform durch-zuführen. Sergej Iwanow leitete anderthalb Jahre langdie Militärkommission des Sicherheitsrats. Sie hattedie Militärreform ausgearbeitet, die im November2000 im Sicherheitsrat beschlossen wurde. Nun sollIwanow als neuer Verteidigungsminister die Militär-reform umsetzen. Von 2001 bis 2003 sollen die Streit-kräfte um 365 000 Soldaten auf 850 000 reduziert unddie zentralen Apparate der höchsten Militärbehördenreorganisiert werden.

Von der Militärreform ist auch das Ressort desneuen Innenministers Gryslow betroffen, der übereigene Truppen in der Größenordnung von 200 000Soldaten verfügt, die unter Jelzin für Einsätze inner-halb Rußlands besser ausgerüstet wurden als dieArmee. Die Truppen, die auch in Tschetschenien zumEinsatz kamen, müssen im Rahmen der Militärreformum 33 000 Soldaten reduziert werden.

Putins Neuernennungen im März 2001 können alsDemilitarisierung der Führung der »Machtministe-rien« und der Steuerpolizei interpretiert werden. Zumersten Mal tritt an die Spitze des Verteidigungsmini-steriums ein Zivilist. Allerdings hatte Sergej Iwanowals hoher Geheimdienstoffizier bis November 2000noch den militärischen Rang eines Generalleutnantsdes FSB, ohne die entsprechende militärische Ausbil-dung und Karriere durchlaufen zu haben. Jelzin hatteseinen einmaligen Versuch, an die Spitze des Verteidi-gungsministeriums einen Zivilisten zu setzen, nachheftigen Protesten der Militärs aufgegeben und nichtwiederholt.

Die Ernennung Iwanows bedeutet in gewisser Weisezugleich die Kontrolle des Militärs durch den FSB,denn es ist nicht anzunehmen, daß der vormaligeStellvertretende FSB-Chef (1998–1999) seine Geheim-dienstverbindungen völlig abgebrochen hat. Zudemnahm Putin Anfang 2001 den Militärs das Oberkom-mando im Tschetschenien-Krieg und übertrug es demFSB-Chef Generaloberst Nikolaj Patruschew.

Die KPdSU hatte immer die Befürchtung, daß diemächtige Armee eines Tages nach der politischenMacht greifen würde. Deshalb überzog sie das Militärmit einem dichten Netz von KGB-Agenten, die zeit-weise zugleich Politoffiziere waren. Die Politoffizierehatten in den ersten Jahrzehnten der Sowjetherrschaftkeine militärische Ausbildung, aber einen militäri-schen Offiziersrang und die Kompetenz, dem militäri-schen Kommandeur Befehle zu erteilen. Aus dieserZeit stammt die Animosität der Militärs gegen denSicherheitsdienst, heiße er nun KGB oder FSB.

Gleichzeitig emanzipierte sich Putin durch die Neu-ernennungen von der Jelzin-»Familie« und verschobdas sicherheitspolitische Machtzentrum vom Sicher-heitsrat zum Verteidigungsministerium.6 Wenn zu-dem an die Spitze der wichtigsten »Machtministerien«und der Steuerpolizei Politiker gesetzt werden, könnte

6 Zur Analyse der Neuernennungen vgl. Eberhard Schneider,Neue »Machtminister« in Moskau. Erste wichtige Personalver-änderungen Putins, Berlin: Stiftung Wissenschaft und Politik,April 2001 (SWP-Aktuell 8/01).

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Bewertung

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das eine erste Maßnahme zu einer gewissen Poli-tisierung der Regierung sein, die bisher als eine ArtTechnokratenkabinett unabhängig von den Mehr-heitsverhältnissen in der Staatsduma vom Präsidentenernannt wurde und nur ihm verantwortlich ist.

Die personellen Veränderungen im wirtschaft-lichen Bereich betreffen den nicht ganz halbstaat-lichen Konzern GASPROM, der 25% des weltweit ange-botenen Erdgases erzeugt. Durch die Berufung Millersan die Vorstandsspitze will Putin den Konzern, dessenSteuerabgaben zu 25% den russischen Staatshaushaltfinanzieren, stärker kontrollieren.

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Stärkung der Zentralgewalt

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Stärkung der Zentralgewalt

Mit seinem Erlaß vom 13. Mai 2000 »Über die Voll-machten des Präsidenten der Russischen Föderationim Föderalen Bezirk«7 schuf Putin sieben FöderaleBezirke und ernannte zu deren Beaufsichtigungsieben Bevollmächtigte Vertreter des Präsidenten, diein Rußland – in Anknüpfung an eine alte zaristischeTradition – Generalgouverneure genannt werden. Mitdieser Maßnahme versucht Putin, den unter seinemAmtsvorgänger in manchen Regionen aufgekomme-nen Trend aufzuhalten, sich politisch zu verselbstän-digen, wenn die Regionen dazu die wirtschaftlichenVoraussetzungen zu besitzen meinen.

Die bisherigen Präsidentenvertreter

Bisher gab es in jedem der 89 Föderationssubjekteeinen Vertreter des Präsidenten. Das Institut dieserVertreter war von Jelzin nach dem Augustputsch 1991geschaffen worden, um seine Politik in der Provinzbesser durchsetzen zu können.

Laut Statut vom Juli 19978 hatten die Präsidenten-vertreter die Aufgabe, das Föderationssubjekt zu be-aufsichtigen und den Präsidenten über ihre Erkennt-nisse zu informieren. Eine weitere konkrete Aufgabedieser Vertreter bestand darin, Wahlkampagnenzugunsten des Präsidenten und der ihn unterstützen-den politischen Kräfte in ihrem Föderationssubjektdurchzuführen.

Da sich die Präsidentenvertreter nicht selten mitdem Republikpräsidenten oder Gouverneur identifi-zierten, repräsentieren sie oft eher die Interessen derRegion gegenüber Moskau statt umgekehrt. Das wurdemöglich, weil die Vertreter der »zweiten Welle« 1992/93 nicht mehr unter den Abgeordneten des Volksdepu-tiertenkongresses ausgewählt wurden, sondern unterjenen Kandidaten, die in der Regel der Republikpräsi-dent oder Gouverneur Moskau vorschlug.

7 Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federacii »O polnomočnompredstavitele Prezidenta Rossijskoj Federacii v Federal’nomokruge«, in: Sobranie zakonodatel’stva Rossijskoj Federacii,20, 2000, Pos. 2112. Dieses Dekret enthält eine Liste dersieben Föderationsbezirke, aus der hervorgeht, welche Föde-rationssubjekte ihnen jeweils angehören.8 Rossijskaja gazeta, 16.7.1997.

Die neuen föderalen Bezirke

Die sieben neuen Föderalen Bezirke umfassenfolgende Republiken und Gebiete:Zentraler Bezirk mit der Stadt Moskau und denGebieten Belgorod, Brjansk, Iwanowo, Jaroslawl,Kaluga, Kostroma, Kursk, Lipezk, Moskau, Orjol,Rjasan, Smolensk, Tambow, Tula, Twer, Wladimirsowie Woronesh; Sitz des Präsidentenvertreters inMoskau;Bezirk Nord-West mit St. Petersburg, den RepublikenKarelien und Komi, den Gebieten Archangelsk,Kaliningrad, Leningrad, Murmansk, Nowgorod, Pskowsowie Wologda und dem Autonomen Kreis derNenzen; Sitz des Präsidentenvertreters in St. Peters-burg;Bezirk Nordkaukasus mit den Republiken Adygeja,Dagestan, Inguschetien, Kabardino-Balkarien, Kalmy-kien, Karatschajewo-Tscherkessien, Nordossetien-Alanija sowie Tschetschenien, den Regionen Krasno-dar und Stawropol und den Gebieten Astrachan,Rostow sowie Wolgograd; Sitz des Präsidentenvertre-ters in Rostow am Don;Wolga-Bezirk mit den Republiken Baschkortostan,Mari El, Mordwinien, Tatarstan, Tschuwaschien sowieUdmurtien, den Gebieten Kirow, Nishnij Nowgorod,Orenburg, Pensa, Perm, Samara, Saratow sowie Ulja-nowsk und dem Autonomen Kreis der Komi-Perm-jaken; Sitz des Präsidentenvertreters in Nishnij Now-gorod;Ural-Bezirk mit den Gebieten Kurgan, Swerdlowsk,Tjumen sowie Tscheljabinsk und den AutonomenKreisen der Chanten und Mansen sowie der Jamal-Nenzen; Sitz des Präsidentenvertreters in Jekaterin-burg;Bezirk Sibirien mit den Republiken Altaj, Burjatien,Chakassien und Tuwa, mit den Regionen Altaj undKrasnojarsk, den Gebieten Irkutsk, Kemerowo, Nowo-ssibirsk, Omsk, Tomsk sowie Tschita und denAutonomen Bezirken der Aginer Burjaten, der Ust-Ordynsker Burjaten, der Ewenken sowie von Tajmyr;Sitz des Präsidentenvertreters in Nowossibirsk;Fernöstlicher Bezirk mit der Republik Sacha (Jaku-tien), den Regionen Chabarowsk und Primorje, denGebieten Amur, Kamtschatka, Magadan und Sachalin,

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Die neuen Generalgouverneure

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mit dem Jüdischen Autonomen Gebiet und den Auto-nomen Kreisen der Korjaken und der Tschuktschen;Sitz des Präsidentenvertreters in Chabarowsk.

Die Bezeichnung und die territoriale Ausdehnungder neuen Föderalen Bezirke weist nicht zu übersehen-de Ähnlichkeiten mit den Interregionalen Wirtschafts-assoziationen (IWA) auf, die zwischen 1992 und 1994auf freiwilliger Grundlage entstanden sind und vorallem der wirtschaftlichen Zusammenarbeit dienen.9

Jede IWA wählt ihren Vorsitzenden aus den vertrete-nen Republikpräsidenten bzw. Gouverneuren. Derdamalige Premier Jewgenij Primakow nahm im Herbst1998 die Vorsitzenden der acht IWAs in das Präsidiumder Regierung auf. Sie haben das Recht – nicht diePflicht –, an der Regierungsarbeit mitzuwirken.

Der Unterschied zu den neuen Föderalen Bezirkenbesteht in der zusätzlichen Existenz der IWA»Schwarzerde-Gebiet«, deren Territorien dem Zentra-len Föderalen Bezirk angehören. Das bedeutet, daß dieneuen Föderalen Bezirke sich auf ein gewisses Niveauregionaler wirtschaftlicher Zusammenarbeit stützenkönnen. Weitgehende Identität besteht zwischen denFöderalen Bezirken und den Militärbezirken.10 Damitwollte Putin klarstellen, daß er nicht auf regionale,sondern auf zentral geführte Strukturen wie beispiels-weise das Militär zurückgreifen will.

Die neuen Generalgouverneure

Die sieben neuen Föderalen Bezirke werden vonfolgenden sieben Bevollmächtigten Vertretern desPräsidenten beaufsichtigt. Nur zwei von ihnen sindZivilisten, fünf kommen aus den Sicherheitsstruktu-ren Armee, Polizei und Föderalem Sicherheitsdienst(FSB), dem KGB-Nachfolger Inland:

Georgij Sergejewitsch Poltawtschenko, der Vertreterdes Präsidenten im Gebiet Leningrad (seit 1999),

9 Regiony Rossii, Moskau 1997. Vgl. dazu: Andreas Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat. Föderalismus und regionaleVielfalt in Rußland, Berlin 2000, S. 345–358.10 Lediglich das Gebiet Kaliningrad gehört keinem Militär-bezirk an, sondern bildet eine eigene militärisch-admini-strative Einheit, und das Gebiet Nishnij Nowgorod gehörtnicht zum Wolga-Militärbezirk, sondern zum MoskauerMilitärbezirk (Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federacii »O voen-no-administrativnom delenii Rossijskoj Federacii« [Erlaß desPräsidenten der Russischen Föderation »über die militärisch-administrative Einteilung der Russischen Föderation«], in:Sobranie zakonodatel’stva Rossijskoj Federacii, 31, 1989,Pos. 3839).

wurde Generalgouverneur des Zentralen FöderalenBezirks. 1953 in Baku geboren, absolvierte er 1976 dasInstitut für Instrumenten- und Apparatebau der Luft-fahrt sowie 1979 eine KGB-Ausbildung. Von 1980 bis1990 war er für den KGB im Gebiet Leningrad tätig,gehörte von 1990 bis 1993 als Deputierter demGebietssowjet Leningrad an und leitete anschließendbis 1999 die föderale Verwaltung der Steuerpolizei inLeningrad.

