Von der Wirtschaftskrise zur Staatskrise im Deutschen Reich · 2015. 2. 16. ·...

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© C.C. Buchners Verlag Bamberg 2012 aus: Buchners Kolleg. Themen Geschichte, Weltwirtschaftskrise (BN 7311) Von der Wirtschaftskrise zur Staatskrise im Deutschen Reich Æ „Wirtschaftsprogramm.“ Karikatur von Thomas Theodor Heine aus der satirischen Wochenzeitschrift „Simplicissimus“ vom 25. Mai 1931. Interpretieren Sie die Karikatur. Berücksichtigen Sie auch den chronologischen Überblick (Seite 54).

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Von der Wirtschaftskrise zur Staatskrise im Deutschen Reich

Æ „Wirtschaftsprogramm.“Karikatur von Thomas Theodor Heine aus der satirischen Wochenzeitschrift „Simplicissimus“ vom 25. Mai 1931.• Interpretieren Sie die Karikatur. Berücksichtigen Sie auch den chronologischen

Überblick (Seite 54).

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1918 Die Deutsche Republik wird ausgerufen (9. November). Vertreter der Großindustrie und der FreienGewerkschaften beschließen die Anerkennung von Tarifverträgen und den Acht-Stunden-Tag. Die Gemeinden werden verpflichtet, eine Erwerbslosenfürsorge einzurichten.

1919 Der Versailler Vertrag wird am 28. Juni unterschrieben. Aufgrund des Kriegsschuldartikels muss Deutsch-land Reparationen leisten; die Gesamthöhe wird nicht festgelegt. Am 11. August tritt die Weimarer Ver -fassung in Kraft; sie macht das Deutsche Reich zu einer parlamentarischen Demokratie.

1923 Krisenjahr der Republik: Das Ruhrgebiet wird von französischen und britischen Truppen wegen fehlenderReparationslieferungen besetzt (Januar). Die Reichsregierung unterstützt von Januar bis September den„passiven Widerstand“ u. a. mit dem Druck von Papiergeld. Die Hyperinflation führt zum Niedergang derWirtschaft, zu Massenstreiks und Hungerunruhen (Juli/August). Der Hitler-Putsch in München scheitert(8./9. November). Die Rentenmark wird eingeführt (Währungsreform vom 15. November).

1924 Dawes-Plan: Eine von den Siegermächten einberufene Kommission unter dem Vorsitz des US-BankiersCharles G. Dawes erarbeitet einen Plan für die deutschen Reparationszahlungen; die Belastung soll zu-nächst jährlich eine, nach fünf Jahren 2,5 Milliarden Reichsmark betragen. Ein Ende der Zahlungen wirdnoch nicht festgesetzt.

1927 Das Arbeitslosenversicherungsgesetz ergänzt die Erwerbslosenfürsorge von 1918; sie tritt am 1. Oktober in Kraft.

1929 Young-Plan: Der unter Vorsitz des US-Bankiers Owen D. Young überarbeitete Reparationsplan wird am 7. Juni unterzeichnet. Die deutschen Gesamtleistungen werden auf 112 Milliarden Reichsmark bis 1988 fest-gelegt. Zwischen dem 24. und 29. Oktober brechen die Aktienkurse an der New Yorker Börse zusammen.

1930 Heinrich Brüning (Zentrum) wird am 30. März Reichskanzler einer bürgerlichen Minderheitsregierung. Alsder Reichstag die erste Notverordnung des Reichspräsidenten zur „Sicherung von Wirtschaft und Finan-zen“ vom 16. Juli nicht annimmt, wird er am 18. Juli aufgelöst. Bei den Reichstagswahlen vom 14. Septem-ber steigert die NSDAP die Anzahl ihrer Abgeordneten von zwölf auf 107. Die SPD geht am 19. Oktober zurTolerierung der Regierung Brüning über. Die Notverordnung vom 1. Dezember kürzt die Beamtengehälterund erhöht die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung.

1931 Der Zusammenbruch der „Österreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe“ am 11. Mai wirktalarmierend auf die internationalen Finanzmärkte.Während viele Lebensmittelpreise durch die staatlicheUnterstützung der Landwirtschaft hoch bleiben, kürzt die Notverordnung vom 5. Juni Sozialleistungensowie Gehälter für Mitarbeiter des öffentlichen Dienstes und erhöht Steuern. Am selben Tag erklärt dieReichsregierung der Weltöffentlichkeit, das deutsche Volk sei „an der Grenze seiner Belastbarkeit ange-langt“. Der größte europäische Textilkonzern, die Bremer Nordwolle, bricht im Juli zusammen. Angesichtsder Zahlungsunfähigkeit vieler Länder erreicht US-Präsident Herbert C. Hoover einen auf ein Jahr befriste-ten Zahlungsaufschub (Moratorium) für Kriegsschulden und Reparationen (ab 6. Juli). Die „Darmstädterund Nationalbank“ (Danat) gibt am 13. Juli ihre Zahlungsunfähigkeit bekannt, ein Run auf die Guthabenaller Banken beginnt. Mit der Schließung der deutschen Börsen und der Einführung von zwei „Bankfeier-tagen“ (14./15. Juli) setzt der Kampf gegen die Bankenkrise ein. Die rechten republikfeindlichen Parteienund Verbände rufen am 11. Oktober in Bad Harzburg zum Sturz der Regierung Brüning auf.

1932 Im Deutschen Reich sind im Februar 6,1 Millionen Arbeitslose registriert. Auf dem „Krisenkongress“ desAllgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes wird am 13. April ein Plan zur Arbeitsbeschaffung durch„produktive Kreditschöpfung“ beschlossen. Am 30. Mai muss die Regierung Brüning zurücktreten. Im Dezember sind noch 5,8 Millionen Arbeitslose registriert. Auf der Reparationskonferenz in Lausanne (16. Juni bis 9. Juli) werden die deutschen Reparationsleistungen gegen eine geplante Abschlusszahlungvon drei Milliarden Goldmark gestrichen. Aus den Reichstagswahlen vom 31. Juli geht die NSDAP alsstärkste Fraktion hervor.

1933 Adolf Hitler, der „Führer“ der NSDAP, wird am 30. Januar vom Reichspräsidenten Hindenburg zum Reichs-kanzler eines Präsidialkabinetts mit überwiegend national-konservativen Ministern ernannt.

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M1Aktienkurse an den Börsen von New York und Berlin 1927 bis 1933

Nach: Friedrich-Wilhelm Henning, Deutsche Wirtschafts- undSozialgeschichte in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, Teil 1,Paderborn 2003, S. 454

1. Beschreiben Sie die beiden Kurven. Benutzen Siepassende Begriffe: Wendepunkt, Trend, Ver-schärfung, Abschwächung, Höhe- und Tiefpunkt,Stagnation, Parallelität, Gegenläufigkeit.

2. Setzen Sie die Entwicklung der Berliner Aktien-kurse in Beziehung zum Ablauf des Börsenstur-zes in New York von 1929.

M2Was die Unternehmer wollen

Der Reichsverband der Deutschen Industrie, die Spit-zenorganisation der Unternehmer, veröffentlicht am2. Dezember 1929 eine Denkschrift, in der er folgendeGrundsätze zur Gestaltung der Wirtschaft vorträgt:

Kapitalbildung1. Ausgangspunkt für alle Maßnahmen der Wirt-schafts-, Finanz- und Sozialpolitik ist unter den fürdie deutsche Wirtschaft gegebenen Umständen dieFörderung der Kapitalbildung. Sie ist die Vorausset-zung für die Steigerung der Produktion […].3. Um größtmögliche Wirtschaftlichkeit zu erzielen,neue Arbeitsplätze zu schaffen und den Lebensbedarfder breiten Masse zu befriedigen, muss vor allem dieKapitalbildung gefördert werden, die auf kürzestemund sicherstem Wege das neu gebildete Kapital derProduktion zuführt.

4. Die Unternehmungen müssen über die Sicherungder Rentabilität hinaus Eigenkapital bilden können.5. Die deutsche Wirtschaft muss von allen unwirt-schaftlichen Hemmungen befreit werden. Die Vorbe-lastung der Produktion durch Steuern ist auf das un-umgänglich notwendige Maß zurückzudämmen. […]SozialpolitikDie materiellen Ansprüche der Sozialpolitik an dieWirtschaft müssen sich in den Grenzen der Leis-tungsfähigkeit und Entwicklungsmöglichkeit derWirtschaft halten. Nur dann ist die Erfüllung der so-zialen Aufgaben für die Dauer gesichert; die wirt-schaftliche Produktivität ist die Quelle sozialer Leis-tungen. […]Finanz- und Steuerpolitik1. Der Steuerbedarf ist in den letzten Jahren so uner-träglich gesteigert worden, dass die Rente1) der Er-werbswirtschaft weit unter den landesüblichen Zins-fuß herabgedrückt worden ist. Das Interesse desKapitals an verantwortlicher Betätigung in der Pro-duktion muss unter diesem Steuerdruck auf dieDauer schwinden. Die öffentliche Finanzwirtschaft istdaher so zu gestalten, dass die Ansprüche der öffent-lichen Hand sich nach den wirtschaftlichen Lebens-notwendigkeiten richten.

Herbert Michaelis und Ernst Schraepler (Hrsg.), Ursachen undFolgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 biszur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart.Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitge-schichte, Bd. 7: Die Weimarer Republik. Vom Kellogg-Pakt zurWeltwirtschaftskrise 1928–30. Die innenpolitische Entwick-lung, Berlin 1962, S. 649–651

1. Fassen Sie die Forderungen der Industrie an dieWirtschaftspolitik der Reichsregierung zusam-men.

2. Erklären Sie, warum die Unternehmer bereitsfünf Wochen nach dem Börsencrash Maßnah-men zur Förderung der Kapitalbildung verlang-ten (M1 und M2).

3. Entwickeln Sie Denkansätze für die Position derGewerkschaften.

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1) Rente: Gemeint ist die Rendite, der Ertrag des angelegtenKapitals.

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1) Heinrich Brüning: Siehe die Bildlegende auf Seite 68.2) Paul Moldenhauer (1876–1947): von 1920 bis 1932 Reichs-

tagsabgeordneter der Deutschen Volkspartei; Reichswirt-schafts- (1929) und Finanzminister (1929-1930)

3) Die Krisenfürsorge fiel an, wenn keine Arbeitslosenunter-stützung mehr geleistet werden musste. Sie wurde seit1926 zu einem Viertel von den Gemeinden und zu drei Vier-teln vom Reich getragen.

1) Die Darmstädter und Nationalbank (Danat-Bank) stellteam 13. Juli 1931 ihre Zahlungen ein. Damit begann auch inDeutschland die Bankenkrise, die am 11. Mai 1931 mit Zah-lungsschwierigkeiten der Österreichischen Credit-Anstaltfür Handel und Gewerbe begonnen hatte (siehe Seite 39und 69 f.).

2) illiquid: zahlungsunfähig; eine Bank ist illiquid, wenn sienicht mehr in der Lage ist, Sparguthaben auszuzahlen oderSchulden zu begleichen.

M3Was tun?

