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Globale Gerechtigkeit ökologisch gestalten Das NAMA-Drama Wie die WTO-Verhandlungen über Industriegüter Umwelt und Entwicklung bedrohen

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Globale Gerechtigkeit ökologisch gestalten

Das NAMA-DramaWie die WTO-Verhandlungen über Industriegüter

Umwelt und Entwicklung bedrohen

Kontakt: Forum Umwelt & Entwicklung Am Michaelshof 8-10 · 53177 Bonn Tel.: 02 28 - 35 97 04 · Fax: o2 28 - 92 39 93 56E-Mail: [email protected] · www.forumue.de

Umschlag_NAMA 21.09.2005 10:11 Uhr Seite 2

Das NAMA-DramaWie die WTO-Verhandlungen

über Industriegüter Umwelt undEntwicklung bedrohen

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Impressum

Redaktion:Michael Frein, Monika Brinkmöller

Herausgeber: Evangelischer Entwicklungsdienst e.V. (EED), Bonnwww.eed.de

Forum Umwelt & Entwicklung, Bonnwww.forumue.de

Greenpeace e.V., Hamburgwww.greenpeace.de

WEED, Bonnwww.weed-online.org

Verantwortlich:Jürgen Maier

Layout:Monika Brinkmöller

Herstellung:Knotenpunkt GmbH, Buch

Bonn 2005

Wir danken der Zeitschrift Entwicklungspolitik sowieJohn Hilary und der englischen Nichtregierungs-organisation War on Want für die freundliche Über-lassung der Texte für diese Broschüre!

Titelseite (v.l.n.r.): visipix/Baehni; worldvision/NikeshChandra Das; visipix/Veith

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Inhalt

Inhalt

NAMA. Oder: wie Dornröschen aus seinem Schlaf erwacht .............. 4

NAMA gefährdet die wirtschaftliche Entwicklung des Südens:Massiver Zollabbau wird eine Welle der De-Industrialisierungauslösen –– Ha-Joon Chang ....................................................................6

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha:Verhandlungen über Marktzugang für Nicht-Agrarproduktein der WTO –– John Hilary .................................................................... 13

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt:Die Umweltrisiken der NAMA-Verhandlungen ––Jürgen Knirsch und Daniel Mittler ............................................................. 40

Glossar ................................................................................................ 51

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NAMA. Oder: wie Dornröschenaus seinem Schlaf erwacht

NAMA – wieder eine dieser schau-rigen Abkürzungen. Und kaumjemand weiß, dass damit ein

Kernbereich der internationalen Handels-politik bezeichnet wird. NAMA (Non-Agricultural Market Access) steht in denlaufenden Verhandlungen der Welthan-delsorganisation (WTO) für nicht-agrari-schen Marktzugang. Gemeint sind allenicht-agrarischen Güter, mithin Industrie-güter, Handwerksprodukte, aber auch Pro-dukte aus Forstwirtschaft und Fischerei.Und der Begriff Marktzugang erläutert,worum es eigentlich geht: Um neue, weit-reichende Vereinbarungen über den Ab-bau von Zöllen und anderen „Handels-hemmnissen“ – also um Liberalisierungmit dem Ziel Freihandel.

Der Streit darum ist, wie könnte es an-ders sein, an erster Stelle ein Nord-Süd-Konflikt. Und dem wiederum liegt, auchdas ist nicht überraschend, der Konfliktzwischen Entwicklungs- und Umwelt-interessen auf der einen Seite und denInteressen international tätiger Konzernenach möglichst ungehindertem, weltwei-ten Marktzugang auf der anderen Seitezugrunde. Während der Süden insbeson-dere im Industriebereich darauf drängt,seine Unternehmen vor der übermächti-gen Konkurrenz aus dem Norden zu schüt-zen, will der Norden die Märkte des Sü-dens für seine Exportwirtschaft öffnen.

Eigentlich müsste dieser Konflikt zu-gunsten des Südens entschieden werden.Denn im November 2001 hatten die In-dustrieländer bei der 4. WTO-Minister-konferenz in Doha, der Hauptstadt desarabischen Emirats Katar, versprochen,dass in der nun laufenden Verhandlungs-runde die Interessen und Bedürfnisse der

Entwicklungsländer im Zentrum stehensollten. Doch hat sich diese Entwicklungs-rhetorik inzwischen als blanker Mythoserwiesen. In der Realität setzt sich dieknallharte Interessenpolitik des Nordensdurch. So wusste der damalige Wirt-schaftsminister Wolfgang Clement beider 5. WTO-Ministerkonferenz in Cancún(Mexiko) 2003 gegenüber der Presse zuberichten, Marktöffnung und Liberalisie-rung seien für Entwicklungsländer positiv,da sinkende Zölle Autos billiger und da-mit für viele Menschen erschwinglichermachen würden.

Jedoch haben die NAMA-Verhandlun-gen nicht nur eine entwicklungspolitische,sondern auch eine umweltpolitische Di-mension. Dabei geht es um den KonfliktFreihandel versus Schutz der Umwelt undnatürlichen Ressourcen: Sinkende Zölleführen zu fallenden Produktpreisen, waswiederum erheblichen Druck auf die na-türlichen Ressourcen nach sich zieht. Soerweisen niedrige Zölle bei Holz undHolzprodukten allen Bemühungen zumSchutz der Wälder einen Bärendienst.Gerade mit Blick auf die ökologischenFolgewirkungen von Liberalisierungs-maßnahmen geraten jedoch auch nicht-tarifäre Handelshemmnisse in den Blick.Hierbei spielen etwa Gesundheitsstan-dards oder Maßnahmen zur Energie-einsparung eine Rolle. Beispielsweisesteht in den laufenden Verhandlungen dieKennzeichnung des Energieverbrauchsvon Haushaltsgeräten ebenso unter Druckwie die Besteuerung von Kraftfahrzeugenin Abhängigkeit der Motorleistung.

Diese essentiellen Probleme hat dieZivilgesellschaft in weiten Teilen langeZeit vernachlässigt. Erst jetzt, im Vorfeld

NAMA. Oder: wie Dornröschen aus seinem Schlaf erwacht

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NAMA. Oder: wie Dornröschen aus seinem Schlaf erwacht

der 6. WTO-Ministerkonferenz, die vom13.-18. Dezember 2005 in Hongkongstattfindet, werden viele Nichtregierungs-organisationen aktiv. Die vorliegendeBroschüre versteht sich dabei als Munter-macher. Sie will insbesondere Entwick-lungs- und Umweltorganisationen überdie Problematik und die Bedeutung derNAMA-Verhandlungen informieren. Dennschon jetzt steht fest: Neben Landwirt-schaft wird NAMA das zweite wichtigeThema in Hongkong sein.

Im folgenden präsentieren wir drei Tex-te, die einen tieferen Einblick in die Pro-blematik und aktuelle Diskussion bietensollen. Zunächst, sozusagen für Schnell-leser/innen, gibt Ha-Joon Chang, derstellvertretende Direktor des Instituts fürEntwicklungsstudien an der Wirtschafts-wissenschaftlichen Fakultät der Universi-tät von Cambridge, einen kurzen Über-blick über die entwicklungspolitische Pro-blematik der NAMA-Verhandlungen. Sei-ne These ist, dass diese Verhandlungendie wirtschaftliche Entwicklung des Südensgefährden, indem durch massiven Zoll-abbau eine Welle der De-Industrialisie-rung ausgelöst werden wird.