Generalleutnant Wiktor Wassiljewitsch Tscherkes-sow wurde Generalgouverneur des Föderalen BezirksNord-West. (Zur Kurzbiographie siehe oben, S. 10.)

Armeegeneral Wiktor Germanowitsch Kasanzew, derBefehlshaber des Militärbezirks Nordkaukasus (seit1996, zuerst in Stellvertreterfunktion), wurde General-gouverneur des Föderalen Bezirks Nordkaukasus.1946 im Gebiet Witebsk geboren, absolvierte er 1979die Frunse-Militärakademie sowie 1987 die General-stabsakademie. Von 1981 bis 1985 war er Divisions-kommandeur – zuerst in Stellvertreterfunktion – inder Tschechoslowakei. Von 1987 bis 1995 hatte erverschiedene hohe Kommandos in den Militärbezir-ken Zentralasien (Erster Stellvertretender Armee-befehlshaber), Turkestan (Befehlshaber eines Armee-korps, Erster Stellvertretender Befehlshaber des Mili-tärbezirks) und Transbajkal (Erster StellvertretenderChef des Stabes, Stellvertretender Befehlshaber desMilitärbezirks) inne.

Sergej Wladilenowitsch Kirijenko, der kurzzeitigePremier (April bis August 1998), Staatsduma-abgeordnete (seit 19.12.1999) und Ko-Vorsitzende der»Union der rechten Kräfte«, wurde Generalgouverneurdes Föderalen Bezirks Wolga. Er ist 1962 in Suchumi(Georgien ) geboren und absolvierte 1984 das Institutfür Schiffsingenieurwesen in der Stadt Gorkij, dieheute wieder Nishnij Nowgorod heißt. Auf dem Höhe-punkt seiner Komsomolkarriere wurde er 1990Zweiter Sekretär des Gebietskomitees Gorkij. Nachdem Verbot der KPdSU wechselte Kirijenko in die Wirt-schaft, in der er es 1997 bis zum Präsidenten der Erd-ölgesellschaft Norsi-Oil in Nishnij Nowgorod brachte.Anschließend begann er seine Regierungskarriere alsErster Stellvertretender Minister für Brennstoff- undEnergiewirtschaft.

Generaloberst Petr Michajlowitsch Latyschew, derStellvertretende Innenminister (seit 1994), wurdeGeneralgouverneur des Föderalen Bezirks Ural. 1948

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in Chmelnizkij in der Ukraine geboren, absolvierte er1970 die Milizhochschule und 1980 die Akademie denInnenministeriums der UdSSR. Im Laufe seiner Polizei-karriere übte er verschiedene Funktionen in der Ver-waltung Innere Angelegenheiten im Gebiet Perm aus.Von 1990 bis 1993 war er Volksdeputierter der UdSSR.

Leonid Wadimowitsch Dratschewskij, der GUS-Mini-ster (seit 1999),wurde Generalgouverneur des Föde-ralen Bezirks Sibirien. Er ist 1942 in Alma-Ata inKasachstan geboren und absolvierte 1966 das Mos-kauer chemo-technologische Mendelejew-Institut,1982 das Staatliche Zentralinstitut für Körperertüchti-gung und Sport sowie 1993 die Diplomatische Akade-mie des russischen Außenministeriums. Nach einemkurzen Intermezzo als Stellvertretender Vorsitzenderdes Staatskomitees für Körperertüchtigung und Sportder RSFSR trat er 1992 in den Diplomatischen Dienstein. Von 1992 bis 1993 war er Generalkonsul in Barce-lona und von 1996 bis 1998 Botschafter in Polen. Inden übrigen Jahren war er im russischen Außenmini-sterium im Bereich GUS-Angelegenheiten tätig, zuletztals Direktor des GUS-Departements. 1998 stieg er zumStellvertretenden Außenminister auf.

Armeegeneral Konstantin Borissowitsch Pulikowskij,der Befehlshaber der russischen Streitkräfte in Tsche-tschenien (seit 1996, zuerst in Stellvertreterfunktion),wurde Generalgouverneur des Föderalen BezirksFernost. 1948 in der Region Primorje nahe der chinesi-schen Grenze geboren, absolvierte er 1970 die Garde-Militärhochschule der Panzertruppen, 1982 die Mali-nowskij-Militärakademie der Panzertruppen sowie1992 die Genralstabsakademie. Er hatte verschiedenemilitärische Posten in Weißrußland (1970–1979) undim Baltikum (1982–1990). Von 1992 bis 1998 war erzuerst Stellvertretender Befehlshaber einer Armee imMilitärbezirk Nordkaukasus und dann Kommandeurdes Armeekorps dieses Militärbezirks. In dieser Funk-tion war er von 1994 bis 1996 Kommandeur im erstenTschetschenienkrieg.

Die sieben neuen, vom Präsidenten eingesetzten (undabzuberufenden) und nur ihm verantwortlichen Gene-ralgouverneure in den Föderalen Bezirken habenunter anderem die Aufgabe, die Tätigkeit der föde-ralen Exekutivorgane zu koordinieren, an der Arbeitder regionalen Exekutivorgane sowie der Organe derörtlichen Selbstverwaltung mitzuwirken, die Effekti-vität der Rechtsschutzorgane zu analysieren und demPräsidenten die Aussetzung solcher Rechtsakte der

regionalen Exekutive vorzuschlagen, die föderalenGesetzen widersprechen.

Um die Position der neuen Generalgouverneure auf-zuwerten, wurden sie zu Mitgliedern des Sicherheits-rats ernannt.11 Ferner wurde ihnen jeweils ein Stell-vertretender Generalstaatsanwalt zugeordnet. NachMeinung von Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinowwerden die Föderalen Bezirke auf diese Weise in dieLage versetzt, die Tätigkeit der Rechtsschutzorganebesser zu koordinieren. Die Stellvertretenden General-staatsanwälte hätten nicht vor, sich in die Tätigkeitder Staatsanwälte der Föderationssubjekte einzu-mischen.12

Tätigkeit der neuen Generalgouverneure

Die Generalgouverneure, die allmonatlich mit Putinzusammentreffen und ihm über ihre Arbeit berichten,haben inzwischen eine neue Bürokratie aufgebaut, dieihr Personal teilweise aus den nun überflüssig gewor-denen Apparaten der ehemaligen 89 Präsidenten-vertreter rekrutiert. Überdies beginnen sie, neben ört-lichen und regionalen Politikern auch Geschäftsleuteum sich zu versammeln.13 Der Sitz des Generalgouver-neurs wird nach Meinung des Präsidenten von Tatar-stan, Mintimer Schajmijew, allmählich zu einer Artneuer regionaler Hauptstadt.14 Die Zuordnung vonStellvertretenden Generalstaatsanwälten und die Mit-gliedschaft der Generalgouverneure im Sicherheitsratverleihen ihnen zusätzliches politisches Gewicht.

Um weitergehende Vollmachten für die General-gouverneure kam es zu einem Streit. Der Leiter derPräsidialadministration wollte mit Unterstützung desSicherheitsrats die Vollmachten der Generalgouver-neure einschränken. Andere Überlegungen gingendahin, die Territoriale Hauptverwaltung der Präsidial-administration, die für die Beaufsichtigung der Regio-nen und der Generalgouverneure zuständig ist, auf-zulösen und ihre Kompetenzen den Generalgouver-neuren zu übertragen. Die Generalgouverneure selbst,die sich untereinander nicht koordinieren, äußernsich widersprüchlich über ihre Kompetenzen. Einige

11 Ukaz Prezidenta Rossijskoj Federacii »Ob utverždeniisostava Soveta Bezopasnosti Rossijskoj Federacii« [Erlaß desPräsidenten der Russischen Föderation »über die Bestätigungder Zusammensetzung des Sicherheitsrats der RussischenFöderation«], in: Rossijskaja gazeta, 30.5.2000.12 Interfax, russ., 7.6.2000.13 Nezavisimaja gazeta, 12.5.2001.14 International Herald Tribune, 1.6.2001.

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Tätigkeit der neuen Generalgouverneure

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von ihnen verlangen mehr Vollmachten, vor allem imHinblick auf die Kontrolle der Budgets der Födera-tionssubjekte in ihren Föderalen Bezirken.15

Die Generalgouverneure waren in politischen Fra-gen gelegentlich anderer Meinung als die TerritorialeHauptverwaltung. So unterstützten Generalgouver-neur Latyschew im Gebiet Tjumen und Generalgouver-neur Kirijenko in der Republik Mari El jeweils einenanderen Kandidaten bei der Gouverneurswahl als dieTerritoriale Hauptverwaltung.16 In der Republik MariEl gewann der Kandidat des Generalgouverneurs Kiri-jenko die Wahl, nicht zuletzt dank der Bildung einesspeziellen Wahlkampfstabs. Ähnlich fördert Kirijenkoseinen Kandidaten für das Amt des Gouverneurs imGebiet Nishnij Nowgorod. Kirijenko möchte an derSpitze der ihm unterstellten FöderationssubjekteExekutivchefs sehen, die jung, ihm persönlich verbun-den und mit der gleichen Mentalität ausgestattet sindwie er. Auf diese Weise will er sich ein Team vonLeuten schaffen, das ihn später einmal bei seiner Kan-didatur für das Präsidentenamt unterstützen soll.17

Am 30. Januar 2001 unterzeichnete Putin einDekret, das die Generalgouverneure verpflichtet, ihreTätigkeit mit dem Leiter der Präsidialadministrationstärker zu koordinieren. Dabei sollten ihre Vollmach-ten jedoch nicht angetastet werden. Putin ernannteam 16. Februar 2001 den bisherigen Leiter der Verwal-tung Innenpolitik, Andrej Popow, zum neuen Leiterder Territorialen Hauptverwaltung. Sein Vorgänger imAmt, Sergej Samojlow, mußte gehen, weil er bei denGouverneurswahlen im Jahr 2000 zu wenig Kandida-ten des Kreml zum Sieg verholfen hatte.18 Popow istein enger »Kampfgenosse« von Wladislaw Surkow,dem Stellvertretenden Leiter der Präsidialadministra-tion, der zuständig ist für die Innenpolitik sowie dieZusammenarbeit mit der Staatsduma, dem Födera-tionsrat, der Zentralen Wahlkommission und demVerfassungsgericht. Surkow wiederum ist die rechteHand von Aleksandr Woloschin, dem Leiter der Präsi-dialadministration.19 Die Ernennung Popows bedeuteteine weitere Stärkung der Position Surkows.

Putin lobte anläßlich des Jahrestags ihrer Berufungam 12. Mai 2001 die Arbeit der Generalgouverneure.Sie hätten begonnen, in Rußland einen einheitlichen

15 Kommersant-Daily, 7.3.2001.16 Moskovskij komsomolez, 31.1.2001.17 Nezavisimaja gazeta, 12.3.2001.18 Robert W. Orttung, How Effective Are Putin’s Federal Re-forms?, in: EastWest Institute (Hg.), Russian Regional Report, 6(2000) 11.19 Kommersant-Daily, 17.2.2001.

Rechtsraum zu schaffen, und die drohende Desinte-gration des Landes beendet. Zugleich warnte er sie voreiner Einmischung in die Machtbefugnisse der ge-wählten Präsidenten oder Gouverneure der Repu-bliken bzw. Gebiete ihrer Föderalen Bezirke und for-derte sie auf, mehr für die Anhebung des Lebens-niveaus in ihren Föderalen Bezirken zu tun.20 In seinerAnsprache zur Lage der Nation an die Föderalver-sammlung am 3. April 2001 nannte Putin an ersterStelle seiner Prioritätenliste die genaue Abgrenzungder Vollmachten des Zentrums und der Föderations-subjekte durch föderale Gesetze.21

Die Generalgouverneure haben vor allem die Auf-gabe, die Tätigkeit der in jeder Region vertretenenAußenstellen der über 30 zentralen Regierungsorganezu beaufsichtigen und zu koordinieren. Um dieseAufgabe besser erfüllen zu können, haben sieverschiedene Räte eingerichtet. Der Generalgouver-neur des Zentralen Föderalen Bezirks, Poltawtschenko,bildete zum Beispiel einen Bezirksrat, der aus denLeitern der ihm unterstellten Regionen besteht unddie wirtschaftliche Entwicklung des Föderalen Bezirksdiskutieren soll.22 Zum Ratsleiter wurde der Gouver-neur von Orjol, Jegor Strojew, gewählt, der zugleichVorsitzender des Föderationsrats ist. Im FöderalenBezirk Fernost existiert der Koordinierungsrat derLeiter der Exekutivorgane der Föderationssubjekte.