In den Aufzeichnungen über die Ministerbespre-chung vom 19. Mai 1930 heißt es:

Der Reichskanzler1) wies auf die Schwierigkeitenhin, die einer Sanierung der Gemeindefinanzen imWege stehen. Er führt ferner aus, dass die Steuer-eingänge sich ungünstig entwickelten. […] Äußerstbedenklich sei die Tatsache, dass der Baumarktnicht in Gang komme. Deshalb nehme die Zahl derErwerbslosen auch nicht in dem erwünschten Maßeab. Es müsse mit allen Kräften dafür gesorgt wer-den, dass der Arbeitsmarkt soweit als möglich inGang komme. Um dieses Ziel zu erreichen, sei u. a.eine frühere Verteilung der öffentlichen Aufträgenotwendig, als es bisher vorgesehen sei. […] DieArbeitslosigkeit müsse durch Beschaffung von Arbeitsgelegenheit bekämpft werden. […]Der Reichsminister der Finanzen2) führte aus, dassbei Zugrundelegung einer Erwerbslosenzahl von 1 550 000 ein Fehlbetrag von 350 Millionen Reichs-mark in der Arbeitslosenfürsorge, von 100 Millio-nen in der Krisenfürsorge3) eintreten werde, wenndie Beiträge nicht erhöht und keine Reform vorge-nommen würde. […] [Der Reichsminister der Finanzen berichtet:] Fast täg-lich kämen Industrielle zu ihm, um ihm mitzuteilen,sie könnten einen großen Auslandsauftrag erhalten,wenn das Reich die Differenz gegenüber dem aus-ländischen Konkurrenten trage, der ihn im Preiseunterbiete. Der Industrielle lege dann stets dar, dassdas Reich immer noch Vorteil von einem derartigenGeschäft hätte, denn andernfalls müsse das Werkstillgelegt werden. Das Reich würde dann also keineSteuern erhalten und müsse außerdem noch dieLast der Unterstützung an die Erwerbslosen durchdie Reichsanstalt tragen. Bisher habe er derartigeAnsinnen stets abgelehnt, da andernfalls das Endeder Privatwirtschaft bald abzusehen sei. […]

Der Reichskanzler wies darauf hin, dass auch dieenglische Regierung vor einigen Jahren durch Vor-verlegung von öffentlichen Aufträgen die Wirt-schaft belebt habe. Trotzdem dieser Weg nichtganz unbedenklich sei, werde die Reichsregierungihn auch beschreiten müssen.

Zit. nach: Fritz Blaich, Der Schwarze Freitag. Inflation undWirtschaftskrise, in: Wolfgang Benz und Hermann Graml(Hrsg.), Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahr-hundert bis zur Gegenwart, München 21990, S. 129–132

1. Fassen Sie die in der Ministerrunde diskutiertenProbleme und Lösungsvorschläge zusammen.

2. Arbeiten Sie die Position des Reichskanzlers bezüglich öffentlicher Aufträge zur Bekämpfungder Arbeitslosigkeit heraus.

3. Überprüfen Sie, inwiefern Zahlungen durch denStaat an private Unternehmen das „Ende derPrivatwirtschaft“ bedeuten können.

M4 Die Nerven behalten

Am 13. Juli 1931 veröffentlicht die „Deutsche Allge-meine Zeitung“ einen Aufruf der Reichsregierung:

Die Bestrebungen der Reichsbank […] sind daraufgerichtet, möglichst langfristige Kredite des Auslan-des zu erlangen, um der privaten Wirtschaft zu hel-fen, ihre Notstände zu überwinden. Trotz aller Be-mühungen ist im Verlaufe dieser Vorgänge einesder größten Bankinstitute, die Darmstädter undNationalbank1), illiquid2) geworden. Die Reichsre-gierung erachtet es für ihre Pflicht, […] den großenGefahren, die aus dieser Illiquidität drohen, zu be-gegnen. Es handelt sich nicht darum, das Vermö-gen der Bank zu retten, sondern es handelt sich da-rum, den Hunderttausenden von Kunden der Bankihren Besitz zu erhalten und damit ihre Unterneh-

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mungen vor der Betriebseinstellungoder gar vor dem Untergang zu ret-ten. Nur aus diesen Gesichtspunktenwird das Reich für etwaige Ausfälle,die eintreten können, aufkommen.Es ist eine Selbstverständlichkeit,dass die Geschäfte der Bank vonTreuhändern der Reichsregierungüberwacht werden. […] Es kommtdarauf an, dass das deutsche Volk indieser schweren Lage die Nerven be-hält und nicht durch mangelndesSelbstvertrauen die Schwierigkeitenvermehrt.

Herbert Michaelis und Ernst Schraepler (Hrsg.), Ursachen und Folgen […], Bd. 8: Die Weimarer Republik. Das Ende des parlamentarischen Systems. Brüning – Papen – Schleicher1930-1933, Berlin 1962, S. 193

1. Erläutern Sie, welche Ziele die Reichsregierungmit diesem Aufruf verfolgte.

2. Beurteilen Sie die mögliche Wirkung des Aufrufsauf die deutsche Öffentlichkeit.

M5Wer sind die „wahren Schuldigen“?

Der Vorstand der Sozialdemokratischen ParteiDeutschlands reagiert am 14. Juli 1931 mit folgendemAufruf auf die Bankenkrise:

Die Krise hat sich verschärft, Zusammenbrüchegroßer Industrie- und Bankunternehmungen zeich-nen ihren Weg. Mit ihnen bricht die Lüge von der„marxistischen Misswirtschaft“ zusammen, die er-funden wurde, um von den wahren Schuldigen ab-zulenken: dem kapitalistischen System und seinenVertretern.Die bankrotten Finanzmagnaten und Industrieher -zöge sind keine Marxisten. Sie sind entschiedeneVerfechter der kapitalistischen Privatwirtschaft undGeldgeber der antimarxistischen Propaganda. […]Jetzt verlangen die bankrotten Bekämpfer des Mar-xismus Rettung durch den Staat! Jetzt steht dieReichsregierung für zusammengebrochene Bankengut, jetzt übernimmt sie für sie die Aufsicht! […]

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Æ Andrang vor den Toren der „Berliner Bank für Handelund Grundbesitz AG“.Foto von Carl Weinrother vom Juli 1931.

In der Stunde höchster Gefahr fordern wir ent-schlossene Umkehr. Die Selbstherrschaft der Ban-ken und der Schwerindustrie führt die Wirtschaftin den Abgrund. Ihr muss ein Ende bereitet wer-den. Staatliche Hilfe ist nur gerechtfertigt, wenn derstaatliche Einfluss im Interesse der Allgemeinheitdauernd gesichert bleibt. Eine gründliche Bereini-gung der Wirtschaft muss herbeigeführt werden,ohne Rücksicht auf kapitalistische Sonderinteres-sen. Arbeiter und Angestellte sind durch unbe-dingte Sicherung ihrer Ansprüche auf Lohn, Gehaltoder Unterstützung vor den verderblichen Folgender Krise, deren unschuldige Opfer sie sind, zuschützen. […]Nicht kapitalistische Wirtschaftsanarchie, sonderngeordnete Wirtschaftsführung zum Nutzen desGanzen!Nicht sinnlose Verzweiflungsakte, sondern plan-volle Arbeit für das Volk und für den Sozialismus!Nicht Uneinigkeit und Spaltung der Arbeiterklasse,sondern feste Einigkeit, stärkste Entschlossenheit imKampf gegen alle feindlichen Gewalten! Das ist dieForderung der Stunde!

Herbert Michaelis und Ernst Schraepler (Hrsg.), Ursachen und Folgen, Bd. 8, a.a.O., S. 193f.

1. Geben Sie die Ursachen und Folgen der Banken-krise aus der Sicht der SPD wieder.

2. Arbeiten Sie heraus, welche Vorgehensweise dieSPD von der Reichsregierung fordert.

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1) Danat-Bank: Kurzbezeichnung für Darmstädter und Nationalbank; siehe M 4, Seite 56.

1) Gemeint sind die Ergebnisse für die NSDAP und KPD bei denReichstagswahlen vom 14. September 1930; siehe Seite 68.

M6„Verlieren wir noch einmal alles …?“

Der 50-jährige Professor für Romanistik VictorKlemperer schreibt unter dem 16. Juli 1931 in seinTagebuch:

Aber von Tag zu Tag wird die deutsche Gesamt-lage verzweifelter und undurchsichtiger. Ich ver-stehe nicht, was vorgeht, niemand versteht es, dieZeitungen schwätzen oder lügen. Sind wir nun inStaatsbankrott und Inflation mitteninne (die Danat-bank, die „Bankfeiertage“1) […]) – oder nicht? Stürztdie Regierung? Folgt Hitler oder der Communis-mus? […] Verlieren wir noch einmal alles wie 1923?– Vollkommen blind und hilflos lebt man jetzt hin,und hat keine Ahnung, was man durchlebt, wasfür Geschichte sich vollzieht und wer Geschichtemacht.

Victor Klemperer, Leben sammeln, nicht fragen wozu undwarum. Tagebücher 1925–1932, hrsg. von Walter Nowojski,Berlin 1996, S. 721

1. Erläutern Sie Klemperers Angst vor der Ent -wicklung.

2. „Folgt Hitler oder der Communismus?“ (Z. 7 f.)Erörtern Sie, welche Beobachtungen Klempererzu dieser Frage bewegt haben mögen.

M7Eine Untersuchung der Bankenkrise

Im Oktober 1931 veröffentlicht die Deutsche Bankund Disconto-Gesellschaft eine Denkschrift, in derdie Bankenzusammenbrüche vom Juli des Jahresanalysiert werden; darin heißt es:

Innenpolitisch hatte sich die deutsche Wirtschaftspo-litik einer ununterbrochenen Reihe schwerer Fehlerschuldig gemacht, deren Folge die finanzielle Über-anspannung immer mehr verdichtete und die Ent-wicklung einer krisenhaften Zuspitzung zutrieb. […]Eine in den Gedankengängen der Inflationszeit be-fangene und falsche soziale Rücksichten nehmendeSteuerpolitik verhinderte eine ausreichende innereKapitalbildung und trug wesentlich zu dem An-wachsen der Verschuldung an das Ausland bei.Weitere Kapitalausfälle entstanden für die heimischeWirtschaft durch die Kapitalflucht, die wiederumsehr maßgeblich durch die überhohe Besteuerungverursacht wurde. […] Steuer- und Lohnpolitik hemmten die Wirtschafts-entfaltung, steigerten die Arbeitslosigkeit und führ-ten statt zu wirtschaftlicher Belebung zu zunehmen-der Erstarrung, die allenthalben eine Verschlech-terung der finanziellen Verhältnisse zur Folge hatte.Es fehlte an einer rationellen Wirtschafts- und Fi-nanzpolitik, welche die Kapitalbildung bei den Un-ternehmungen wieder ermöglicht und dadurch de-ren übermäßiges Kreditbegehren gemildert hätte.Durch die falsche Lösung der Lohn- und Arbeits-zeitfrage wurden die Unternehmungen gezwungen,zu viel Geld in arbeitssparende Maschinen zu inves-tieren, und damit wurde das Sinken von Kapital-nachfrage und Zinsfuß verhindert. […]Das außerordentliche Anwachsen der radikalen Flü-gelparteien1) und der darin zum Ausdruck kom-mende Grad der Unzufriedenheit breiter Volksmas-sen mit den politischen und wirtschaftlichenGesamtverhältnissen Deutschlands wirkte im In-und Auslande alarmierend und löste eine neue Ver-trauenserschütterung von größter Heftigkeit aus. Essetzte eine Kapitalfluchtwelle ein, wie sie seit derWährungsstabilisierung kaum erlebt worden war.Die Angstpsychose griff auf das Ausland über, das

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Æ Werbung für Sparbücher von 1929.

