Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen...

9
Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Seite 1 von 9 Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Eine Diskussionsgrundlage zur klimapolitischen Debatte Stand: Februar 2019 Etwa die Hälfte aller energiebedingten Treibhausgasemissionen in Deutschland sind der Energiewirtschaft zuzuschreiben [1]. Die Reduktion dieses Bestandteils ist schon seit Jahren ein zentraler Baustein der energiepolitischen Agenda zur Erreichung der Pariser Klimaschutzziele. Der Ausbau der Erneuerbaren Energien stellt dabei nur eine Maßnahme zur Reduktion der Emissionsintensität von Strom dar. Darüber hinaus gilt es den bestehenden, fossilen Kraftwerkspark in Einklang mit den Emissionsreduktionszielen zu bewirtschaften. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei dem Ausbau von Windturbinen und Photovoltaikanlagen um einen Prozess handelt, der mit verschiedenen Systemanpassungen wie beispielsweise einem adäquaten Netzausbau einhergeht, wird dieser Umbau nicht von heute auf morgen geschehen. Der fossile Kraftwerkspark wird noch über viele Jahre einen sinkenden, aber bedeutsamen Anteil an der Stromerzeugung haben. Aufgrund der deutlichen Unterschiede in den Emissionsfaktoren der verfeuerten Brennstoffe und der unterschiedlichen Nutzungsgrade der Kraftwerke ist es aus Emissionssicht nicht unerheblich, welche Brennstoffe und Kraftwerkstypen zum Einsatz kommen. Zentral ist an dieser Stelle das Prinzip der „Merit-Order“, der sogenannten Reihung nach Wert. Bei der Merit-Order der Stromerzeugung handelt es sich um eine Aneinanderreihung der Kraftwerkskapazitäten nach Grenzkosten. In einem perfekten, liberalisierten Markt könnte der Einsatz der Kraftwerke durch einen senkrechten Schnitt auf Höhe der Residuallast (Stromnachfrage minus Erzeugung aus fluktuierenden Erneuerbaren) des jeweiligen Zeitpunktes bestimmt werden. Der reale Strommarkt sieht jedoch anders aus: Technische Restriktionen, Eigenverbrauchsoptimierungen, Verfeuerung von Abfall oder Reststoffen, Deckung von Fernwärmebedarfen sowie regulatorische Anreize (z. B. vermiedene Netznutzungsentgelte oder die Förderung nach KWK-Gesetz) führen zu einem Kraftwerkseinsatz, der nicht allein durch den Grenzkostenansatz des Merit-Order-Prinzips zu erklären ist. Nichtsdestotrotz besitzt die Merit-Order als Erklärung für die grundsätzliche Funktionsweise des Strommarkts ihre Gültigkeit. So auch zur nachfolgenden Analyse von regulatorischen Eingriffen mit dem Ziel einer Treibhausgasminderung der Stromerzeugung. Zur Einhaltung der Klimaziele sind häufig Instrumente zur Erhöhung der Kosten für die Emission einer Tonne CO2 im Gespräch. Für eine Umsetzung sind verschiedene Wege denkbar und finden teilweise in anderen europäischen Ländern bereits Anwendung: Anpassung der Zertifikatpreise des EU ETS (European Union Emissions Trading System) durch eine Verknappung der im Umlauf befindlichen Zertifikatsanzahl Ein europäischer CO2-Mindestpreis Eine nationale CO2-Steuer/-Abgabe All diese Ansätze zielen im Kern darauf ab, die Zertifikatspreise zu erhöhen, um eine stärkere CO2- Reduktion herbeizuführen. Während sich die Preise im Zeitraum von 2015 bis 2017 in der Größenordnung 5-10 €/t bewegten, ließ sich in 2018 eine Steigerung auf im Mittel 16 €/t beobachten. Die Ursache dieses Preisanstiegs liegt hauptsächlich in der im November 2017 vom Europäischen Rat und Parlament verabschiedeten Reform des EU ETS für die vierte Handelsperiode. Die Reform sieht

Transcript of Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen...

