NORDAFRIKA, EIN JAHR DANACH (I) Ein Jahr nach Bouazizis ...

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D er Dakar-Kairo-Highway führt 8636 Kilometer quer durch Afrika, vom Atlantik bis an den Nil. Der Abschnitt entlang der Mittelmeerküste wird „Transmaghrébine“ genannt. Teile der Transmaghrébine liegen be- reits breitspurig im Land, mit Mautstellen versehen und beleuchtet. Anderswo ist sie eine Baustelle, wieder anderswo bricht sie plötzlich ab und verschwindet im Sand. Hier stehen noch die Bunker des deutschen Generalfeldmarschalls, dort rosten die ausgebombten Panzer von Muammar al-Gaddafi. Manche Staa- ten haben mit dem Bau erst angefangen, in anderen ist der neue Asphalt aufge- rissen, und der alte Belag kommt wieder hervor. Es heißt, die Transmaghrébine sei ein historischer Bau, Beleg einer Zeitenwen- de für Nordafrika und die arabische Welt. Andere meinen, das Projekt sei zum Scheitern verurteilt, weil sich im Maghreb nie etwas zum Guten ändern könne. Eine Straße ist noch kein Beweis für Bewegung. Natürlich nicht. Doch wer sich Serie 51/2011 106 NORDAFRIKA, EIN JAHR DANACH (I) Am 17. Dezember 2010 übergoss sich in der tunesischen Provinz ein junger Mann namens Mohammed Bouazizi mit Benzin – und entzün- dete eine ganze Region. Nacheinander erhoben sich die Völker Tunesiens, Ägyptens und Libyens, nacheinan- der traten in Tunis, Kairo und Tripolis die Machthaber ab. Ein Jahr nach Bouazizis Selbstverbrennung hat sich der Maghreb verändert – und ist zugleich der alte: Wo jahrzehntelang säkulare Diktato- ren herrschten, greifen heute die Islamisten nach der Macht. Und wo die Menschen jahr- zehntelang arm und ohne Hoffnung waren, da sind es viele von ihnen heute noch. Wie geht es weiter? der Transmaghrébine in diesen Wochen anvertraut, merkt schnell, dass er nicht allein ist. Viele sind unterwegs, noch mehr warten am Straßenrand. Und die Straße zwischen Rabat und Kairo wird zum Querschnitt durch die Rebellionen, zum Panoptikum von Revolutionen in ihren diversen Aggregatzuständen, mal heiß, mal erkaltet, mal schon wieder ver- flüchtigt. Also los. „Auf nach Benghasi“ (An- toine de Saint-Exupéry). Es war einmal die Revolution Eine politische Reise quer durch den aufgewühlten Maghreb, vom Atlantik aus in Richtung Orient. Von Alexander Smoltczyk MAURICE WEISS / DER SPIEGEL Platz der Unabhängigkeit in Tunis: Die Tunesier sind da, wo die Menschen in Libyen, Algerien, Marokko und Ägypten ankommen wollen M i t t e l m e e r

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Der Dakar-Kairo-Highway führt8636 Kilometer quer durch Afrika,vom Atlantik bis an den Nil. Der

Abschnitt entlang der Mittelmeerküstewird „Transmaghrébine“ genannt.

Teile der Transmaghrébine liegen be-reits breitspurig im Land, mit Mautstellenversehen und beleuchtet. Anderswo istsie eine Baustelle, wieder anderswobricht sie plötzlich ab und verschwindetim Sand. Hier stehen noch die Bunkerdes deutschen Generalfeldmarschalls,dort rosten die ausgebombten Panzer

von Muammar al-Gaddafi. Manche Staa-ten haben mit dem Bau erst angefangen,in anderen ist der neue Asphalt aufge-rissen, und der alte Belag kommt wiederhervor.

Es heißt, die Transmaghrébine sei einhistorischer Bau, Beleg einer Zeitenwen-de für Nordafrika und die arabische Welt.Andere meinen, das Projekt sei zumScheitern verurteilt, weil sich im Maghrebnie etwas zum Guten ändern könne.

Eine Straße ist noch kein Beweis fürBewegung. Natürlich nicht. Doch wer sich

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NORDAFRIKA, EIN JAHR DANACH (I) Am 17. Dezember 2010 übergoss sich in der tunesischen Provinz ein junger Mann namensMohammed Bouazizi mit Benzin – und entzün-dete eine ganze Region. Nacheinander erhobensich die Völker Tunesiens, Ägyptens und Libyens, nacheinan-der traten in Tunis, Kairo und Tripolis die Machthaber ab.