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sich zunächst noch abwartend verhalten hatte. Sietrat darin zutage, dass vom Auslande große Abga-ben von deutschen Auslandswerten erfolgten, diederen Kurse empfindlich senkten. Zugleich setztenstarke Verkäufe des Auslandes an den deutschenBörsen ein. An dem Ausbruch des ausländischenMisstrauens steigerten sich wiederum die Besorg-nisse des Inlandes. Vor allem ging das Auslanddazu über, in erheblichem Umfange seine kurzfristignach Deutschland ausgeliehenen Gelder zurückzu-ziehen bzw. bei Fälligkeit nicht zu erneuern.

Walter Steitz (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- undSozialgeschichte. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende derWeimarer Republik, Darmstadt 1993, S. 465-467

1. Fassen Sie die Ursachen der Bankenkrise nachder Darstellung der Deutschen Bank und Disconto-Gesellschaft zusammen.

2. Die Auftraggeber dieser Denkschrift waren selbstin die Bankenkrise verwickelt. Überprüfen Sie, in welcher Form diese Tatsache in der Analyseder Ereignisse und Zusammenhänge zum Tragenkommt.

3. Beurteilen Sie den Quellenwert des Dokuments.

M8 Brüning über Finanz- und Wirtschaftspolitik

In einem Referat vor den Vereinigten Ausschüssendes Reichsrats erläutert Reichskanzler Dr. HeinrichBrüning am 13. August 1931 einige Grundlinien sei-ner Finanz- und Wirtschaftspolitik:

Eine Erholung der Weltwirtschaft gibt es erst dann,wenn der Tiefpunkt der Preise erreicht wird, wenndie Menschen wissen, jetzt geht es mit den Preisennicht mehr weiter herunter, sondern kann nur lang-sam wieder hinaufgehen. Dann erst können die ge-samten Maßnahmen getroffen werden, die notwen-dig sind, dann erst kann das Preisniveau derWaren wieder in das richtige Verhältnis zum Volu-men der Waren kommen. Bis dahin gibt es in derganzen Welt nur ein Herumtappen, und jedes Volkkann sich nur darauf einrichten, dass es sehenmuss, wie es aus dieser Situation kommt. […]Das Jammern macht in der Welt gar keinen Ein-druck, ob von Kreisen der Industrie oder der Land-

wirtschaft. Die Welt ist sich heute darüber aber imKlaren, dass die Reparationszahlungen in der bis-herigen Höhe nicht mehr fortgesetzt werden kön-nen, sei es offen oder wenigstens im Stillen. Sehrschwer ist es ja doch, den Völkern klarzumachen,nachdem der Young-Plan1) nun ein Jahr in Kraft istund als stabile Lösung angesehen wurde, dass esmit den Reparationen nichts ist. Man braucht Zeitfür diese Erkenntnis, und die Politik der Reichs -regierung, keine populäre Politik zu machen, hatabsolute Bestätigung gefunden. Wir mussten dieInitiative den anderen zuschieben; die letzten Ereig-nisse haben sicher den Gutwilligen klargemacht,dass wir bei eigener Initiative einen politischenBlock bekommen hätten, der eine andere Reichs -regierung zur Folge gehabt hätte. Es bleibt nichtsanderes übrig, um wieder Kredit zu bekommen, alsder Welt zu zeigen, was wir leisten können. DieGefahr, dass daraus hinsichtlich der Reparationenin positiver Hinsicht Schlüsse gezogen werdenkönnen, ist nicht mehr groß. Es muss der letzteSchleier von Deutschland weggezogen werden unddie Dinge ganz offen so dargestellt werden, wie siesind.[…] Es kommt ja heute darauf an, das zurückgezo-gene Kapital, das an sich im Laufe eines Jahres er-setzt werden kann, durch den Erlass der Reparatio-nen für dieses Jahr nur für einige Monateauszugleichen, d.h. also einen Weg zu finden, deruns den Endeffekt am Ende des Jahres jetzt schonzur Verfügung stellt. Außer diesem Weg der Kredi-tierung ausländischer Rohstoffimporte2) gibt esnoch einen zweiten Weg, worüber ich aber jetztnoch nicht sprechen werde.Es besteht eine sichere Notwendigkeit, überall zuerneuten Sparmaßnahmen zu kommen. […] Einekurzfristige Verschuldung von Ländern und Ge-meinden im Tempo wie in den vergangenen Jahrenmuss aufhören. Es ist unmöglich, das Bankensys-tem noch einmal zu retten, wenn man plötzlich vorTatsachen gestellt wird, die uns zum Teil erst inletzter Stunde bekannt geworden sind. Die Dingeliegen zwar in den Ländern verschieden. Aber die

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1) Young-Plan: Siehe Seite 54. 2) Kreditierung ausländischer Rohstoffimporte: Gewährung

von Krediten zum Kauf von Rohstoffen

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ist. Verbitterung setzt sich fest, die nie wieder aus-zutreiben sein wird, selbst wenn, nach gewisserZeit vielleicht, doch noch einmal wieder Arbeit ge-funden werden sollte. Der Abstand geht verloren,zwischen den Menschen, immer wieder zwei Men-schen; Abstand zu Vergangenheit, Zukunft, Leben,Schicksal. Familie, kleine Familie, aber millionen-fach Familie in Deutschland geht kaputt, nichtsweiter. Die Stufen nach unten gehen sich schnellund von selber; die Vielen sinken ab und merkenes nicht einmal. Eine neue Umschichtung der Klas-sen und der Herzen setzt ein.Ja, und nicht einmal ausgesprochene Schuld auf irgendeiner Seite. Hier verändert sich etwas in derSeele des Volkes; nicht nur dieser einen Generation– vielen Generationen wird von dieser Zeit der Ar-beitslosigkeit auch ihr inneres Schicksal bestimmt.

Bruno Nelissen Haken, Stempelchronik. 261 Arbeitslosen-schicksale, Hamburg 1932, S. 8

1. Charakterisieren Sie die Folgen der Krise für das gesellschaftliche Zusammenleben.

2. Übernehmen Sie die Perspektive eines jungen Arbeitslosen und schreiben Sie einen Brief an dieReichsregierung, in dem Sie Ihre Alltagserfahrun-gen und eine Einschätzung Ihrer persönlichenLage und Perspektive schildern. Stellen Sie Forderungen an die Politik auf.

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Æ Die Arbeitslosen. Ölgemälde (167 x 172 cm) von Karl Hofer, 1932.• Beschreiben Sie die Stimmung, welche das Gemälde

ausdrückt.• Erklären Sie, welche Gründe den Maler zur Wahl dieses

Motivs bewogen haben können.

1) Illiquidität: Zahlungsunfähigkeit; siehe auch M4, Seite 56,Anm. 2.

Tatsache, dass ein großer Teil der Illiquidität1) aufdiese enorme kurzfristige Verschuldung zurückzu-führen ist, müsste jedem verantwortlichen Politikerin Reich, Ländern und Gemeinden die Augen öff-nen, dass mit diesem System Schluss gemacht wer-den muss.

Walter Steitz (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, a. a. O., S. 458–462

1. Geben Sie die Maßnahmen wieder, die Brüningzur Bekämpfung der Krise plant.

2. Ordnen Sie auf der Grundlage der Zeilen 1-12die Position Brünings wirtschaftstheoretisch ein(siehe dazu Seite 9).

3. Vergleichen Sie Brünings Haltung in dieserQuelle mit seiner Position in M 3, Seite 56. Erklären Sie, inwiefern sich seine Position verän-dert hat, und geben Sie mögliche Ursachen an.

4. An anderer Stelle dieser Rede vertritt Brüning dieThese, dass die Reichsregierung „sich in sozialerGesinnung von keiner ihrer Vorgängerregierun-gen übertreffen lässt“. Überprüfen Sie, inwieweitdiese Aussage Brünings angesichts der sozialpo-litischen Maßnahmen seiner Regierung berechtigtist.

M9Herausgerissen

1932 erscheint in Hamburg eine „Stempelchronik“mit dokumentarischen Aufzeichnungen über Arbeits-losenschicksale. Der Herausgeber der Sammlung,Bruno Nelissen Haken, schreibt in der Einleitung:

Alle diese [Arbeitslosen] sind ja herausgerissen aus:Familie, Zuhause, kleiner menschlicher Heimat. Beivielen gehen die kleinen Hemmungen sehr schnellverloren, Scheu, Abstand, Erinnerung; das sind diegroßen Hemmungen im Leben des Volkes. Männerund Frauen und Kinder bleiben von ihrem Zuhauseund von ihren Familien fort, weil sie die Öde nichtmehr ertragen können, die seit so viel arbeitslosenJahren zwischen Mann und Frau und Kind gesetzt

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M10Unzufriedenheit in Deutschland und Amerika –ein Vergleich

Der amerikanische Journalist H. R. Knickerbockerberichtet 1931/32 im Auftrag der in New York er-scheinenden „Evening Post“ aus Deutschland. Überdie unterschiedlichen Folgen der Unzufriedenheitschreibt er:

Arbeitslosigkeit gibt es überall in der Welt. Die Un-zufriedenheit ist kein Monopol Deutschlands, undviele außerhalb des Reiches müssen sich fragen,warum die Gefahr einer radikalen Änderung vonRegierung und Wirtschaftssystem für Deutschlandgrößer ist als für andere Länder mit gleich hoherArbeitslosenziffer. Dafür gibt es gute Gründe.Erstens: Hier ist die Unzufriedenheit, die aus derArmut resultiert, politisch organisiert. Zweitens:Die Armut gewisser Bevölkerungsschichten istganz außerordentlich bitter. Drittens: Die politischeund wirtschaftliche Unzufriedenheit herrscht bereitsseit langer Zeit. […] Die politische Organisationder Unzufriedenheit in Deutschland macht es un-möglich, die Konsequenzen, zu denen die Arbeits-losigkeit je nach ihrem Ausmaß führen kann, mitdenselben Maßstäben zu messen, wie sie einemgleichen Umfang der Arbeitslosigkeit in anderenLändern zukommen. […]Der Arbeitslose in Amerika drückt seine Unzufrie-denheit im Allgemeinen dadurch aus, dass er seineStimme gegen die Männer oder die Partei, die ander Macht ist, abgibt. Es kann aus einem Republi-kaner ein Demokrat werden oder umgekehrt. Dieunbedeutende Größe, oder besser Kleinheit, derkommunistischen Partei in Amerika weist zur Ge-nüge darauf hin, dass in den Staaten auch von denArbeitslosen nicht viele die Absicht haben, in ih-rem Protest weiter zu gehen. Aber selbst wenn siediese Absicht hätten und ihrer Opposition nichtnur gegen die Partei am Ruder, sondern gegen dieRegierung selbst und das kapitalistische SystemAusdruck verleihen wollten, würden sie kein politi-sches Instrument finden, das sie befriedigenkönnte. Das heißt etwa so viel: Die kommunisti-sche Partei Amerikas ist klein, weil niemand für siestimmt, und es stimmt niemand für sie, weil sieklein ist. […]In dieser Beziehung steht Deutschland einzig da. Eshat zwei Hauptventile für revolutionäres Fühlen;

beide sehen Lösungen für die verschiedensten Ar-ten der Unzufriedenheit vor und verheißen eine ra-dikale Änderung sowohl der Regierung wie desSystems. Auf der einen Seite steht die kommunisti-sche Partei, die alles dem Arbeiter verspricht; aufder anderen die nationalsozialistische Partei AdolfHitlers, die allen alles verspricht. Und ganz abgese-hen von diesen Gründen sind beide Parteien groß,weil viele für sie stimmen, und viele stimmen wie-derum für sie, weil sie groß sind.