Page 1: Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Seite 2 von 9 u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Seite 1 von 9

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Eine Diskussionsgrundlage zur klimapolitischen Debatte

Stand: Februar 2019

Etwa die Hälfte aller energiebedingten Treibhausgasemissionen in Deutschland sind der

Energiewirtschaft zuzuschreiben [1]. Die Reduktion dieses Bestandteils ist schon seit Jahren ein

zentraler Baustein der energiepolitischen Agenda zur Erreichung der Pariser Klimaschutzziele. Der

Ausbau der Erneuerbaren Energien stellt dabei nur eine Maßnahme zur Reduktion der

Emissionsintensität von Strom dar. Darüber hinaus gilt es den bestehenden, fossilen Kraftwerkspark in

Einklang mit den Emissionsreduktionszielen zu bewirtschaften. Vor dem Hintergrund, dass es sich bei

dem Ausbau von Windturbinen und Photovoltaikanlagen um einen Prozess handelt, der mit

verschiedenen Systemanpassungen wie beispielsweise einem adäquaten Netzausbau einhergeht, wird

dieser Umbau nicht von heute auf morgen geschehen. Der fossile Kraftwerkspark wird noch über viele

Jahre einen sinkenden, aber bedeutsamen Anteil an der Stromerzeugung haben. Aufgrund der

deutlichen Unterschiede in den Emissionsfaktoren der verfeuerten Brennstoffe und der

unterschiedlichen Nutzungsgrade der Kraftwerke ist es aus Emissionssicht nicht unerheblich, welche

Brennstoffe und Kraftwerkstypen zum Einsatz kommen. Zentral ist an dieser Stelle das Prinzip der

„Merit-Order“, der sogenannten Reihung nach Wert. Bei der Merit-Order der Stromerzeugung handelt

es sich um eine Aneinanderreihung der Kraftwerkskapazitäten nach Grenzkosten. In einem perfekten,

liberalisierten Markt könnte der Einsatz der Kraftwerke durch einen senkrechten Schnitt auf Höhe der

Residuallast (Stromnachfrage minus Erzeugung aus fluktuierenden Erneuerbaren) des jeweiligen

Zeitpunktes bestimmt werden. Der reale Strommarkt sieht jedoch anders aus: Technische

Restriktionen, Eigenverbrauchsoptimierungen, Verfeuerung von Abfall oder Reststoffen, Deckung von

Fernwärmebedarfen sowie regulatorische Anreize (z. B. vermiedene Netznutzungsentgelte oder die

Förderung nach KWK-Gesetz) führen zu einem Kraftwerkseinsatz, der nicht allein durch den

Grenzkostenansatz des Merit-Order-Prinzips zu erklären ist. Nichtsdestotrotz besitzt die Merit-Order

als Erklärung für die grundsätzliche Funktionsweise des Strommarkts ihre Gültigkeit. So auch zur

nachfolgenden Analyse von regulatorischen Eingriffen mit dem Ziel einer Treibhausgasminderung der

Stromerzeugung.

Zur Einhaltung der Klimaziele sind häufig Instrumente zur Erhöhung der Kosten für die Emission einer

Tonne CO2 im Gespräch. Für eine Umsetzung sind verschiedene Wege denkbar und finden teilweise in

anderen europäischen Ländern bereits Anwendung:

Anpassung der Zertifikatpreise des EU ETS (European Union Emissions Trading System) durch

eine Verknappung der im Umlauf befindlichen Zertifikatsanzahl

Ein europäischer CO2-Mindestpreis

Eine nationale CO2-Steuer/-Abgabe

All diese Ansätze zielen im Kern darauf ab, die Zertifikatspreise zu erhöhen, um eine stärkere CO2-

Reduktion herbeizuführen. Während sich die Preise im Zeitraum von 2015 bis 2017 in der

Größenordnung 5-10 €/t bewegten, ließ sich in 2018 eine Steigerung auf im Mittel 16 €/t beobachten.

