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Das Jahr des Skorpions

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Titel der Originalausgabe: Chayon yili

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/ abrufbar.

Sämtliche Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Ver-wendung elektronischer Systeme vorgehalten, verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

© der deutschsprachigen Ausgabe: J & D Dağyeli Verlag GmbH Berlin Zweite, überarbeitete Auflage 2018www. dagyeli. com

Umschlag: Mario PscheraBuchgestaltung: Loki Graphik BerlinGesetzt aus der Hypatia Sans Pro

Druck und Bindung: Scandinavian Book / Druckhaus NordPrinted in EU

ISBN 978-3-935597-54-8

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Das Jahr des Skorpions

aus dem Usbekis�en von Ingeborg Baldauf

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Zu Aussprache und Umschrift der usbekischen Namen und Begriffe

Das Usbekische, ursprünglich in der persischen Schrift wiedergegeben, wurde nach zwischenzeitlicher Benutzung der Lateinschrift im Zuge der Schriftreformen während der Sowjetzeit mit kyrillischem Zeichensatz geschrieben. Seit 1994/95 wird auf das lateinische Alphabet umgestellt, mit Orientierung an den Regeln der englischen Lautwiedergabe. Im vor-liegenden Buch wurde lediglich bei bereits eingebürgerten Begriffen der gebräuchlichen deutschen Schreibung der Vorzug gegeben.

ch: gesprochen »tsch«gh: im Rachen gesprochenes »r«, velarer Reibelautj: stimmhaftes »dsch«kh: gesprochen »ch«q: im Rachen gesprochenes »k«sh: stimmloses »sch«v: gesprochen »w«z: stimmhaftes »s«

Die usbekischen Namen und Eigennamen werden in den meisten Fällen auf der letzten Silbe betont. Eine Ausnahme ist das entlehnte Wort »Khoja«, bei dem die Betonung auf der ersten Silbe liegt.

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Auch an diesem Abend wurde kein Feuer geschürt und blieb der Deckel des kalten Kessels ungelüftet. Oynisa hatte vom Morgen her einen Schnitz harten Kastenbrotes, den sie gerade noch für die Brotmarke ergattern konnte, aufbewahrt. Ihn teilte sie jetzt für ihre kleine Tochter und die Schwiegermutter, legte für sich selbst zwei Bissen zurecht und gab jedem noch drei Nüsse drauf. Die alte Rizvonbibi mümmelte den Brotkanten von einer Backe in die andere. Beißen konnte sie ihn nicht, obwohl sie ihn in den Tee aus Apfelschalenaufguss gestippt hatte, und hätte man ihr nicht die Nusskerne im Mörser zerstoßen, so hätten ihre zahnlosen Kiefer sie wohl nicht zu zermalmen vermocht.

Jedes mal, wenn sie das Schloss vor die Kiste mit den Nüssen legte, dankte Oynisa Gott, zugleich aber spürte sie eine kleine Bitternis im Herzen: In der hintersten Ecke des Hofes, dessen Lehm mauer bis auf die Grundschar abgebröckelt war, stand ein ausladender Nussbaum. Keiner wusste mehr, wann er gepflanzt worden war, aber so alt er auch sein mochte, rettete er doch den kleinen Haushalt. Im Herbst trug er eineinhalb, in manch gutem Jahr auch zwei große Sack Nüsse, sein Schatten bewahrte vor der grellen Sommerhitze, die abgesplitterte Borke seiner Äste und seines Stamms konnte man mit der Hacke zu Brennholz zerschlagen, das den Kessel zum Kochen brachte und als Glut ins Wärmeöfchen gefüllt werden konnte, seine sorgfältig getrockneten Blätter loderten so gut wie jeder Kienspan und wärmten das Wasser für die Wäsche und fürs Kinderbad. Nur wie schade – der Baum neigte sich schief, sodass einige seiner Äste in den Nach-barhof hingen. Hätte er nicht mittig wachsen können, auf dass seine ganze Ernte hier bliebe und den Hausleuten über die Zeit bis zur nächsten Reife hinweghelfen könnte, wenn sie nur sparsam damit umgingen!

»Ärgere dich nicht, Liebes«, pflegte Rizvonbibi zu sagen, wenn sich ihre Schwiegertochter wieder einmal um die verlorenen Nüsse grämte. »Das ist der Anteil der Nachbarn. Schau, vom Maulbeerbaum des anderen Nach-barn hängt die Hälfte in euren Hof, und wir essen auch gern davon. Das nährt auch und macht satt.«

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»Nüsse machen satt, Mama, was sind dagegen Maulbeeren«, sagte Oynisa, die auf der Schilfmatte in der Glasveranda saß und den Faden, den sie eben gedreht hatte, aus dem weichen Wachs zog.»Und was könntest du machen, wenn sie ein Laken aufspannten und alles auf ihre eigene Seite schüttelten«, gab die Schwiegermutter in dem be-häbigen Ton der alten Leute zu bedenken. »Danke Gott, wenn uns nur niemand stirbt. Schau, es gibt kein Haus mehr, in das nicht ein schwarzer Brief gekommen wäre, wo man nicht einen Toten zu beklagen hätte. Bete für deinen Gatten, dass er um des Lebensglücks eurer Tochter willen heil und gesund nach Hause kommt, dann wird alles wieder gut … «Das Öllämpchen am Rand des Tabletts auf dem Wärmeofen begann zu flackern. Der mit Wagenschmiere selbstgezogene Docht rußte mit beißen-dem Gestank, aber er gab nur einen schwachen Schein, in dem sich die Menschen rund um den Wärmeofen schwach gegen die Dunkelheit abho-ben, und sogar mit diesem Licht musste man knausern. Der Frühling hatte schon begonnen, aber die Luft war feucht und klamm.