H. R. Knickerbocker, Deutschland so oder so?, Berlin 1932, S. 2–4

M11Politische Grundorientierungen im deutschenParteienspektrum 1924 bis 1932

Nach: Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte,Bd. 4: Vom Beginn des Ersten Weltkrieges bis zur Gründungder beiden deutschen Staaten, München 2003, S. 359

1. Fassen Sie die Aussagen des JournalistenKnickerbocker zusammen (M10).

2. Erläutern Sie seine vergleichende Deutung derUnzufriedenheit.

3. Überprüfen Sie seine Deutung mithilfe der GrafikM11.

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Reichs-tags-wahlen

1) Deutsche Nationale Volkspartei, Deutsche Volkspartei, Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei

2) Sozialdemokratische Partei Deutschlands, Deutsche Demo-kratische Partei, Zentrum und Bayerische Volkspartei

3) Kommunistische Partei

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1) Amortisation: allmähliche Tilgung einer langfristigenSchuld nach vorgegebenem Plan

M12Warnung

Der Gewerkschafter und Vorsitzende der DeutschenDemokratischen Partei, Anton Erkelenz, verlässt1930 seine Partei und wechselt zur SPD. In einem am14. Dezember 1931 in „Die Welt am Montag“ ver -öffentlichten Zeitungskommentar schreibt er:

Die Republik und die republikanischen Parteien,die sich alle aufopfern, um Staat und Republik zuerhalten, werden durch die Deflationspolitik derRegierung gezwungen, im Grunde genommen fürHitler zu arbeiten. Es ist auf die Dauer keine Regie-rung möglich, die 95 Prozent der Bevölkerung ge-gen sich aufbringt, indem sie ihre tatsächlichen,manchmal auch ihre scheinbaren Interessen aufsschwerste verletzt. […] Wer Hitler bekämpfen will,muss den Deflationsprozess, diese gewaltige Zer-störung von Arbeit, Werten und Kapital, beenden.Der Rechts- und Linksradikalismus von 1923 hatteausgespielt, als wir 1924 eine stabile Währung hat-ten. Der Rechts- und Linksradikalismus von 1931wird erst dann ausgespielt haben, wenn wir wiedereine stabile Währung haben. Es liegt eine Blindheitüber Deutschland. Sie ist am größten bei denjeni-gen, auf denen die meiste Verantwortung ruht, beider Regierung, bei der deutschen Unternehmer-schaft, beim größeren Teil der deutschen Presse.

Zit. nach: Ursula Büttner, Politische Alternativen zum Brüningschen Deflationskurs. Ein Beitrag zur Diskussion über„ökonomische Zwangslagen“ in der Endphase von Weimar,in: Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 37. Jg (1989), H. 2, S. 251

• Geben Sie die Vorwürfe gegenüber der Reichs -regierung wieder.

M13Der WTB-Plan der Arbeitsbeschaffung

Im Dezember 1931 legen der Leiter der statistischenAbteilung im Allgemeinen Deutschen Gewerk-schaftsbund, Wladimir Woytinski, der Vorsitzendeder Holzarbeitergewerkschaft, Fritz Tarnow, und derLandwirtschaftssprecher der SPD-Fraktion, FritzBaade, den WTB-Plan (benannt nach den Anfangs-buchstaben der drei Verfasser) vor. Ihr Plan wird am26. Januar 1932 veröffentlicht und am 13. April vomKongress der Gewerkschaften angenommen.

1. Das ProjektDer Plan geht von dem Grundgedanken aus, dasszum Abbau der Arbeitslosigkeit und zum Wieder-anstieg der Wirtschaft ein Anstoß erfolgen muss,weil die selbsttätigen Kräfte der Krisenüberwin-dung außer Funktion gesetzt oder gelähmt sind.Der Plan soll die Gewähr bieten, dass zunächstetwa eine Million Arbeitslose wieder in den Pro-duktionsprozess eingegliedert werden. Um diesesZiel zu erreichen, sollen von Reichsbahn, Reichs-post, kommunalen Verbänden und anderen Kör-perschaften des öffentlichen Rechts Aufträge insolchem Ausmaße vergeben werden, dass hier-durch teils unmittelbar, teils mittelbar eine Millionbisher Arbeitsloser Beschäftigung findet. Bei demPlan der Arbeitsbeschaffung sollen Arbeiten be-vorzugt werden, die lediglich durch die krisen -bedingten Einsparungen unterblieben sind. DieAuftrag vergebenden Stellen erhalten einen ent-sprechenden, langfristigen mit niedrigen Zinsenund Amortisationsraten1) ausgestatteten Kredit ge-gen Schuldverschreibungen, die von der Reichs-kredit A.G. (oder von anderen geeigneten Institu-ten) ausgestellt werden und bei der Reichsbankrediskontierbar sind. Soweit durch die Inan-spruchnahme dieser Kredite Baransprüche an dieReichsbank gestellt werden, sind sie gegebenen-falls durch zusätzliche Notenschöpfung zu decken.Der Einfachheit wegen wird im Folgenden ange-nommen, dass der gesamte Betrag für Löhne undGehälter aufgewendet wird. […]

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Æ Zeitungsmeldung von 1931/32.Zur Einordnung: Die Selbstmordrate betrug 1932, berech-net auf eine Million Einwohner, in Deutschland 260 undin den USA 133 Menschen.

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1. Einwand: Die plötzliche Vermehrung des No-tenumlaufs um zwei Milliarden Reichsmark be-deutet sichere Inflation.

2. Antwort: Es handelt sich weder um einen No-tenzuwachs um zwei Milliarden Reichsmarknoch um ein plötzliches Hineinwerfen derüberhaupt erforderlichen Summe in den Um-lauf. Die zwei Milliarden sind die erforderlicheKreditsumme. Der tatsächliche zusätzliche jähr-liche Geldaufwand reduziert sich um ca. 600Millionen, die ohne diese Aktion für die Ar-beitslosen an Unterstützung gezahlt werdenmüssen, ferner um mindestens 200 MillionenReichsmark, die von den angesetzten Arbeiternund ihren Unternehmern an sozialen Beiträgenund Steuern mehr eingehen. Der zusätzlicheAufwand beträgt demnach höchstens 1200Millionen Reichsmark, deren Auszahlung sichauf das ganze Jahr verteilt. […]

Es folgen weitere Einwände und Antworten. In derSchlussbemerkung heißt es dann noch:Es handelt sich bei dem vorgelegten Plane nur da-rum, […] eine bewusste aktive Konjunkturpolitikzu betreiben. Die aktive Konjunkturpolitik ist inder Gegenwart unerlässlich, da die Automatiknoch auf lange Zeit nicht funktionieren kann. Esfehlt für die Privatinitiative an großen Investitions-objekten, wie sie früher im Aufbau der Eisenbah-nen, der Elektrifizierung der Wirtschaft, dem Auf-bau der chemischen Industrie, einem großenWohnungsbauprogramm, der Vermehrung derRüstungen usw. vorhanden waren. Auch für diemit dem Ausbau der Kolonien verbundenen Anla-gemöglichkeiten sind vorerst positive Aussichtennicht vorhanden. Eine Mobilisierung der produk-tiven Kräfte erscheint demnach auf den früher üb-lichen Wegen überhaupt nicht denkbar. Die vor-geschlagenen öffentlichen Arbeiten, z. B. Bau vonStraßen, Brücken, Talsperren usw., sind volkswirt-schaftlich durchaus möglich und rentabel, sie sindaber ihrer Natur nach keine Objekte für privat-wirtschaftliche Initiative.

Zit. nach: Gottfried Bombach u.a. (Hrsg.), Der Keynesianis-mus II. Die beschäftigungspolitische Diskussion vor Keynes inDeutschland. Dokumente und Kommentare, Berlin/Heidel-berg/New York 1976, S. 172 und 176

1. Fassen Sie die wirtschafts- und sozialpolitischenVorschläge der Gewerkschaftsfunktionäre zu-sammen.

2. Beurteilen Sie aus der Sicht eines Autors desWTB-Plans Brünings Ankündigung einer Fort-setzung der Sparpolitik (M 8, Seite 59).

M14 Warum zögerte die SPD-Führung?

Der Historiker Heinrich August Winkler liefert in einem 1990 veröffentlichten Buch eine Antwort aufdie Frage, warum die SPD-Führung den WTB-Plan(siehe M 13) ablehnt.

Viele Gründe trugen dazu bei, dass die „Partei-seite“ im Disput um die Arbeitsbeschaffung einensehr viel konservativeren Standpunkt einnahmals der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund[ADGB]. Die marxistische Überzeugung, dassKrisen ein notwendiges Element des kapitalisti-schen Systems1) waren und nicht durch Geldma-nipulationen abgekürzt werden konnten, wareine Ursache, die aber in einem größeren Zusam-menhang stand: der Orientierung an hergebrach-ten Grundsätzen und Erfahrungen. Zu den nochfrischen Erfahrungen gehörte der Schlag, den dieHyperinflation von 1922/23 der Arbeiterklassewirtschaftlich, sozial und politisch versetzt hatte,zu den Grundsätzen die hieraus abgeleitete Ma-xime, dass ohne stabile Währung wirtschaftlicherund sozialer Fortschritt nicht möglich war. Über-dies hatte die SPD sich im Herbst 1931 selbst ge-bunden, als sie die Parole ausgab, inflatorischeExperimente seien typisch für die radikale Rechte.Nun galt es nach Meinung der maßgeblichen So-zialdemokraten konsequent zu bleiben: Die Parteidurfte, wenn sie ihre Glaubwürdigkeit nicht aufsSpiel setzen wollte, keinen Inflationsverdacht aufsich ziehen. […] Während die Sozialdemokraten in ihrer Wirt-schafts- und Finanzpolitik sich gegen alles ab-schotteten, was nicht klassischen Lehren ent-sprach, stand der ADGB neuen Erkenntnissender Wirtschaftswissenschaft offen gegenüber.