Wer die Zusammenhänge genauerverstehen möchte, dem sei der nachfol-gende Beitrag von John Hilary von Waron Want, einer britischen Nichtregierungs-organisation, empfohlen. Hilary wirft ei-nen differenzierten Blick auf die aktuelleVerhandlungsdynamik in der WTO underläutert die Hintergründe der unter-schiedlichen Positionen von Nord undSüd. Er kritisiert die offensive Agenda derIndustrieländer und fordert, die Verhand-lungen auf eine neue Grundlage zu stel-len, damit sie den Interessen und Bedürf-nissen Entwicklungsländer gerecht wird.

Schließlich analysieren die Green-peace-Mitarbeiter Jürgen Knirsch undDaniel Mittler die ökologischen Folge-wirkungen der Liberalisierungen imNAMA-Bereich. Sie untersuchen sowohldie Auswirkungen von Zollsenkungen alsauch mögliche Folgen der Liberalisierungim Bereich nichttarifärer Handelshemm-nisse. Dabei kommen sie zu dem Schluss,dass die derzeitige Richtung der NAMA-Verhandlungen ökologisch verheerendeWirkungen birgt – und zwar sowohl imNorden als auch im Süden.

Die von den Industrieländern ange-strebte Liberalisierung, so kann man dasErgebnis dieser Broschüre auf den Punktbringen, ist für Umwelt wie für Entwicklunggleichermaßen kontraproduktiv. Protestund Widerstand gegen eine solche Poli-tik, die die Interessen der Konzerne überdie Interessen der Menschen und der Um-welt stellt, formieren sich – etwa im Un-terschied zu den vielfältigen Aktivitätengegen die Privatisierung von Dienstlei-stungen und den GATS-Vertrag – erst all-mählich. Dabei steht vieles auf dem Spiel– die Arbeitsplätze und Erwerbsmöglich-keiten von zig Millionen Menschen undder globale Umweltschutz werden vomErgebnis der NAMA-Verhandlungen be-troffen sein. Der Kampf um globale Ge-rechtigkeit droht an einer entscheidendenStelle verloren zu gehen.

Deshalb müssen Kirchen, Nichtregie-rungsorganisationen und soziale Bewe-gungen aus ihrem Dornröschenschlaf er-wachen: In Hongkong und danach gehtes um Entscheidungen, die uns alle be-treffen werden, und die die globalenArmuts- und Umweltprobleme in erheb-lichem Maß verschärfen können. Dies giltes zu verhindern.

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NAMA gefährdet die wirtschaftliche Entwicklung des Südens

NAMA gefährdet die wirtschaft-liche Entwicklung des Südens -Massiver Zollabbau wird eine Welleder De-Industrialisierung auslösenHa-Joon Chang

Im Rahmen des Arbeitsprogramms,das von der WTO-Ministerkonferenzin Doha 2001 festgelegt worden war,

wird in der Welthandelsorganisationenderzeit auch über den „Marktzugang fürnichtlandwirtschaftliche Güter“ verhan-delt. Doch erst in den letzten Monaten istes im Vorfeld der anstehenden Minister-konferenz in Hongkong um diese so ge-nannten NAMA-Verhandlungen (Non-Agricultural Market Access) hitziger ge-worden. Tatsächlich kann die Bedeutungdieser Verhandlungen gar nicht über-schätzt werden, hängt es doch von ihremErgebnis ab, ob den Entwicklungsländernder Weg zur Entwicklung geebnet oderversperrt wird.

Für die Entwicklungsländer dürften sichdie NAMA-Verhandlungen als Knack-punkt der bevorstehenden Ministerkonfe-renz im Dezember in Hongkong erweisen.Im Kern geht es bei den NAMA-Verhand-lungen um die Senkung von Zöllen fürindustrielle Produkte, wenngleich darüberhinaus noch andere strittige Punkte wiedie nicht-tarifären Handelshemmnisseoder der Missbrauch von Antidumping-maßnahmen anstehen. Gewiss ist dieSenkung von Zöllen, insbesondere für

industrielle Handelsgüter, schon immerdas Ziel von GATT bzw. WTO gewesen.Aber die jetzt im Rahmen von NAMA vor-gesehenen Senkungen sind in ihrem Aus-maß historisch einmalig.

Schon im Rahmen der Uruguay-Run-de waren verschärfte Einschränkungen fürverschiedene Instrumente beschlossenworden, die der Förderung der industri-ellen Entwicklung dienen, wie für Subven-tionen, für die Regulierung von Auslands-investitionen (durch das Handelsabkom-men über handelsrelevante Investitions-maßnahmen TRIMS) und für das Kopie-ren von Technologien (durch das Abkom-men über handelsrelevante Aspekte gei-stigen Eigentums TRIPS). Die beabsichtig-ten starken Beschränkungen der Zollpoli-tik, die unmittelbar daran anschließen,können die Entwicklungsländer fast allerMöglichkeiten berauben, industrielle –und damit wirtschaftliche – Entwicklung zufördern.

Gravierende Zollsenkungen

Sollte der von den USA vorgelegte sehrradikale Vorschlag umgesetzt werden,wären die Zollsenkungen wahrhaft dras-tisch. Die indische Regierung hat z.B. er-rechnet, dass der (einfache) Durchschnitts-zoll für die meisten Entwicklungsländervon zur Zeit 10-70 Prozent auf 5-7 Pro-zent sinken würde (vgl. Khor/Goh 2004).1

1 Der EU-Vorschlag senkt den Satz auf 5-15 Pro-zent, während die Vorschläge Koreas und Indi-ens ihn auf 10-25 Prozent bzw. 10-50 Prozentsenken würden.

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Das heißt, dass die durchschnittlichenIndustriezölle in den Entwicklungsländernauf den niedrigsten Stand seit der Zeit derungleichen Verträge im 19. und frühen20. Jahrhundert sinken würden, als dienoch unabhängigen schwächeren Länderihrer Zollautonomie beraubt und gezwun-gen wurden, einen einheitlichen Zollsatzvon nicht mehr als 3-5 Prozent festzule-gen. Sie wären sogar noch niedriger alssie es in irgendeinem der jetzt entwickel-ten Länder bis zum Zweiten Weltkriegwaren, wobei es nur wenige Ausnahmengab wie Großbritannien und die Nieder-lande vom späten 19. bis zum frühen 20.Jahrhundert und Deutschland für einekurze Zeit im späten 19. Jahrhundert (sie-

he Tabelle 1). Die Auswirkungen solchdrastischer Zollsenkungen auf die Entwick-lungsländer könnten wahrlich dramatischsein.

Im Gegensatz dazu dürften die Auswir-kungen von Zollsenkungen auf die entwik-kelten Länder eher minimal ausfallen, dadiese bereits jetzt niedrige Industriezölleerheben. Nach der oben erwähnten Be-rechnung sinkt z.B. der Zoll für industriel-le Güter in Japan von 2,3 auf 1,3 Prozent(EU-Formel) oder 0,7 Prozent (US-Formel)und in den USA von 3,2 auf 1,7 Prozent(EU-Formel) oder 1,0 Prozent (US-Formel).Dies mögen proportional große Absen-kungen sein, aber selbst proportional

NAMA gefährdet die wirtschaftliche Entwicklung des Südens

TABELLE 1: Durchschnittliche Zollsätze auf Fertigwaren inausgewählten Industrieländern(in frühen Stadien ihrer industriellen Entwicklung)

gewichteter Durchschnitt; in Prozent des Warenwertes

Quelle: Chang (2002), S. 17, Tabelle 2.1

Anmerkungen :R = Für industriegefertigte Waren galten zahlreiche und erhebliche Handelsbeschränkungen; die Nen-

nung durchschnittlicher Zollsätze kann darüber keine Auskunft geben.1 Dies sind nur näherungsweise Angaben; sie geben die Spannweite der durchschnittlichen Zollsätze,

nicht die Extremwerte an.2 Vor 1925 Österreich-Ungarn.3 1820 war Belgien Teil des Vereinigten Königreichs der Niederlande.4 Die Zahlen für 1820 gelten nur für Preußen.5 Bis 1911 war Japan durch eine Reihe von „ungleichen Verträgen“ mit den europäischen Ländern und

den USA gezwungen, seine Zölle niedrig zu halten (unter 5 Prozent).