Ein Jahr nach Bouazizis Selbstverbrennung hatsich der Maghreb verändert – und ist zugleichder alte: Wo jahrzehntelang säkulare Diktato-ren herrschten, greifen heute die Islamistennach der Macht. Und wo die Menschen jahr-

zehntelang arm und ohne Hoffnung waren, da sind es vielevon ihnen heute noch. Wie geht es weiter?

der Transmaghrébine in diesen Wochenanvertraut, merkt schnell, dass er nichtallein ist.

Viele sind unterwegs, noch mehr warten am Straßenrand. Und die Straßezwischen Rabat und Kairo wird zumQuerschnitt durch die Rebellionen, zumPanoptikum von Revolutionen in ihrendiversen Aggregatzuständen, mal heiß,mal erkaltet, mal schon wieder ver -flüchtigt.

Also los. „Auf nach Benghasi“ (An -toine de Saint-Exupéry).

Es war einmal die RevolutionEine politische Reise quer durch den aufgewühlten Maghreb,

vom Atlantik aus in Richtung Orient. Von Alexander Smoltczyk

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Platz der Unabhängigkeit in Tunis: Die Tunesier sind da, wo die Menschen in Libyen, Algerien, Marokko und Ägypten ankommen wollen

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KILOMETER 0: Rabat, FestungRottembourgAutobahnen sind wie Revolutionen. Nie-mand weiß genau, wo sie anfangen undwie sie enden. Im äußersten Westen vonRabat, so nah am Atlantik, dass dieGischt auf den Lippen zu schmecken ist,steht die Festung, wie ein Wall, rostzer-fressen der Kruppstahl, die zwei Eisen-dome über dem Gefechtsstand. Ein deut-scher Ingenieur hat das Fort gebaut, fürden Sultan vor über hundert Jahren, undkeiner hat die Mauern je eingenommen.

Bis auf Saber, den Clown. Saber Abderrahmane wohnt hier mit

seiner Mutter, seiner Familie, hat sich hierniedergelassen und Tomaten gepflanzt.Er rollt die Augen hinter der dicken Bril-le. Dann zieht er die Brauen hoch undhält eine Hand hinters Ohr.

Krieg. Man hört das Stampfen von Stie-feln, Fanfaren, Schüsse, eine Explosion.Jemand brüllt Befehle, Sirenen, Tiefflie-geralarm, taktaktaktak, Krächzen vonFunkgeräten, dann wieder das Kreischender Stukas.

Es ist ein Schlachtengemälde, das Saber der Clown nur mit dem Mund entwirft. Als Kind haben sie ihm einenTumor aus dem Kopf geschnitten. Seither kann Saber jedes Geräusch nach machen. Das Gehörte kommt wieein Echo zwischen seinen Lippen her -aus. Er könnte auftreten, im Fernsehensogar. Aber niemanden interessiert esin Rabat.

Er steht in seiner Festung, 33 Jahre alt,das T-Shirt überm Bauch gespannt undmit einer Aufschrift versehen: „Mouve-ment Populaire“ – Volksbewegung. EinWerbegeschenk. Was hält ein Clown vonall den Rebellionen ringsumher? Saberspitzt den Mund zu einem dunklen Käuz-chenruf.

Ein kleiner Mann gesellt sich hinzu,nickt, hört zu und lächelt.

Saber hat aufgegeben, etwas zu erhof-fen. Was wird sich ändern? Nichts. Wasgibt es zu tun? Nicht viel mehr als nichts.

Saber pfeift gerade ein Vogel-Echo, dakommt, aus dem Nichts, ein Polizist, inscharf gebügelter Uniform. Man habe ihnalarmiert. Er verlangt: „Was machst du?“

„Ich pfeife.“„Für Ausländer? Hast du eine Geneh-

migung?“Nein. Also Schluss mit dem Pfeifen. Es

wird nicht gepfiffen. Marokko hat seineRevolution noch nicht gesehen. Aber sieliegt so nah und ist so unerreichbar wiedie Küste Gibraltars.

KILOMETER 3: Rabat, KönigspalastDer kleine Lächler gehört zu jenem Netzvon Zuträgern, mit dem in Marokko derPalast das Land kontrolliert. Das sind diezerlumpten Parkwächter und Hausmeis-ter, all die Eckensteher, Blockwarte, Kaf-feehausbesucher.