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1) Lesen Sie dazu nochmals M 2, Seite 7.

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1) Melioration: Maßnahme zur besseren landwirtschaftlichenNutzung durch Be- und Entwässerung, Kultivierung vonMooren, Eindeichung, Forstwirtschaft etc.

meine Gesichtspunkte gelten: Es soll sich um zu-sätzliche Arbeit handeln, also um Arbeit, die ohnedieses Programm nicht oder nicht mehr ausgeführtwürde. […] Unter diesen Gesichtspunkten habensich nach Befragung zahlreicher Sachverständigerund eingehender Durchprüfung aller Vorschläge fürdas Programm des Reichswirtschaftsrats die nach-folgenden Arbeitsgebiete ergeben. 1. VerkehrswesenUmfangreiche Möglichkeiten der Arbeitsbeschaf-fung sind bei der Reichsbahn und Reichspost sowiebei der Erhaltung und Verbesserung des Straßen-netzes gegeben. […] Die Instandhaltung und Ver-besserung des Straßennetzes bietet besondersgünstige Möglichkeiten für die unmittelbare Neu-einstellung von Arbeitskräften. […]2. HochwasserschutzAuf dem Gebiet des Hochwasserschutzes handeltes sich besonders um die Regulierung der hoch-wassergefährlichen Wasserläufe und den Bau vonTalsperren. […]3. Landwirtschaftliche Meliorationen1)

Für das Arbeitsbeschaffungsprogramm für 1932kommen sowohl landwirtschaftliche Meliorationenim engeren Sinne (Bodenverbesserungen) wie imweiteren Sinne, insbesondere durch Ausbau undOrganisation der Milchwirtschaft, infrage. DieMaßnahmen auf diesem Gebiet können als beson-ders produktionsfördernd bezeichnet werden. Ne-ben der Vermehrung und Sicherung steht als Zieleine Verbilligung der landwirtschaftlichen Produk-tion; neben der Stärkung des Binnenmarktes, dieim Hinblick auf die wachsenden Ausfuhrschwierig-keiten nötig und dringlich erscheint, ist die Verbes-serung unserer Handels- und Zahlungsbilanz vongroßer Bedeutung. […]Das Gebiet der landwirtschaftlichen Meliorationenist zugleich das gegebene Gebiet für den freiwilli-gen Arbeitsdienst. […] Zu betonen sei neben demallgemeinen psychologischen noch der besondereWert, der in der reibungslosen Zusammenarbeitjunger Menschen von verschiedenster politischerRichtung liege. […]Der Reichswirtschaftsrat hält ganz allgemein auch

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1) deficit spending: die von Keynes entwickelte Theorie, dassder Staat in Zeiten der Wirtschaftskrise Arbeit und Nach-frage durch Aufträge schaffen müsse, für deren Bezahlungder Staat Schulden machen dürfe, die er in Zeiten der fol-genden Wirtschaftsbelebung tilgen könne; siehe dazu auchden Theorie-Baustein, Seite 82 ff.

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Das galt um 1931/32 vor allem von den erstenAnsätzen einer Theorie des antizyklischen „deficitspending“1), wie sie der englische Ökonom JohnMaynard Keynes, aber auch deutsche Sachver-ständige vertraten.

Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbei-ter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1930 bis1933, Bonn 1990, S. 500

1. Fassen Sie die Gründe für die fehlende Unter-stützung des Gewerkschaftsbundes durch dieSPD zusammen.

2. Erklären Sie die Arbeitsweise des HistorikersWinkler.

3. Beurteilen Sie das Verhalten der SPD bezüglichdes WTB-Plans. Berücksichtigen Sie M 12.

M15Beschluss des Reichswirtschaftsrats

Am 12. März 1932 erarbeitet ein Ausschuss desReichswirtschaftsrats (das ist ein Gremium von Ver-tretern der Industrie, der Land- und Forstwirtschaft,des Handels, der Banken und der Versicherungen sowie der Gewerkschaften und Wissenschaften) einen Arbeitsbeschaffungsplan, der Maßnahmen für515 000 bis 865 000 Arbeitskräfte vorsieht und 1,13bis 1,84 Milliarden Reichsmark kosten soll.

Die Wirtschaft droht immer schärfer zusammenzu-schrumpfen. Für private Initiative, um aus diesemSchrumpfungsprozess herauszukommen, fehlenweitgehend die sachlichen und vor allem die psy-chologischen Grundlagen. Kann die öffentlicheHand diese Lücke überbrücken, indem sie ihrerseitsdie Initiative für Arbeitsbeschaffung ergreift und sieorganisiert? […]Für die Auswahl der Gebiete, die für ein Arbeits -beschaffungsprogramm für 1932 hauptsächlich in-frage kommen, sollten namentlich folgende allge-

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die Förderung der landwirtschaftlichen Siedlung fürein vordringlich wichtiges Gebiet der produktivenArbeitsbeschaffung. […]4. HausreparaturenHier handelt es sich wesentlich um die Instandset-zung des Altwohnraums. […] Für eine Belebungdes Arbeitsmarktes im Baugewerbe ist heute ange-sichts der Unmöglichkeit umfangreicherer Neubau-ten die Instandsetzung des Altwohnraums von ent-scheidender Bedeutung. Während darin 1925 rund1,4 Millionen Arbeiter und Angestellte tätig waren,sind heute die Bauarbeiter nach Ausweis ihrer Or-ganisationen bis 80, ja bis 90 Prozent und darüberohne Beschäftigung. […]Das Finanzierungsproblem[…] Für die Organisierung der Finanzierung habendie Untersuchungen des Ausschusses insoferntechnisch einen Weg gewiesen, als klargestelltwurde, dass verantwortliche Träger für die Auf-nahme der Kredite tatsächlich geschaffen werdenkönnen.

Walter Steitz (Hrsg.), Quellen zur deutschen Wirtschafts- und Sozialgeschichte. Vom Ersten Weltkrieg bis zum Ende derWeimarer Republik, Darmstadt 1993, S. 484-497

• Geben Sie die Motive des Reichswirtschaftsrateswieder und fassen Sie sein Programm zusam-men.

M16Das „Sofortprogramm“ der NSDAP

Am 10. Mai 1932 fordert der zum Führungszirkel derNSDAP zählende Gregor Straßer in einer Reichs-tagsrede ein kreditfinanziertes Arbeitsbeschaffungs-programm. Dabei übernimmt er viele Vorschlägevon Experten der Regierung, anderer Parteien undder Gewerkschaften, fügt diese aber in die NS-Ideo-logie ein. Straßers Vorschläge werden in das im Juliveröffentlichte „Wirtschaftliche Sofortprogramm derNSDAP“ übernommen; darin heißt es:

Die Duldung der Arbeitslosigkeit bedeutet eine bru-tale Entrechtung des schaffenden Volksgenossen.Man raubt ihm die Freiheit, durch seiner eigenenHände Arbeit seinen Lebensunterhalt zu erwerben,man raubt ihm damit die Möglichkeit, sich aus eige-ner Kraft zu erhalten, und sucht ihn mit jämmerlichenöffentlichen Unterstützungen abzuspeisen, die zudemnoch dauernd herabgesetzt werden. Das schaffendeVolk will sein Lebensrecht nicht für diese Bettelpfen-nige verkaufen, es fordert das Recht auf Arbeit.1) AlsNationalsozialisten sind wir die Vorkämpfer derRechte des schaffenden Volkes. Deshalb sind wirauch die ersten gewesen, die diesen Rechtsanspruchangemeldet und ein Arbeitsbeschaffungsprogrammaufgestellt haben.[…] Der Erfolg der bisherigen Wirtschaftspolitik hatbewiesen, dass alle Anstrengungen zur Steigerungunserer Ausfuhr nicht vermehrte Arbeit, sondern nurvermehrte Arbeitslosigkeit zur Folge haben. Wir müs-sen deshalb für unsere Wirtschaft dort vermehrtenAbsatz suchen, wo vermehrter Absatz zu finden ist:auf dem Binnenmarkt. Wir müssen also für einen ge-stärkten Schutz der heimischen Produktion sorgen[…], weil sonst die Schleuderpreise der Auslandskon-kurrenz den Absatz unserer eigenen Produkte selbstauf dem Binnenmarkt unmöglich machen.2) […] Die Umstellung der deutschen Wirtschaft auf denBinnenmarkt kann nur dann zum Erfolge führen,wenn die Masse des Volkes genügend kaufkräftig

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1) Die Weimarer Reichsverfassung von 1919 enthielt das Zieldes Rechts auf Arbeit in Artikel 163, das allerdings nicht ein-klagbar war. Am 2. Mai 1933 verboten die Nationalsozialis -ten die Freien Gewerkschaften.

2) Die NS-Wirtschaftspolitik subventionierte ab 1934 deut-sche Exporte; die Binnenwirtschaft stärkte sie vor allem imRahmen der ab 1933/34 einsetzenden Aufrüstung.

Æ „Wirtschaftliches Sofortprogramm der N.S.D.A.P.“Von dem im Juli 1932 für den Wahlkampf gedruckten Programm erschienen nach Angaben der Partei über 600 000 Exemplare.

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wird, um die vermehrte Produktion abzunehmen.Das kann wiederum nur dann der Fall sein, wenn jeder Deutsche das Recht auf Arbeit hat und wenn jeder Arbeiter einen auskömmlichen Lohn bekommt,der seiner Leistung entspricht. Das aber sind dieGrundlagen der sozialen Befreiung des Arbeiters.1)

[…] Um die notwendige Umstellung der deutschenWirtschaft auf dem Binnenmarkt durchzuführen,müssen also in erster Linie auf folgenden GebietenArbeiten organisiert werden:Förderung der Ertragsfähigkeit des deutschen Bodensdurch Landeskulturarbeiten […].Errichtung von Eigenheimsiedlungen für die Arbeiterzur Entproletarisierung des schaffenden Volkes2) […].Stärkung der Kaufkraft des Arbeiters und Ermögli-chung der Arbeitszeitverkürzung3) in der Industrie[…].Der Bau von Verkehrswegen, Kanälen usw. zur Un-terstützung des binnenwirtschaftlichen Austausches,der Ostsiedlung und der Auflockerung der Groß-städte.Allgemeine Finanzierung der Produktion zur Bele-bung der freien Wirtschaft.In dem Maße, wie zusätzliche Arbeiten geleistet wer-den, vermindern sich die Aufwendungen der Arbeits-losenversicherung und der Wohlfahrtsunterstützung,vermehren sich das Steueraufkommen und die Bei-tragseinnahmen der Sozialversicherung. Diese Erspar-nisse und Mehreingänge betragen insgesamt mindes-tens 50 Prozent der Gesamtkosten. […] Da 50 Prozent der Gesamtkosten durch die Erspar-nisse und Mehreinnahmen der öffentlichen Handaufkommen, stehen 70-80 Prozent der Gesamtkosten

in kürzester Frist zur Verfügung. Die fehlenden 20–30Prozent können durch produktive Kreditschöpfungfinanziert werden. Eine so geringe Ausweitung desKreditvolumens ist ohne jede Gefahr für den Bestandder Währung. […]Der Arbeitsdienst ist nicht eine Zwangsarbeit für Er-werbslose, vielmehr werden alle jungen deutschenMänner einer bestimmten Altersklasse zum Arbeits-dienst eingezogen, um Arbeiten auszuführen, die fürdie Belebung der gesamten Wirtschaft notwendigsind und auf dem normalen Wege nicht durchgeführtwerden können.4) (Die Arbeitsdienstpflichtigen wer-den also den Arbeitern, die in Tariflohn stehen, kei-nerlei Konkurrenz machen.) Es wird keinerlei Befrei-ungen und Ausnahmen für Akademiker undBesitzende geben, jeder wird die Schaufel in dieHand nehmen und in gleicher Weise der Nationdurch seine Arbeit dienen. Die Achtung und das An-sehen des Handarbeiters sollen dadurch in der glei-chen Weise gesteigert werden, wie das Ansehen desSoldaten durch die Einführung der allgemeinenWehrpflicht gesteigert worden ist.