Generalgouverneur Dratschewskij erweiterte fürseinen Föderalen Bezirk Sibirien den Bezirksrat umdie Vorsitzenden der Gesetzgebenden Versammlungen»seiner« Föderationssubjekte.23 Dratschewskij grün-dete ferner einen Wirtschaftsrat wissenschaftlicherExperten, der eine Strategie für die wirtschaftlicheEntwicklung Sibiriens ausarbeiten soll.24 Generalgou-verneur Tscherkessow bildete in seinem FöderalenBezirk Nord-West einen Rat für Wirtschaft und Investi-tionen sowie einen Koordinierungsrat der Militär-organe.25 Jeder Generalgouverneur bildete eine Kader-kommission, die im März ihre Tätigkeit aufnahm.26

Folgende wirtschaftspolitische Prioritäten setzteGeneralgouverneur Poltawtschenko für den ZentralenFöderalen Bezirk: Gründung eines Investitionsfonds,Entwicklung der wirtschaftlichen und sozialenSphäre, Produktion von Landwirtschaftstechnik mit

20 RFE/RL Newsletter, 5 (14.5.2001) 91, Part I.21 Offizielle Webseite des Präsidenten vom 3. April 2001.22 Kommersant-Daily, 10.2.2001.23 Vek, 9.2.2001.24 Kommersant-Daily, 9.2.2001.25 SPB Vedomosti, 21.2.2001.26 Izvestija, 2.3.2001.

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Stärkung der Zentralgewalt

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den Mitteln der Region im Rahmen wirtschaftlicherZusammenarbeit, verstärkter Wohnungsbau für sozialSchwache in Städten und Dörfern. GeneralgouverneurKasanzew arbeitete einen »Fünfjahresplan« zur Ent-wicklung seines Föderalen Bezirks Süden aus.27 (Einenähnlichen Plan gibt es für den Föderalen Bezirk Fern-ost.) Für seine Realisierung müssen 150 Mio. Rubelaufgebracht werden. 10% der Summe soll Moskaubeisteuern, die restlichen Gelder will Kasanzew regio-nalen Budgets entnehmen und bei Unternehmensowie russischen bzw. ausländischen Investoren ein-werben.28 Der Generalgouverneur des FöderalenBezirks Ural, Latyschew, übersandte Putin AnfangFebruar 2001 ein Papier zur »Optimierung der Struk-turen und der Anzahl der Beschäftigten der föderalenStaatsorgane in den Föderalen Bezirken«.

Eine wichtige Aufgabe der Generalgouverneurebesteht darin, für einen einheitlichen Rechtsraum inRußland zu sorgen. Mangelnder politischer und admi-nistrativer Kontrolle ist es zuzuschreiben, daß in denvergangenen Jahren in 19 von 20 Republikverfassun-gen Bestimmungen aufgenommen wurden, die imWiderspruch zur föderalen Verfassung stehen (so inden Verfassungen der Republiken Tatarstan, Baschkor-tostan, Sacha [Jakutien], Tuwa und Inguschetien, diedem föderalen Zentrum Kompetenzen nur auf Ver-tragsbasis zugestehen, womit ein solcher Vertrag Vor-rang vor der föderalen Verfassung Rußlands hat).29

Nach Aussage des Beraters des Premierministers inRechtsfragen, Sergej Schachraj, stimmt beispielsweisein der Verfassung der Republik Tatarstan nur derArtikel über die Staatsbürgerschaft mit der föderalenVerfassung überein. Acht Republiken sehen sichzuständig für die Festlegung von Vorschriften über dieVerhängung des Ausnahmezustands. Die RepublikTuwa beschließt sogar über Krieg und Frieden, behältsich ein Vetorecht gegen die Ernennung führenderMilitärs in der Republik durch Moskau vor undernennt eigene Staatsanwälte und Richter. Auchunterhalb der Verfassungsebene gibt es eine Fülle vonregionalen Gesetzen, die im Widerspruch zur födera-len Verfassung stehen; ihre Zahl wird im russischenJustizministerium auf mehrere Tausend geschätzt. Inseiner Fernsehansprache am 21. Mai 2000 behauptetePutin, ein Fünftel aller auf regionaler Ebene verab-schiedeten Gesetze sei mit der Verfassung nicht zu

27 Rossijskaja gazeta, 12.5.2001.28 Nezavisimaja gazeta, 30.3.2001.29 Irina Busygina, Der asymmetrische Föderalismus. Zurbesonderen Rolle der Republiken in der Russischen Födera-tion, in: Osteuropa, (1998) 3, S. 246.

vereinbaren.30 Seit Januar 1999 zählte das Justizmini-sterium in Moskau 347 neue regionale Rechtsakte, dieder Verfassung bzw. den föderalen Gesetzen wider-sprechen.31 Bisher sind folgende 23 Föderationssubjek-te wegen ihrer Gesetzgebung verwarnt worden: dieRepubliken Adygien, Altaj, Baschkortostan, Ingusche-tien, Komi, Sacha, Tatarstan und Tuwa, der KrajKrasnojarsk, die Städte Moskau und St. Petersburgsowie die Gebiete Archangelsk, Irkutsk, Kamtschatka,Moskau, Nowgorod, Nowossibirsk, Pskow, Rjasan,Swerdlowsk, Tscheljabinsk, Tschita und Woronesh.

Von den über 2000 Gesetzen im Zentralen Födera-len Bezirk, die im Widerspruch zur föderalen Gesetz-gebung standen, waren Ende Februar 80% wieder mitihr in Übereinstimmung gebracht worden.32 Im Föde-ralen Bezirk Nord-West stimmten 500 Rechtsaktenicht mit den föderalen Gesetzen überein, 350 sindinzwischen korrigiert worden oder befinden sich imAngleichungsprozeß.33 Im Föderalen Bezirk Uralstimmten nur 300 der 1500 Gesetze und normativenRechtsakte mit der föderalen Verfassung und den föde-ralen Gesetzen überein.34Anfang Februar 2001 standenim Föderalen Bezirk Wolga noch 853 normativeRechtsakte im Widerspruch zur föderalen Verfassungund zu den föderalen Gesetzen.35 40 Artikel der Verfas-sung Tatarstans widersprechen der föderalen Verfas-sung. Moskau hat es inzwischen aufgegeben, vonTatarstan die Anpassung seiner Verfassung zu ver-langen. Nun wird von Generalgouverneur Kirijenkoerwartet, daß er das Anpassungswunder vollbringt.36

Insgesamt sind inzwischen ungefähr 80% derVerfassungen und Gesetze der Föderationssubjekteangepaßt worden, die bisher der föderalen Verfassungund den föderalen Gesetzen widersprachen. Da es aberauch föderale Gesetze gibt, die in sich widersprüchlichsind, stellt sich die Frage, wie man regionale Gesetzean sie anpassen soll?

Manchmal wird auch sehr listig vorgegangen: DieRepublik Baschkortostan nahm im Rahmen der Anpas-sung den Kompetenzabgrenzungsvertrag in die neueVerfassung auf, den sie 1994 mit Moskau geschlossenhatte.37 Damit erhielt der von Jelzin unterschriebene

30 Rossijskaja gazeta, 19.5.2000.31 Nezavisimaja gazeta, 31.5.2000.32 Moskovskaja Pravda, 7.3.2001.33 SPB Vedomosti, 31.3.2001.34 Rossijskaja gazeta, 12.5.2001.35 Rossijskaja gazeta, 7.2.2001.36 Kommersant-Daily, 21.3.2001.37 Vgl. dazu: Eberhard Schneider, Föderalismus in Rußland:Kompetenzabgrenzungsverträge und Gouverneurswahlen,

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Schwächung des Föderationsrats

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Vertrag Verfassungsrang, obwohl er in vielen Punktender föderalen Verfassung widerspricht.

Eine weitere Aufgabe der Generalgouverneure istdie Bekämpfung von Kriminalität und Korruption. Sogründete der Generalgouverneur des FöderalenBezirks Ural, Latyschew, als beratendes Organ einenBezirksrat zur Koordinierung der Tätigkeit der staat-lichen Kontrollorgane, vor allem des Innenministe-riums, des FSB und der Staatsanwaltschaft. Der Rat hatinsbesondere die Wirtschaftskriminalität im Visier.38

Der Generalgouverneur des Föderalen Bezirks Nord-West, Tscherkessow, bildete einen Koordinierungsratfür Rechtsschutz.39 Im selben Föderalen Bezirk wurdeauf Initiative der St. Petersburger Juristenvereinigungbeim Generalgouverneur der Rat für staatliche Rechts-politik gegründet.40

Um seine Tätigkeit auf eine breitere Basis zu stellen,gründete Tscherkessow, Generalgouverneur im Föde-ralen Bezirk Nord-West, eine Gesellschaftliche Kam-mer zur gesellschaftspolitischen Konsultation in denwichtigen Fragen der staatlichen, wirtschaftlichenund sozialen Entwicklung des Landes und zur Aus-arbeitung konkreter Empfehlungen für die staatlichenOrgane auf föderaler und örtlicher Ebene. Die Kam-mer, die Filialen in allen elf Föderationssubjekten desFöderalen Bezirks hat, bildete zusätzlich elf Arbeits-gruppen zu verschiedenen Themen wie Schutz desVaterlandes (Probleme der Armee), Kultur, internatio-nale Probleme, Familie, örtliche Selbstverwaltung,wirtschaftliche Entwicklung der Region.41

Konflikte mit den regionalen Exekutivchefs bleibennicht aus. Für den Föderalen Bezirk Ural wurde eineRangliste derjenigen Gouverneure aufgestellt, die sichGeneralgouverneur Latyschew am meisten widerset-zen. Angeführt wird sie vom Gouverneur des GebietsSwerdlowsk, Eduard Rossel. Ihm folgen die Gouver-neure der Gebiete bzw. Autonomen Bezirke Kurgan(Oleg Bogomolow), Chanten und Mansen (AleksandrFilipenko), Jamal-Nenzen (Jurij Nejolow), Tscheljabinsk(Petr Sumin) und Tjumen (Sergej Sobjanin).42

Die Generalgouverneure planen offensichtlich,auch außenpolitisch tätig zu werden. Ende März 2001

Köln 1997 (Berichte des Bundesinstituts für ostwissenschaft-liche und internationale Studien, Nr. 21/1997).38 Nezavisimaja gazeta, 14.3.2001.39 SPB Vedomosti, 19.1.2001.40 SPB Vedomosti, 2.2.2001.41 Robert Orttung/Viktor Cherkessov, Putin’s Man in the North-west, in: EastWest Institute (Hg.), Russian Regional Report, 6(2.5.2001) 16.42 Nezavisimaja gazeta, 22.3.2001.

beschloß das Außenministerium, daß sie geschultwerden sollen, internationale Angelegenheiten zubehandeln.43

Schwächung des Föderationsrats

Durch das Gesetz »Über das Verfahren zur Bildung desFöderationsrats der Föderalen Versammlung der Russi-schen Föderation« vom 5. August 2000,44 das vom Fö-derationsrat nach anfänglichen Widerständen gebil-ligt wurde, erreichte Putin, daß statt der Republik-präsidenten bzw. Gouverneure und der Vorsitzendender regionalen Parlamente nur noch deren Vertreterals Vollzeitparlamentarier dem Föderationsrat ange-hören. Als Begründung führte Putin seinen Wunschan, daß die Gouverneure alle ihre Kräfte »auf die kon-kreten Probleme ihrer Territorien richten. Dafür sindsie von der Bevölkerung schließlich gewählt.«45

Der Föderationsrat ist als Oberhaus des Parlamentsdas einzige staatliche Organ auf zentraler Ebene, dasdie Interessen der Regionen vertritt. Nach dem neuenGesetz wird der Vertreter der Exekutive eines Födera-tionssubjekts im Föderationsrat durch Erlaß des Repu-blikpräsidenten/Gouverneurs ernannt. Innerhalb vondrei Tagen muß der Chef der Exekutive das regionaleParlament über die Ernennung informieren. Der Ver-treter der Exekutive im Föderationsrat gilt dann alsbestätigt, wenn im Regionalparlament nicht binnendrei Wochen mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit gegenseine Ernennung votiert wird. Eine ausdrücklicheZustimmung des Parlaments zur Ernennung des Ver-treters der Exekutive ist nicht erforderlich.

Der Vertreter der Legislative der Region im Födera-tionsrat wird vom Vorsitzenden des regionalen Parla-ments vorgeschlagen. Eine Gruppe von mindestenseinem Drittel der Abgeordneten des regionalen Parla-ments kann jedoch einen alternativen Kandidaten auf-stellen. Der Vertreter der Legislative der Region, derdann vom regionalen Parlament gewählt wird, ist fürdie Dauer der Legislaturperiode des regionalen Parla-ments im Amt. In Föderationssubjekten mit einemZweikammerparlament werden die Vertreter derReihe nach von jeder Kammer für die Hälfte der Zeit

43 Kommersant-Daily, 31.3.2001.44 Federal’nyj zakon »O porjadke formirovanija SovetaFederacii Federal’nogo Sobranija Rossijskoj Federacii« [Föde-rales Gesetz »über die Bildung des Föderationsrates der Föde-ralen Versammlung der Russischen Föderation«], in: Rossijs-kaja gazeta, 8.8.2000.45 Rossijskaja gazeta, 19.5.2000.