18201 18751 1913 1925 1931 1950 Österreich2 R 15-20 18 16 24 18 Belgien3 6-8 9-10 9 15 14 11 Dänemark 25-35 15-20 14 10 k.A. 3 Frankreich R 12-15 20 21 30 18 Deutschland4 8-12 4-6 13 20 21 26 Italien k.A. 8-10 18 22 46 25 Japan5 R 5 30 k.A. k.A. k.A Niederlande3 6-8 3-5 4 6 k.A. 11 Russland R 15-20 84 R R R Spanien R 15-20 41 41 63 k.A. Schweden R 3-5 20 16 21 9 Schweiz 8-12 4-6 9 14 19 k.A. Großbritannien 45-55 0 0 5 k.A. 23 USA 35-45 40-50 44 37 48 14

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gesehen sind sie nicht größer als im Fal-le einiger Entwicklungsländer. In Japanbeliefe sich die Absenkung nach der US-Formel auf etwa 70 Prozent (von 2,3 auf0,7 Prozent), in Indonesien dagegen auf82 Prozent (von 35,6 auf 6,3 Prozent) undin Brasilien auf 80 Prozent (von 30,8 auf6,2 Prozent).

Dabei sind die Wirkungen nicht ver-gleichbar: Eine Zollsenkung von 2,3 auf0,7 Prozent oder von 3,2 auf 1,7 Prozentwird die Importe nicht sehr stark beein-flussen, während eine Reduzierung von30-35 Prozent auf 6 Prozent verheerendeAuswirkungen haben kann.

Gegenwärtig scheinen sich die NAMA-Verhandlungen auf die Frage zu konzen-trieren, welche Formel (die der USA, Ko-reas, Indiens, Chinas oder der EU) bei derZollsenkung angewendet werden soll. Ehewir uns aber den Kopf über die anzuwen-dende Formel zerbrechen, müssen wir ei-nen Schritt zurückgehen und hinterfragen,warum wir überhaupt Zollsenkungen fürindustrielle Güter brauchen?

Freihandelsmythen

Die WTO geht von der Annahme aus,dass freierer Handel durch niedrigereZölle und den Abbau nicht-tarifärerHandelshemmnisse immer vorzuziehenist. Das kann aber in dieser Verallgemei-nerung nicht stimmen. Die Senkung desZolls für eine bestimmte Ware mag de-ren Import zum Vorteil der Verbraucherdieser spezifischen Ware verbilligen – dasGesamtergebnis hängt aber davon ab,was mit der Volkswirtschaft insgesamtpassiert. Theoretisch ist es möglich, dassstärkerer Wettbewerb durch Importe dieeinheimischen Produzenten effizientermacht. In diesem Fall ginge es allen bes-ser und der einzige denkbare Verlierer indiesem Prozess wären die Arbeiter, dieinfolge der erzielten Produktivitätssteige-rung möglicherweise entlassen werden. Inden vorherrschenden Handelstheorien,

die den Vorschlägen für Zollsenkungen zuGrunde liegen, wird aber auch dies nichtals Problem betrachtet, weil man von ei-ner perfekten Ressourcenmobilität aus-geht, wonach der freigesetzte Arbeitereine andere Beschäftigung finden wird,die ihm mindestens ebenso viel einbringtwie seine bisherige Arbeit.

Was aber als Folge von Zollsenkungentatsächlich geschieht, hängt stark davonab, wo und wie sie vorgenommen wer-den. Ist die Zollsenkung sehr umfangreich,wie es die gegenwärtigen Diskussionenum NAMA erwarten lassen, und müssendeshalb die einheimischen Produzentenum des Überlebens willen ihre Produkti-vität sehr schnell steigern, so ist die Schlie-ßung der betroffenen Produktionsstättenmit entsprechendem Verlust von Arbeitund Einkommen wahrscheinlicher als dieSteigerung der Produktivität. Da aber inder Realität die Ressourcenmobilität nichtperfekt ist, finden die durch Firmen-bankrotte freigesetzten Arbeitnehmer wo-möglich keine alternativen Beschäfti-gungsmöglichkeiten, die es ihnen erlau-ben, den gleichen Beitrag zur einheimi-schen Volkswirtschaft zu leisten wie vor-her. Führt z.B. die Absenkung von Zöllenauf Stahl zur Schließung von Stahlwerken,so werden wahrscheinlich die Hochöfenals Schrott verkauft und die entlassenenStahlarbeiter landen vermutlich in der Ar-beitslosigkeit oder in Hilfsarbeiterjobs,z.B. als Wächter oder Hausmeister.

Natürlich kann selbst in dem Fall, dassZollsenkungen zum Bankrott einheimi-scher Betriebe führen, die Gesellschaft alsGanzes gewinnen, wenn die Kosten derVernichtung von Arbeitsplätzen und Ein-kommen niedriger sind als der Vorteil fürdie Verbraucher.

Aber auch in diesem Fall bleibt dieVerteilungsfrage offen, da es keinen au-tomatischen „trickle-down“-Effekt von denGewinnern zu den Verlierern der Libera-lisierung des Handels gibt: Wie entschä-digen wir die Automobil- und Textilarbei-

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ter, die wegen der Liberalisierung ihreArbeitsplätze verloren haben? In den ent-wickelten Ländern gibt es etablierte Me-chanismen zur Umverteilung von Reich-tum – den Sozialstaat mit progressiverBesteuerung –, aber in den Entwicklungs-ländern sind solche Mechanismen bes-tenfalls schwach entwickelt, oft aber garnicht vorhanden. Darüber hinaus sind invielen Entwicklungsländern Zölle einesehr wichtige Einnahmequelle des Staa-tes; in einigen Fällen machen sie bis zuein Drittel der staatlichen Einnahmen aus.Die schon jetzt geringen Möglichkeitenihrer Regierungen, fiskalische Transfers zuGunsten der Verlierer im Prozess desstrukturellen Wandels vorzunehmen, wer-den durch Zollsenkungen mit entspre-chendem Rückgang der Staatseinnah-men noch weiter verringert.

Schutzzölle alsEntwicklungsmotor

Noch wichtiger aber ist, dass Zollsen-kungen der langfristigen wirtschaftlichenEntwicklung schaden können. Auf kurzeSicht mag es für Entwicklungsländer tat-sächlich effizienter sein, auf Industrien zuverzichten, die ohne Zölle und andereProtektionsmaßnahmen nicht überlebenkönnten und stattdessen auf Landwirt-schaft und einige arbeitsintensive Indu-striezweige zu setzen – wobei die Frageder Protektion dieser Sektoren durch dieentwickelten Länder weiterhin offen ist.Die Geschichte lehrt uns aber, dass es auflange Sicht unwahrscheinlich ist, dass dieLänder sich auf dieser Grundlage entwik-keln.