Wirtschaftliches Sofortprogramm der N.S.D.A.P. Ausgearbeitetvon der Hauptabteilung IV (Wirtschaft) der Reichsorganisati-onsleitung der N.S.D.A.P., München 1932, S. 7-10, 13f. und 34

1. Vergleichen Sie das „Sofortprogramm“ mit denMaßnahmen des WTB-Plans (M 13) und dem Programm des Reichswirtschaftsrats (M 15). Wofinden sich Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede?

2. Erläutern Sie Funktion und Ziel der „Umstellungder deutschen Wirtschaft auf den Binnenmarkt“ (Z. 27). Inwiefern ist hier die nationalsozialistischeIdeologie erkennbar?

3. Weisen Sie in diesem Wahlkampfmaterial weiteresnationalsozialistisches Gedankengut und Propa-ganda nach.

4. Beurteilen Sie das „Sofortprogramm“ und seine Attraktivität im Wahlkampf im Juli 1932.

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1) Tatsächlich erreichte die Kaufkraft der realen Wochenlöhne erst1937 wieder das Niveau vor der Krise, nachdem die Rüstungsauf-träge die Staatsverschuldung bereits immens gesteigert hatten.

2) Das Programm sah die Errichtung von 400 000 Eigenheim-siedlungen im Jahr vor. Tatsächlich wurden 1933 von 178 000neuen Wohnungen nur 34 100 Siedlungshäuser aus öffentli-chen Mitteln erbaut. Bei dieser Größenordnung blieb es inden folgenden Jahren.

3) Im März 1931 hatte eine Regierungskommission unter demVorsitz des früheren Reichsarbeitsministers Heinrich Brauns(Zentrum) bereits Vorschläge zur Verkürzung der Arbeitszeitgemacht; darüber hinaus hatte die Kommission im April einArbeitsbeschaffungsprogramm für 400 000 Erwerbslosevorgeschlagen, das mithilfe von Auslandskrediten finanziertwerden sollte. Brüning hatte es aus reparationspolitischenGründen abgelehnt. Außerdem: Im NS-Staat stieg die Wo-chenarbeitszeit von 41,5 (1932) auf 47 Stunden (1939).

4) Ein Freiwilliger Arbeitsdienst (FAD) wurde bereits im Juni 1931eingerichtet; siehe hier Seite 71. Die Nationalsozialistenmachten aus ihm 1935 einen „Reichsarbeitsdienst“ (RAD), dermännliche und weibliche Jugendliche zwischen 18 und 25Jahren zur Ableistung eines Arbeitsdienstes von sechs Mona-ten verpflichtete. Aus finanziellen Gründen wurde der weib -liche Arbeitsdienst bis 1939 nur auf freiwilliger Basis durch -geführt.

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Æ Paul von Hindenburg.Foto von 1930.Der ehemalige Gene-ralfeldmarschall lebtenach dem Krieg inHannover. Mit 78 Jah-ren wurde er 1925 alsKandidat der Rechts-parteien zum Reichs -präsidenten gewählt,1932 wählte man ihnwieder.

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1) Zum Begriff „Krise“ siehe den Methoden-Baustein „Krisen“, Seite 125 ff.2) In dieser Notverordnung hieß es: „Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche

Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen.“

Mit der Novemberrevolution von 1918 warenalte Forderungen der Arbeiterbewegung wie die

Einführung des Achtstundentages und die Anerkennung der Gewerkschaften als Tarif-partner durchgesetzt worden. Die Weimarer Verfassung von 1919 führte eine parla-mentarische Demokratie ein. Nach dem Krisenjahr 1923 hatten sich die politischen Un-ruhen gelegt und die Wirtschaft etwas erholt. Die 1924 eingeführte Rentenmark zeigtesich relativ stabil. Der Sozialstaat wurde ausgebaut, die Krankenkassenleistungen aus-gedehnt und die Invaliden- und Altersversicherung ausgebaut. Große US-Firmen wie Ford investierten in Deutschland. Zahlreiche Unternehmen ratio-nalisierten nach amerikanischem Vorbild ihre Betriebe und steigerten so die Produk -tivität. Es wurde von einem „Wirtschaftswunder“ gesprochen, obwohl die Zahl der Arbeitslosen auch 1927, als die Arbeitslosenversicherung eingeführt wurde, bei über 1,3 Millionen lag. Der wirtschaftliche Aufschwung Deutschlands hatte einen Nachteil: Er basierte aufKrediten, die vor allem aus den USA stammten. Schon vor dem New Yorker Börsencrashim Oktober 1929 fielen an den deutschen Börsen die Aktienkurse, stiegen die Arbeits -losenzahlen und die Ausgaben für die Arbeitslosenversicherung. Diese Entwicklungführte zu Auseinandersetzungen zwischen Regierung und Unternehmerverbänden (➧M1 und M2). Die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise verschärfte die Probleme:Die Kapitalimporte gingen zurück, die Industrieproduktion sank, die Exporte gingenzurück und der Konsum ließ nach. Immer mehr Firmen machten Konkurs und die Zahlder Arbeitslosen stieg von 1,8 Millionen im Januar 1929 auf 2,8 Millionen im Januar1930 an. Gleichzeitig gingen die Steuereinnahmen zurück und die öffentliche Verschul-dung des Staates und der Gemeinden nahm durch die steigenden sozialen Ausgabenstark zu. Die Reparationsverpflichtungen gegenüber den Siegermächten des ErstenWeltkrieges engten dazu den finanziellen Handlungsspielraum der Regierenden ein.

Die politischen Folgen der Krise1) zeigten sich bald: Am27. März 1930 zerbrach die im Juni 1928 gebildete Große

Koalition von SPD, Zentrum, Bayerischer Volkspartei (BVP), Deutscher DemokratischerPartei (DDP) und Deutscher Volkspartei (DVP) unter dem sozialdemokratischen Reichs-kanzler Hermann Müller. Als Vorwand für den Bruch diente die von der Regierung ge-forderte Erhöhung der Arbeitslosenversicherungsbeiträge von 3,5 auf vier Prozent. Siewar auf den Widerstand der nationalliberalen DVP und der Unternehmer- und Arbeit-geberverbände gestoßen. Dahinter stand aber der Wunsch dieses Lagers sowie desReichs präsidenten, die Sozialdemokraten aus der Regierung zu drängen.Als keine Mehrheit für eine neue Regierung im Reichstag zustande kam, nutzte Reichs -präsident Paul von Hindenburg seine weitreichenden verfassungsrechtlichen Vollmach-ten (Ernennung und Entlassung des Reichskanzlers, Recht auf Auflösung des Reichs-tags und Notverordnungsrecht aus Artikel 482)), um eine bereits geplante außer-parlamentarische Lösung durchzusetzen.

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Die Wirtschaftskrise beginnt

Das Parlament verliert

➧Geschichte In Clips:Zum Verlauf der Krise in Deutschland sieheClip-Code 7311-03

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Am 29. März 1930 ernannte Hindenburgdas erste Präsidialkabinett unter dem

Fraktionsvorsitzenden des Zentrums, Heinrich Brüning. Ihm sicherte er zu, notwendigeGesetze wenn nötig auch am Parlament vorbei mithilfe von Notverordnungen durch-zusetzen. Drei Ziele bestimmten Reichskanzler Brünings folgende Innen- und Außen-politik: die Überwindung der Rezession, die Konsolidierung des Staatshaushalts sowiedie Streichung der Reparationen. Dabei war Brüning anfangs durchaus bereit, die Kriseaktiv zu bekämpfen (➧M3). Im Juni 1930 verabschiedete er ein Arbeitsbeschaffungspro-gramm in Höhe von 950 Millionen Reichsmark. Es konnte aber keine Wirkung entfal-ten, da die Regierung angesichts des wachsenden Haushaltsdefizits gleichzeitig begann, alle staatlichen Ausgaben und Leistungen zu kürzen. Brüning setzte sich füreine grundsätzliche Reform der Staatsfinanzen durch Steuererhöhungen und Ein -sparungen ein. Als er sie gegen den Widerstand von DNVP, DVP, SPD, KPD und NSDAPnicht durchsetzen konnte, wurde der Reichstag aufgelöst und Neuwahlen zum 14. September 1930 ausgeschrieben. In den „Septemberwahlen“ erzielten die republik-feindliche Linke und Rechte hohe Gewinne: Die Zahl der NSDAP-Abgeordneten stiegvon zwölf auf 107 und die der KPD von 54 auf 77. Über den Wahlausgang waren alle erschrocken – auch Brüning. Er konnte aufgrund derUnterstützung des Reichspräsidenten weiterregieren, da auch nach diesen Wahlenkeine regierungsfähige Koalition zustande kam. Angesichts der politischen Polarisie-rung von links und von rechts beschloss die sozialdemokratische Reichstagsfraktion,die neue Minderheitsregierung Brünings zu tolerieren. Damit verhinderte sie, dass Not-verordnungen vom Parlament zurückgewiesen oder Misstrauensanträge gegen die Re-gierung angenommen werden konnten. Das ermöglichte Brüning, ungestört vom Par-lament zu regieren, solange der Reichspräsident ihn stützte und die SPD mitmachte.Für seine Politik musste er keine Mehrheiten im Reichstag gewinnen. Von Oktober 1930bis zum Jahresende fanden nur noch 14 Sitzungen des Parlaments statt. 1931 traten dieAbgeordneten nur noch 42 Mal und von 1932 bis zum Sturz Brünings Ende Mai lediglichacht Mal zusammen.