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Stärkung der Zentralgewalt

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gewählt. Das Gesetz sieht unter bestimmten Umstän-den eine vorzeitige Entlassung der beiden Vertreterder regionalen Exekutive und Legislative vor, die aufdie gleiche Weise erfolgt wie deren oben beschriebeneErnennung.

Bis zum 1. Januar 2002 müssen alle Föderationsrats-mitglieder ausgewechselt sein. Zur Zeit ist das in mehrals der Hälfte der Fälle bereits geschehen. Die neuenFöderationsratsmitglieder sind föderale Politiker,regionale Geschäftsleute, föderale sowie regionaleBeamte, Manager, Angehörige der Sicherheitsdienstebzw. der Truppen des Innenministeriums, Veteranenund Personen, die in Opposition zum Gouverneurstehen.46 Gelegentlich sind es auch ehemalige Gouver-neure, die nicht erneut für das Spitzenamt in ihrerRegion kandidieren können, weil sie bereits zweiAmtszeiten lang Gouverneure waren. Nach Ablaufeiner Legislaturperiode im Föderationsrat können sieversuchen, erneut für das Amt des Gouverneurs zukandidieren.

In seiner neuen Zusammensetzung hat der Födera-tionsrat entgegen der Tradition eine Fraktion gebildet:die Fraktion »Föderation«, die den Präsidenten unter-stützt. Sie besteht aus 103 Mitgliedern, von denen abernur 67 aktiv sind.47

Absetzung regionaler Exekutivchefs undAuflösung regionaler Volksvertretungen

Das Gesetz »Über die Einführung von Änderungen undErgänzungen in das Föderale Gesetz ›Über die allge-meinen Prinzipien der Organisation der gesetz-gebenden und exekutiven Organe der Staatsmacht derFöderationssubjekte der Russischen Föderation‹« vom29. Juli 200048 sieht die Auflösung der regionalenParlamente vor, wenn das zuständige Gericht fest-stellt, daß normative Rechtsakte der Legislative desFöderationssubjekts im Widerspruch zur Verfassungder Russischen Föderation oder den föderalenGesetzen stehen, daß solche Akte zu massenhaftenund schweren Verletzungen der Rechte und Freiheitender Menschen und Bürger geführt haben oder die

46 Segodnja, 5.4.2001.47 Information aus dem wissenschaftlichen Dienst des Föde-rationsrats.48 Federal’nyj zakon »O vnesenii izmenenij i dopolnenij vfederal’nyj zakon ›Ob obščich principach organizacii zako-nodatel’nych (predstavitel’nych) i ispolnitel’nych organovgosudarstvennoj vlasti sub-ektov Rossijskoj Federacii‹«, in:Rossijskaja gazeta, 1.8.2000.

territoriale Einheit und Sicherheit Rußlands sowie die»Einheit des Rechts- und Wirtschaftsraums« bedroh-ten. Falls die Legislative des Föderationssubjekts imRahmen ihrer Kompetenzen nicht innerhalb von sechsMonaten im Sinne des Gerichtsbeschlusses den inkri-minierten Rechtsakt aufhebt oder korrigiert undgerichtlich festgestellt wurde, daß die Legislative dieRealisierung der föderalen Normen behindert, ver-warnt der Präsident das Regionalparlament. Wenndiese Verwarnung innerhalb von drei Monaten nichtfruchtet, bringt der Präsident in der Staatsduma bin-nen eines Jahres ein Gesetz über die Auflösung desRegionalparlaments ein, über das die Staatsdumainnerhalb von zwei Monaten entscheiden muß.

Ähnliches gilt für den Republikpräsidenten oderGouverneur, wenn er normative Rechtsakte erläßt, dieim Widerspruch zur föderalen Verfassung bzw. zuföderalen Gesetzen stehen. Der Präsident hat nachArtikel 85 Absatz 2 der Verfassung das Recht, dieGeltung von Rechtsakten der regionalen Exekutive,die der föderalen Verfassung sowie föderalen Gesetzenoder internationalen Verpflichtungen widersprechenoder Menschen- und Bürgerrechte verletzen, so langeauszusetzen, bis das zuständige Gericht über das Vor-liegen eines solchen Verstoßes entschieden hat.

Wenn ein Republikpräsident/Gouverneur innerhalbvon zwei Monaten dem Gerichtsbeschluß nicht Folgeleistet bzw. die Berechtigung der Aussetzung derbetreffenden Rechtsnorm durch den Präsidenten vomGericht nicht klären läßt, erteilt ihm der Präsidentinnerhalb von sechs Monaten nach dem Gerichts-beschluß bzw. nach der Aussetzung der Rechtsnormeine Verwarnung. Zeigt er sich weiterhin unnachgie-big, wird der Republikpräsident/Gouverneur inner-halb eines Monats nach der Verwarnung vom Präsi-denten abgesetzt.

Das neue Gesetz räumt dem Präsidenten zudem dasRecht ein, dem Republikpräsidenten/Gouverneur zeit-weilig seine Vollmachten zu entziehen oder ihn zuentlassen, wenn ihm der Generalstaatsanwalt eineschwere oder besonders schwere Straftat vorwirft.Innerhalb von zehn Tagen kann der betroffene regio-nale Exekutivchef beim Obersten Gericht der Russi-schen Föderation gegen die Maßnahmen Beschwerdeeinlegen, die über ihn verhängt werden. Über dieBeschwerde muß innerhalb von ebenfalls zehn Tagenentschieden werden.

Das Gesetz »Über die Einführung von Änderungenund Ergänzungen des föderalen Gesetzes ›Über dieallgemeinen Prinzipien der Organisation der örtlichen

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Beurteilung

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Selbstverwaltung‹«49 vom 4. August 2000 gibt dem Prä-sidenten unter bestimmten Voraussetzungen dasRecht, in der Staatsduma ein Gesetz über die Auf-lösung einer örtlichen Volksvertretung einzubringenund den Bürgermeister als Leiter der örtlichen Selbst-verwaltung abzusetzen, wenn ein Gericht festgestellthat, daß sie normative Rechtsakte verabschiedet bzw.herausgegeben haben, die der föderalen Verfassung,den föderalen Verfassungs- oder einfachen Gesetzen,der Verfassung bzw. dem Statut des Föderationssub-jekts oder dem Statut der Kommune widersprechen.

Bleibt der örtliche Rechtsakt unverändert in Kraft,verwarnt die Volksvertretung des zuständigen Födera-tionssubjekts aus eigener Initiative oder auf Anregungdes Republikpräsidenten/Gouverneurs die örtlicheVolksvertretung bzw. verwarnt der Republikpräsi-dent/Gouverneur den Bürgermeister in schriftlicherForm unter Hinweis auf die Sanktionsmöglichkeiten,die das neue Gesetz eröffnet. Wenn die örtliche Volks-vertretung bzw. der Bürgermeister innerhalb einesMonats nach der Verwarnung den monierten Rechts-akt nicht ändert, kann die örtliche Volksvertretung –aber nur jeweils spätestens sechs Monate, nachdemder Gerichtsbeschluß Rechtskraft erlangt hat – perRegionalgesetz aufgelöst und der Bürgermeister durchErlaß des regionalen Verwaltungschefs abgelöst wer-den. Zur Auflösung der örtlichen Volksvertretung istein Gesetz des Föderationssubjekts, auf dessen Terri-torium sich die betreffende Kommune befindet, oder –falls die beanstandeten Rechtsakte auf kommunalerEbene nicht binnen drei Monaten nach dem rechts-kräftigen Gerichtsbeschluß geändert wurden und dasParlament des Föderationssubjekts nicht die im Gesetzvorgesehenen Maßnahmen (Verwarnung, Einbringungeines Gesetzes zur Auflösung der örtlichen Volks-vertretung) getroffen hat – ein föderales Gesetz erfor-derlich, das nur der russische Präsident einbringenkann (aber nicht muß).

Ähnliches gilt für die Ablösung eines örtlichen Ver-waltungschefs: Falls dessen beanstandete Rechtsaktenicht binnen drei Monaten nach dem Gerichts-beschluß geändert wurden und der zuständige Repu-blikpräsident/Gouverneur nicht die in diesem Gesetzvorgesehenen Maßnahmen (Verwarnung, Ablösung)ergriffen hat, kann der Präsident ihn entlassen. Ausge-nommen sind die Verwaltungschefs der Stadtstaaten

49 Federal’nyj zakon »O vnesenii izmenenij i dopolnenij vfederal’nyj zakon ›Ob obščich principach organizacii mestno-go samoupravlenija v Rossijskoj Federacii‹«, in: Rossijskajagazeta, 8.8.2000.

Moskau und St. Petersburg, für die als Verwaltungs-chefs von Föderationssubjekten besondere Ablösungs-bestimmungen gelten.

Bürger, deren Rechte und gesetzliche Interessen imZusammenhang mit der Auflösung einer örtlichenVolksvertretung oder der Amtsenthebung eines ört-lichen Gemeindechefs verletzt wurden, haben dasRecht, bei den obersten regionalen Gerichten bzw.dem Obersten Gericht Rußlands binnen zehn Tagennach Bekanntgabe des entsprechenden Gesetzes,Erlasses oder Beschlusses zu klagen. Über die Klagemuß innerhalb von zehn Tagen nach Einreichung ent-schieden werden.

Bisher ist noch kein Fall bekannt worden, in demdas Gesetz zur Absetzung eines Republikpräsidenten,Gouverneurs bzw. Bürgermeisters oder zur Auflösungder Volksvertretung eines Föderationssubjekts odereiner Kommune geführt hat.

Beurteilung

Mit der Schaffung der sieben Föderalen Bezirke wurdeein »Zwischengeschoß« unterhalb der Ebene der Zen-trale und oberhalb jener der Föderationssubjekte ein-gezogen. Organischer wäre es gewesen, wenn man fürdie Ausdehnung der Föderalen Bezirke die IWAs zumVorbild genommen hätte und nicht die Militärbezirke.

Daß Putin bei der Ernennung der neuen General-gouverneure weitgehend auf die Träger von Schulter-stücken zurückgegriffen hat, zeigt, wie klein dieKaderreserve auf der zentralen Ebene nach dem jahre-langen Personalkarussell Jelzins inzwischen gewordenist. Zur Besetzung der Generalgouverneursposten hieltPutin nach Personen Ausschau, die nicht in Entwick-lungen in den Regionen verstrickt oder mit regionalenEliten verbunden sind.50

Die Reduzierung der 89 auf nur 7 Präsidentenver-treter erforderte keine Verfassungsänderung, da die 89Föderationssubjekte erhalten bleiben. Auch wenndurch die Einrichtung der Föderalen Bezirke Separatis-musbestrebungen einzelner Föderationssubjekte mög-licherweise gedämpft werden können, ist nachMeinung des ehemaligen Jelzin-Beraters, GeorgijSatarow, doch nicht auszuschließen, daß Präsidenten-vertreter mit ihren Föderalen Bezirken, die nicht nur

50 Interpretation eines wichtigen politischen Beraters inMoskau.

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ein Föderationssubjekt umfassen, eines Tages versu-chen werden, sich von Moskau zu entfernen.51

Es ist die Leistung der neuen Generalgouverneure,daß ein großer Teil der regionalen Verfassungen undGesetze der föderalen Verfassung und den föderalenGesetzen angepaßt wurde und nur noch ein gewisserProzentsatz normativer Rechtsakte in den Föderations-subjekten zentralen Regelungen widerspricht. Auf deranderen Seite handelten manche Generalgouverneuregelegentlich den Vorgaben der Territorialen Haupt-verwaltung der Präsidialadministration zuwider. Undschließlich nutzen manche ihr neues Amt zur Vorbe-reitung einer späteren Spitzenkarriere.

Der neue Erlaß Putins und die neuen Gesetze sollenals Hebel zur Beseitigung der Widersprüche zwischenföderalem und regionalem Recht wirken, die das nor-male Funktionieren eines Rechtsstaats behindern. Dieeröffnete Möglichkeit der Entlassung von Gouverneu-ren bzw. der Auflösung der Regionalparlamente istrechtlich geregelt, doch ihre Verwirklichung dürftezwischen 7 und 23 Monaten dauern. Angesichts dieseTatsache ist anzuzweifeln, daß das neue Gesetzüberhaupt praktische Wirkung zeigen wird.