Oynisa erwachte von einem lauten Prasseln. Sie öffnete ihre schlaftrunke-nen Augen mit Mühe und lag noch eine Weile da, zur Decke starrend, bis sie langsam zu sich kam. Drinnen war es noch dunkel, und durch das Vier-eck des Fensters zeichnete sich eine fahle Nacht ab. Erst jetzt begriff sie, was da so prasselte – von den hölzernen Rinnen, die den Regen von ihrem Lehmdach leiten sollten, das knietief aufgeweicht war, prasselte das Wasser hinunter in die Pfützen. Wenn ein Windstoß kam, verstummte die Traufe für einen Augenblick, um jedes mal, sobald der Wind sich legte, mit dem Gerassel einer Hundekette erneut herunterzustürzen.

Das Zimmer, in dem Oynisa und Jamila schliefen, lag im inneren Teil des Hauses. Vor einem Dutzend Jahren waren seine Lehmwände weiß gekalkt worden, an den Seiten hatte es Nischenregale, gegenüber der Tür zwei hohe Wandnischen und in einer davon eine schmucklose Truhe, an den schiefen Rahmen des einzigen Fensters gelehnt der Schreibtisch ihres Gat-ten, und gleich links neben der Tür schimmerte matt der Samowar, den sie damals mit ihrer Mitgift eingebracht hatte. Das war alles, was sie an Hausrat besaßen. Als Oynisa der alten Frau anbot, sie würde ihr auch die Schlafstatt in diesem Zimmer aufschlagen, wollte sie nicht. Es sei dunkel, das wäre für sie beklemmend, und sie blieb lieber in der Veranda, die sich nicht dicht schließen ließ und in der nur ein dünner Vorhang aufgezogen war. Dort war auch der Wärmeofen. Oynisa wollte auch ins Zimmer einen Ofen ein-bauen lassen, aber sie konnte nicht genug Geld für das Kohlebecken und

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das Vierbein darüber auftreiben. Außerdem hätte man auch dafür wieder Späne und Holzkohle gebraucht, und sie kam auch so nur knapp über die Runden – wozu also! Was sie einmal an Wertgegenständen besessen haben mochte, war in den drei Kriegsjahren längst verkauft. Nun schmerzte Oynisa nur, dass ihre Kuh abhandenzukommen drohte. Gewiss, sie war ein küm-merliches, mickriges Ding, aber zu etwas taugte sie doch, mit dem Schluck Milch ab und zu. Sie decken zu lassen, hätte fünfzig oder sechzig Sum ge-kostet, die sie nicht aufzutreiben wusste, so stand das Tier ungedeckt und gab von Tag zu Tag weniger Milch. Als der Winter kam, verschlug es ihr die Milch noch mehr. Außerdem wurde das Futter knapp, sie magerte bis auf die Knochen ab, gerade zwei Teller Milch gab sie noch, ihr Dung wurde auch immer weniger, sie muhte jämmerlich und stellte schon die Ohren auf. Manche rieten, es sei am besten, sie zu schlachten. Andere, das klapprige Tier anschauend, meinten, es wäre schade, nur Knochen zum Auftischen, denn von ihrem Fleisch käme nicht mal mehr ein einziger Braten, und man solle sie besser verkaufen. Solches ward ihr geraten, als ein Bote von einem Mann aus dem nächsten Stadtviertel kam, von Herrn Murod Khoja, dem Vorstand einer reichen, satten Familie mit zahlreichen Dienstboten, die auch noch alle ausreichend von den Resten abbekamen, die bei ihm abfie-len. Als dieser Mann hörte, dass Oynisa ihre Kuh verkaufen wollte, zeigte er sich interessiert, diese zu erwerben und schickte einen der Neunmalklugen des Viertels vorbei, den Metzger Sunnat, der ans Tor klopfte. Er ging in den Stall, besah sich die Kuh von der einen Seite, dann von der anderen, seufzte, wiegte den Kopf, sagte ojeh ojemineh und begann mit Oynisa, die sich vor seinen Blicken zu verbergen suchte, einen rechten Kuhhandel.

»Junge Frau, Sie haben das Tier ja ganz schön verkommen lassen«, sagte der Metzger und betrachtete die Spitzen seiner Stulpenstiefel.»Das Futter, Onkel, das ist das Problem«, klagte Oynisa hinter ihrem im-provisierten Schleier. »Das Heu und die Spreu, die mein Mann zusammen-getragen hat, bevor er gehen musste, sind lang schon zu Ende. Ich schaffe es nicht mehr, würde denn sonst ein verständiger Mensch ein Tier verkaufen?«»Wollen Sie das Vieh auf den Markt treiben oder sollen wir uns hier eini-gen?« fragte der Metzger nach einer Minute Stille.»Ich als Frau, ja kann ich denn das, ich weiß doch nicht einmal, wo der Vieh-basar ist, das kann doch für mich nur ein schlechtes Geschäft werden. Sie sind doch unser Nachbar hier im Viertel, Sie stehen doch gut mit dem Herrn des Tieres, da werden Sie uns doch einen anständigen Preis machen.«»Jetzt verstellen Sie sich aber, junge Frau, Sie scheinen doch etwas vom Handeln zu verstehen«, sagte der Metzger zur Seite. »Wenn Sie nach dem