Denn der Souverän herrscht auf zweiArten, schrieb Alexis de Tocqueville:„Den einen Teil der Bürger lenkt er durch

ihre Furcht vor seinen Beamten, den an-deren durch die Hoffnung, seine Beamtenzu werden.“

„Le Palais“ ist die Macht. Der Palaststeht mitten in Rabat, eine Art Campusmit gestutzten Spalierbäumen und demCollège für die Königskinder. Der offi-zielle Name für die Anlage ist Dar al-Makhsen, zu übersetzen etwa mit „Hausder Macht“. Es heißt, Mohammed VI.(„M6“) habe nie sonderlich Lust aufs Amtgehabt, würde lieber mit seinen Autosspielen oder nach Paris jetten. Das ist na-türlich Unsinn, staatsfeindlicher Unsinn.

M6 herrscht souverän, auch wenn inden Straßen selten Bilder von ihm zu sehen sind. Jedes amtlich gesprocheneWort des Königs wird notiert und hat Ge-setzeskraft. Um den Herrscher haben sichmehrere Zirkel gebildet, drei sollen essein, vielleicht auch vier. Ein gutes Dut-zend enger Berater, die das Land steuern.Sie sind in Frankreich ausgebildet wor-den, versehen mit vollendeten Manierenund dem festen Vorsatz, die Macht zu behalten.

In Marokko herrscht die Dreieinigkeit„Gott, Vaterland, König“. Und wenn einjunger Fußballfan meint, „Dieu, Patrie,Barça!“ an eine Wand pinseln zu können,dann muss er eingesperrt werden.

Nachdem sich, vor einem Jahr, in Tu-nesien ein junger Obsthändler verbrannthat, ist das Haus der Macht nervös ge-worden. Es hatte Proteste gegeben, am20. Februar. Zehntausende hatten, in strö-

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Schulkinder in einem Vorort von Rabat: „Die Person des Königs ist unverletzlich, und Ihm ist Respekt geschuldet“

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mendem Regen, die Abset-zung der Regierung verlangt,Reformen, Arbeit. Am liebs-ten eine Monarchie wie inSpanien. Sie nennen sich„Mouvement du 20. Fé-vrier“, kurz: „M20“.

So wurden schnell neueSicherheitsleute rekrutiert,und den alten wurde mehrPräsenz befohlen. Provoka-teure tauchten auf, um dieBürger- und Jugendbewe-gung als Krawallmacher zudiskreditieren. 30 MillionenEuro soll es gekostet haben,die Revolution in Marokkozu unterbinden.

Le Palais ist für alles zu-ständig, auch für etwaige Re-volutionen. „Ich will dieseReform“, erklärte König Mo-hammed ernst und steif beiseiner TV-Ansprache am 9.März und gab sogleich eineneue Verfassung in Auftrag.Und schon am 14. Juli konn-te der Verfassungsrat be-kanntgeben: 98,47 Prozenthätten sich im Referendum für die neueVerfassung ausgesprochen. Der Texthängt an den Kiosken aus. Der Premierwird jetzt aus der stärksten Fraktion er-nannt, nicht mehr nach Gutdünken. Ar-tikel 46 allerdings lautet: „Die Person desKönigs ist unverletzlich, und Ihm ist Res-pekt geschuldet.“

Driss Ksikes sitzt im Weimar-Café desörtlichen Goethe-Instituts, einem Frei-raum mit Alkohollizenz, der von Künst-lern, Spitzeln, Hofbeamten gleicher -maßen gern besucht wird. Ksikes ist Dra-maturg, Autor, Soziologe. Anfang 2007wurde er wegen „Islam-Verhöhnung“verurteilt. Er hatte eine Publikation überden Witz in Marokko herausgegeben.

„Der König glaubte, Autokratie sei bes-ser als Islamismus, und er glaubte, mitseinen Großprojekten das Volk zu beru-higen“, ruft er olivenkauend durch denLärm. „Beides ist schiefgegangen. Dennbeides hat nur die Korruption verstärkt.“

In Marokko ist der Wahlerfolg der Is-lampartei „Gerechtigkeit und Entwick-lung“ (PJD) als Schicksal hingenommenworden. Hassan II., Vater von M6, hatte

in den siebziger Jahren viele Geisteswis-senschaften verboten, aus Angst um seineMacht, und stattdessen Koranlehrer ausÄgypten importiert. So wurden zwei gan-ze Generationen geistig ausgetrocknet.