Die Ursache dieses Preisanstiegs liegt hauptsächlich in der im November 2017 vom Europäischen Rat

und Parlament verabschiedeten Reform des EU ETS für die vierte Handelsperiode. Die Reform sieht

Page 2: Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Seite 2 von 9 u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Seite 2 von 9

u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung des linearen Reduktionsfaktors

von 1,74 auf 2,2 % vor und zielt damit auf eine deutlich schnellere Verknappung der ausgegebenen

Emissionszertifikate ab.

Als alternative Maßnahme zur Emissionsreduktion ist seit langem ein Kohleausstieg im Gespräch

gewesen, der eine schrittweise, gesetzlich vorgegebene Außerbetriebnahme von Kohlekraftwerken

beinhaltet. Auch hier hat sich im Laufe des Jahres 2018 einiges getan, so dass Ende Januar 2019 die

von der Bundesregierung beauftragte Kohlekommission einen Kohleausstieg bis in das Jahr 2038 als

Empfehlung ausgesprochen hat [2].

Mit einem Blick auf die Emissionen nach Merit-Order wird deutlich, wieso diese Maßnahme aus Sicht

des Klimaschutzes durchaus seine Berechtigung hat. In Abbildung 1 wird durch die Gegenüberstellung

der Merit-Order nach Grenzkosten und den dazugehörigen Emissionsfaktoren der Kraftwerke das

Emissions-Dilemma der Merit-Order verdeutlicht. Die Berechnung der Grenzkosten und der CO2-

Emissionsfaktoren der Stromerzeugung basiert auf den brennstoffbezogenen Emissionsfaktoren aus

[3] sowie den Brutto-Wirkungsgraden, Brennstoff- und CO2-Kosten aus dem Projekt „Dynamis“ [4].

Abbildung 1: Gegenüberstellung der Merit-Order nach Grenzkosten mit den energie- und

betriebsbedingten CO2-Emissionsfaktoren der Kraftwerke im Jahr 2015; Anmerkung:

Analog zu den Grenzkosten werden auch die Emissionen, die im KWK-Betrieb anfallen,

gänzlich der Stromerzeugung zugeschrieben1. Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank

Werden die rein betriebsbedingten Emissionen betrachtet, so zeigt sich, dass – mit Ausnahme der

Kernenergie – emissionsintensive Brennstoffe aufgrund ihrer niedrigen Grenzkosten bevorzugt zur

Stromerzeugung eingesetzt werden. Selbst hocheffiziente Gas- und Dampfturbinenkraftwerke (GuD)

1 Es ist zu beachten, dass nur die energiebedingten CO2-Emissionen im Betrieb berücksichtigt werden, nicht jedoch Emissionen, die für die Brennstoffbereitstellung und die Infrastruktur anfallen. Da in der klassischen Merit-Order-Darstellung die Grenzkosten von Kraft-Wärme-Kopplungs (KWK)-Anlagen nicht auf die Energieträger Strom und Wärme aufgeteilt werden, erfolgt aus Konsistenzgründen auch für die Darstellung der Emissionen keine Allokation auf die Koppelprodukte. Hierdurch erklären sich die hohen Emissionen am Ende der jeweiligen Brennstoffgruppen.

Kraftwerkskapazität in GW

Gre

nzkoste

n in €

/MW

hS

pezifis

che E

mis

sio

nen in g

/kW

h

Page 3: Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Seite 2 von 9 u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Seite 3 von 9

kommen nach Merit-Order-Prinzip erst nach emissionsintensiveren Steinkohlekraftwerken zum

Einsatz. Besteht kein weiterer Betriebsanreiz, wie beispielsweise die Versorgung eines

Fernwärmenetzes, können die in den letzten Jahren zurückgehenden Residuallasten auf unter

max. 67 GW (2017) dazu führen, dass diese Kraftwerke aufgrund sinkender Betriebsstunden und

Deckungsbeiträge häufig nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden können. Ein prominentes Beispiel

stellt das GuD Irsching dar. In Anbetracht der verhältnismäßig geringen spezifischen Emissionen dieses

Kraftwerkstyps ist die Motivation für einen regulatorischen Eingriff aus klimapolitischer Sicht gegeben.