Für die Entsendung eines Vertreters des Republik-präsidenten bzw. Gouverneurs sowie des Vorsitzendender regionalen Volksvertretung in den Föderationsratist ebenfalls keine Verfassungsänderung erforderlich,denn Verfassungsartikel 95 schreibt im zweiten Absatzlediglich vor, daß aus jedem Föderationssubjekt je einVertreter des Exekutiv- und des Legislativorgans in denFöderationsrat entsandt wird, also nicht unbedingtder Gouverneur oder der Parlamentssprecher selbst.

Auf der anderen Seite verliert das demokratischlegitimierte Verfassungsorgan Föderationsrat anBedeutung. Wenn man schon das amerikanischeSystem kopieren will, in dem die Gouverneure eben-sowenig in den Senat entsandt werden, hätte man sichauch dazu durchringen sollen, die Vertreter der Regio-nen ebenso zu wählen wie die Senatoren in den USA.Die Staatsduma hatte dies vorgeschlagen, war aber beider Präsidialadministration und bei den Republikprä-sidenten/Gouverneuren auf Widerstand gestoßen.52 Ineiniger Zeit wird ungeachtet dessen – so kann man inMoskau hören – die Wahl der Föderationsratsmitglie-der eingeführt werden.

51 Interview in: Moscow News, (14.6.2000) 23. Ähnlich Stell-vertreter Michail Krasnov in: Rossijskaja gazeta, 12.5.2001.52 Wladimir Lysenko, Reforma vlasti nabiraet oboroty [DieReform der Vertretungsorgane gewinnt an Geschwindigkeit],in: Nezavisimaja gazeta, 19.5.2000. Vgl. dazu: Heinemann-Grüder, Der heterogene Staat, S. 979–990.

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Herausdrängung der Oligarchen aus der Politik

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Herausdrängung der Oligarchen aus der Politik

Als Oligarchen werden in Rußland die reichstenUnternehmer bezeichnet, die sowohl über Finanz- alsauch über Industriekapital verfügen, manchmal sogarMedien-Konzerne besitzen. Ein wichtiges Ziel Putinsist es, die Oligarchen aus der Politik herauszudrängen.Mittel zum Zweck ist die entsprechend instrumentali-sierte Justiz, die durch den Einsatz der Steuerpolizeiund das Instrument der Eintreibung von Kreditschul-den entsprechenden Druck auszuüben versucht. Ineinem Interview mit der französischen Tageszeitung»Figaro«, das im Vorfeld seines Frankreich-Besuchs am26. Oktober 2000 veröffentlicht wurde, drohte Putinden Oligarchen mit einem Knüppel, den er bishernicht benutzt habe. Es habe schon genügt, ihn zuzeigen. Doch wenn es nötig sei, werde er nicht zögern,den Oligarchen damit auf den Kopf zu schlagen. DerStaat lasse sich nicht erpressen. Wenn nötig, werde erdie Instrumente zerstören, durch die der Staat erpreßtwerden könne. Nach Auffassung von Premier MichailKasjanow haben die Oligarchen ihre Immunität ver-loren, die sie früher dank ihrer engen Beziehungenzum Kreml besaßen.

Am 28. Juli 2000 lud Putin 21 Oligarchen zu einemTreffen in den Kreml ein. Nicht eingeladen wurdenBoris Beresowskij, der Mitte vergangenen Jahres seinAbgeordnetenmandat aus Protest gegen Putins Politikniedergelegt hatte, Roman Abramowitsch, Staats-dumaabgeordneter und mit Beresowskij verbundenerPräsident der Ölgesellschaft »Sibneft«, und der Medien-Mogul Wladimir Gussinskij.53 Putin erklärte vor demTreffen, daß er sein Verhältnis zu den Oligarchenkünftig von dem Maß der Unterstützung abhängigmachen wolle, das er von ihnen für seine Politikerhalte. Auf dem Treffen, das sehr formal ablief undauf dem nur drei Oligarchen Rederecht erhielten,lehnte es Putin ab, Straffreiheit für die nicht immerlegal zustande gekommenen Privatisierungen im ver-gangenen Jahrzehnt gelten zu lassen. Allerdings willer die Privatisierungen der letzten Jahre, durch welchedie Oligarchen schnell zu Reichtum gekommenwaren, auch nicht wieder rückgängig machen.

Kurz nach Weihnachten 2000 fand eine Zusammen-

53 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27.7.2000; Neue ZürcherZeitung, 29.7.2000; Jamestown Monitor, 6 (31.7.2000) 148.

kunft Putins mit der »Russischen Union der Indu-striellen und Unternehmer« statt, zu der sich die wich-tigsten Unternehmer zusammengeschlossen haben.Dabei machte Putin deutlich, daß er die Existenzanderer Machtzentren, die sich in seinen Verant-wortungsbereich einmischen wollen, nicht zulassenwerde. Der Staat lehne es ab, eine Waffe in der Handder größten Finanz- und Industriegruppen zu sein. Mitden Oligarchen hat sich Putin auf folgenden Kompro-miß geeinigt: Der Staat gewährt ihnen ungehinderteGeschäftstätigkeit und gelegentliche Unterstützungund erwartet dafür im Gegenzug uneingeschränkteLoyalität. Seit Anfang 2001 trifft sich Putin in gewis-sen Abständen mit den Wirtschaftsführern, zum letz-ten Mal am 31. Mai 2001.54

Während die meisten Oligarchen der ersten Gene-ration mit Putin einen Kompromiß geschlossen undeinzelne sich, wie Beresowskij und Gussinskij, ins Aus-land begeben haben, sucht eine neue Oligarchen-Gene-ration den Weg in die Politik. Zu ihnen gehört RomanAbramowitsch, der die Ölgesellschaft »Sibneft« kon-trolliert und gemeinsam mit Beresowskij Hauptaktio-när an der Russischen Aluminium-Holding ist, die 70%des russischen Aluminium-Marktes kontrolliert. Erwurde am 19. Dezember 1999 in die Staatsduma undam 24. Dezember 2000 zum Gouverneur des Autono-men Bezirks der Tschuktschen gewählt. Am 28. Januar2001 wurde der Generaldirektor von »Norilskij nikel«,Aleksandr Chloponin, zum Gouverneur des Autono-men Bezirks Tajmyr gewählt. »Norilskij nikel« kontrol-liert 20% des Nickel- und 60% des Palladium-Welt-marktes. Der Kreml hindert die neuen Oligarchennicht daran, sich in den Regionen zu Gouverneurenwählen zu lassen. Er läßt sie gewähren, um zu sehen,ob sie die regionalen Probleme ohne finanzielleZuwendungen aus Moskau lösen können.

Unterhalb der zentralen Ebene versuchen auch dieVertreter des Präsidenten in den neuen FöderalenBezirken, mit den regionalen Oligarchen ins Gesprächzu kommen. Mitte Oktober 2000 lud der Präsidenten-vertreter im Föderalen Bezirk Ural, Petr Latyschew,wichtige Oligarchen ein. Er empfahl ihnen, sich nichtam Gouverneur zu orientieren. Zudem ziehe er es vor,

54 Izvestija, 1.6.2001.

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Herausdrängung der Oligarchen aus der Politik

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wenn die Oligarchen mit ihren Problemen einzeln zuihm kämen und sich nicht zu einem Interessenver-band zusammenschlössen. Bei den monatlichenGesprächen der Präsidentenvertreter mit ihrem Chefwerde er Putin über ihre Probleme informieren. DieOligarchen erklärten sich bereit, den Präsidentenver-treter zu unterstützen.

Putin ist es gelungen, die erste Generation derOligarchen auf der zentralen Ebene aus dem politi-schen Raum weitgehend zu verdrängen. Als Reaktiondarauf versucht die nächste Generation der Oligar-chen, in die Regionen zu gehen und dort politischeWahlämter zu übernehmen. Politisch ist Putin zwarnicht mehr von den Oligarchen abhängig, aber dochauf ihre unternehmerische Tätigkeit angewiesen. Des-halb läßt er sie in ihrem ureigenen Bereich der Wirt-schaft gewähren.

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Akteure und Ereignisse

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Formierung der Medienlandschaft

Ein weiteres Anliegen Putins ist die kremlfreundlicheFormierung der Medienlandschaft, wobei er besondersdas Fernsehen im Auge hat und da vor allem dengrößten privaten Fernsehsender NTV. Dem Kampf umden Erhalt des einzigen, von 51% der Bevölkerung zuempfangenden kremlkritischen Fernsehsenders NTV,der zur Holding Media-MOST Wladimir Gussinskijsgehörte, kommt insofern politische Bedeutung zu, alsüber das Massenmedium Fernsehen die meistenMenschen in Rußland zu erreichen sind. Die zentralenPresseorgane werden nur noch in kleinen Auflagenverlegt – verglichen mit den Sowjetzeiten – underreichen vielleicht nicht mehr als 2% der Bevölke-rung. In den Regionen ist die Presse finanziell undsomit politisch von den Gouverneuren abhängig.

Zum Imperium von Media-MOST55 gehörten im Be-reich Fernsehen neben NTV das Pay-TV NTV-plus, NTVifür die Ausstrahlung im Ausland, der osteuropäischeSender CME, das regionale Fernsehnetz TNT, der NTV-eigene TV-Satellit Bonum-1 sowie drei Fernsehproduk-tionsfirmen und Werbeagenturen. Dem Imperiumgehörten auch die Radiosender »Echo Moskaus« undFM Sport, außerdem die Tageszeitungen »Segodnja«und »Smena«, das Nachrichtenmagazin »Itogi«, dieProgrammzeitschrift »Sem’ Dnej« und die Monats-zeitschrift »Karavan«. Im Internetbereich verfügteGussinskij über den Dienstleister »Memonet«. Zumklassischen Banken- und Industriebereich, aus demGussinskij 1997 den von ihm geleiteten Medien-konzern Media-MOST ausgegliedert hatte, gehören dieMOST-Bank sowie die Firmen MOST-Investment, MOST-Development und MOST-Engineering. Die MOST-Banksteht seit der Finanzkrise vom 18. August 1998, dieeinigen Banken die Existenz gekostet hatte, unter Auf-sicht der Zentralbank.

55 Peter Hübner, Pressefreiheit in Rußland. Großaktionäre alsZensoren?, Köln 1998 (Berichte des Bundesinstituts für ostwis-senschaftliche und internationale Studien, Nr. 34/1998); PeterHübner, Der Medienkampf Jelzin–Putin–Beresowskij gegenLushkow–Primakow–Gussinskij: Seine Folgen für die Duma-und die Präsidentschaftswahlen (Teil I und II), Köln 2000(Aktuelle Analysen des Bundesinstituts für ostwissenschaft-liche und internationale Studien, Nr. 5 und 6/2000).

Akteure und Ereignisse

1996 hatte sich Gussinskij politisch korrumpierenlassen, indem er sich dazu bereit fand, über seinMedienimperium Jelzins Präsidentschaftskandidaturmassiv zu unterstützen. Als Gegenleistung wurdenihm die Frequenzen für das gesamte vierte russischeFernsehprogramm zugeteilt. Außerdem gewährte ihmder halbstaatliche Konzern GASPROM großzügigKredite, die er offensichtlich als nicht rückzahlbaransah. Die Macht vor allem der elektronischen Medienin Rußland kann daran abgelesen werden, daß Jelzinals Präsidentschaftskandidat bei den Umfragen imJanuar 1996 nur bei 5% lag, am 3. Juli 1996 aber, nachEinschaltung Gussinskijs, die Stichwahl mit 53,8% fürsich entschied.

Als Gussinskij die Kooperation mit dem Kreml auf-kündigte, wurden die Kredite umgehend zurückgefor-dert. Die Probleme mit dem Kreml begannen im Som-mer 1999, nachdem sich der Medienzar geweigerthatte, in den damals bevorstehenden Wahlen zurStaatsduma die neue Partei der Macht, »Einheit«, undim Präsidentenwahlkampf Putin zu unterstützen odersich wenigstens neutral zu verhalten.56 Statt dessenförderte Gussinskij »Vaterland – Ganz Rußland« mitdem früheren Premier Jewgenij Primakow und Mos-kaus Oberbürgermeister Jurij Lushkow an der Spitze,die beide heftig die Jelzin-Nomenklatura bekämpften.