Der Erfolg der Frommen und derFrömmler ist die späte Folge davon. Ähn-lich wie in Tunesien und Ägypten habensie das Vertrauen der Bildungsfernen undder Landbewohner, jener, die von derModernisierung ausgeschlossen sind.

Autor Ksikes erwartet jetzt ein Bündniszwischen der Islampartei und anderenKonservativen: „Das hieße etwas wenigerKorruption, dafür mehr Haushaltsdiszip-lin. Mehr Gleichheit, weniger Freiheit.“Die Scharia ist in Marokko Grundlagedes Rechtssystems. Jetzt werde sie wohletwas strenger ausgelegt.

Dem König sind die Islamisten durch-aus suspekt. Er ahnt eine andere Machthinter ihnen, die sich nicht leicht durchGeld aufsaugen lässt. Aber Le Palais wirdsich mit ihnen arrangieren.

Egal, sagt Driss Ksikes. Die Bewegungvom 20. Februar habe gezeigt, dass es inMarokko nicht nur Untertanen gibt, son-

dern auch Citoyens: „Eine Bresche hatsich aufgetan. Sie wird sich vergrößern.Vielleicht dauert es fünf Jahre, vielleichtzehn. Die Revolution ist nur vertagt.“

Die Intellektuellen im Land richten sichauf einen Winterschlaf ein. „Der islamis-tische Totalitarismus“ möge nur eineEtappe auf dem Weg zur Demokratiesein, schrieb das unabhängige Wochen-magazin „Telquel“: „Eine Nacht, diedurchquert werden muss, bevor man dasTageslicht sieht.“

Es ist ein eisiger Regen. Die National-straße 6 Richtung Osten führt durch Salé,einen tristen Vorort von Rabat. Hier wur-de 1627 die erste Republik auf afrikani-schem Boden ausgerufen: die freie See-räuber-Kommune Bou Regreg. Heute istdie Stadt eine Festung der strenggläubi-gen Salafisten und wird von Sicherheits-leuten beargwöhnt, als wären die Frei-beuter wieder zurück.

Junge Männer bieten in PlastikbechernNüsse an. Das war die erste Reaktion desPalastes auf die Nachricht, dass sich in Tu-nesien ein Straßenhändler selbst verbrannthatte: Jedem Untertan wurde das Recht

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500 km

MisurataTripolis

Sizilien AthenTunisAnnaba

Sidi Bouzid

Algier

OranGibraltar

Rabat:Start

Sfax:Ende der ersten Etappe

Casa-blanca

Marrakesch

Oujda

BengasiAlexandria

KairoLIBYEN

TUNESIEN

ALGERIEN

MAROKKO

ÄGYPTEN

Sidi BouzidSidi BouzidSidi Bouzid

TUNESIENTUNESIENTUNESIEN

Route der„Transmaghrébine“

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Plakat von Marokkos König Mohammed VI. an der Transmaghrébine: Le Palais ist für alles zuständig

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gegeben, auf dem Pflaster eine Pappe aus-zubreiten und Dinge zu verhökern. Undseien es gebrauchte Schuhe oder Nüsse.

Hunderte Kilometer weit kein Baum,nur Buschwerk und Lehmhütten. DieStraße führt durch fahlgelbe, ausgewa-schene Ebenen immer weiter nach Osten,Richtung Orient. Auch die Proteste habendiese Richtung genommen.

Der arabische Frühling hat dem Volkdie Angst genommen zu sagen, was esdenkt. Und weil sich keiner dem Willendes Volkes in den Weg stellen mag, istaus dem arabischen ein islamischer Früh-ling geworden. Das wird die Erfahrungsein auf dieser Reise, an jeder Etappe derTransmaghrébine, in Tunis, Tripolis, Ben-gasi, Alexandria.

Überall wird die gleiche Sprache ge-sprochen, werden dieselben Sender ge-sehen, überall zeigt sich, nachdem dieAutokraten ihre Chance vertan haben,eine Rückversicherung zur islamisch-ara-bischen Identität. Es ist ein neuer Raumentstanden. Europa wird sich darauf ein-stellen müssen.

KILOMETER 516: Oujda, Grenzpostenvor AlgerienDie Transmaghrébine endet an einigenauszementierten Öltonnen, hinter denensich ein Hund hervorschleppt. Die Wech-selstube ist geschlossen. Es gibt nichts zuwechseln. Die Grenze ist seit 1963 immerwieder gesperrt worden, mal wegen einesGrenzkonflikts, mal wegen der Befrei-ungsbewegung Polisario, zuletzt wegeneines Attentats in Marrakesch.