Die meisten der heute entwickeltenLänder nutzten Schutzzölle, Subventionenund andere Maßnahmen, um ihre jungenIndustrien im Anfangsstadium ihrer Ent-wicklung zu fördern (siehe Chang 2002).Insbesondere Großbritannien (vom frü-hen 18. bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts)und die USA (von Mitte des 19. bis Mittedes 20. Jahrhunderts) nutzten Schutzzölle

in großem Ausmaß, und zwar viel stärkerals andere normalerweise mit Protektio-nismus assoziierte Länder wie Japan,Frankreich und Deutschland. Wie Tabel-le 1 zeigt, beliefen sich in den genanntenZeiträumen ihre Schutzzölle auf ca. 40-50 Prozent. Diese Sätze liegen höher, alsdie zur Zeit in vielen Entwicklungsländerngeltenden, und sie liegen um ein Vielfa-ches über denen, die in den meisten Ent-wicklungsländern gelten werden, wenndie entwickelten Länder sich durchsetzen.

Erfahrungen aus jüngerer Zeit bestäti-gen ebenfalls die Bedeutung des Schut-zes von jungen Industrien. ErfolgreicheEntwicklungsländer wie Korea, Taiwan,China und Indien haben allesamt ihre in-dustrielle Leistungsfähigkeit im Schutz vonZollmauern und anderen staatlichenFördermaßnahmen entwickelt. Die Ge-schichte des Wachstums der Entwick-lungsländer in den letzten beiden Jahr-zehnten der Liberalisierung des Handelslegt ebenfalls nahe, dass die Abschaffungvon Protektion und Subventionen zur Ver-langsamung statt zu einer Beschleunigungdes Wirtschaftswachstums geführt hat. Sowuchs in den 1960er und 1970er Jahren– den „schlechten alten Zeiten“ der Im-portsubstitution – das Pro-Kopf-Einkom-men in den Entwicklungsländern um 3,0Prozent jährlich. In den 90er Jahren sankdie Wachstumsrate – nach mehr als ei-ner Dekade weitreichender Handels-liberalisierung – auf etwa die Hälfte die-ses Satzes, nämlich auf 1,7 Prozent.

Beim Druck auf eine Reduzierung derIndustriezölle ist viel die Rede von „levelplaying field“ (gleichmäßig ebenes Spiel-feld und gleiche Spielregeln für alle) alswichtigem Prinzip, das drastische Herab-setzungen der Zölle auf Industrieproduk-te durch die Entwicklungsländer rechtfer-tigt. Die Entwicklungsländer sollen „dasSpielfeld ebnen“, so wird argumentiert,indem sie den Exporteuren der entwickel-ten Länder den Zugang zu ihren industri-ellen Märkten erleichtern.

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„Level playing field“ ist, wie die Ame-rikaner sagen, wie „Mutterschaft und Ap-felkuchen“. Sie sind per definitionem gut,so dass man schwerlich dagegen seinkann. Aber man muss dagegen sein, wennman ein Welthandelssystem errichten will,das wirklich entwicklungsfördernd ist.

Natürlich ist das „level playing field“mit gleichen Regeln für alle das richtigePrinzip, wenn alle Spieler gleich sind.Wenn sie aber ungleich sind, ist es dasfalsche Prinzip. Wenn z.B. eine Mann-schaft von dreizehnjährigen Kindern ge-gen die brasilianische Nationalmann-schaft Fußball spielt, ist es nur fair, wenndas Spielfeld nicht eben ist und die Kin-der bergabwärts stürmen dürfen.

Gleiche Spielregeln für alle?

In der Tat dürfen in den meisten Sport-arten ungleiche Spieler nicht einmal ge-geneinander antreten. Beim Boxen, Rin-gen und in vielen anderen Sportarten gibtes Gewichtsklassen. In vielen Fällen, ein-schließlich Fußball und Baseball, gibt esAltersklassen: Erwachsenen-Mannschaf-ten dürfen nicht gegen Kinder und Ju-gendliche spielen. In Sportarten wie Golfgibt es sogar ein explizites System von„Handicaps“, das schwächeren Spielerndie Teilnahme am Wettkampf durch Ge-währung von Vorteilen erlaubt, die imumgekehrt proportionalen Verhältnis zuihren Spielerfähigkeiten stehen.

Wenn wir das Beispiel des Boxens wei-ter bemühen, so handeln die entwickel-ten Länder in ihrem Streben nach radika-len Zollsenkungen wie ein Boxer derSchwergewichtsklasse, der eine Reiheleichterer Boxer überredet, mit ihm zukämpfen, indem er verspricht, dass sieSchutzbekleidung tragen dürfen, sie dannaber wegen „unfairer“ Schutzmaßnah-men des „foul play“ bezichtigt. Wennaber der Schwergewichtler auf Schutz fürseinen Blinddarm (bzw. seine Landwirt-schaft und seine Textilbranche) besteht,

weil dies seine schwache Stelle sei, dannfragen wir uns, ob er wirklich Fair Play imSinn hat. Wenn dann noch hinzu kommt,dass der Schwergewichtsboxer die Spiel-regeln weitgehend allein aufstellt, die ein-zige Bank in der Stadt besitzt (und sichvielleicht weigert, den Boxern Geld zu lei-hen, die sich über seine Taktiken beschwe-ren), und dass er auch die einzige Zeitungam Ort kontrolliert (die Rufmord an dengegen ihn aufmuckenden Boxern begeht),dann beginnen wir zu verstehen, wie ab-surd das Gerede vom „level playing field“im gegenwärtigen Welthandelssystem ist.

Bei den Entwicklungsländern gibt esnatürlich ein erhebliches Unbehagen überdiese Rhetorik von gleichen Spielregeln,das die entwickelten Länder nicht gänz-lich ignorieren können. Deshalb gelten inder WTO so genannte Sonder- und Vor-zugsbehandlungen („special and differen-tial treatments“ – SDT) für die Entwick-lungsländer und deshalb sagen die ent-wickelten Länder im NAMA-Prozess, dasssie auch mit weniger als völliger Gegen-seitigkeit („less than full reciprocity“ –LTFR) zufrieden seien. Es gibt jedoch ernst-hafte Schwierigkeiten mit diesen Konzes-sionen in der Art von SDT und LTFR.

Das Problem bei SDT ist das Wort„special“. Nennt man etwas „Sonderbe-handlung“ (special treatment), dann sagtman damit, dass die Person einen „un-fairen“ Vorteil bekommt. Aber ebenso we-nig, wie wir Aufzüge für Rollstuhlfahreroder Brailleschrift für Blinde „Sonderbe-handlung“ nennen, sollten wir die höhe-ren Zölle und andere Schutzmaßnahmen,die wir den Entwicklungsländern zubilli-gen, Sonderbehandlung nennen. Es isteinfach nur eine unterschiedliche Behand-lung für Länder mit unterschiedlichen Fä-higkeiten und Zielen.