Denn auch in Zukunft (siehe Abbildung 2 und Abbildung 3) stellt sich, mit der hinterlegten

Brennstoffpreisentwicklung und einer angenommenen Steigerung der mittleren Zertifikatspreise von

7,6 €/t in 2015 auf 20,1 €/t in 2020 und 41,8 €/t in 2030, noch kein vollständiger Tausch der

Brennstoffe Kohle und Gas (ein sogenannter „Fuel-Switch“) ein. Jedoch lässt sich bereits eine

Verschiebung der Braun- und Steinkohlekraftwerke in der Merit-Order beobachten.

Abbildung 2: Gegenüberstellung der Merit-Order nach Grenzkosten mit den energie- und

betriebsbedingten CO2-Emissionsfaktoren der Kraftwerke im Jahr 2020 für das

„Dynamis Startszenario“ [4]; analog zu Abbildung 1 findet keine Allokation der Kosten

und Emissionen aus dem KWK-Betrieb statt. Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank

Für das Jahr 2020 ist zu erkennen, dass der CO2-Zertifikatspreis von 20,1 €/t zu einer deutlichen

Angleichung der Grenzkosten zwischen gas- und kohlebefeuerten Kraftwerke führt. Obwohl kein „Fuel-

Switch“ stattfindet, ist herauszustellen, dass sich die Deckungsbeiträge annähern und vor dem

Hintergrund stärker fluktuierender Residuallasten die frühere Grundlast-Charakteristik der

Kohlekraftwerke nicht mehr für alle Erzeugungseinheiten gegeben ist. Der Vergleich zur Merit-Order

des Jahres 2030 zeigt, dass die Außerbetriebsetzungen besonders alter kohlegefeuerter Anlagen im

Zeitraum 2020 bis 2030 sinnvoll erscheint, da diese unter den getroffenen Annahmen höhere

Grenzkosten als effiziente GuD-Kraftwerke hätten. Würden Sie nicht außer Betrieb genommen,

gelängen sie in einen Betriebsbereich, für den diese Kraftwerkstypen aufgrund der zahlreichen An- und

Abfahrvorgänge nur begrenzt geeignet sind.

Page 4: Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Seite 2 von 9 u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Seite 4 von 9

Abbildung 3: Gegenüberstellung der Merit-Order nach Grenzkosten mit den energie- und

betriebsbedingten CO2-Emissionsfaktoren der Kraftwerke im Jahr 2030 für das

„Dynamis Startszenario“ [4]; analog zu Abbildung 1 findet keine Allokation der Kosten

und Emissionen aus dem KWK-Betrieb statt. Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank

Vor- und Nachteile der CO2-Reduktion im Stromsektor durch einen

CO2-Preis im Vergleich zu einem Kohleausstieg

Wie eingangs erläutert, bestehen verschiedene Ansätze, um einen emissionsreduzierten Einsatz des

fossilen Kraftwerksparks anzureizen. Mögliche Konsequenzen der beiden Strategien „CO2-Preis“ und

„Kohleausstieg“ werden im Folgenden anhand ihrer Auswirkungen auf die Merit-Order diskutiert.

Vereinfachend werden die verschiedenen Möglichkeiten zur Festsetzung der Kosten für eine emittierte

Tonne CO2, wie bspw. ein nationaler Mindestpreis oder eine CO2-Steuer, als „CO2-Preis“

zusammengefasst.

CO2-Preis:

Ausgehend von dem Startszenario aus dem Projekt „Dynamis“ mit einem CO2-Preis von 41.8 €/t im

Jahr 2030 zeigt Abbildung 3, wie sich die Merit-Order bei einer Erhöhung des CO2-Preises auf 60 €/t

bzw. 90 €/t verschiebt. Dabei ist zu beachten, dass die Analysen aus dem Projekt „MOS 2030“ [5]

zeigen, dass im Jahr 2030 Residuallasten größer als 50 GW nur an weniger als 500 Stunden im Jahr zu

erwarten sind. Werden Im- und Exporte mitberücksichtigt, so reduziert sich dieser Wert auf unter

10 Stunden. Um Gaskraftwerken einen nennenswerten Anteil an der Stromerzeugung nach Merit-

Order zu ermöglichen, wäre somit eine weitere Erhöhung des CO2-Preises nötig. So tauschen bei 60 €/t

bereits ein Teil der Kohle- und Gaskraftwerke ihre Positionen in der Merit-Order. Bei einer weiteren

Erhöhung des CO2-Preises auf 90 €/t stellen GuD-Kraftwerke die Technologie mit den niedrigsten

Grenzkosten dar.