Im Oktober 1999 hatte Gussinskij ein längeres Ge-spräch mit Putin, in dem er unter anderem die krie-gerische Tschetschenienpolitik des Kreml kritisierte.Er konnte Putin jedoch nicht davon überzeugen, daßpolitische Konflikte wie jener in Tschetschenien nurdurch Kompromisse gelöst werden können. »Es war«,so Gussinskij laut »Spiegel«-Bericht, »wie das Gesprächeines Tauben mit einem Stummen.« Als er mit seinerGeduld am Ende war, hielt Gussinskij Putin entgegen:»Sie können die Tschetschenen vernichten, aber dannwerden Sie Präsident eines Rußland, in dem ich nichtmehr leben will.«57

56 Centr političeskich technologij [Zentrum für politische Techno-logien] (Hg.), Gosudarstvo protiv MOSTA [Der Staat gegenMOST], Moskau, Mai 2000.57 Der Spiegel, (2000) 25, S. 179.

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Formierung der Medienlandschaft

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In seiner Rede vor der Föderalversammlung am8. Juli 2000 brachte Putin seine Einstellung zu Media-MOST in der Bemerkung zum Ausdruck, daß die Pres-sefreiheit zu einem »Leckerbissen für Politiker undgroße finanzielle Gruppen« geworden sei und manch-mal gar zu einem »Mittel massenhafter Desinforma-tion«, zu einem »Mittel des Kampfes mit dem Staat«.58

Im November 2000 schlossen GASPROM-Media undMedia-MOST einen Vertrag darüber, daß GASPROM-Media zur Begleichung der zuletzt im März 2000 ein-geforderten Kreditschulden in Höhe von 221 Mio. US-Dollar plus inzwischen aufgelaufener Zinsen in Höhevon 37 Mio. US-Dollar 16% der NTV-Aktien und 25%plus einer Aktie von 23 anderen Media-MOST-Unter-nehmen erhält sowie als Pfand für noch ausstehendeSchulden 19% der NTV-Aktien. (GASPROM-Mediabesitzt bereits 48,3% der Aktien von Media-MOST.)

Am 3. April 2001 beriefen die beiden AktionäreGASPROM-Media (46%) und die amerikanische Investi-tionsfirma Capital Research (4,4%) eine Außerordent-liche Aktionärsversammlung in Moskau ein, an derGussinskij, dem 49,5% der NTV-Aktien gehören, natür-lich nicht teilnahm. NTV klagte gegen die in seinenAugen unrechtmäßige Abhaltung dieser Aktionärsver-sammlung vor einem Gericht in Saratow und bekamRecht. Umgehend erhob GASPROM-Media vor dem-selben Gericht Gegenklage. Derselbe Richter erklärtewenige Stunden später, daß sein zuerst gefälltes Urteilzugunsten von NTV wegen eines begangenen Form-fehlers ungültig sei: NTV sei nicht selbst vor Gerichterschienen, sondern habe lediglich eine Vertrauens-person entsandt. Das aber sei nicht zulässig undwenige Stunden vorher nicht aufgefallen (!). Gegendiese Entscheidung wiederum klagte NTV in Moskau,zog die Klage aber am 20. April unter seiner neuenFührung (siehe unten) beim Preobraschensker Muni-zipalgericht der Stadt Moskau zurück.59

Die Außerordentliche Aktionärsversammlungwählte den bisherigen Direktorenrat ab und bestimm-te einen neuen. 60 Sein neuer Vorsitzender, Alfred

58 Rossijskaja gazeta, 11.7.2000.59 Interfax, russ., 20.4.2001.60 Dem neuen Direktorenrat von NTV gehören an: vonGASPROM: Rem Wjachirew (Vorstandsvorsitzender vonGASPROM), Wjatscheslaw Scheremet (Erster StellvertretenderVorstandsvorsitzender von GASPROM), Aleksandr Kasakow(Vorsitzender des Direktorenrats von GASPROM-Media),Alfred Koch (Generaldirektor von GASPROM-Media), Alek-sandr Resnikow (Stellvertretender Vorsitzender des Direkto-renrats von GASPROM-Media), Waldimir Kulistikow (Vor-standsvorsitzender von RIA »Westi«); von MOST-Media: WladlenArsenjew (Generaldirektor der Geschlossenen AG »NTV.Kino«)

Koch, ernannte Boris Jordan zum neuen NTV-General-direktor. Jordan wurde 1966 als Sohn russischerEmigranten in New York geboren. 1988 schloß er seinStudium an der New Yorker Universität mit demBachelor für russisch-amerikanische Wirtschafts-beziehungen ab. 1992 beriet er die russische Stadt-regierung und gründete 1995 in Moskau die Investi-tionsfirma »Renaissance Kapital«. 1997 entzog ihm dasrussische Außenministerium wegen dubioser Prakti-ken bei der Privatisierung von Großbetrieben zeit-weilig das Visum. Ab 1999 leitete Jordan die Finanz-Industrie-Gruppe »Sputnik«. Der Bruder von BorisJordan, Nikolaus Jordan, ist für die Deutsche Banktätig und hat GASPROM-Media bei der Regelung desNTV-Schuldenproblems beraten.61

Der Hauptakteur in Sachen GASPROM gegen NTVist Alfred Koch, der Generaldirektor von GASPROM-Media und Vorsitzender des NTV-Direktorenrats. Kochwurde 1961 in Ost-Kasachstan geboren und absolvierte1983 das Leningrader Finanz-Wirtschaftsinstitut. Nachseiner Promotion 1987 war er zunächst wissenschaft-lich tätig, bis er 1995 in das Staatskomitee für Ver-mögen der Russischen Föderation eintrat und 1996(bis 1997) dessen Vorsitzender wurde. 1997 wurde ihmfür kurze Zeit der Rang eines Stellvertretenden Regie-rungschefs übertragen. Wegen eines umstrittenenHonorars in Höhe von 100 000 US-Dollar für ein nichtgeschriebenes Buch geriet er Ende 1997 unter Druck.Im Mai 1998 rettete ihn nur eine Amnestie vor derAnklageerhebung wegen unrechtmäßigen Erwerbsvon zwei Eigentumswohnungen in Moskau. Um aufNummer sicher zu gehen, siedelte er Ende 1998 (bisMai 2000) in die USA über. Im Juni 2000 wurde er Mit-glied des Direktorenrats von GASPROM.

Der bisherige NTV-Generaldirektor und Chefredak-teur Jewgenij Kisseljow weigerte sich, die Geschäfte zuübergeben, und die Mehrheit der NTV-Mitarbeiter soli-darisierte sich mit ihm. Es bestand nicht ohne Grunddie Befürchtung, daß GASPROM-Media und somit derStaat – er besitzt 36% der GASPROM-Aktien – dieAktienmehrheit bei NTV und damit die Möglichkeitbekommt, die Personalpolitik des Senders zu beein-flussen und auf diese Weise die Meinungsfreiheit zubeschneiden.

Zeitgleich mit der Wahl eines neuen NTV-Direk-torenrats wurden zwei Printorgane aus dem Gus

sowie – ungeachtet ihrer kategorischen Absage – MichailSchmuschkowitsch (Geschäftsführender Direktor der NTV-Holding) und Leonid Parfenow (Journalist von NTV).61 Izvestija, 4.4.2001.

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sinskij-Imperium gezwungen, aus finanziellen Grün-den, wie es hieß, ihr Erscheinen einzustellen: dieTageszeitung »Segodnja« und das wöchentliche Nach-richtenmagazin »Itogi«. Am 29. Mai 2001 schließlichwurde Gussinskijs Media-MOST-Imperium aufgelöst.62

Der NTV-Generaldirektor Jewgenij Kisseljow wurdenach seiner Entlassung sehr schnell zum General-direktor des privaten Fernsehsenders TW-6, bei demauch mehrere seiner ehemaligen Mitarbeiter Schlüs-selpositionen erhielten. In diesem privaten Fernseh-sender setzt Kisseljow seine putinkritischen Sendun-gen fort. TW-6 gehört zu 75% dem putinkritischenOligarchen Boris Beresowskij, der sich inzwischennach Paris abgesetzt hat. Minderheitsaktionär vonTW-6 ist die Ölfirma LUKOIL, deren größte Aktionärmit 26,57% der russische Staat ist.63 Nun soll LUKOILbei TW-6 dieselbe Rolle spielen, die GASPROM bei NTVzugedacht war. Infolgedessen reichte LUKOIL vor demMoskauer Schiedsgericht mehrere Klagen gegen TW-6ein, um TW-6 damit zur Rückzahlung von angeblichbestehenden Schulden in Höhe von 6 Mio. US-Dollarzu zwingen. Zugleich soll das Gericht eine Außer-ordentliche Aktionärsversammlung von Ende Mai2001 für ungültig erklären, auf der Kisseljow zumGeneraldirektor von TW-6 gewählt worden war.64

Beurteilung

Dem Urteil des kommunistischen Vorsitzenden derStaatsduma, Gennadij Selesnjow, über den NTV-Streitvom 4. April 2001 ist zuzustimmen: Die Ereignisse umdie Ernennung einer neuen NTV-Leitung sehen in derTat nach einer politischen Provokation aus. Die Füh-rung des Senders hätten Leute mit Dreck am Steckenübernommen – »Schwindler«. »Um ehrlich zu sein,« soSelesnjow weiter, »ich hätte nicht erwartet, daß dieNTV-Aktionäre – ich meine die von GASPROM – einensolch törichten Beschluß fassen und sich für dieSchurken Jordan und Koch entscheiden. Diese Men-schen sind nicht dafür qualifiziert, den Konflikt unddie finanziellen Probleme zu lösen.« Er sei »einfachschockiert«, daß diese Leute die Interessen der Anteils-eigner von GASPROM bei NTV vertreten.

62 RFE/RL Newsline, 5 (30.5.2001) 102, Part I.63 Hans-Henning Schröder, Jelzin und die »Oligarchen«. Mate-rialien zum Bericht des BIOst 40/1998, Köln, Oktober 1998(Sonderveröffentlichung des Bundesinstituts für ostwissen-schaftliche und internationale Studien), S. 10.64 Kommersant-Daily, 16.5.2001; Berliner Zeitung, 7.6.2001;Izvestija, 1.6.2001.

Es besteht die Gefahr, daß nach der unfreundlichenÜbernahme von NTV und der Schließung der Zeitun-gen »Segodnja« und »Itogi« wieder sowjetische Reflexeerwachen, die sich in Selbstzensur und einer »Schereim Kopf« ausdrücken, zumal die Pressefreiheit für dieMehrheit der Bevölkerung angesichts ihrer schwieri-gen sozialen und ökonomischen Lage kein vorrangigesThema ist.

In Artikel 29 der Verfassung heißt es, daß die Frei-heit der Massenmedien garantiert und eine Zensurverboten ist (Abs. 5). Jedem wird das Recht zugespro-chen, Informationen auf jegliche legale Weise frei zubeschaffen, zu erhalten, weiterzugeben, zu produzie-ren und zu verbreiten (Abs. 4). Artikel 29 ist Bestand-teil des ersten Kapitels der Verfassung über die Grund-lagen der Verfassungsordnung, das nicht geändertwerden darf.65 Auf dem Media Forum in St. Petersburgversicherte Putin, daß er für Medienfreiheit sei, dennMedienfreiheit sei die Voraussetzung für die Entwick-lung einer demokratischen Gesellschaft und der wich-tigste Schutz gegen die Rückkehr zum Autoritarismusin Rußland.66 Wie paßt das alles zusammen? Offen-sichtlich will Putin die Medienlandschaft in RichtungKremlfreundlichkeit formieren, ohne die Verfassungzu verletzen oder die Zensur einzuführen. Er bedientsich indirekter Methoden und setzt auf vorauseilen-den Gehorsam.

65 Vgl. dazu: Peter Hübner, Wie haben sich die Bedingungenfür die Medienfreiheit unter Putin entwickelt?, in: HannesAdomeit/Roland Götz/Heinz Timmermann (Hg.), Ein Jahr Präsi-dentschaft Putin, unveröffentlichte Studie, Berlin: StiftungWissenschaft und Politik, März 2001, S. 24–27.66 RFE/RL Newsline, 5 (14.6.2001) 113, Part I.

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Wichtige politische Reformvorhaben

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Wichtige politische Reformvorhaben

Putin versucht, durch einige wichtige Reformvorha-ben Rußland auf dem Weg zu Demokratie und Rechts-staatlichkeit voranzubringen. Daß diese Vorhabeninnenpolitisch umstritten sind, ist nicht anders zuerwarten.