Der Begriff LTFR muss ebenfalls hinter-fragt werden. Er impliziert, dass die Ent-wicklungsländer bei NAMA „weniger“geben als die entwickelten Länder. Die Vor-stellung von Reziprozität kann aber nicht

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diskutiert werden, ohne die jeweilige Po-sition der Beteiligten im Blick zu haben.Wir würden nicht sagen, dass ein armerFreund keine hinreichend vergleichbarenLeistungen erbringt, nur weil er seinem rei-chen Freund keinen Champagner und Ka-viar spendiert, solange er seinen Freundoft und großzügig genug im Rahmen sei-ner Möglichkeiten bewirtet. Ebenso kannes von einem Entwicklungsland, das ver-zweifelt versucht, Arbeitsplätze zu erhal-ten, industrielle Kapazitäten zu entwickelnund Einnahmen für den Staat zu erzielen,zu viel verlangt sein, auch nur geringeZollsenkungen zu verfügen. Demgegen-über stellt sogar eine relativ starke Zoll-senkung keine große Belastung dar fürLänder mit größerem Reichtum, höheremindustriellen Entwicklungsniveau und ei-nem höher entwickelten wohlfahrts-staatlichen Transfermechanismus.

Wenn also die den Entwicklungslän-dern abverlangten Zollsenkungen eineviel stärkere Wirkung haben (wegen ih-res größeren absoluten Umfangs und,noch wichtiger, wegen ihrer geringerenAnpassungsfähigkeit und ihrer größerenAbhängigkeit von Zolleinnahmen), dannist es falsch zu sagen, dass diese Ländersich nicht völlig reziprok verhalten, auchwenn sie proportional geringere Kürzun-gen vornehmen als die entwickelten Län-der.

Den genannten Einwänden halten dieentwickelten Länder entgegen, dass dieWTO flexibel genug ist, vor allem, indemsie einige Sektoren nicht in die Abkom-men einbezieht. So soll das AllgemeineAbkommen zum Handel mit Dienstleistun-gen GATS flexibel sein, weil es Ländernerlaubt, einige Sektoren von ihren Ver-pflichtungen zur Marktöffnung auszuneh-men. Die gleiche Flexibilität wurde in den(z.Zt. ruhenden) Verhandlungen über einMultilaterales Investitionsabkommen imVorfeld des Ministertreffens 2003 inCancún unterstellt. Im Fall von NAMAwird von einer gewissen Flexibilität ge-sprochen, weil die Länder einige Sekto-

ren von ihren Verpflichtungen zu verbind-licher Festlegung bzw. Senkung von Zoll-sätzen heraushalten können, obwohl diesnur in ziemlich begrenztem Umfang mög-lich sein soll.

Flexible Zollpolitik

Dies ist jedoch eine sehr eigentümli-che Vorstellung von Flexibilität. Denn istein Sektor erst einmal liberalisiert, danngibt es kein Zurück mehr. Tatsächlich be-ruht die ganze Idee der gebundenen Zoll-sätze auf dieser Vorstellung. Die ganzeÜbung basiert auf dem Glauben, dass esin einem Sektor einen Zollsatz gibt, derniemals überschritten werden darf.

Wenn es echte Flexibilität geben soll,dann muss es Staaten erlaubt sein, ihreZollsätze zu entkoppeln, wenn es dafüreinen vernünftigen Grund gibt. Wenn z.B.ein Land bei der Entscheidung über dieSenkung des Zolls für einen bestimmtenIndustriesektor die Anpassungskosten un-terschätzt hat, wie das in der Tat vielenEntwicklungsländern in der Uruguay-Run-de passierte, dann kann es vernünftig sein,diesem Land die Anhebung der Zoll-obergrenzen zu erlauben. Es sollte denLändern auch erlaubt sein, Zölle in Sek-toren zu erhöhen, die sich gerade erstherausbilden und deshalb als junge In-dustrien Schutz brauchen. Leider erlaubtdas bestehende System eine solche Fle-xibilität nicht.

Ende der industriellenEntwicklung

Die Entwicklungsländer müssen sichder Realität der NAMA-Verhandlungenbewusst werden. Statt sich in den Sumpfder technischen Details von Zollsenkungs-formeln drängen zu lassen, sollten sie her-vortreten und die Berechtigung von NAMAinsgesamt in Frage stellen. Sie solltenauch die grundsätzlich einseitigen Auffas-sungen von „Fairness“ im internationalen

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Handel in Frage stellen, wie sie in denvon den entwickelten Ländern im Ver-handlungsprozess verwendeten Konzep-ten wie „level playing field“, „special anddifferential treatment“, „less than fullreciprocitiy“ und „flexibility“ zum Aus-druck kommen.

Wenn es mit NAMA so weiter geht wiebisher, dann dürfte es in den Entwick-lungsländern in naher Zukunft keine in-dustrielle Entwicklung mehr geben. Dasmag sehr drastisch klingen, aber die Er-fahrungen aus Vergangenheit und Ge-genwart legen nahe, dass dies die einzigrealistische Einschätzung ist.

Literatur

Chang, Ha-Joon: Kicking Away theLadder – Development Strategy in His-torical Perspective, London 2002.

Khor, Martin & Goh, Chien Yen: TheWTO Negotiations on Non-AgriculturalMarket Access: A Development Per-spective, a paper presented at the Asia-Pacific Conference on Trade: Contributingto Growth, Poverty Reduction and HumanDevelopment, Penang, Malaysia, 22-24November, 2004.

NAMA gefährdet die wirtschaftliche Entwicklung des Südens

Aus dem Englischen vonEberhard Jennerjahn

Ha-Joon Chang, Ph.D., ist stellvertreten-der Direktor des Instituts für Entwick-

lungsstudien an der Wirtschaftswissen-schaftlichen Fakultät der University of

Cambridge.

Der Beitrag ist zuerst erschienen in:Zeitschrift Entwicklungspolitik

16/17/2005www.entwicklungspolitik.org

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Die Deindustrialisierungs-agenda von Doha:

Verhandlungen über Marktzugang fürNicht-Agrarprodukte in der WTO

John Hilary

Zusammenfassung

Die derzeit in der WTO stattfindendenVerhandlungen über Marktzugang fürNicht-Agrarprodukte (Non AgriculturalMarket Access, kurz NAMA) sind für Ent-wicklungsländer von immenser Bedeu-tung. Eine unangemessene Liberalisie-rung von Märkten für Industrieproduktedroht Entwicklung zu untergraben undArmut zu erhöhen, indem einheimischeProduzenten dem Wettbewerb mit auslän-dischen Importen ausgesetzt und Be-schäftigungsmöglichkeiten für MillionenMenschen aufs Spiel gesetzt werden. Esist daher unbedingt erforderlich, dassEntwicklungsländern weiterhin erlaubtbleibt, ihre handelspolitischen Regime sozu organisieren, dass sie solchen Bedro-hungen entgegenwirken.

Doch stattdessen werden die NAMA-Verhandlungen in der WTO überstürztvorangetrieben, um rasch ein ehrgeizi-ges Niveau von Handelsliberalisierungzum Wohle der reichsten Länder durch-zusetzen. Insbesondere soll die Öffnung

industrieller Sektoren für jene trans-nationalen Konzerne erreicht werden, diein die Märkte der Schwellenländer ex-pandieren möchten. Diese eigennützige„offensive Agenda“ zu NAMA wurde vonIndustrieländern wie den USA und derEU, die nun die WTO-Verhandlungen vor-antreiben, als eine besondere Prioritätidentifiziert.