Marokko und Algerien sind verfeindeteBruderstaaten.

Ein „Café l’Etape“ betreibt an einemSandwall unmittelbar an der Staatsgrenzeeine Kart-Rennbahn. „Weiter im Nordengibt es eine Stelle, wo wir uns zuwinkenkönnen“, sagt die Wirtstochter. Sie hatFamilie auf der anderen Seite. „Sonst fah-ren wir nach Casablanca und fliegen vondort nach Oran. C’est normal.“ Es ist dieNormalität Berlins vor dem Mauerfall.

In Oujda, der Grenzstadt, gibt es einenmodernen Flughafen und eine städtischeKunstgalerie, in der ein Foto des Königshängt. Die Ampeln sind in französischemDesign, die Cafés voll. Alles ist bereit.Oujda wartet auf die Öffnung. Oder aufden Zusammenbruch der Regierung, aufder anderen Seite.

Drüben, jenseits der Grenze, glaubt dasRegime, seine Umstürze schon hinter sichzu haben. „Revolution“ ist etwas für Mi-litärparaden und Ansprachen steifhüftigerFührer, kein Begriff der Gegenwart. Dieehemaligen Unabhängigkeitskämpfer ge-gen Frankreich sind sehr reich geworden.Sie wissen, was sie zu verlieren haben.Sie wissen auch, wie man ein Regime zuFall bringt. Und passen deshalb auf.

Schon Anfang Januar hat es überall imLand einen Aufstand gegeben. Gegen dieTeuerung zuerst, dann schnell gegen dasSystem. Das System musste gepanzerteFahrzeuge gegen die Barrikaden der Ju-gendlichen auffahren, es gab Tote. Dannwurden die Preiserhöhungen zurückge-nommen.

Das Land jenseits der Grenze hat vielBlut gesehen. Im Befreiungskrieg bis1962, bei den Brotaufständen 1988, imBürgerkrieg in den neunziger Jahren. Algerien hat als einziges Maghreb-Land

auch früh schon Erfahrungenmit Wahlen gemacht, bei de-nen sich eine Mehrheit fürIslamisten abzeichnete. Dar -aufhin übernahm das Militärdie Macht.

„Algerien hat einen ho-hen Preis gezahlt, mit Tau-senden Toten, und hat sichvon dieser Situation nochnicht vollständig erholt. Waswill die algerische Gesell-schaft? Stufe um Stufe in dieHölle hinabsteigen?“ Dassagte der Premierminister,Ahmed Ouyahia, im Wissen,wie lebendig die Erfahrungdes Bürgerkriegs noch ist.

Jenseits der Grenzstation,hinter Olivenbäumen und einer Schafherde, ragt ausdem Nichts heraus einefrischasphaltierte Autobahn,am Rande abgerissen, dochkomplett mit Randstreifenund Hinweisschildern. Es istdie Transmaghrébine, einla-dend und unzugänglich, undwie zum Trotz um einige

hundert Meter versetzt zum marokkani-schen Stück.

In der Botschaft Algeriens gab es, „lei-der, Monsieur, vielleicht später einmal“,auch kein Visum, weil die Berufsbezeich-nung Journalist im Pass vermerkt war.Die Reise überspringt also, trotz breitasphaltierter Straße, Oran, Algier undAnnaba, die Orte des Albert Camus. Dasist schade. Auch die Rebellionen im Früh-ling haben das Land ausgespart.

Vielleicht bis später einmal.

KILOMETER 1944: Tunis, „Quartierde la Révolution“Die gelernte Chefsekretärin Latifa Char-ny wurde vor 49 Jahren in St. Etienne ander Loire geboren, verliebte sich in einenJungen und wurde deshalb von der Fa-milie zurückverheiratet nach Tunesien.Sie wehrte sich nicht, sondern lernte diearabischen Wörter für Ziege und Wasserund Mann.

Jetzt, sieben Kinder, 32 Jahre und vieleGebete später, steht sie an einer Einfalls-straße vor Tunis, nordwestlich der Stadt:„Regardez, schauen Sie nur“, sagt LatifaCharny.

Auf flachem steinigem Feld stehen eini -ge Dutzend Behausungen, zusammenge-fügt aus Blech, Paletten, Ziegeln und Plas-tik. Die Bewohner sind im Durcheinanderder Rebellion vom Vermieter aus ihrenWohnungen geworfen worden. Keinerfühlt sich seither zuständig.