Parteienreform

Während auf der Makroebene die institutionelleTransformation durch die Herausbildung zentralerstaatlicher Institutionen wie Präsident, Parlament,Regierung, Judikative, durch ihre rechtliche Veranke-rung in einer Verfassung und durch die Entwicklungeines Wahlsystems weitgehend abgeschlossen ist,mangelt es an einer echten Transformation auf derMesoebene. Vor allem geht es darum, daß Interessenterritorial (durch Parteien) und funktional (durchWirtschaftsverbände und Gewerkschaften) repräsen-tiert werden. Das Maß, in dem diese Repräsentationgelingt, wird darüber entscheiden, wie sich die Nor-men und Strukturen auf der zentralen Ebene konsoli-dieren und ob die Verhaltenstransformation aufDauer erfolgreich sein wird.67

Von einem echten Parteiensystem kann mansprechen, wenn der Fragmentierungsindex68 niedrigist; dieser Index mißt die Zersplitterung des Parteien-systems an der Anzahl der Parteien, gewichtet nachihren Stimmenanteilen bei Wahlen. Wünschenswerterscheint eine nicht zu große Zersplitterung des Par-teiensystems. Zur Zeit sind beim russischen Justiz-ministerium 189 Parteien registriert,69 die zum Teilnur wenige Mitglieder haben. Konsolidierungsvorteilebesitzt ein Parteiensystem, wenn keine extreme ideo-logische Distanz zwischen den relevanten linken undrechten Flügelparteien besteht und wenn es keineAnti-System-Parteien gibt. Statt einer niedrigen bis

67 Vgl. dazu: Eberhard Schneider, Das politische System derRussischen Föderation. Eine Einführung, 2., aktualisierte underweiterte Auflage, Wiesbaden 2001, S. 13–27.68 Bildung der Summe der quadrierten Anteile aller Parteienminus 1; Douglas Rae, A Note on the Fractionalization ofSome European Party Systems, in: Comparative PoliticalStudies, (1968) 1, S. 413–418.69 Gespräche des Autors im März 2001 in Moskau.

mittleren Wählerfluktuation, die ebenfalls politischkonsolidierend wirkt, weisen postautoritäre Parteien-systeme in der Transitionsphase regelmäßig eine hoheWählerfluktuation auf.

Putins Anliegen ist es, die Anzahl der Parteien zuverringern und Parteien entstehen zu lassen, welchediese Bezeichnung wirklich verdienen. Ohne solcheParteien fehlt den zentralen politischen Institutionender politische Unterbau. So brachte Putin ein Parteien-gesetz in die Staatsduma ein, das er am 11. Juli 2001unterzeichnete.70 Es sieht vor, daß sich alle Parteieninnerhalb von zwei Jahren beim russischen Justiz-ministerium, zum Teil erneut, registrieren lassenmüssen. Für die Registrierung ist der Nachweis vonmindestens 10 000 Mitgliedern erforderlich. In minde-stens 45 Föderationssubjekten müssen jeweils minde-stens 100 Mitglieder nachgewiesen werden und in deranderen Hälfte der Föderationssubjekte mindestens50. Damit soll gewährleistet werden, daß es sich nichtum eine rein regionale Partei handelt (Art. 3 Abs. 2 desParteiengesetzes). Zur Zeit erfüllen wahrscheinlichnur zehn Parteien sämtliche dieser Kriterien.71

Nach dem deutschen Vorbild sollen die registrier-ten Parteien entsprechend den Ergebnissen bei denStaatsdumawahlen aus dem Staatshaushalt finanziertwerden. Voraussetzung ist ein Mindeststimmenanteilvon 3% bei der Staatsduma- oder der Präsidentenwahl.Die Parteien erhalten dann jährlich ein 0,005tel desMinimallohns pro Stimme (Art. 33). Der Minimallohnbeträgt seit dem 1. Januar 2001 200 Rubel, jede Parteierhält bei Erfüllung der entsprechenden Vorausset-zungen demnach für jede Wählerstimme 1 Rubel. Dasbeste Listenergebnis hatten bei der Staatsdumawahlam 19. Dezember 1999 die Kommunisten, die bei16 195 569 Stimmen jedes Jahr 16.195.569 Rubelerhalten würden, was 1,245 Mio. DM entspräche.

Die Parteien, die in der Staatsduma vertreten sind,stellen sich schon jetzt auf das neue Gesetz ein. So warfür den Herbst 2001 geplant, daß sich die »regierendePartei«, wie sie in Moskau heißt, »Einheit« mit Lush-kows »Vaterland – Ganz Rußland« vereinigt.72 Diese

70 Text in: Rossijskaja gazeta, 14.7.2001.71 Nezavisimaja gazeta, 24.5.2001.72 Argumenty i fakty, (Mai 2001) 18.

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Justizreform

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Fusion käme einer politischen Kapitulation Lushkowsgleich. In der Staatsduma könnte sich die neu ver-einigte Partei auf 28,8% der Abgeordneten stützen undwürde somit vor den Kommunisten (20,4% der Abge-ordneten) die größte Fraktion stellen.

Inzwischen hat »Einheit« jedoch Bedenken, weil derFusionspartner »Vaterland – Ganz Rußland« immenseSchulden hat.73 Außerdem müßte die neue Parteinach ihrer Registrierung laut Wahlgesetz (§ 51 Abs. 11)ein Jahr warten, bevor sie an Wahlen teilnehmenkönnte; denn wenn im Falle einer Fusion mehr als25% neue Parteimitglieder hinzukommen, wird diebisherige Registrierung hinfällig.74 Ferner hätte »Vater-land« nach einer Vereinigung Schwierigkeiten, fürsein mittleres Funktionärskorps neue Posten zufinden.75 Aus all diesen Gründen beschränken sichbeide Seiten erst einmal auf die Bildung einer ArtKoalition, unter deren Dach beide Bewegungenerhalten bleiben.76

Eine andere politische Vereinigung, der Verband»Union der rechten Kräfte« – ein Konglomerat ausverschiedenen demokratischen politischen Bewegun-gen, das vor allem die Interessen der Großindustrievertritt –, will sich in eine Partei umwandeln. Daherhaben die kleinen Parteien und Bewegungen, die Mit-glieder dieses Verbandes sind, mit ihrer Selbstauflö-sung begonnen.77 Die demokratische und marktwirt-schaftlich orientierte Bewegung »Jabloko« würde poli-tisch gut zur »Union der rechten Kräfte« passen, dochihr eigenwilliger Vorsitzender Grigorij Jawlinskij hateine Fusion bisher abgelehnt.78 Zusammen kämen siein der Staatsduma auf 14,5% der Abgeordneten undwürden damit die drittgrößte Fraktion stellen.

Das Parteiengesetz, das zweifellos zur Heraus-bildung eines wirklichen Parteiensystems beitragenwird, stößt aber auch auf Kritik. Demokratisch orien-tierte Abgeordnete prognostizieren, daß nach Einfüh-rung des Gesetzes die Zahl der Menschen, die sich inParteien politisch engagieren, noch geringer werdenwird. In Rußland sind ohnehin nur 0,5% der Bevölke-rung Mitglieder von politischen Parteien, in West-europa sind es durchschnittlich 5%.79 Außerdemwerden viele regionale Parteien und Bewegungen vonder Bildfläche verschwinden, weil sie die Registrie-

73 Nezavisimaja gazeta, 15.6.2001.74 Kommersant, 29.5.2001.75 Nezavisimaja gazeta, 27.6.2001.76 Kommersant, 29.5.2001.77 Interfax, 19.5.2001.78 Nezavisimaja gazeta, 14.6.2001.79 Nezavisimaja gazeta, 24.5.2001.

rungsauflagen des Parteiengesetzes nicht erfüllen kön-nen. Da der Staat im Sinne des neuen Gesetzes die Par-teien stark kontrollieren wird, besteht die Gefahreiner gewissen Verstaatlichung der Parteien. Außer-dem unterbindet das neue Parteiengesetz die Entste-hung und Entwicklung regionaler Parteien – ein wich-tiges Element einer zivilen Gesellschaft. Und schließ-lich sind die finanziellen Zuschüsse an die registrier-ten Parteien – sozusagen die »Gegenleistung« desStaates für registrierungskonformes Verhalten der Par-teien – sehr bescheiden.

Justizreform

Der Jurist Putin – nach Lenin und Gorbatschow derdritte Jurist an der Spitze des sowjetischen bzw. russi-schen Staates – weiß, daß ein Rechtsstaat auf ein eini-germaßen funktionierendes Justizwesen angewiesenist. Überdies fordert er – wie früher Aleksandr Lebed –eine »Diktatur des Gesetzes«. Die von ihm aus diesemGrunde angestrebte Justizreform wurde von einerArbeitsgruppe unter Leitung des StellvertretendenLeiters der Administration des Präsidenten, DmitrijKosak, konzipiert. Die Gruppe konnte sich dabei aufVorarbeiten aus den Jahren 1990/91 stützen.80

Bisher sind der Staatsduma folgende neun von ins-gesamt elf im Rahmen der Justizreform geplantenGesetze vorgelegt worden: »Änderungen zum Gesetzüber das Gerichtssystem«, »Über den Status der Rich-ter«, »Über die Geschworenengerichte«, »Über dieRechtsanwaltschaft«, »Über Änderungen des Gesetzesüber das Verfassungsgericht«, die neue Strafprozeß-ordnung,81 die neue Zivilprozeßordnung, die neueSchiedsrichterliche Verfahrensordnung82 und dasGesetz über die Entsprechung zwischen der Anzahlder Rechtsfälle und der Anzahl der Richter.83 Diemeisten dieser Gesetze sind in der ersten, zweitenoder dritten Lesung. Indessen hat es die Staatsdumaabgelehnt, das Entsprechungsgesetz zu behandeln,womit die Realisierung der Justizreform in einemwichtigen Bereich in Frage gestellt ist. Denn im Zugedieser Reform bekommen die Gerichte zusätzlicheAufgaben, die von der jetzigen Richterschaft kaum zubewältigen sind. Im Durchschnitt hat ein Richter in

80 Izvestija, 6.6.2001.81 Nezavisimaja gazeta, 18.4.2001. NIS observed, 6(13.6.2001) 10, Part I; Izvestija, 24.5.2001.82 Nezavisimaja gazeta, 21.6.2001; Dmitry Pinsker, The RussiaJournal, 13.7.2001.83 Nezavisimaja gazeta, 21.6.2001.

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Wichtige politische Reformvorhaben

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Rußland monatlich 9 Straf- und 30 Zivilsachen zu ent-scheiden, womit er schon jetzt überlastet ist. InMoskau, St. Petersburg und anderen Millionenstädtenist die Belastung der Richter noch wesentlich größer.

Um die materiellen Voraussetzungen für die Justiz-reform zu schaffen, erhält die Judikative in den Jahrenvon 2002 bis 2006 42 Mrd. Rubel. Die größte Summe(30 Mrd. Rubel) dient der Anhebung der bescheidenenGehälter der Angehörigen der dritten staatlichenGewalt und der Einstellung neuer Richter. (Ein Be-zirksrichter verdient zur Zeit in Rußland 6000 Rubel,was etwa 500 DM entspricht. Infolge der Justizreformsoll sein Monatsgehalt auf 1000 US-Dollar ansteigen.84)Die übrigen Mittel werden für die dringend nötigeRenovierung der Gerichtsgebäude, die Informatisie-rung – zur Zeit sind nur 17% der Gerichte compute-risiert – und die Verbesserung der Wohnverhältnisseder Richter verwendet. Nach Auskunft des General-direktors der Gerichtsabteilung beim Obersten GerichtRußlands, Alexandr Gussew, sind 160 Gerichtsgebäu-de baufällig, 700 Gebäude für die Rechtspflege befin-den sich in unterdurchschnittlichem Zustand. DieSchulden der Gerichte bei den kommunalen Dienstlei-stern belaufen sich auf eine Milliarde Rubel. Zur Reno-vierung und Erneuerung der Gebäude sind 7,5 Mrd.Rubel erforderlich. Gussew hält es für erforderlich,daß die Zahl der Gerichtsmitarbeiter bis zum Jahr2006 verdoppelt wird.85

Bis zum Jahr 2004 soll die Justizreform durchge-führt sein. Da die Gesetzentwürfe nicht veröffentlichtwerden, ist man auf die bruchstückhaften Mitteilun-gen in der Presse angewiesen. Insofern ist es schwierig,sich ein einigermaßen vollständiges Bild über dieRechtsreform zu machen und ihren Ansatz ebenso wieihre Aussichten angemessen zu beurteilen.

Gerichte

In den Jahren 2003 und 2004 sollen in allen Födera-tionssubjekten Friedensrichter und Geschworenen-gerichte für schwere Straftatbestände geschaffenwerden. Die Gerichte verlieren das Recht, ihnen vor-gelegte Fälle zur weiteren Ermittlung an die Ermitt-lungsinstanz zurückzugeben. Das war zu Sowjetzeitenein beliebtes Verfahren, der Verantwortung für einerichterliche Entscheidung zu entgehen.