Die CO2-Preiserhöhung hat gleichzeitig den Effekt, dass die Steigung der Merit-Order-Kurve im linken

und mittleren Bereich abflacht. Aufgrund des Preisbildungsmechanismus des einheitlichen

Page 5: Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Seite 2 von 9 u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Seite 5 von 9

Markträumungspreises am Strommarkt führt dies zunächst zu sinkenden Deckungsbeiträgen (DB) der

Kohlekraftwerke, wie es in der schematischen Darstellung in Abbildung 4 für eine erzeugende

Kapazität von 30 GW beispielhaft dargestellt ist. Daher ist es wahrscheinlich, dass ein Teil der

Kohlekraftwerke bei steigenden CO2-Preisen noch vor dem eigentlichen „Fuel-Switch“ aus dem Markt

fallen, da die gegenüber anderen Kraftwerkstypen verhältnismäßig hohen Fixkosten nicht mehr

gedeckt werden können. Zudem führt ein Abflachen der Merit-Order zu einer Verringerung der

typischen Preisunterschiede im zeitlichen Verlauf („Spreads“) und damit zu niedrigeren Anreizen für

den Betrieb von klassischen Strom- zu Strom-Speichern wie beispielsweise Pumpspeicherkraftwerken.

Diese These gilt jedoch nur so lange, bis Erneuerbare an vielen Stunden im Jahr zu den preissetzenden

Einheiten werden. Analysen aus dem Projekt Dynamis zeigen jedoch, dass dies im europäischen

Kontext selbst bei einem EE-Anteil von über 80 % nur an weniger als 1000 Stunden im Jahr der Fall sein

wird.

Ein großer Vorteil des CO2-Preises besteht in der Marktorientierung und Kraftwerksneutralität, da kein

direktes Betriebsverbot für einzelne Betreiber gilt, sondern der Eingriff über ein Preissignal im

bestehenden Markt erfolgt. Eine kosteneffiziente Marktlösung wird damit ermöglicht. Jedoch gilt es zu

beachten, dass nach aktuellem Marktdesign die Grenzkosten des letzten, laufenden Kraftwerks

preissetzend sind. Dies bedeutet, dass eine Erhöhung des CO2-Preises auch mit einer

Strompreissteigerung einhergeht. Gegenläufig würde durch diesen Effekt die EEG-Umlage sinken, da

die Erneuerbaren bei ihrer Vermarktung höhere Erlöse erzielen und die durch die EEG-Abgabe zu

schließende Lücke zur zugesicherten Förderung verringert wird. Um eine Netto-Kostensteigerung für

den Stromendkunden zu vermeiden, müsste ein Rückfluss der staatlichen Erlöse durch den CO2-Preis

in den Strommarkt gewährleistet sein. Dies kann beispielsweise durch eine entsprechende Reduktion

der Stromsteuer oder anderer Abgaben und Umlagen geschehen.

Würde es sich um eine nationale CO2-Abgabe handeln, würden ausländische Kraftwerke einen

Kostenvorteil am europäischen Strommarkt sehen und damit Strom aus CO2-intensiver Erzeugung im

Ausland für den deutschen Markt attraktiver werden. Die Einsatzzeiten von Kraftwerken im Inland

würden entsprechend abnehmen. Ein Teil der Emissionen wäre aus europäischer Sicht nur verlagert.

Erfolgt die Erhöhung des CO2-Preises außerhalb des EU ETS, z. B. durch eine CO2-Steuer, ist zudem die

Wechselwirkungen dieses Instruments mit den Mechanismen des EU ETS zu berücksichtigen. So

könnte eine CO2-Steuer zunächst zu sinkenden Zertifikatspreisen führen und damit der

emissionsmindernde Effekt abgeschwächt werden.