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Viehmarkt fragen, werden Ihnen die Leute schon den Weg sagen, dann gehen Sie einfach hin und sehen mit eigenen Augen und hören mit eige-nen Ohren, was der richtige Preis ist, und dann können Sie Ihr Vieh richtig einschätzen. Für ein Tier wie das hier würde ich Ihnen nicht einmal den Preis wie für eine Färse geben. Dann würden Sie sich mir an den Rockzipfel hängen, wenn Sie wütend sind. Ihre Kuh ist ein Schatten ihrer selbst, die kann nicht mehr laufen, außerdem ist sie ungedeckt und gibt keine Milch mehr. Wieso glauben Sie überhaupt, dass Sie die noch verkaufen können?«»Sie gibt aber doch Milch, Onkel, reden Sie nicht so. Zwei Schüsseln Milch gibt sie, rahmig und dick. Und wenn sie was Rechtes zu fressen kriegt, wird sie noch mehr Milch haben.«Der Metzger lächelte säuerlich und wiegte wieder den Kopf.»Am Sonntag ist Viehmarkt, lassen Sie sie auftreiben, wenn sie nicht schon unterwegs schlappmacht. Gott behüte, aber das wäre dann übel. Dann kriegen Sie auch nicht mehr den halben Preis heraus.«»Machen Sie mich nicht unglücklich, Onkel, Gott danke es Ihnen, ich gebe Sie Ihnen um den Preis, den Sie vorschlagen.«»Junge Frau«, sagte der Metzger leicht unwillig, »ich bin doch nur der Ver-mittler. Wenn ich selber der Käufer wäre, wäre es noch mal etwas anderes. Aber so, na lassen Sie da mal was passieren, dann bin ich erledigt.«»Was soll denn passieren, Onkel? Die ist nur hungrig. Wenn sie richtig zu fressen kriegt, blüht sie auf.«»Fräulein, ich bin Metzger. Ich verstehe etwas davon, sagte der Mann und rieb sich die Handflächen an den Seiten. Na gut, ich will es Murod Khoja mal sagen, und dann … «

Am Abend trieben sie das Tier hinaus. Die Kuh war wirklich ein mageres und jämmerliches Tier. Ihr Fell war schäbig, sie konnte den Kopf fast nicht aufrecht halten, sie klapperte am ganzen Leib.Oynisa schloss das Hoftor. Sie wischte sich die Tränen mit dem Ärmel ab und putzte sich die Nase, dann zog sie aus dem Futter ihrer Weste das Ding heraus, das in Seidenpapier eingewickelt war, und wollte es vorsichtig aufmachen.Da hörte man Schritte von der Straße, jemand blieb vor dem Hoftor ste-hen. Oynisa gefror das Herz: Und wenn es sich der Käufer anders überlegt hatte? Was sollte sie dann tun?Das Tor schwang mit leisem Kreischen auf, und herein kam ihre Nachbarin Zahro mit geschwollener Backe. Sie umarmten sich flüchtig zum Gruß.

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»War das Eure Kuh, die die Leute gerade weggeführt haben?« fragte Zahro und erhaschte gerade noch einen Blick auf das Bündel Dreißig-Sum-Scheine in dem Seidenpapier in Oynisas Hand.»Mmh«, brachte Oynisa mit Mühe heraus, ehe ihr wieder die Tränen hoch-stiegen. »Wir konnten sie nicht mehr durchfüttern, das Futter war schon lang zu Ende … so ist sie wenigstens nicht verreckt … Sie haben ja gesehen, wie dürr sie war.«Zahro drückte ihre Handfläche an die Backe, drückte die Augen zu, bohrte mit ihrer Zunge im Mund nach irgend etwas herum und spuckte dann zur Seite.»Wieviel hat sie gebracht?« fragte sie mit einem Seufzen.Oynisa schaute auf das Geld. Sie wollte es einwickeln, aber dann war es ihr peinlich, dass die Nachbarin denken könnte, sie verheimliche es vor ihr, und so sagte sie: »Fünftausend … «»Der hat Euch den Preis für eine Ziege gegeben, soll ihn der Tod holen, möge er keine Freude daran erleben«, sagte Zahro zornig und schaute durch das offene Hoftor hinaus auf die Straße in die Richtung, wohin die Kuh gegangen war.»Sagt so was nicht, liebe Zahro, er soll sich an ihr freuen, ich hab sie selber als Kälbchen großgezogen.«»Sind Sie sehr traurig?«»Sie ist unter meinen eigenen Händen groß geworden, ich sag’s doch … «

Oynisa spürte wieder den Kloß im Hals, und die Tränen stiegen ihr in die Augen. »Was habt Ihr denn da in der Backe, tut Euch etwa ein Zahn weh?«»Ich habe ihn mir eben ziehen lassen, ich kann gar nicht sagen wie leicht mir jetzt ist«, sagte Zahro und wurde fidel. »Eine Woche habe ich daran gelitten, ich habe alles versucht.«»Wenn Sie früher gegangen wären, hätten Sie nicht so viel leiden müs-sen … «»Vor drei Tagen war ich zu dem Bader von Labzak gegangen, hoffentlich erwischt es ihn bald – sperrt der nicht glatt von innen die Tür ab und schleift mich in sein Behandlungszimmer?! Ich konnte gerade noch weg, und mein Zahn war schlagartig gut. Nachher ging es dann wieder los. Dann bin ich zu einem anderen gegangen.«»Wollte der Sie auch ins Behandlungszimmer ziehen?« lächelte Oynisa.Zahro winkte ab: »Ich habe meinen kleinen Bruder mitgenommen, und außerdem steht der sowieso schon mit einem Fuß im Grab. Ich fragte mich nur, ob ihm überhaupt noch die Kräfte reichen würden, möge es ihn bald