Entwicklungsländer müssen den nöti-gen wirtschaftspolitischen Spielraum(Policy Space) behalten, um die Pfadeund die Geschwindigkeit ihrer Entwicklungselbst zu bestimmen, anstatt die offensivenInteressen der reichen Staaten des Nor-dens zu bedienen. Der aktuelle NAMA-Verhandlungstext begrenzt diesen politi-schen Spielraum und bedroht Entwick-lungsländer mit Deindustrialisierung undwachsender Armut. Die WTO-Mitglied-staaten sollten den NAMA-Text in seinerjetzigen Form unbedingt ablehnen und ihndurch einen Text ersetzen, der den Bedürf-nissen der Entwicklungsländer gerechtwird und nicht den expansionistischen In-teressen der Reichen.

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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1. Einleitung: Die Bedeutungder NAMA-Verhandlungen

Während der ersten drei Jahre desDoha-Arbeitsprogramms fanden die Ver-handlungen zum Marktzugang für Nicht-Agrarprodukte (im Folgenden: NAMA-Verhandlungen) größtenteils außerhalbdes Rampenlichts statt. Ein Stillstand inden NAMA-Verhandlungen führte dazu,dass andere dringendere Debatten dieAufmerksamkeit sowohl der WTO-Dele-gierten als auch der Zivilgesellschaft inBeschlag nahmen. Auch das Scheitern derMinisterkonferenz in Cancún an Kontro-versen über Landwirtschaft und die Sin-gapur-Themen umging die Notwendig-keit eines „Showdowns“ in Sachen NAMAzum damaligen Zeitpunkt.

Seit Anfang August 2004 das so ge-nannte „Juli-Paket“ in der WTO verab-schiedet wurde, stehen die NAMA-Ver-handlungen nun wieder ganz oben aufder Agenda. Im „Juli-Paket“ wurden die

weiterhin bestehendenden Differenzenüber NAMA einmal mehr überspielt (sie-he unten); und erst seitdem hat dieSchlacht ernsthaft begonnen. Trotz diesesverspäteten Starts versuchen die Industrie-länder die Verhandlungen rasant voran-zutreiben: Schon im Juni 2005 sollte eineFormel für NAMA-Zollsenkungen verein-bart werden und im Juli sollten erste An-näherungen über die Modalitäten statt-finden*, um schließlich bei der WTO-Mi-nisterkonferenz im Dezember in Hong-kong zu einer Einigung über die Modali-täten zu gelangen. Diese neu entdeckteDringlichkeit ging auch mit einer neuenAggressivität der Industrieländer einher,deren Ziel einer „ehrgeizigen“ Liberalisie-rung der industriellen Märkte in den Ent-wicklungsländern während der Sitzungender NAMA-Verhandlungsgruppe im März2005 überdeutlich wurde.

Die Bedeutung der NAMA-Verhandlun-gen kann gar nicht genug betont werden,da sie nicht nur für die Industrie- undEntwicklungspolitik in Entwicklungslän-dern eine direkte Bedrohung darstellen,sondern auch die Bekämpfung von Armutgefährden. Industrieländer wie die EU, dieUSA und Kanada haben die NAMA-Ver-

* Bislang ist die WTO daran gescheitert, entspre-chende Vereinbarungen herbeizuführen (Anm.d. Red.).

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

„Arme Länder durch Handelsverträgezur Liberalisierung zu zwingen, ist derfalsche Weg, um Wachstum und Armuts-reduzierung in Afrika und anderswo zuerreichen.“

Bericht der „Commission for Africa“, März 2005

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handlungen explizit als hohe Priorität fürihre eigenen Gewinne in der Doha-Run-de identifiziert. Erklärtes Ziel ist dabei,„kommerziell signifikante Verbesserun-gen im Marktzugang“ für die trans-nationalen Konzerne zu erreichen, derenInteressen sie vertreten.1

Doch es wird inzwischen allgemein an-erkannt, dass solche Gewinne auf Kostenkleiner Produzenten und im Aufbau be-findlicher Wirtschaftszweige in Entwick-lungsländern gehen werden – was in ei-nem scharfen Gegensatz zu dem steht,was eben diesen Ländern im Rahmen der„Entwicklungsrunde“ als entwicklungs-förderlich versprochen wurde. Dieser Ab-schnitt bietet eine kurze Einführung in dieGefahren für Entwicklungsländer, die vonder WTO-getriebenen Liberalisierung desIndustriesektors ausgehen. Der Rest desTextes wirft dann einen genaueren Blickauf die spezifischen Bestimmungen derNAMA-Verhandlungen selbst.

1.1 Die Gefahren fürindustrielle Entwicklung

Es wird häufig beschworen, dass Ent-wicklungsländer ihre Ökonomien diver-sifizieren müssen, um ihre Abhängigkeitvon Primärgütern (Agrarprodukten undRohstoffen) zu umgehen. Nur so könnensie der Verschlechterung der „Terms ofTrade“ entkommen, die ihre Teilnahmeam Weltmarkt schon seit drei Jahrzehn-ten bestimmt. Während es einigen Ent-wicklungsländern gelingt, durch die Ent-wicklung ihrer Dienstleistungssektorenimmerhin ein Stück Diversifizierung zu er-reichen, bleibt die industrielle Entwicklungals grundlegende Strategie für den Vor-stoß in dynamischere ökonomische Akti-vitäten bestehen. Der Bedarf ist in jenenLändern besonders dringlich, in denendie zunehmende Schädigung der Umweltund der demographische Druck dazu füh-ren, dass die Landwirtschaft für neue Ge-nerationen ländlicher Arbeiter keine Be-schäftigungschancen mehr garantierenkann.2

Doch der verbesserte Marktzugang inEntwicklungsländern, den sich trans-nationale Konzerne durch die NAMA-Ver-handlungen zu sichern versuchen, drohtdie Aussichten industrieller Entwicklung invielen Staaten des Südens zu untergraben.Eine Marktöffnung in Entwicklungsländernnach den Vorschlägen der Industrielän-der würde Wirtschaftszweige, die sichnoch im Aufbau befinden (so genannte„infant industries“), überwältigender Kon-kurrenz durch Billigimporte aussetzen –mit verheerenden Folgen. Im Gegensatzzu Behauptungen, dass einheimische Un-ternehmen in Form von Effizienzgewinnenvon der Stimulation durch Auslands-importe profitieren würden, belegen em-pirische Daten, dass sehr viele Unterneh-men die Konfrontation mit solch unglei-cher Konkurrenz nicht überleben würden.

Bereits in den 1980er und 1990er Jah-ren machten viele Entwicklungsländer die-se Erfahrungen als Ergebnis der Liberali-sierung unter den Strukturanpassungs-programmen von IWF und Weltbank.Konkurrenz durch Billigimporte infolgeder Strukturanpassungsprogrammezwang sehr viele Industriefirmen, insbe-sondere in Afrika und Lateinamerika, zurSchließung. Beispiele:

Als die Zölle der Elfenbeinküste im Jahr1986 um 40% gesenkt wurden, bra-chen die Chemie-, Textil-, Schuh- undAutomobilsektoren des Landes prak-tisch zusammen.

1 Siehe den gemeinsamen Vorschlag von Kana-da, EG und USA „Non-Agricultural MarketAccess: Modalities“ vom 20. August 2003(JOB(03)/163)

2 Vgl. für Fortschritte der Entwicklungsländer inder Diversifizierung ihrer Ökonomien weg vonder Rohstoffabhängigkeit über die letzten 30Jahre: Bacchetta, M. / Bora, B. ( 2003):Industrial Tariff Liberalization and the DohaDevelopment Agenda (Genf, WTO), Anhang,Tabellen 1-4. In Afrika und im Nahen Ostenmachten Primärgüter im Jahr 2000 noch über70% aller Warenexporte aus; in Lateinamerika(ohne Mexiko) betrug ihr Anteil etwa 60%.