Page 6: Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Seite 2 von 9 u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Seite 6 von 9

Abbildung 4: Effekt einer Erhöhung des CO2-Preises auf die Merit Order im Jahr 2030; analog zu

Abbildung 1 findet keine Allokation der Kosten und Emissionen aus dem KWK-Betrieb

statt. Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank

Kohleausstieg:

Im Gegensatz zu einer Veränderung der CO2-Bepreisung, welche sich auf die Höhe der Grenzkosten

auswirkt und damit zu einer Neuordnung der Kraftwerksreihenfolge führt, wirkt sich ein Kohleausstieg

ausschließlich auf die installierten Kraftwerkskapazitäten aus. Das Ziel dieser Maßnahme ist – analog

zu einem CO2-Preis – eine Verschiebung emissionsärmerer Kraftwerke nach links in der Merit-Order

und damit in den Bereich höherer Volllaststunden.

In Abbildung 5 wird der Effekt einer Abschaltung gemäß des Kohleausstiegspfades nach

Kohlekommission [2] gegenüber dem „Dynamis Startszenario“, welches sich auf den

Netzentwicklungsplan (Szenario B) stützt, aufgezeigt.

CO2-Preis: 42 €/t

CO2-Preis: 60 €/t

CO2-Preis: 90 €/t

Deckungsbeitrag (DB)

Page 7: Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Seite 2 von 9 u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Seite 7 von 9

Abbildung 5: Effekt eines Kohleausstieges (unten) auf die Merit Order; analog zu den vorherigen

Abbildungen findet keine Allokation der Kosten und Emissionen aus dem KWK-Betrieb

statt. Datenquelle: FfE-Kraftwerksdatenbank

Der Kohleausstieg stellt eine gut steuerbare Maßnahme zur CO2-Verminderung dar, da dieser eine

gezielte Auswahl der ineffizientesten Kraftwerke und die Berücksichtigung struktureller

Besonderheiten ermöglicht. Bei der Außerbetriebsetzung von Kraftwerken nördlich der Main-Linie –

was für alle deutschen Braunkohlekraftwerke gilt – führt der Kohleausstieg zudem zu einer

Verringerung von Engpassmanagementmaßnahmen wie z.B. Redispatch. Dies ist durch die regionale

Umverteilung der Kraftwerkseinsätze zu erklären, die nun lastnäher stattfinden.

Jedoch ist zu beachten, dass das Merit-Order-Emissionsdilemma zwar umgangen, aber nicht

grundsätzlich behoben wird, da die verbleibenden emissionsintensiven Kraftwerke weiterhin vorne in

der Merit-Order stehen und somit hohe Einsatzzeiten erreichen. Bei der Auswahl der abzuschaltenden

Kraftwerke ist die Sonderstellung von KWK-Anlagen zu berücksichtigen, da durch die

Wärmeauskopplung der Gesamtwirkungsgrad der Kraftwerke erhöht und an anderer Stelle Emissionen

für die Wärmebereitstellung eingespart werden.

Auch in diesem Fall gilt, dass sich die Strompreise aufgrund der Verschiebung der Kraftwerke erhöhen

und günstiger, ausländischer Strom häufiger importiert werden würde. Zudem sind die

Rückkopplungseffekte mit dem EU ETS zu beachten.

Dekarbonisierung in Deutschland: Kurzfristig ein Kohleausstieg und

langfristig ein wirkungsvoller europäischer Emissionshandel

Die Analyse der Merit-Order-Effekte eines Kohleausstieges und einer CO2-Preiserhöhung in

Deutschland zeigt, dass beide Ansätze mit verschiedenen Vor- und Nachteilen einhergehen. Dabei ist

der Effekt nationaler Klimaschutzinstrumente auf die Gesamtemissionen zu berücksichtigen, da es

unter Umständen zu einer Verlagerung der Emissionen ins Ausland kommen kann und nur zu kleinen