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ereilen – hat er mir doch mit dem kranken Zahn zusammen auch noch einen gesunden ausgerissen!«Oynisa konnte sich nicht mehr halten und platzte laut heraus.»Ja, Sie lachen«, sagte Zahro und nahm es nicht übel. »Es hätte nicht viel gefehlt, und er hätte auch noch meinen Kiefer herausgerissen, wenn es ihn selber nur auch bald träfe. Und eine Zange hat er wie eine Keule, kaum hatte die Platz in meinem Mund. Wie ich wieder zu mir komme, habe ich den Mund voller Lappen, und der Bader schert gerade einem den Schädel. Keine Ahnung, wie ich da herumgelegen habe, wahrscheinlich haben sie sich ordentlich eins gegafft, sollen sie doch verrecken. Hätte ich mir nur einen Schleier angelegt!«»Wo war denn Ihr Bruder?«»Wer soll das wissen? Als ich rausging, war er nicht zu sehen, wahrscheinlich hat er sich aus dem Staub gemacht, als ich in Ohnmacht fiel … «»Kommen Sie mit rein, Zahro, ich brühe Ihnen einen Tee aus Flechten auf«, sagte Oynisa. Halb tat ihr die junge Nachbarin leid, halb musste sie lachen.»Nein nein«, wehrte Zahro ab und trat zurück. »Ich habe Rüben im Topf, ich hatte ein paar Fladen eingeschürt, jetzt muss ich nach dem Feuer sehen. Diese Doppelte ist ja so gefräßig … «»Die Schwägerin meinen Sie? Die Frau von Sattor?«»Na ja, natürlich«, warf Zahro hin und zog ein Gesicht. »Wenn ich nicht nachsehe, lässt sie mir gleich zwei-drei verschwinden.«»Liebe Zahro, sie muss für zwei essen«, sagte Oynisa. »Da braucht sie eben mehr.«

Zahro schätzte es offenbar gar nicht, dass Oynisa für die »Doppelte« Par-tei ergriff, sie schaute finster, runzelte die Brauen, tat, als habe sie das nicht gehört, und fragte in einem Ton, der dem Thema ein Ende setzte: »Und was machen Sie jetzt mit diesem Geld?« Sie wies auf die Summe in Oynisas Hand.»Das ist mir teuer genug zu stehen gekommen!« sagte Oynisa kummervoll und schaute die Scheine an. »Die Schwiegermutter meint, ich soll ein Lamm kaufen, das würde auch von Obstschalen und sowas satt werden – na ja … «»Sobald es größer wird, braucht es auch richtiges Futter«, sagte Zahro im strengen Ton eines Menschen, der von solchen Angelegenheiten etwas versteht. »Kaufen Sie lieber Küken. Zehn Stück. Wenn fünf eingehen, blei-ben immer noch fünf. Die picken im Mist und Müll herum, und einszweidrei fangen sie schon mit Eierlegen an. Wenn Sie sie schlachten, gibt es Fleisch, und ihre Eier sind eine ehrliche Mahlzeit.«

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An Küken hatte Oynisa überhaupt nicht gedacht. Da war etwas dran an Zahros Worten. Jetzt war sie fast böse, dass ihr eigener Verstand nicht ge-reicht hatte, einen so einfachen Weg auszudenken, wie sie etwas verdienen konnte. »Diese Zahro ist schon ein Ding«, dachte sie und blickte anerken-nend auf die Nachbarin. »Die versteht das Leben, und Geld hat sie auch immer.«

»Warum halten Sie dann eigentlich selber keine Hühner?« fragte sie.»Wer soll denn auf die aufpassen?« sagte Zahro leichthin. »Ich habe doch immer auf dem Markt zu tun. Dann frisst sie die Katze. Und soll ich vielleicht den ganzen Tag auf die Eier lauern?«Zahro hatte jetzt ihren Kopf in ein Baumwolltuch gewickelt, ihre Backe war dick geschwollen, ihre Augen waren gerötet. Aber sonst war sie ein hüb-sches, etwas molliges Mädchen mit guter Figur, und sie hatte so ein gewis-ses Funkeln in den Augen, das die Herzen höher schlagen ließ. Wenn sie sich fein machte, schauten sogar die Frauen hinter ihr her.