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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Infolge eines großen Handelslibera-lisierungsprogramms 1993 kämpftenKenias Getränke-, Tabak-, Textil-, Zu-cker-, Leder-, Zement- und Glas-sektoren angesichts der Import-konkurrenz ums Überleben.

Die Strukturanpassung der 1990erführte unter anderem auch in Kame-run, Malawi, Mosambik, Tansania,Sambia und Simbabwe zur Schließungzahlreicher Produktionsfirmen.3

Diese Erfahrung ist keinesfalls auf dieLänder des Südens beschränkt: In Ungarnwurden Zehntausende kleiner und mittle-rer Unternehmen durch Billigimporte, diedas Land nach 1989 infolge seines hals-brecherischen Strukturanpassungspro-gramms überschwemmten, zur Aufgabegezwungen.

Diese Beweislage widerspricht demallzu optimistischen Argument der Pro-Liberalisierungs-Lobby, das besagt, dasssämtliche Entwicklungsländer von denNAMA-Verhandlungen in der WTO profi-tieren würden. Während stärkere Entwick-lungsökonomien unter Umständen vonden neuen Möglichkeiten profitierenkönnten, wird die Mehrheit von den Wohl-fahrtsgewinnen ausgeschlossen sein. Wieder tansanische Präsident BenjaminMkapa, in dessen Land der produzieren-de Sektor ebenfalls durch die unter derStrukturanpassung eingeführte Liberali-

sierungspolitik empfindlich getroffen wur-de, bemerkte:4

„Die Aussicht auf die Integration un-serer Ökonomien in die Weltwirt-schaft ist extrem trüb. Stattdessenwerden unsere bestehenden Industri-en durch importierte Produkte in denRuin getrieben. Dies führt zur De-industrialisierung unserer Länder.“

Zum selben Ergebnis kam auch eineNachhaltigkeitsprüfung, die im Auftragder Europäischen Kommission im Kontextihrer gegenwärtigen Verhandlungen über„Wirtschaftspartnerschaftsabkommen“(Economic Partnership Agreements, kurzEPAs) mit den AKP-Staaten durchgeführtwurde. In einem Abschnitt über den pro-duzierenden Sektor in Westafrika stellt dieStudie fest, dass der Sektor in den Groß-städten der Region noch immer ein wich-tiger Arbeitgeber ist. Zugleich bestätigtdie Studie, dass die Abschaffung vonSchutzzöllen infolge der Liberalisierungden „Verfall beschleunigen wird“, derdurch erste Importe in diese Region be-reits eingetreten ist. Die Studie progno-stiziert außerdem, dass der produzieren-de Sektor in Westafrika nicht in der Lagesein wird, neue Absatzchancen durch dieweitere Öffnung europäischer Märkte zunutzen. Eine teilweise Ausnahme bildet al-lenfalls Nigeria, das als einziges Land inder Region auf der Angebotsseite über-haupt Kapazitäten für verstärkte Exportehat.5

1.2 Die Gefahr wachsenderArmut

Zusätzlich zu diesen Gefahren für indus-trielle Entwicklung stellt die in den NAMA-Verhandlungen vorgesehene Liberalisie-rung auch für die aktuelle internationaleKampagne gegen Armut eine direkte Be-drohung dar. Die im September 2000beschlossenen Milleniums-Entwicklungs-ziele (Millenium Development Goals, kurzMDGs) verpflichten alle Mitgliedsstaaten

3 Diese und viele andere Beispiele sind benutzer-freundlich in den folgenden Publikationenzusammengefasst: UNDP (2003): Making Glo-bal Trade Work for People (London, Earthscan);SAPRIN (2004): Structural Adjustment: ThePolicy Roots of Economic Crisis, Poverty andInequality (London, Zed Books); Buffie, E.(2001): Trade Policy in Developing Countries(Cambridge, Cambridge University Press)

4 zitiert nach Hilary, J. (1999): Globalisationand Employment: New Opportunities, RealThreats (London, Panos Institute)

5 PricewaterhouseCoopers (2003): SustainabilityImpact Assessment (SIA) of trade negotiationsof the EU-ACP Economic Partnership Agree-ments, erhältlich unter http://www.sia-gcc.org

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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der Vereinten Nationen auf das Ziel derweltweiten Bekämpfung extremer Armutsowie auf ein breites Spektrum weitererMenschenrechts- und Umweltziele.

Die drohende Deindustrialisierungbringt jedoch ein dramatisches Risikowachsender Armut mit sich – insbesonde-re in den Staaten, die (wie die meistenLänder des Südens) nicht über stabile so-ziale Sicherungssysteme verfügen. Wäh-rend einheimische Unternehmen sichbeim Versuch, mit Billigimporten zu kon-kurrieren, bereits oft gezwungen sehen,Reallöhne zu kürzen und arbeitsrechtlicheNormen zu lockern, sind die Auswirkun-gen auf Beschäftigte und Kleinprodu-zenten dann am dramatischsten, wenneinheimische Unternehmen durch dieAuslandskonkurrenz vollständig vomMarkt verdrängt werden. Viele MillionenBeschäftigte verloren infolge dieser Libe-ralisierung ihrer Binnenmärkte ihre Ar-beitsplätze und damit ihre Existenzgrund-lage, wie die folgenden Beispiele zeigen:

Im Senegal ging infolge eines zweistu-figen Liberalisierungsprogramms inder zweiten Hälfte der 1990er Jahreein Drittel aller Arbeitsplätze im pro-duzierenden Sektor verloren.

Die Liberalisierung von Konsumgüter-importen in Ghana führte zu einemdramatischen Niedergang der Be-schäftigung im produzierenden Sektor– von 78.700 Beschäftigten im Jahr1987 zu 28.000 Beschäftigten im Jahr1993. Der Afrikanischen Entwicklungs-bank (African Development Bank, kurzADB) zufolge wurden „weite Teile desproduzierenden Sektors durch Import-konkurrenz zugrunde gerichtet“.

Auch in Lateinamerika führte die Libe-ralisierung von Produktionsmärkten zueinem dramatischen Anstieg von Ar-beitslosigkeit und Unterbeschäftigung,insbesondere in Brasilien, Ecuador, Ni-caragua und Peru.6

Diese Beispiele werden durch eine vonder Weltbank durchgeführte Untersu-chung einzelner Studien zum Verhältnisvon Globalisierung und Arbeitslosenratenbestätigt. Die Studie schließt: „In Zeitenvon Handelsliberalisierung bzw. allge-meiner ausgedrückt in Zeiten ökonomi-scher Reformen kann erwartet werden,dass die Zerstörung von Arbeitsplätzenschneller voranschreitet als die Schaffungneuer Arbeitsplätze. Globalisierung könn-te daher mit höheren Arbeitslosenraten inVerbindung gebracht werden.“ Der Be-richt weist ferner darauf hin, dass dergrößte Teil neu geschaffener Arbeitsplät-ze in Entwicklungsländern aufgrund aus-ländischer Investitionen entstanden ist,also eine grundlegend andere Dynamikals die der Liberalisierung von Import-regimen zur Grundlage hat.7