Teilen die angestrebte Emissionsminderung erzielt wird. Die Strompreissteigerung im deutschen

Page 8: Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Seite 2 von 9 u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Seite 8 von 9

Kraftwerkspark führt zu einem strommarktbedingten Rebound-Effekt im europäischen Ausland (vgl.

auch [6]). Zudem würden – zumindest in der Theorie – durch die Senkung der Emissionen im deutschen

Kraftwerkspark EU ETS Zertifikate frei. Die im November 2018 verabschiedeten Richtlinie (EU)

2018/410 ermöglicht es den Mitgliedstaaten Zertifikate von durch nationalen Maßnahmen

stillgelegten Stromerzeugungskapazitäten vollumfänglich zu löschen. Die Verlagerung der Emissionen

ins Ausland durch den sogenannten „Waterbed“-Effekt kann somit verhindert werden. Die

diesbezügliche Löschung der Zertifikate stellt ebenfalls eine Empfehlung der Kohlekommission [2] dar.

Ein mit den europäischen Partnern abgestimmtes Vorgehen ist für einen effektiven Klimaschutz somit

unerlässlich.

Aufgrund der großen nationalen Unterschiede hinsichtlich des aktuellen Standes und der

Erreichbarkeit der Klimaschutzziele können die auf europäischer Ebene getroffenen Vereinbarungen

nur einen Minimalkonsens darstellen. Die dargestellten Szenarien zu CO2-Preisen und deren

Auswirkung auf den deutschen Kraftwerkspark (Abbildung 4) zeigen, dass extrem hohe CO2-Preise

nötig sind, damit die Reihung der Emissionen auch der Reihung der Grenzkosten entspricht. Die

Einführung solch hoher CO2-Preise auf europäischer Ebene wird kurzfristig als sehr unwahrscheinlich

angesehen. Der in der Diskussion befindliche Mindestpreis im Bereich von 25-30 €/t [7] hätte auf den

deutschen Kraftwerkspark nur eine indirekte Wirkung durch ein Absenken der Deckungsbeiträge.

Auch wenn der aktuelle Kohleausstiegspfad einigen am Diskurs beteiligten Parteien als zu wenig

ambitioniert und langsam erscheint, so gewährleistet er dennoch, dass ein gezieltes Abschalten

emissionsintensiver Kraftwerke bei gleichzeitig netzentlastendem Effekt stattfindet. Weiterhin wird

durch einen transparenten Ausstiegsplan Planungs- und Investitionssicherheit für Beschäftigte,

Betreiber und Investoren unter Berücksichtigung eines sozialverträglichen Strukturwandels

sichergestellt. Demgegenüber besteht bei einer Erhöhung des CO2-Preises über das Instrument des

EU ETS hinaus, die Möglichkeit, dass sich unter den Betreibern ein Wettbewerb nach dem Motto „Wer

hat den längsten Atem“ einstellt. Denn das Ausscheiden der Konkurrenten führt zu steigenden

Marktpreisen und damit höheren Deckungsbeiträgen für die verbleibenden Kraftwerksbetreiber. In

diesem Umfeld ist es nicht zwingend gegeben, dass das ineffizienteste und älteste Kraftwerk zuerst

aus dem Markt gedrängt wird. Ein Ausstieg einzelner Kraftwerke würde unter kürzeren Vorlaufzeiten

stattfinden und damit den Handlungsspielraum für politische Begleitmaßnahmen für einen

Strukturwandel verringern.

Vor dem Hintergrund, dass Deutschland auch mit dem vorgeschlagenen Kohlekompromiss hinter den

gesteckten Klimaschutzzielen zurückliegt, sind zusätzliche Maßnahmen zur CO2-Reduktion dringend

notwendig. Neben den geforderten begleitenden Maßnahmen der Kommission, wie einem

beschleunigten Ausbau Erneuerbarer Energien, ist auf lange Sicht und im europäischen Kontext eine

weitere Optimierung des EU ETS nötig. Dabei ist eine europaweite und sektorübergreifende

Verknappung der Anzahl der in den Markt eingebrachten Zertifikate, und eine daraus resultierende

einheitliche CO2-Preiserhöhung anzustreben. Die angestrebte Reform für Phase vier führt zu einer

Verringerung der ausgegebenen Zertifikate und durch die erstarkte Marktstabilitätsreserve zu einer

dynamischeren Anpassung des Überschusses und einer de facto Löschung von etwa 2,5 bis 3 Mrd.