Brüning wollte Deutschland wieder zu nationa-ler Größe führen. Um dies zu erreichen, begann

er eine rigorose Haushaltspolitik mithilfe von Notverordnungen zur „Sicherung vonWirtschaft und Finanzen“ durchzusetzen. Die Lohn- und Einkommen-, die Umsatz-,Kraftfahrzeug-, Zucker-, Tabak- und Biersteuer sowie zahlreiche Zölle wurden mehrfacherhöht, während gleichzeitig die Gehälter der Beamten und öffentlichen Angestelltengekürzt und die Pensionen, Renten und Sozialleistungen beschnitten wurden. Außer-dem wurden viele Sachausgaben reduziert: Es durften weder Straßen gebaut oder öf-fentliche Neubauten errichtet werden. Selbst Reparaturen schloss man bis auf wenigeAusnahmen aus. Das alles sollte den durch die hohen Sozialausgaben belastetenStaatshaushalt ausgleichen. Es hinderte ihn aber gleichzeitig nicht daran, große Sum-men für die Landwirtschaft bereitzustellen (und damit viele Lebensmittelpreise künst-lich hoch zu halten) und den Wehretat von den Kürzungen auszuklammern. Brünings Deflationspolitik griff massiv in die Privatwirtschaft ein. Mittels Notverord-nungen wurden Löhne und Preise gekürzt, um auf diese Weise die Kosten der Güter -erzeugung den gesunkenen Produktpreisen anzupassen. Durch die Preis- und Kosten-

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Mit „Notverordnungen“ ans Ziel?

Ohne Rücksicht auf Verluste?

Æ Heinrich Brüning.Foto, um 1930.Der 1885 in Münster geborene Brüningwar Volkswirt undhatte als Frontoffizieram Ersten Weltkriegteilgenommen. Seit1924 war er Reichs-tagsabgeordneter desZentrums und hattesich als Steuer- und Finanzexperte einenNamen gemacht.

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senkung sollte die Exportfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärkt werden, ohne dieWährung abwerten zu müssen. Bestimmt wurde Brünings Finanz- und Wirtschaftspolitik aber letztlich von außenpoli-tischen Zielen: Unter dem Siegel der absoluten Verschwiegenheit erklärte er im De-zember 1930 dem Reichsbankpräsidenten Hans Luther, es müsse „eine scheinbar plan-lose Deflationspolitik durchgeführt werden, um die Welt selbst zu einer Initiative für[die] Streichungen der Reparationen zu zwingen“. Die strikte Sparpolitik sollte also derWeltöffentlichkeit demonstrieren, dass Deutschland trotz größter Anstrengungennicht in der Lage war, die Reparationszahlungen zu leisten. Vorschläge zur staatlichenKonjunkturbelebung lehnte Brüning daher ab. Er nahm eine Verschärfung der wirt-schaftlichen und sozialen Krise billigend in Kauf, um seine außenpolitischen Ziele zu erreichen.

Schon der Ausgang der „Septemberwahlen“ von 1930 hatte dazugeführt, dass Kapital aus Deutschland abgezogen wurde. Zahlrei-

che innere Unruhen und Streiks1) förderten das Investitionsklima auch nicht. WeiteresVertrauen in die deutsche Währung wurde verspielt, als Brüning am 5. Juni 1931 öffent-lich erklärte, das deutsche Volk sei „an der Grenze seiner Belastbarkeit angelangt“. Sein„Tributaufruf“ machte allein die Reparationsverpflichtungen für die Probleme verant-wortlich. Er wurde im Ausland als ein Hinweis auf den bevorstehenden Staatsbankrottverstanden und trug zu einem weiteren Abzug ausländischer Gelder bei. Das am 30.Juni 1931 veröffentlichte Hoover-Moratorium, das der Reichsregierung einen einjährigenAufschub der Reparationsleistungen eröffnete, konnte daran auch nichts mehr ändern.Das lag an der europäischen Bankenkrise, die im Mai mit dem Zusammenbruch derÖsterreichischen Credit-Anstalt für Handel und Gewerbe begonnen, zu weiteren Ban-ken- und Firmenzusammenbrüchen geführt und im Juli dann auch die zweitgrößtedeutsche Bank, die Darmstädter und Nationalbank (Danat-Bank), erreicht hatte.2) DieDanat-Bank musste nach vergeblichen Hilferufen an die Deutsche Bank, die Reichs-bank und die Reichsregierung am 11. Juli ihre Zahlungsunfähigkeit erklären. Dazu bei-getragen hatten hohe Verluste, die der Bank durch den Konkurs der Bremer Norddeut-schen Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei AG (Nordwolle) in Bremen, eines derdamals größten Textilkonzerne Europas, entstanden waren. Deren Inhaber hatten zeit-weise mit gefälschten Bilanzen die wahre Lage ihrer Firma verschleiert.Die Reichsregierung versuchte die Lage zu beruhigen, sicherte der Wirtschaft Hilfe zu(➧M4) und schloss ab dem 13. Juli die Börse, um weitere Kurseinbrüche aufzuhalten. Sieverhinderte aber nicht, dass am Montag, dem 13. Juli, alle Sparer die noch geöffnetenGeldinstitute stürmten, um ihre Einlagen abzuheben. Die Regierung ordnete daraufhinfür den 14. und 15. Juli zwei „Bankfeiertage“ an und gab auch danach den Zahlungsver-kehr nur schrittweise frei. Damit wollte sie weitere Bankenzusammenbrüche verhin-dern. Darüber hinaus führte sie eine Bankenaufsicht ein und beschloss, aus den knap-pen Steuermitteln den Banken hohe Beträge als Garantien zur Verfügung zu stellen.Letzteres rief den Protest der SPD hervor. Sie sah nicht ein, das kapitalistische Wirt-

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1) Allein in Preußen zählte die Polizei 1931 rund dreihundert Todesopfer des Straßenterrors, meist Angehörigeder Nationalsozialisten oder der Kommunisten. Die Zahl der Arbeitskämpfe ging in der Krise zurück, 1930streikten noch 246 000, 1931 nur noch 77 000 Arbeiter.

2) Zur internationalen Bankenkrise siehe Seite 37.

Bankenkrise

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1) Siehe Seite 19. 2) Siehe Seite 45. 3) Erst die Regierungen nach Brüning förderte den Freiwilligen Arbeits-dienst stärker; Ende 1932 zählte er bereits 250 000 Mitarbeiter.

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schaftssystem auf Kosten der Steuerzahler zu retten (➧M5). Gleichzeitig wuchs dieAngst der Bürger vor dem Staatsbankrott und einer weiteren politischen Radikalisie-rung (➧M6). Die Banken, die mit staatlicher Hilfe die Krise überlebt hatten, gaben zu-letzt eine Erklärung ab, um verloren gegangenes Vertrauen zurückzugewinnen (➧M7).

Die Stützung und Sanierung der Banken kostete die Reichsregie-rung fast eine Milliarde Reichsmark. Mit weiteren Maßnahmen

versuchte sie, neue Kreditaufnahmen unattraktiv zu machen und eine weitere Kapital-flucht zu verhindern. Brüning hielt auch in dieser schwierigen Lage an seiner ein-schränkenden, deflationistischen Wirtschaftspolitik fest (➧M8). Er änderte seine Hal-tung auch nicht, nachdem Großbritannien und etwa 30 weitere Staaten sich imSeptember 1931 vom Goldstandard lösten1), ihre Währungen damit abwerteten und so-mit die deutschen Waren auf dem internationalen Markt noch teurer wurden. Da esder Reichsregierung aufgrund der Reparationsbedingungen nicht ohne Verhandlungenmöglich war, die Reichsmark abzuwerten, schrieb Brüning der Wirtschaft eine zwanzig-prozentige Preissenkung vor. Damit sollten die deutschen Produkte international kon-kurrenzfähig bleiben. Außerdem kürzte er Sozialausgaben, Löhne und Gehälter undverschärfte somit die soziale Krise noch mehr.Brüning erreichte zwar damit im Januar 1932 eine annähernd ausgeglichene Haus-haltsbilanz, doch die staatlich gedrückten Preise trugen zu einem weiteren Investi -tionsrückgang und zur Zahlungsunfähigkeit vieler Betriebe bei. Betroffen waren vor allem viele Landwirte. Von ihnen erhielten die Nationalsozialisten dann auch in den fol-genden Wahlen besonders viele Stimmen.

Mitte 1932 erreichte die Krise ihren Höhepunkt. Die Industriepro-duktion ging auf die Hälfte des Standes von 1928 zurück und das

Volkseinkommen sank von 1928 bis 1932 um über 30 Milliarden Reichsmark. Im Februar1932 erreichte die Arbeitslosenzahl mit 6,128 Millionen registrierten Personen ihrenhöchsten Stand. Die tatsächliche Zahl der Erwerbslosen betrug damals wohl 7,619 Mil-lionen. Für die Betroffenen und die Familien bedeutete dies Not und Hunger. Die Dauerder Versicherungsleistungen war von ursprünglich 26 Wochen im Oktober 1931 auf 20 und im Mai 1932 auf 13 Wochen gekürzt worden. Im Dezember 1932 bezogen vonannähernd 5,8 Millionen registrierten Arbeitslosen 22,4 Prozent überhaupt keine öf-fentliche Hilfe. Frauen waren von der Erwerbslosigkeit im Vergleich zu den gleichaltri-gen Männern weniger betroffen. Das lag an ihren geringeren Löhnen. Unabhängig davon wurden nun verheiratete Frauen aufgefordert, auf ihre Erwerbstätigkeit zu ver-zichten. Besonders Jugendliche waren überdurchschnittlich von der Arbeitslosigkeitbetroffen. Im Juli 1932 waren rund eine Million Jungen und Mädchen zwischen 15 und25 ohne Arbeit – meist ohne Arbeitslosen- oder Krisenunterstützung. Der Mitte 1931eingerichtete Freiwillige Arbeitsdienst (FAD) konnte nicht wirklich helfen. Anders als dasim Frühjahr 1933 in den USA gegründete Civilian Conservation Corps (CCC)2) erhielt ernicht genug Mittel, um die Jugendarbeitslosigkeit zu reduzieren. Bis Mai 1932 unter-stützte er nur 56 000 arbeitslose Männer unter 25 Jahre für sechs Monate.3)

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Kein Einlenken

Soziale Folgen1927 9 3001928 13 7001929 18 2001930 22 7001931 27 9001932 20 300

Æ Konkurse imDeutschen Reich1928 bis 1932.Nach: Werner Ripper,Weltgeschichte imAufriss, Bd. 3, Teil 1,Frankfurt am Main1976, S. 282

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˝ Das Volkseinkommen und wichtige gesamtwirtschaftliche Größen imDeutschen Reich 1927 bis 1933.Angaben in Milliarden RM.Der Posten „Unternehmenseinkommen“erfasst Einkommen privater Haushalteaus Unternehmertätigkeiten und Ver-mögen. Die „Bruttoinvestitionen“ ent-halten die Anlageinvestitionen und dieMengen- und Wert änderungen derVorräte. Fritz Blaich, Der Schwarze Freitag. Inflation und Wirtschaftskrise, München 21990, S. 167

• Der SPD-Politiker Friedrich Stampfer schreibt 1936: „Es gab in Deutsch-land keine Klasse und keinen Stand, die nicht von der Krise in Mitleiden-schaft gezogen waren.“ Überprüfen Sie die Aussage mithilfe der Tabelle.

Viele Menschen waren gezwungen, ihre Wohnungen aufzugeben; sie hausten in provi-sorischen Hütten am Rande der Großstädte oder waren obdachlos. Hoffnungslosigkeit,Verbitterung und Unzufriedenheit machten sich breit (➧M9). Die allgemeine Krisen-stimmung vergrößerte – anders als in den USA – die radikale Ablehnung der bestehen-den Staats- und Wirtschaftsordnung (➧M 10 und M 11).