In der Tat, Zahro war ein schönes Mädchen, von der Natur mit allerlei Vor-zügen ausgestattet, und sie wurde gerade zwanzig. Sie hatte es mit Zwi-schenhandel versucht, aber sie war zu unerfahren und geriet ein-zweimal der Miliz in die Fänge. Daraufhin verlegte sie sich darauf, Rüben zu kochen und auf den Markt zu tragen. Sie kaufte Zuckerrüben und nahm sie am Abend mit nach Hause. Dort wusch sie einen Eimer voll Rüben, setzte sie im Topf auf und schürte mit ein paar Fladen ein Feuerchen an. Bis zum Morgen waren die Rüben gut durch. Den Rübensaft füllte sie in eine Kanne, die Rüben gab sie in eine Schüssel und band ein Tuch darum, und am frühen Morgen zog sie mit ihrem kleinen Bruder los zum Chorsu-Basar. Der Saft war süß, und wenn er auch dünn war, gab er doch ein wenig Kraft. Wer sich Rüben nicht leisten konnte, kaufte eben Saft. Zahro hatte richtige Stamm-kunden, die schon auf sie warteten und einen Becher tranken, bevor sie zur Arbeit gingen. Unter den Käufern waren auch betuchtere, denen der Saft nicht gut genug war, aber Rüben mochten sie kaufen. Und dann gab es noch jede Menge solche, die von allen Seiten daherwimmelten – Gott bewahre. Das waren die Taschendiebe, Zigeuner, Hausierer, Bettler aller Art, die ihr erzählten, sie kämen aus dem Krieg oder aus dem Gefängnis. Dann die Wai-senkinder, schließlich die Huren, die dürres Laub drehten und rauchten, dazu die Versehrten, die unter den Brücken schliefen, Haschischraucher und Hosennässer, und zuletzt die Leute auf der Flucht, die man um einen

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Kanten Brot anwerben konnte und die auch nicht davor zurückgeschreckt wären, einen Menschen umzubringen.

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Jeden Morgen weckt die Schwiegermutter Oynisa. Oder richtiger, wenn die alte Frau im Morgengrauen aufsteht, wenn sie ächzend die Schilfmat-ten zurechtlegt, mit dem Messingkessel scheppert, wenn sie die Worte des Glaubensbekenntnisses murmelt und sich zum Morgengebet bereit-macht – das alles kündigt Oynisa an, dass wieder ein neuer Tag begonnen hat, voller Mühen und Plagen. Oynisa zieht sich hastig an, sie geht nicht erst in den kalten und nebeligen Garten, wo im Schatten der Mauer noch eine dünne Schneedecke schwach auszumachen ist, sondern stellt sich den Wascheimer an den Rand des lehmgemauerten Vorplatzes, auf dem man im Sommer sitzen kann, wäscht sich flüchtig Hände und Gesicht und wischt sich an einem Stück Sackleinen trocken. Dann eilt sie, der nächtlichen Ruhe beraubt, hinunter zu dem Laden im Viertel, für den sie eingetragen sind. Sie achtet nicht darauf, dass sie keine Brotmarke hat, nein, sie muss sich jetzt beeilen, denn sonst ist kein Brot mehr da. Die Tür zum Laden, den man be-helfsmäßig aus Planken zusammengezimmert hat, ist winzig, drin ist es fins-ter, die Frauen und Mädchen, die Alten und die jungen Burschen im Tumult, ihre Hände die Brotmarken umklammernd, wie von einem Magneten ange-zogen starren sie nach einer Seite, schielen sie auf das Türchen, die Menge wankt hin und her, und wenn das Brot zu Ende zu gehen droht, werden die Hände noch drängender gereckt, aufgerissenen Auges, die Schleiermäntel abgestreift, die Köpfe gerade noch mit den Gesichtsschleiern bedeckt, das Haar zerzaust, schiefe Münder mit unverständlich durcheinanderge-redeten Worten, erstickte Stimmen. Wen kümmert’s, wer gestern zu spät gekommen war und sich in die Reihe schreiben ließ – wenn er nur selber ein Stück Brot ergattert, nur das zählt. Wie viele Kinder, Greise und alte Frauen unter die Füße geraten und verletzt werden … Oynisa wirft sich ungern ins Gedränge. Die pubertierenden Burschen drängen sich dicht an die jungen Frauen heran, sie stoßen und schreien wie alle anderen, die Augen auf das Türchen gerichtet, doch ihre Hände befingern die Frauen und jungen Mäd-chen. Die Ehrwürdigen des Viertels, statt sich um Ordnung und Anstand zu kümmern, klebten in vorderster Reihe an dem Brotladen. Wie oft ist Oy-nisa nicht schon bitterlich weinend mit nichts nach Hause zurückgekehrt …

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Seltsam, heute hörte Oynisa das Geklapper ihrer Schwiegermutter nicht. Wahrscheinlich war es wegen des lauten Prasselns des Regens, dachte sie und blieb noch ein wenig liegen; ungern, wie sie den Schutz der gemütlich warmen Decke verließ. Aber mittlerweile war es vor dem Fenster schon ziemlich hell; hatte die alte Frau etwa verschlafen? Hatte das Kohlebecken sie etwa betäubt? Das war doch noch nie vorgekommen. Der Vorhang der Veranda blieb doch immer ein Stück zurückgeschoben, da konnte sich kein Gas ansammeln. Oynisa blieb noch ein wenig liegen und lauschte in der Hoffnung, doch noch etwas zu hören, aber als nichts geschah, stand sie doch auf, zog sich an und band sich ihr Kopftuch, wickelte die Gamaschen um ihre hellen, heißen Füße und schlüpfte in die Galoschen. Sie öffnete die Tür hinaus in die Veranda, alles war still, der Gebetsteppich hing noch am Haken, kein Messingtopf war zu sehen – der Wärmeofen war noch nicht ausgeräumt, wie es schien. Oder sollte die Schwiegermutter ihre Arbei-ten schon fertiggemacht und sich noch mal zur Ruhe gelegt haben? Aber nein. Da wäre sie auch schon wieder wach. Schließlich schürte die alte Frau immer, sobald Oynisa sich zum Laden aufmachte, mit wenigen Spänen ein Teefeuerchen und ließ die drei Hühner aus dem Käfig von der Stange, wenn schon keine Körner da waren. Schließlich war es ja so, wie Zahro ge-sagt hatte, die Hühner scharren im Mist und finden sich selbst, was sie zum Leben brauchen …