Sie haben ihr Bidonville „Thaura“ ge-nannt, Revolution, im Glauben, dass sichdann schneller etwas ändern muss. ElfMonate später ist der Gouverneur ausge-wechselt, das Rathaus umbesetzt, nur sie

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Kampfhammel, Rauchende in Tunis: Sie warten und haben vergessen, worauf

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hocken noch auf dieser rötlichen Brache.Strom gibt es nicht, das Wasser kaufensie bei einer Baustelle und schleppen esin Eimern heran. Unter der Petroleum-funzel in einem Bretterverschlag liegt einNeugeborenes auf der Matratze. Es istdrei Tage alt.

Die Tunesier waren die Pioniere desarabischen Frühlings. Sie sind die Ersten,die eine frei gewählte Regierung haben,einen Menschenrechtler als neuen Präsi-denten. Sie sind da, wo die Menschen inLibyen, Algerien, Marokko und Ägyptenerst noch ankommen wollen.

Für wen mag eine Frau gestimmt ha-ben, die mit 17 Jahren von der eigenenFamilie zum Ziegenhüten entführt wor-den ist und jetzt mit ihrem lungenkran-ken Mann und sieben Kindern in einerBretterbude haust? „Ich?“, fragt Latifa Charny, „ich habe

für den Islam gestimmt.“Also für dessen weltlichen Ausdruck,

die jahrelang verbotene Nahda-Bewe-gung. Als Einzige seien sie im „Thaura“-Viertel vorbeigekommen: „Sie geben unsHoffnung.“

37 Prozent für die Nahda-Partei in Tunesien, 27 Prozent für die PJD in Ma-rokko, etwa 40 Prozent für die Muslim-bruderschaft bei ersten Teilwahlen inÄgypten. Es ist ein Islamismus, der aufWahlen setzt, weil er sie nicht verlierenkann.

Dialektik der Aufklärung: In allenMaghreb-Staaten ist der arabische Früh-ling zur Erntezeit der Islamisten gewor-den, nicht zur Blüte westlicher Zivilge-sellschaft.

Aber Revolutionen können sich langhinstrecken. Zhou Enlai, der Gefährtevon Mao, wurde 1971 von US-PräsidentRichard Nixon gefragt, wie die Franzö -sische Revolution den Westen veränderthabe. Als Antwort von Zhou wird kol-portiert: „Es ist noch zu früh für ein Urteil.“

KILOMETER 1980: Karthago, „Villa Didon“„Die Revolution ist wie ein Kind. Du wartest jahrelang, bis es endlich klappt.Dann wird es geboren, und du merkst, esist behindert, hat das Down-Syndrom.Erst bist du verzweifelt. Und dann liebstdu es trotzdem. Weil es so voller Lebenist.“

Die Schauspielerin Nadia Boussetta hatdas Profil der Göttin Athene und ist sehrwütend. Ihr Satz über das Kind Revolu -tion kommt am Ende eines Abends, hochoben über der Bucht von Karthago, imschicksten Treff der Stadt, am Ende eineslangen zornigen Monologs über das An-cien Régime, die Unfähigkeit der Linkenund die Manipulationen des Systems.

Ihre Eltern haben an Nasser geglaubtund an die arabische Einheit. Sie machtihnen den Vorwurf, nicht gemerkt zu ha-ben, wie die Bevölkerung in Armut fest-

steckte. „Wir wussten nichts vom Volk“,sagt sie und ist in die erste Person Pluralgerutscht.

Mehr als hundert neue Parteien sindentstanden, darunter etliche, die kaummehr als Ein-Mann-Bewegungen sind.Ein Exil-Tunesier, Hachemi Hamdi, mach-te von London aus Wahlkampf, mit Hilfeseines eigenen Fernsehsenders. Er warein Freund des gestürzten Alleinherr-schers Ben Ali. Jetzt ist er Freund der Is-lampartei. Man nennt ihn „la girouette“,den Wetterhahn. Aber seine Fraktion istdie drittstärkste im neuen Parlament.„Wie kann das sein?“ Boussetta hat

vom ersten Tag an mitdemonstriert. Siehat ein Dossier über die Folterkeller her -ausgegeben. Sie ist bei jeder Frauendemodabei, wenn es darum geht, gegen diebarbus anzugehen. Leider haben die Bär-tigen die Wahl gewonnen. „Ich kämpfe“, sagt sie und zieht an ei-

ner langen Zigarettenspitze. „Wenn mei-ne sechsjährige Tochter später einmalnicht das Recht auf die Pille, auf Abtrei-bung, auf Scheidung haben würde, würdeich mich schämen.“