Nach der Bankenkrise waren verstärkt Arbeitsbeschaf-fungsprogramme gefordert worden. Durch öffentliche

Aufträge sollte, ähnlich wie es der britische Nationalökonom John Maynard Keynes denBriten bereits empfohlen hatte, die Wirtschaft angekurbelt werden.1) Doch Reichs-bankchef Luther und Reichskanzler Brüning lehnten die im Finanz- und Wirtschafts -ministerium erarbeiteten Konjunkturprogramme ab. Als Gründe gaben sie an, dass vorallem Frankreich, der Hauptempfänger deutscher Reparationsleistungen, nicht denEindruck gewinnen dürfe, die deutsche Wirtschaft verfüge doch noch über beträcht -liche Reserven. Darüber hinaus wollten sie keine Haushaltsverschuldung in Kauf neh-men. Außerdem befürchteten sie, dass solche Maßnahmen eine neue Inflation auslö-sen würden. Ihre Vorstellungen wurden damals von den meisten Ökonomen geteilt. Aber: Angesichts der sozialen Not polarisierte das Festhalten an dem Sparkurs. Links-und Rechtsradikalismus nahmen weiter zu. Am 11. Oktober riefen alle republikfeindli-chen Parteien (bis auf die KPD) und Verbände in Bad Harzburg zum Sturz der RegierungBrüning auf. Die Gefahr eines Bürgerkrieges stieg – und vor allem Republikanhängerforderten nun immer deutlicher ein Ende der Deflationspolitik (➧M12). Allmählich mel-deten auch immer mehr Ökonomen Bedenken an. Ende 1931 kritisierte der Bonner Na-tionalökonom Joseph A. Schumpeter 2) die Krisenpolitik Brünings scharf. Sie möge viel-leicht für die Streichung der Reparationen nützlich sein, habe aber, „ganz abgesehenvon den sozialen Konsequenzen, die völlige Lähmung der Wirtschaft zur Folge“. EinKonjunkturprogramm erarbeitete er aber nicht.

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1) Siehe Seite 82 ff.2) Zu Schumpeter siehe Seite 82 f.

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Konjunkturprogramme

1927 66,2 42,1 21,0 16,8 8,7 1,61928 71 ,2 46,4 21,8 15,8 9,6 2,01929 70,9 46,9 21,6 12,2 10,0 2,31930 64,6 43,7 19,4 9,5 8,7 1,71931 52,1 37,0 16,2 4,4 7,8 1,01932 41,1 28,8 13,0 5,3 6,9 0,21933 42,6 29,1 13,6 6,5 7,0 0,1

Jahr Volksein- Arbeitnehmer- Unternehmer- Bruttoin- Laufende Reparations-kommen einkommen einkommen vestitionen Staats- zahlungen

im Inland ausgaben

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Seit Ende 1931 nahm die Zahl der Vorschlägezur Krisenbekämpfung durch Konjunktur -

förderprogramme und Arbeitsbeschaffung zu. Angeblich wurden derReichsbank über 1 000 Pläne zugesandt. Ein ernsthaftes Programm legten im Dezember 1931 drei führende Funk-tionäre der Freien Gewerkschaften vor. Ihr WTB-Plan (benannt nach den Anfangsbuchstaben der drei Verfasser) sah ein kreditfinanziertes Arbeitsbeschaffungsprogramm zur Steigerung der Massenkaufkraft vor (➧M13). Die Vorschläge fanden die Billigung des Vorstandes des All-gemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) und wurden in einerüberarbeiteten Fassung im April 1932 vom Reichskongress der Gewerk-schaften befürwortet. Jedoch lehnte die SPD-Führung eine Unter -stützung des Planes aus ideologischen und ökonomischen Gründen ab(➧M14). Weitere Pläne zur „Geld- und Kredit reform“ und zu kreditgestützten Ar-beitsbeschaffungsmaßnahmen folgten im Frühjahr 1932. Das Reichsfi-nanzministerium stellte ein Arbeits beschaffungsprogramm im Umfangvon 1,4 Milliarden Reichsmark zusammen. Die Mittel dazu sollten durchWechsel einer „Gesellschaft für öffentliche Arbeiten“ aufgebracht wer-den. Doch das Programm wurde von der Regierung auf 135 MillionenReichsmark zusammengestrichen. Um einen Keil zwischen Gewerkschaften und SPD zu treiben, setzte sichdann am 10. Mai der Reichsorganisationsleiter der NSDAP, GregorStraßer, im Reichstag für ein Sofortprogramm ein. Es lehnte sich eng anden WTB-Plan und den Empfehlungen des Reichswirtschafts rates vom12. März (➧M15) an, allerdings im völkischen Gewand (➧M16).

Bis heute ist umstritten, ob nach der Bankenkrise eine andere Po-litik möglich gewesen wäre und die vorgeschlagenen Konjunk-

turprogramme überhaupt kurzfristig Erfolg gehabt hätten. Auch wenn das mit Grün-den bezweifelt werden kann, es bleibt der Vorwurf, dass Brüning den Menschen keinHoffnungszeichen für eine bessere Zukunft gegeben hat. Er musste im Juni 1932zurücktreten, nachdem der Reichspräsident ihm untersagt hatte, weitere Notverord-nungen zu erlassen. Hindenburg und seinen Beratern war Brüning nicht weit genugnach rechts gegangen. Nachfolger Brünings wurde Franz von Papen. Der ehemalige Major und Zeitungsverle-ger hatte bis 1932 dem äußersten rechten Flügel des Zentrums angehört. Papen been-dete als erster die starre Deflationspolitik seines Vorgängers. Er vergab öffentliche Auf-träge und zahlte Beschäftigungsprämien, um die Konjunktur zu beleben. Für eineStabilisierung der politischen Lage kamen seine Pläne sowie das auf der Konferenz vonLausanne Anfang Juli beschlossene Ende der Reparationen aber zu spät. Auch das Pro-gramm seines Nachfolgers, des parteilosen ehemaligen Reichswehrministers Kurt vonSchleicher, fand nicht den Rückhalt Hindenburgs. Am 30. Januar 1933 ernannte der in-zwischen 86-jährige Reichspräsident den 43-jährigen Führer der stärks ten Reichstags-fraktion, Adolf Hitler, zum neuen Reichskanzler – und leitete damit die „Machtergrei-fung“ der Nationalsozialisten ein.

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Weitere Vorschläge

Brünings Ende

Æ Abzeichen des AllgemeinenDeutschen Gewerkschaftsbundes, vor 1930.Im Juli 1919 vereinigten sich 52 Arbeitnehmerorganisationen zumADGB. 1920 zählte er rund acht Millionen Mitglieder, 1928 waren es4,9 und 1913 nur noch 4,1 Millionen.

Lesetipps• Ursula Büttner,

Weimar. Die über-forderte Republik1918-1933. Leistungund Versagen inStaat, Gesell-schaft, Wirtschaftund Kultur, Stutt-gart 2008

• Eberhard Kolb,Deutschland 1918-1933. Eine Ge-schichte der Wei-marer Republik,München 2010.

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Als US-Präsident Franklin D. Roosevelt am 4. März1933 seine New Deal-Politik begann, war der deut-sche Reichskanzler Brüning nicht mehr im Amt

und Hitler bereits an der Regierung. Ein Vergleich zwischen dem New Deal und der Poli-tik Brünings ist daher problematisch. Trotzdem ist er interessant, weil gezeigt werdenkann, welche Alternativen zur deutschen Entwicklung vielleicht möglich ge wesenwären.Während in Deutschland die wirtschaftliche und soziale Krise poli-tisch missbraucht wurde, um die demokratische Ordnung des nachder Novemberrevolution von 1918 ausgebauten Sozialstaates zu zer-stören, war die Demokratie in den USA zu keinem Zeitpunkt gefähr-det. Die amerikanischen Politiker waren bereit, jenseits von über -lieferten politischen und wirtschaftlichen Konzepten neue Wegeauszuprobieren.Roosevelt konnte sich nach 1933 allmählich von der deflatorischenPolitik seines Vorgängers Hoover lösen und sich auf eine Vielzahl vonArbeitsbeschaffungs- und Konjunkturförderprogrammen einlassen.Er nahm dabei eine wachsende Staatsverschuldung und eine Ab-wertung des Dollars in Kauf. Seine New-Deal-Politik leitete sozialeReformen wie Alters- und Arbeitsunfähigkeitsrente sowie Arbeits -losen- und Unfallversicherung ein und stärkte die Rechte der Ar -beitnehmer. Damit löste er die wirtschaftlichen Probleme nicht voll-ständig, doch sie linderten die sozialen Folgen und hielten diedemokratische Ordnung stabil. Ganz anders verlief die Entwicklung in Deutschland. Brünings Kri-senpolitik zwischen 1930 und 1932 verschärfte die sozialen und poli-tischen Auseinandersetzungen. Die wirtschaftliche Krise wurde zumAbbau sozialer Errungenschaften, der Ausschaltung des Parlamentsund zur Durchsetzung innen- und außenpolitischer Ziele genutzt.Die Konflikte um den Versailler Vertrag, die Reparationen, die Hand-lungsunfähigkeit des Reichstags und die Rolle des Reichspräsidentenmachten Lösungen der wirtschaftlichen, sozialen und politischenKrise schwer. Aber Brüning gab den Menschen auch auf dem Höhe-punkt der Krise keine Hoffnung auf bessere Zeiten. Die ihm vorge-legten Konjunkturförderungs- und Arbeitsbeschaffungsprogrammeverwarf er. Er tat dies nicht nur, weil er auf die verbreitete Angst voreiner erneuten Inflation Rücksicht nahm und das Ende der Repara-tionen erreichen wollte, sondern weil er letztlich gegen die parla-mentarische Demokratie und für einen autoritären Staat war.Die umfangreichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die Brüningverwarf und die die Nationalsozialisten nach 1933 angingen, ähnelten nur sehr vorder-gründig den Vorschlägen der Gewerkschaften und den späteren Programmen des NewDeal. Der nationalsozialistischen Führung ging es nach der Machtübergabe auch vor-rangig gar nicht um Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Belebung der Konjunktur,sondern um Wiederaufrüstung, Nichtanerkennung der deutschen Auslandsschulden,„Erhaltung des Bauerntums“ – und Zerstörung der Demokratie.

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New Deal im Vergleich mitBrünings Deflationspolitik

Æ Arbeitslosenquote im DeutschenReich und in den USA.Nach: Dietmar Petzina, Werner Abelshauser undAnselm Faust, Sozialgeschichtliches Arbeitsbuch,Bd. 3: Materialien zur Statistik des Deutschen Rei-ches 1914–1945, München 1978, S. 119 (DeutschesReich) und John T. Dunlop und Walter Galenson(Ed.), Labor in the Twentieth Century, New York1978, S. 27 (USA)

Æ Bruttoinlandsprodukt im DeutschenReich und in den USA.Nach: Angus Maddison, Monitoring the WorldEconomy, 1820-1992, Paris 1995, S. 180–183 (Zahlen gerundet)

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