Oynisa schaute dorthin gegenüber der Tür und erschrak – auf der anderen Seite des Wärmeofens lehnte die Schwiegermutter an den Kissen, friedlich und still. Ängstlich trat Oynisa näher an die alte Frau heran und beugte sich nieder. Rizvonbibis Atem war nicht zu spüren, ihre Nasenspitze war weiß.»Mama!« sagte Oynisa erst leise und wartete schaudernd. Die alte Frau rührte sich nicht. Oynisa fasste sie an der Schulter und schüttelte sie vor-sichtig. »Mama!«, entfuhr ihr ein Schrei, aber die alte Frau gab keinen Laut von sich, und als sie sie noch einmal schüttelte, fiel ihr der Kopf zur Seite mit leicht geöffnetem Mund.

Oynisa kauerte in dem offenen Flur, den Schleiermantel ihrer Schwieger-mutter übergezogen, und starrte auf den Wandschrank neben der Tür zu dem Zimmer. Aber Herr Murod Khoja trat nicht so bald heraus, es reg-nete noch immer, das machte ihr Herz noch schwerer. Oynisa hatte sofort die Nachbarn benachrichtigt, die Frauen und Mädchen eilten zusammen, Klagen und Geschrei. Bei Festen und Trauerfällen gibt es solche Frauen, die exakt ihre Pflichten erfüllen, die sich vom Klagegeschrei nicht beirren lassen, sondern strikt das tun, was zu solchen Gelegenheiten getan werden

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muss, ohne dass ihnen einer befehlen könnte, tu dies und tu jenes. Über die Jahrhunderte hatten die Zeremonien ihre feste Form gefunden. Dement-sprechend waren auch die Pflichten verteilt, und eine jede wusste genau, was sie zu tun hatte. Töpfe und Teller auftreiben, den Kessel aufrichten, Brennholz spalten, die Nachricht ans Viertel melden, einen Mann zur Mo-schee schicken, die Trauerfrau laden, die Totenwäscher rufen, ein Sargtuch bereiten – das alles ging wie von selbst. Da spielte es keine Rolle, wie schwer die Zeiten waren, die nächsten Nachbarn waren gleich zur Stelle, und ein jeder tat flink, was zu tun war, ohne zu murren, so dass Oynisa ob der Ein-mütigkeit, mit der das alles geschah, insgeheim den Leuten Bewunderung zollte. Wenn die nicht wären, was hätte sie dann getan? Was hätte sie allein vermocht? Schließlich hatten sie alle ihre eigenen Sorgen. Tante Schamsi fragte zu allererst: »Was haben Sie?« Oynisa wusste erst nicht, was das be-deuten sollte, und zuckte mit den Schultern. Und sogar wenn sie verstanden hätte, was hatte sie denn auch! Alles, was einigermaßen etwas taugte – von dem Vorhang vor der Wandnische bis hin zur Wiege ihrer kleinen Toch-ter – war längst verkauft, sogar der Stuhl, auf dem ihr Gatte gesessen war, wenn er die Schulaufgaben vorbereitete, war für ein Kilo Maismehl drauf-gegangen. Und wie viele Feierlichkeiten für die alte Frau standen jetzt ins Haus! Schon das Begräbnis ist keine kleine Angelegenheit. Schließlich muss man den Totengräbern ein Kännchen Tee und einen Fladen Brot vorsetzen, wenn sie vom Friedhof zurückkommen. Wo sollte sie das hernehmen? Was hatte sie denn noch an Hausrat? … Der Leichnam wurde mitten in das innere Zimmer gelegt und mit einem Leintuch bedeckt.Tante Schamsi und Oynisa kauerten am Ende des Zimmers vor der Truhe.

»Gleich«, sagte Oynisa, öffnete die Truhe und wies auf etwas, das in der letzten Ecke der leeren Truhe lag, in ein Tuch gewickelt.»Was ist das?«»Ein Goldanhänger«, sagte Oynisa und legte sich den Schmuck aufs Knie, ohne ihn wieder einzuwickeln. »Ein Andenken an meine Großmutter. Ich habe ihn oftmals in einem Zahnloch verborgen, damit er einmal für meine Tochter da ist.«Schamsi überlegte.»Ihre Truhe ist doch antik, schauen Sie einmal die Schnitzerei an«, sagte sie und wies auf die Truhe. Wirklich war das ein altes erlesenes, mit Geschmack ausgefertigtes Stück, nach allen Richtungen waren Weißmetallstreifen wie Mondstrahlen aufgebracht, dazwischen war sie mit Messingbuckeln und kleinen Köpfchen verziert.