84 Kommersant, 19.6.2001.85 Izvestija, 7.6.2001.

Das Höchstalter der Bezirksrichter soll auf 65 Jahre,das der Gebiets- und höher angesiedelten Richter auf70 Jahre festgesetzt werden. Ihre richterliche Tätigkeitsoll auf sechs, die ihrer Stellvertreter auf vier Jahrebegrenzt werden.

Nach der neuen Justizreform soll der Richter mehrVerantwortung für seine Tätigkeit haben. Alle Fragen,die die Tätigkeit und die Laufbahn des Richters betref-fen, soll in Zukunft eine Qualifikationskollegium ent-scheiden. Es soll zu einem Drittel aus Personen beste-hen, die nicht der Judikative oder ihren Vollstrek-kungsorganen, sondern dem wissenschaftlich-pädago-gischen Bereich und dem Kreis nicht-praktizierenderRichter angehören. Die übrigen Mitglieder sind aktiveRichter, Staatsanwälte und Polizisten. Außer wie bis-her nur administrativ soll sich der Richter künftigauch disziplinarisch verantworten. Nach den neuenGesetzen kann – im Unterschied zur bisherigen Rege-lung – gegen einen Richter ermittelt werden. DieErlaubnis kann nur ein Kollegium von Richtern aufder höheren Ebene im Rahmen eines Strafprozesseserteilen. Der Richter kann in der Folge verhaftet oderunter Hausarrest gestellt werden. In Disziplinarfragenentscheidet das Qualifikationskollegium auf Antragdes Vorsitzenden des Richterkollegiums.86

Schließlich ist die Gründung eines Rates der rich-terlichen Gewalt vorgesehen, der in allen Personalfra-gen entscheidet. In der Präsidialadministration wirdein Gesetz zur Bildung einer Gerichtskammer vor-bereitet, welche die Tätigkeit aller drei Spitzengerich-te (Oberstes Gericht, Verfassungsgericht, OberstesSchiedsgericht) koordinieren soll.87

Staatsanwaltschaft

Die Justizreform beschränkt sich aber nicht nur aufdas Gerichtswesen im engeren Sinne. So ist vorgese-hen, Ermittlungsverfahren aus dem Innenministe-rium und ihm nachgeordneten Stellen sowie derStaatsanwaltschaft auszugliedern und einem zu grün-denden »Föderalen Ermittlungsdienst« zu übertragen.Bei der Staatsanwaltschaft sollen lediglich besondersschwierige Ermittlungsverfahren verbleiben sowieVerfahren gegen Ermittler, Staatsanwälte und Richter.Die Bildung eines »Föderalen Ermittlungsdienstes« istjedoch vorerst gescheitert. Putin rief in diesem Zusam

86 Rossijskaja gazeta, 17.4.2001.87 Nezavisimaja gazeta, 11.7.2001

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Justizreform

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menhang zur Geduld auf. Es könne und müsse nichtalles sofort geschaffen werden.88

Bisher war es der Generalstaatsanwaltschaft er-laubt, Verdächtige festzunehmen und bis zu zehnTagen ohne Gerichtsbeschluß in Untersuchungshaftzu halten, obwohl Verfassungsartikel 22 vorschreibt,daß solche Personen in diesem Fall nur für höchstens48 Stunden in Gewahrsam genommen werden dürfen.In Zukunft bedürfen auch Hausdurchsuchungen,Arrest und operative Nachforschungen einer richter-lichen Anordnung.89 Protest gegen richterliche Ent-scheidungen kann die Staatsanwaltschaft nur nochbei sogenannten Vertretungen erheben. Verhöre zurAnklageerhebung dürfen nur noch im Gericht vor-genommen werden.

Rechtsanwaltschaft

Gemäß Justizreform wählen die Rechtsanwälte injedem Föderationssubjekt als Organ der Selbstverwal-tung eine Anwaltskammer. Bei dieser Kammer solleine unabhängige Qualifikationskommission ein-gerichtet werden, die hauptsächlich aus Anwälten,aber auch aus Vertretern der Justizverwaltung, derLegislative und der Jurisdiktion des Föderationssub-jekts besteht. Wer als Anwalt tätig werden möchte,muß zuvor ein Examen vor dieser Kommission be-stehen,90 die ihm anschließend seine Zulassung erteilt.

Die Rechtsanwälte können künftig entscheiden, obsie selbständig oder in einer Kanzlei mit mehrerenAnwälten arbeiten wollen. Außerdem erhalten sie dasRecht, selbst einen Straftatbestand zu untersuchenund die Unschuld des Angeklagten zu überprüfen.

Das Justizministerium oder dessen regionalesOrgan hat nach dem neuen Gesetz das Recht, einemRechtsanwalt ohne richterliche Prüfung die Zulassungzu entziehen, wenn er seinen Verpflichtungen gegen-über dem Klienten nicht nachkommt oder die Ent-scheidungen der Anwaltskammer ignoriert.

Kritiker der Justizreform

Der Stellvertretende Vorsitzende des Obersten Ge-richts, Wiktor Shujkow, wandte sich gegen die vor-

88 Nezavisimaja gazeta, 24.5.2001.89 Andreas Rüesch, Russland – auf dem Weg zum Rechts-staat?, in: Neue Zürcher Zeitung, 9.7.2001.90 Nezavisimaja gazeta, 26.6.2001.

gesehene kurze Amtszeit der Richter, weil sie dadurchvon den örtlichen Machtorganen abhängig würden. Erempfahl den Staatsdumaabgeordneten, den Reform-gesetzen nicht zuzustimmen. Sollten sie es dennochtun, werde gegen die Gesetze Klage vor dem Verfas-sungsgericht eingereicht.91 Der Vorsitzende des Rich-terrats, Jurij Sidorenko, warnte davor, daß die Richterinfolge der Justizreform von Beamten abhängigwerden könnten, die Rücksicht auf die kriminellenGruppen und Machtstrukturen in den Föderations-subjekten nehmen müßten.92

Der Stellvertretende Generalstaatsanwalt, SabirKechlerow, urteilte, daß eine schlechte neue Strafpro-zeßordnung viel schlimmer sei als eine unvollkom-mene alte.93 Und Generalstaatsanwalt Michail Ustinowbeanstandet die Justizreform, weil sie die Kompeten-zen der Staatsanwaltschaft schmälere. Er lehne es ab,von einer Reform zu sprechen, wo es sich doch nurum eine Reihe von Maßnahmen handele, die als Re-form bezeichnet würden.94 Die Staatsanwaltschaft seinicht gegen eine Justizreform, sondern gegen schlechtdurchdachte und übereilte Entscheidungen.95

Auch die Rechtsanwälte sparten nicht mit Kritik: Sobeschloß die »Föderale Union der Rechtsanwälte«, der90% aller Advokaten angehören, am 25. Mai 2001 eineResolution. Darin wird hauptsächlich bemängelt, daßdas neue Rechtsanwaltsgesetz gedankenlos dieneueste Terminologie verwende, ohne den Erforder-nisse des Rechtsschutzes in Rußland wirklich gerechtzu werden.96

Durch die Gerichtsreform soll nach Meinung ihreswichtigsten Autors, Dmitrij Kosak, die Rechtspre-chung in sechs Jahren auf internationales Niveaugehoben werden. Die Richter sollen in erforderlichemMaße qualifiziert und unabhängig werden und objek-tiv und verantwortlich Recht sprechen.97

Die Justizreform ist ein großer Schritt nach vornauf dem Weg zum russischen Rechtsstaat. Wäre sienicht einschneidend, gäbe es nicht so massiven Wider-stand. Die Frage wird sein, inwieweit sich dieserWiderstand durchsetzen kann. Das dürfte auch einIndikator für die Reformfähigkeit Rußlands unterPutin sein.

91 Kommersant-Daily, 5.6.2001.92 Nezavisimaja gazeta, 18.4.2001.93 Rossijskaja gazeta, 27.4.2001.94 Rossijskaja gazeta, 28.4.2001.95 Rossijskaja gazeta, 18.5.2001.96 Nezavisimaja gazeta, 26.6.2001.97 Rossijskaja gazeta, 17.4.2001.

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Gesamteinschätzung Putins

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Gesamteinschätzung Putins

Bevor Putin FSB-Chef und Premier wurde, war er nichtPolitiker, sondern Beamter auf der mittleren Ebene.Seine maßgebenden Berufs- und Lebenserfahrungenhat er in dieser Zeit gesammelt. Von Putin wurden zu-vor weder selbständige politische Entscheidungengroßer Tragweite noch strategisches Denken erwartet.Er war Vollstrecker fremder Entscheidungen, dieunter Umständen sprunghaft oder widersprüchlichwaren. Dies lehrte ihn, vorsichtig zu sein und gegebe-nenfalls zu lavieren, was nicht gerade die Entwicklungvon Qualitäten fördert, die ein entschlossener undzielstrebiger Politiker benötigt.98

Putin hat am Ende seiner Agentenjahre in Dresdenden Zusammenbruch der DDR und damit das Schei-tern des kommunistischen Systems erlebt. Darausdürfte er die schmerzliche Schlußfolgerung gezogenhaben, daß das westliche System überlegen ist. Darausergibt sich die weitere Überlegung, daß Rußland dassiegreiche westliche System adaptieren und sichmodernisieren muß, wenn es überleben will. InSt. Petersburg hatte Putin einige Jahre als Erster Stell-vertretender Oberbürgermeister mit der Zuständigkeitfür auswärtige und außenwirtschaftliche Beziehungenerste Gelegenheiten, mit der Marktwirtschaft inKontakt zu kommen.

Wenn Putin beteuert, Rußland auf den westlichenModernisierungsweg führen zu wollen, so ist dassicher ernst zu nehmen. Die Frage ist nur, ob er Demo-kratie und Marktwirtschaft lediglich im Interesse derHerrschaftssicherung einsetzen will oder ob er sichum ihrer Inhalte willen zu ihnen bekennt. Was in derletzten Zeit beispielsweise im Medienbereich zu beob-achten war, läßt vermuten, daß Putin westliche Demo-kratie und zivile Gesellschaft von innen heraus nichtkennt und nicht versteht.

Putin legt sehr großen Wert darauf, daß er in denRatings hohe Zufriedenheitsquoten bei der Bevölke-rung erzielt. Wenn seine Werte fallen, versucht ernach Möglichkeit durch populistische Aktionen dieZustimmungswerte wieder nach oben zu treiben.99

98 G. G. Diligenskij, Putin und die russische Demokratie, in:Osteuropa, (2001) 6, S. 652f.99 Information im Rahmen der Moskau-Reise des AutorsAnfang März 2001.

Putin ist einmal als »Gefangener seiner Popularität«bezeichnet worden.100 Orientiert sich ein Politiker zusehr an Meinungsumfragen, wird er keine einschnei-denden Reformmaßnahmen durchführen. Aus dem-selben Grund ist auch nicht zu erwarten, daß Putinein autoritäres System errichten wird. Aber er wäresicher geneigt, autoritären Stimmungen in großenTeilen der Bevölkerung nachzugeben und sie aus-zunutzen, etwa um die Machtvertikale zu stärken.

Im Gegensatz zu Jelzin versucht Putin seine Politiknicht gegen die Staatsduma durchzusetzen, sondernmit ihr. Er bemüht sich, innerhalb des Systems zuarbeiten und nicht gegen es.101

Inzwischen ist Putin ein selbständigerer Politikergeworden. Er ist nicht mehr abhängig von Beraternwie noch vor einem halben Jahr. Er möchte zu allenFragen immer verschiedene Meinungen hören, um einBeratungsmonopol durch eine Person zu vermeiden.Putin ist offen für Begegnungen und führt mit vielenMenschen Gespräche, um sich ein unmittelbares Bildmachen zu können.102

Abkürzungen

EU Europäische UnionFSB Federal’naja Služba Bezopasnosti (Föderaler

Sicherheitsdienst)IWA Interregionale WirtschaftsassoziationenKGB Komitet Gosudarstvennoj Bezopasnosti (Komitee für

Staatssicherheit)KPdSU Kommunistische Partei der SowjetunionNGO Nongovernmental OrganizationOSZE Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in

EuropaRSFSR Rossijskaja Sovetskaja Federativnaja Socialističeskaja

Respublika (Russische Sozialistische FöderativeSowjetrepublik)

TACIS Technical Assistance for the Commonwealth ofIndependent States (EU)

ZK Zentralkomitee

100 Markus Wehner, Putin ist der Gefangene seiner Populari-tät, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 1.6.2001.101 Putins Image-Berater Gleb Pawlowskij in einem Inter-view, in: Moskovskij komsomolez, 16.7.2001.102 Information aus Gesprächen mit Staatsdumaabgeordne-ten.