Und wenn ihre Tochter in einigen Jah-ren den Schleier tragen möchte?„Das. Wird. Nicht. Passieren.“

KILOMETER 1991: Tunis, Kasbah-ViertelIn den Rinnsteinen der Altstadt stehtnoch rot das Blut, mit Zigarettenkippendarin, auf den Plätzen kleben Blut undHaarreste, Schädel und Klauen kokelnauf selbstgebastelten Rosten, manchmalnur mit Müll befeuert. Es ist der Tag nachdem Opferfest. Die Straßen sind voll vondem Gestank verbrannten Fleisches.

Die Wahlplakate sind wieder entferntund an den Mauern nur die schwarzenRaster zurückgeblieben. Wie eine Reihevon Kreuzen sieht es aus. Wahlen sinddie Friedhöfe der Revolutionen. KönnteChe Guevara gesagt haben.

Entlang der Straße sind mehr Fußball-Graffiti zu sehen als Polit-Parolen. Je-mand erzählt, die Rebellion habe in denStadien begonnen, vor zwei Jahren be-reits. Die Prügeleien der Fans mit der Polizei waren das Vorzeichen, das Aus-buhen der Staatsvertreter. Auch die Netz-werke im Internet, die Verabredungen

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Markt in Sidi Bouzid: Es ist nicht in Ordnung, dass Diplomierte auf den Olivenfeldern ackern

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über Facebook. Alles war schon da, inder Fanszene.

In einem der Cafés an der Kasbah steht,an einen Tisch angeleint, ein Kampfham-mel mit gewaltigen Testikeln. Junge Män-ner necken ihn aus Langeweile, wackelnmit dem Unterleib wie Matadore. Einejunge Frau geht vorbei, stolz, mit Son-nenbrille und offenem Haar. Ob sie dasin ein paar Jahren noch tun können wird? „Nein.“ Najmeddin Mokhrani würde es ihr

nicht verbieten, aber: „Die Gesellschaftwird eine andere sein. Diese Frau wirdsich freiwillig anders kleiden.“

Mokhrani weiß vielleicht mehr überdie Zukunft als andere. Nicht, weil er„den Weg“ gefunden hat. Sondern weilihm die Zukunft gehört. Seine Leute ha-ben die Wahlen gewonnen. Mokhrani istIslamist, und das sei auch gut so.„Der Islam ist eine Stimme, keine Ideo-

logie, keine Politik.“Mokhrani ist ein 30-Jähriger mit Lach-

falten um die Augen, früher, sagt er, seier einmal der Obergauner des Viertels gewesen. Er kennt Europa, war mit einer

Holländerin verheiratet, in Amsterdam:„Die Schwiegermutter wollte mich nicht.“Obwohl er damals noch keinen Bart trug.

Sein Idealland, sagt er, wäre Katar.Oder Malaysia. Nicht die verwestlichteTürkei, nicht Dubai.

Während der 30-Jährige gut gelauntüber die Scharia plaudert, über das Ver-bot von Alkohol, das sich bald durchset-zen werde, wird ein Gast am Nebentischzunehmend nervös. Offenbar ein Jugend-freund, aus demselben Viertel. Schließlichhält er es nicht mehr aus und mischt sichein: „Okay, Najmeddin, und was ist mitSteinigungen? Würdest du da auch mit-machen?“ „Nein.“„Gut, aber wärst du dafür?“„Ich kann nicht dagegen sein. So steht

es geschrieben.“Mokhrani gehört zur Nahda-Partei, die

im Westen als Vertreter eines gemäßigtenIslamismus gilt.

KILOMETER 2217: Sfax, Abzweigung nach Sidi BouzidSfax ist eine Hafenstadt, in deren Hotelsitalienische Geschäftemacher, Matrosen,Schmuggelbarone und heimatlose Gad-dafi-Anhänger vor ihrem Bier sitzen. Ausirgendwelchen Gründen ist Sfax auch diePartnerstadt von Marburg in Mittelhessen.Eine Marmortafel erinnert daran, feier-lich, deutsch und mit mangelhafter Or-thografie.

Von Sfax aus führt eine schmale Land-straße an den üblichen Reifenshops vor-bei Richtung Sidi Bouzid: Werkstätten,grobgemauerte Lagerhallen und trostloseCafés.