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»Die ist von meiner Schwiegermutter«, sagte Oynisa und schaute Tante Schamsi fragend an. »Die war ihr ein und alles.«»Die hätte man auch zu Geld machen können, aber jetzt ist es zu spät, da kommen Sie nicht mehr zurecht«, sagte Frau Schamsi schließlich. »Wenn Sie einen reichen Nachbarn hätten, hätten wir da etwas rausgedrückt, der hätte noch Geld draufgelegt. Aber das da«, sagte sie und wies auf den Anhänger auf Oynisas Knie, »ist doch ein schönes Stück, fast schade zum Verkaufen. Er ist doch echt und nicht etwa nur ein Imitat?«»Woher!« sagte Oynisa, wobei sie ein Zweifel beschlich. »Der ist doch an-tik. Die Alten hätten nie ein Imitat gemacht.«Tante Schamsi staunte: »Ein Goldanhänger, haben Sie gesagt?«»Ja, ein Goldanhänger«, bekräftigte Oynisa.»Aus reinem Gold?«»Also … «»Wenn der aus reinem Gold ist, wäre das ein kleines Vermögen. Der könnte euch alle retten.«Oynisa zögerte. Von der Veranda herüber waren das Lärmen der Frauen und die Rufe der dienstbaren Geister zu hören. War das jetzt denn der Zeitpunkt, sich den Kopf zu zerbrechen, ob ein Anhänger echt war oder nicht? Eile tat hier not.»Also, ob er jetzt echt ist oder nicht, auf jeden Fall sind Steine drin, ein paar Rubine«, sagte Oynisa, um alle Zweifel zu zerstreuen …

Und nun saß sie hier auf Herrn Murod Khojas Flur wie eine fremde Bettle-rin hingekauert und hatte keine Ahnung, was für eine Antwort sie wohl be-kommen würde. Nur in einem war sie sich schon sicher – dass Herr Murod Khoja, sogar wenn er das Schmuckstück kaufte, Oynisas Notlage ausnutzen würde, um ihren Besitz runterzumachen, um den Preis zu drücken und sich um billiges Geld ein schönes Schmuckstück anzueignen, und so, als ob das nicht schon reichte, würde er sich dabei noch als gnädiger und großherziger Mensch aufspielen, der ihr in schweren Zeiten seine helfende Hand reichte.Jetzt hörte man hinter der schweren zweiflügeligen Tür mit den Schnit-zereien eine Frau husten, und Schritte kamen näher. Als die Tür aufging, erschien auf der Schwelle eine hübsche junge Frau mit Locken an beiden Schläfen, ein geschmackvolles Tuch um den Kopf gebunden. Ihr Gesicht war schneeweiß, die Brauen kohlschwarz, mit langen gebogenen Wimpern, unter ihrer Seidensatinjacke trug sie ein Atlaskleid und über den feinen Nappagamaschen traditionelle Schuhe. Oynisa erhob sich, als sie die Frau erblickte.»Guten Tag«, grüßte Oynisa und lüftete ihren Gesichtsschleier.

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»Bitte, kommen Sie weiter«, lächelte die junge Frau freundlich, »Sie sollen eintreten.«»Danke«, sagte Oynisa und folgte der Frau.

Sie gingen durch einen Flur in den Innenhof, und als sie in dem Vierkanthof, in dem sich Eingang an Eingang reihte, an ein bis Schulterhöhe verglastes Treppenhaus gekommen waren, blieb die junge Frau stehen und wies auf eine Tür:»Wenn Sie die Glasveranda hinaufgehen, ist rechts eine Tür«, sagte sie sanft. »In dieses Zimmer gehen Sie hinein. Der Herr wartet schon. Treten Sie ruhig ein, seien Sie nicht scheu.«Oynisa neigte zum Dank den Kopf, stieg zwei Stufen hinauf und wandte sich dann noch einmal zu der jungen Frau:»Kann ich den Schleier anbehalten?«»Ganz wie Sie wollen«, erwiderte die Frau höflich. »Treten Sie nur ein.«Oynisa zog sich den Schleier wieder vors Gesicht und öffnete schüchtert und ängstlich die Zimmertür.»Treten Sie ein, mein Mädchen, nur herein«, sprach der würdige Mann, der am andern Ende des Zimmers oberhalb des Wärmeofens saß.Oynisa, die den Schleier nicht so gewohnt war, stieß sich am Türrahmen und trat ins Zimmer. Sie entbot einen scheuen Gruß und kauerte sich gleich neben dem Schuhplätzchen an der Tür nieder.

Herr Murod Khoja dankte für den Gruß. Er war feist, mit speckiger Stirn und großen Augen, noch nicht über die Fünfzig hinaus, und er wirkte sehr würdevoll. Auf dem sorgfältig geschorenen Kopf trug er eine graugrüne Kappe aus Seidensatin, über den Schultern hatte er einen blassgrünen Mantel, die scharfen Augen lagen tief unter den buschigen Brauen. Sein Teint war hell, die Wangen überzog wie feinstes Seidengewebe ein Netz von rötlichen Adern.»Sie haben die alte Frau in Gottes Hände übergeben müssen, möge Er ihr gnädig sein«, sprach er und strich sich zum Gebet mit den Handflächen flüchtig übers Gesicht.Auch Oynisa legte unter dem Schleier die Hände zusammen und murmelte ein Gebet.»So ist das Leben«, sagte Murod Khoja. »Was können wir tun, Mädchen?! Dieses Los trifft uns alle einmal.« Oynisa weinte still in sich hinein, wischte sich die Nase mit dem Ärmel, trocknete sich die Augen.»Wie alt war denn die liebe Verstorbene?«