Zertifikaten. Dennoch zeigen verschiedene Analysen, dass die Reform zu kurz greift und nicht wie

erhofft zu einem nachhaltigen Abbau des strukturellen Überschusses führen wird [8,9]. Die nötigen

Instrumente im EU ETS sind bereits vorhanden, jedoch gilt es diese zielgerichtet weiterzuentwickeln

und anzuwenden. Nur so kann der Emissionshandel seine zugedachte Rolle als zentraler

Steuerungsmechanismus zur Erreichung der Klimaziele erfüllen, und das bei gleichzeitiger Einhaltung

Page 9: Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen · 2019. 2. 12. · Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen Seite 2 von 9 u.a. eine Stärkung der Marktstabilitätsreserve sowie einer Erhöhung

Das Merit-Order-Dilemma der Emissionen

Seite 9 von 9

der Grundsätze der europäischen Strommarktliberalisierung und Schaffung von stabilen

Rahmenbedingungen für Energieversorger.

Die Identifikation von kosteneffizienten CO2-Verminderungsoptionen auch in anderen Sektoren ist

eine große Herausforderung, bei der die Energiesystemforschung einen wichtigen Beitrag liefern kann.

Diese Themen sind Gegenstand des Projektes „Dynamis - Dynamische und intersektorale

Maßnahmenbewertung zur kosteneffizienten Dekarbonisierung des Energiesystems“

(Förderkennzeichen: 03ET4037A), im Rahmen dessen das vorliegende Arbeitspapier entstanden ist.

Autoren:

Felix Böing, Anika Regett, Constanze Kranner, Dr.-Ing. Christoph Pellinger, Steffen Fattler, Jochen Conrad

Wissenschaftliche Begleitung:

Prof. Dr.-Ing. Ulrich Wagner, Prof. Dr.-Ing. Wolfgang Mauch, Dr.-Ing. Serafin von Roon

Kontakt: www.ffe.de; [email protected]; 089 158121-0

[1] Nationale Trendtabellen für die deutsche Berichterstattung atmosphärischer Emissionen - 1990 - 2015. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt, 2017

[2] Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ - Abschlussbericht. Berlin: Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), 2019

[3] Berichterstattung unter der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen und dem Kyoto-Protokoll 2016 - Nationaler Inventarbericht zum Deutschen Treibhausgasinventar 1990 - 2014. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt (UBA), 2016

[4] Laufendes Projekt: Dynamis – Dynamische und intersektorale Maßnahmenbewertung zur kosteneffizienten Dekarbonisierung des Energiesystems. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft e.V., Forschungsgesellschaft für Energiewirtschaft mbH und Technische Universität München, 2019

[5] Pellinger, Christoph; Schmid, Tobias; et al.: Merit Order der Energiespeicherung im Jahr 2030 - Hauptbericht. München: Forschungsstelle für Energiewirtschaft e.V., 2016

[6] Klimaschutz im Stromsektor 2030 - Vergleich von Instrumenten zur Emissionsminderung in: Climate Change 02/2017. Dessau-Roßlau: Umweltbundesamt (UBA), 2017

[7] Macrons Klimaplan hilft Frankreichs Wirtschaft - Von einem höheren CO2-Preis profitieren das Klima und die Atomstromerzeuger in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ), 28.9.2017, S. 16. Frankfurt am Main: FAZ, 2017

[8] Perino, Grischa: New EU ETS Phase 4 rules temporarily puncture waterbed. In: Nature Climate Change Vol. 8, 2018.

[9] Osterman et al.: Analysen zum EU-ETS und Bewertung von CO2 Verminderungsmaßnahmen. In: 11. Internationale Energiewirtschaftstagung (IEWT). Wien: TU Wien, 2019