Und überall diese jungen Männer mitihrer übergroßen Sonnenbrille, ihrer bil-ligen Lederjacke und der Fußballerfrisur.Sie lehnen an Bäumen, hängen auf denschmutzigen Plastikstühlen an der Stra-ße, stehen reglos rauchend auf den Plät-zen. Giacomettihafte Gestalten. Dutzen-de, Tausende. Sie gehören zum Land-schaftsbild. Sie stehen da in Fès und inTunis und Misurata, und sie stehen im-mer noch da in Bengasi und den elendenVororten von Kairo. Sie warten und ha-ben darüber vergessen, worauf. Etwasmüsste passieren. Aber auch das Umwäl-zendste, was passieren könnte, ist schonpassiert, die Revolution, und sie stehenimmer noch da.

Unter den ersten Bäumen sind schonPlanen ausgebreitet. Bald ist wieder Oli-venernte, wie damals, am Nachmittag des17. Dezember 2010, als Mohammed Boua-zizis Mutter auf dem Feld war und dieNachricht bekam, ihr Sohn sei mitschwersten Verbrennungen ins Kranken-haus von Sfax gebracht worden.„Der Märtyrer Mohammed Bouazizi,

geboren am 29. 3. 1984, gestorben am 4.1. 2011“. Das steht auf dem Grabstein, 20Kilometer außerhalb der Stadt. Daneben

ein leerer Fahnenhalter. Hier fing allesan. Hier endete es, jedenfalls für den da-mals 26-jährigen Mohammed Bouazizi.

Ein Jahr danach sagt jeder in Sidi Bou-zid, dass es eigentlich nur „ein verdamm-ter Unfall“ war: Rochdi etwa kannte denObsthändler. „Mohammed war nicht de-pressiv, er kam gut über die Runden. Eswar nur so ungerecht, dass man ihm seineWaage und die Waren weggenommenhatte.“

Das sagt Rochdi, ein 35-Jähriger, derlange in Lausanne gelebt hat und sich wieein Verdurstender auf jeden Fremdenstürzt.

Mohammed Bouazizi hatte mit demGouverneur reden wollen. Er kippte sichBenzin über den Kopf und hielt ein Feu-erzeug in die Luft. Vielleicht hat er nurgedankenlos mit dem Reibrad gespielt.Jedenfalls stand er plötzlich in Flammen.

Rochdi und zwei Freunde stellten einenClip auf Facebook. Jemand wusste voneiner Ohrfeige durch eine Frau vom Ord-nungsamt, jemand erklärte, Bouazizi seieigentlich Akademiker, wie viele in sei-ner Situation. „Na ja“, sagt Rochdi. „Esstimmte so nicht.“ Aber es wirkte. Funkeist Funke. Und diesmal war die Entzün-dung gewollt.

Die gelb-roten Gehwegfliesen vor demGouverneurssitz zeigen keine Brandspu-ren mehr, keine Tafel erinnert an denMärtyrer, nur ein paar Graffiti feiern den„Platz Bouazizi“. Und alle Straßenlater-nen der Hauptstraße sind zertrümmert.Aber das war schon die erste postrevolu-tionäre Rebellion, als nach den Wahleneinige tausend Enragés die Polizeistationangriffen und den Sitz der Islampartei.

Es war ein regionalistischer Protest:„Viele fürchten, dass jetzt die guten Pos-ten wieder an die Politiker in Tunis undan der Küste gehen. Und uns wiedernichts bleibt.“

Die Leute in Sidi Bouzid hungern nicht.Der Boden ist fruchtbar. Aber es ist nichtin Ordnung, dass die Oliven und Trocken-tomaten für einige Cent nach Sizilien ver-ramscht werden, um sich dort in italieni-sche Antipasti zu verwandeln. Es ist nichtin Ordnung, dass diplomierte Menschenauf den Olivenfeldern ackern müssen.

Was wollt ihr? „Unsere Würde“, sagt Rochdi. Konkret?„Eine asphaltierte Zufahrtsstraße, eine

neue Konservenfabrik und die korrekteErfassung der Parzellen durch das Katas-teramt.“

Revolutionen mögen manchmal dum-me Veranstaltungen sein. Noch dümmersind diejenigen, die es zu Revolutionenkommen lassen.

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Im nächsten Heft:Von Tripolis über Sirte nach Bengasi:Überlebende, Kämpfer und Märtyrer imbefreiten Libyen