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»Einundsechzig, Gevatter«, schluckste Oynisa. »Gestern war sie noch ge-sund wie ein Fisch im Wasser … «»So ein Ende ist Gottes größte Gnade.« Murod Khoja nahm einen Schluck Tee. »Die Zeiten sind schwer, was hätten Sie denn gemacht, wenn sie krank darniedergelegen wäre? Ihnen ist viel erspart geblieben, seien Sie nicht un-dankbar, auf dass Gott Ihnen nicht zürne. Und was haben so manche jungen Männer, die in diesem Krieg umkommen, von der Welt gehabt?«»Ich bin auch nicht undankbar«, brachte Oynisa mühsam heraus. »Nur dass es so schnell gekommen ist, hat uns umgeworfen. Was soll ich ihrem Sohn sagen, wenn er zurückkommt?«»Was sollen Sie ihm schon sagen? Vor dem Schicksal sind wir alle machtlos.«»Und wenn er mir vorwirft, ich hätte mich nicht um sie gekümmert … ?«»Er wird alles verstehen«, tröstete sie Murod Khoja. »Er ist doch Lehrer. Denken Sie jetzt nicht daran, was geschehen ist, ist geschehen, aufwecken können Sie sie jetzt nicht mehr. Denken Sie lieber, was mit dem Vater Ihrer Kinder passiert, beten Sie Tag und Nacht, auf dass er heil und gesund zu-rückkommt.«»Wenn uns nur Gott jetzt gnädig wäre … «

»Wann soll sie denn begraben werden?« fragte Murod Khoja, der keine Lust mehr hatte, noch lang herumzureden.»Heute nachmittag, hat es geheißen«, sagte Oynisa und wusste nicht gleich weiter, »Da sind einige Zeremonien zu machen. Ich weiß gar nicht, wie ich das tun kann.«»Zeremonien … «, wiederholte Herr Murod Khoja in unangenehmem Ton. »Wozu braucht man all dieses Tamtam und Trara? Sind etwa heute die Zei-ten so, dass man das tun kann?«»Sie ist schließlich nicht ein Hund, Gevatter«, fasste sich Oynisa. »Was hat die Arme denn auf dieser Welt gehabt außer Kummer und Sorgen.«

Murod Khoja hatte eigentlich nichts gegen Sitten und Gebräuche, gegen Tamtam und Trara – nein, er war sogar sehr dafür. Aber er dachte, derlei Dinge seien Sache derer, die es sich leisten konnten, aber wer hat diesen Barfüßigen aufgetragen, das gleiche zu tun! Deshalb passte es ihm gar nicht, dass Oynisa »Sie ist schließlich kein Hund« sagte.»Haben Sie das eine oder andere Tier zur Opferschlachtung bestimmt?« fragte er leichthin.»Aber woher! Kann man heutzutage denn ein Tier schlachten lassen? Die einzige Kuh, die ich hatte – nicht einmal die konnte ich versorgen, fast wäre sie mir eingegangen.«

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»Jaja, Euer Vieh hat uns auch um die Ruhe gebracht«, sagte Murod Khoja. »Da haben wir nicht ein Stück Vieh, sondern ein Stück Sorge eingekauft um unser Geld. Man wollte ihr Futter geben, sie konnte es gar nicht mehr verdauen und wurde steif vor Blähungen. Bis aus der wieder etwas wurde, ging noch eine Menge Geld drauf. Zweimal so teuer ist sie zu stehen ge-kommen. Ich habe sie weiterverkauft, als sie wieder ein bisschen auf den Beinen war.«»Die hatte ich als Kalb eigenhändig aufgezogen«, sagte Oynisa und spürte noch einmal diese Bitternis.»Also gut, kommen wir zur Sache«, sagte Murod Khoja. Oynisa wand sich wie ein Gefangener im Sack – jetzt musste sie heraus mit ihrem Anliegen. »Zu Diensten, Fräulein?«»Es ist nichts, was Ihrer nicht würdig wäre, Gevatter«, fing sie zaghaft an.»Na?«»Ich wollte ein wenig Geld aufnehmen«, wand sich Oynisa. »Ein Todesfall, sagen Sie nicht nein, Gevatter, lassen Sie mich nicht in dieser Klemme. Ich schaffe es schon, das Geld zurückzugeben, und sonst habe ich für alle Fälle noch die Truhe, sie ist antik, sie ist hart wie Stahl, und verziert ist sie auch.«»Wer wird sich denn heutzutage eine Truhe kaufen, Mädchen. Was für einen Hausrat soll der Mensch denn dort hineinlegen.«»Wenn der Sohn der Verstorbenen heil nach Hause kommt, wird er alles auslösen, Gevatter … «

Murod Khoja glaubt heutzutage nicht an das Wort »wenn er zurückkommt«. Schließlich ist Krieg, Menschenschlächterei! Einer von vieren kommt zu-rück – vielleicht. Und die zurückkehren sind lahm, verwundet, taugen nicht mehr zur Arbeit, die können nicht einmal mehr sich selbst ernähren, wie soll so einer dann Schulden abzahlen.»Ich habe es den Hausleuten gesagt, sie bringen Euch einen Eimer Hirse-brei«, wehrte Murod Khoja Oynisas Ansinnen ab. »Mehr kann ich Euch nicht versprechen, Mädchen. Wie sind die Zeiten heute, Sie sehen es doch selbst.«Als letztes, verzweifeltes Mittel hielt Oynisa den Goldanhänger fest. Ihre anderen Bemühungen hatten nichts gefruchtet, jetzt musste sie damit he-raus.»Ich habe da etwas, dann nehmen Sie das eben als Pfand«, sagte sie.»Was?« fragte der Hausherr interessiert und reckte sich ein wenig gerade.Oynisa streckte das eingewickelte Etwas unter dem Schleier hervor, legte es auf den Teppich und öffnete das Tuch.

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