Diese Verbindung mit Einkommens-und Beschäftigungschancen gilt alsSchlüsseldeterminante für die Auswirkun-gen der Handelsliberalisierung auf dieArmut innerhalb einer bestimmten Ge-meinschaft. Sie entscheidet, ob es zu ei-nem Anstieg oder einem Rückgang derArmut kommt. Dieses Argument ist einwichtiges Korrektiv zu Behauptungen,dass Liberalisierung den Armen aufgrundvon Preissenkungen nützen würde. Dennes bestätigt die vergleichsweise höhereBedeutung der Einkommenssicherheit ge-genüber dem Verbrauchernutzen, selbstwenn die Armen (wie so oft) Netto-konsumenten sind. Die Weltbank selbsträumt im handelspolitischen Kapitel ih-res „PRSP Sourcebook“ ein:8

Im Allgemeinen werden die Auswir-kungen auf die Einkommensquellender Armen eine wichtigere Determi-

6 Beispiele: vgl. Fußnote 27 Rama, M. (2003): Globalization and Workers

in Developing Countries (Washington D.C.,World Bank)

8 World Bank: PRSP Sourcebook, Kapitel 13:„Trade Policy“; erhältlich unter http://poverty.worldbank.org

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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nante für das Ergebnis der Liberali-sierung sein als die Auswirkungen aufdie Preise der Güter, die sie konsu-mieren.

Das katastrophalste Szenario tritt ein,wenn massive Importsteigerungen Preis-schocks verursachen, die wiederum zumZusammenbruch eines gesamten Sektorsführen; so geschehen im Fall der Liberali-sierung industrieller Sektoren in vielen Ent-wicklungsländern. Der HandelsökonomAlan Winters, selbst ein früherer Abteilungs-leiter in der Weltbank, bemerkt:9

Ein Schock, der einen wichtigen Marktvollständig untergräbt – z.B. einen Marktfür ein „cash crop“ oder für eine be-stimmte Beschäftigungsform – hat wahr-scheinlich schwerste Armutsfolgen.

Diese Schlussfolgerungen stimmen mitden Daten der UNCTAD aus den ärmstenLändern der Welt überein (siehe Abbil-dung 1). Es zeigt sich, dass eine weiter-reichende Liberalisierung des Handelsmit einer erhöhten Einkommensarmuts-rate in den 1990er Jahren einherging –und dass die Einkommensarmut in denStaaten, die die meisten Liberalisierun-gen vornahmen, dramatisch anstieg.Während Autarkie ebenfalls mit wachsen-der Armut zusammenhängt, zeichnen sichdiejenigen Staaten, die nach dem TradeRestrictiveness Index des IWF10 [einemIndex, der die Offenheit von Volkswirt-schaften messen soll, Anm. d. Ü.] nochals „moderat“ oder „restriktiv“ gelten,durch abnehmende Armutsraten aus. Die-

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9 Winters, A. (2000): Trade, Trade Policy andPoverty: What are the Links? (London, Centrefor Economic Policy Research)

10 Der Trade Restrictiveness Index (TRI) des IWF[beinhaltet tarifäre und nicht-tarifäre Handels-hemmnisse, a.d.Ü.] und definiert eine Volks-wirtschaft bei einem Index von 1-4 als „offen“,bei einem Index von 5-6 als „moderat“ undbei einem Index von 7-10 als „restriktiv“.

ABBILDUNG 1: Veränderungen in der Häufigkeit extremer Armut(1 US-$ pro Tag) in LDCs, 1987-89 bis 1997-99(Quelle: UNCTAD Least Developed Countries Report 2004, S. 189)

IWF-Index der handelspolitischen Restriktivität, 1999(1 = sehr offen, 10 = sehr restriktiv)

Offenheit der Volkswirtschaft nach dem Trade Restrictiveness Index des IWF, 1999(1= sehr offen, 10= sehr restriktiv)

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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se Ergebnisse sind ein Indikator dafür, wiewichtig es ist, mit extremer Vorsicht undnur im Einklang mit den eigenen Ent-wicklungsinteressen der jeweiligen Länderzu liberalisieren.

Diese Überlegungen werden im Lich-te der letzten Prognosen über Ergebnisse

der NAMA-Verhandlungen in der WTOumso bedeutender. Simulationen, die voneiner Reihe möglicher Szenarien ausge-hen, deuten darauf hin, dass es in derTat Sektoren in Entwicklungsländern ge-ben wird, die infolge der gegenwärtigenVerhandlungen signifikante Produktions-und Beschäftigungsverluste erleiden

TABELLE 1: Zolleinnahmen in Prozent aller Steuereinnahmen(ausgewählte Länder).(Quelle: Weltbank: World Development Indicators 2003)

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

Importmarkt Prozent Ägypten 12,6 Mali 12,0 Äthiopien 26,0 Marokko 15,9 Bahamas 55,9 Mauretanien 30,1 Bangladesch 22,6 Mauritius 25,0 Barbados 11,2 Namibia 37,1 Belize 49,0 Nepal 27,2 Benin 56,0 Niger 36,4 Botswana 12,4 Pakistan 12,2 Burkina Faso 14,3 Panama 10,7 Burundi 20,2 Papua Neuguinea 27,3 China 9,4 Paraguay 10,3 Demokratische Republik Kongo 31,9 Philippinen 17,2 Dominica 19,6 Ruanda 31,1 Dominikanische Republik 42,8 Salomonen 57,1 Ecuador 11,3 Sambia 15,8 Elfenbeinküste 41,8 Samoa 50,2 Fidschi 21,5 Senegal 36,5 Gabun 17,4 Sierra Leone 48,1 Gambia 42,8 Simbabwe 20,5 Ghana 26,8 Sri Lanka 11,3 Grenada 18,2 St. Kitts und Nevis 37,0 Guatemala 15,0 St. Lucia 26,5 Guinea 76,6 St. Vincent & Grenadinen 40,3 Guinea-Bissau 37,1 Sudan 29,0 Haiti 21,4 Surinam 22,9 Honduras 42,4 Swaziland 51,9 Indien 18,5 Syrien 9,9 Jemen 10,3 Tadschikistan 15,9 Jordanien 16, 8 Thailand 10,4 Kamerun 28,3 Togo 35,4 Kenia 13,8 Tonga 48,4 Lesotho 47,7 Tschad 15,3 Libanon 28,1 Tunesien 11,5 Madagaskar 51,9 Uganda 49,8 Malawi 16,3 Vanuatu 36,2 Malaysia 12,7 Vietnam 18,1 Malediven 28,3 Zentralafrikanische Republik 39,8

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werden.11 Die langfristigen Armutsfolgensolcher Verluste dürfen nicht erst als nach-trägliche Anpassungskosten behandeltwerden, sondern müssen als erstrangigerFaktor Eingang in die Verhandlungenselbst finden.

1.3 Makroökonomische undfiskalische Auswirkungen

Die Liberalisierung der Märkte für In-dustrieprodukte droht auch die makro-ökonomische Stabilität von Entwicklungs-ländern zu untergraben. Massive Import-anstiege infolge einer Liberalisierungstellten bereits hohe Anforderungen an dieHandelsbilanzen von Entwicklungslän-dern, während gleichzeitig ihre eigenenIndustriezweige durch Außenwettbewerbunter Druck gerieten. Zwei Beispiele vonvielen: Sowohl in den Philippinen alsauch in Mexiko verschlechterten sich wäh-rend der 1990er Jahre die Leistungs-bilanzdefizite infolge der Liberalisierungdes industriellen Handels.12

Das Problem wird durch die Tatsacheverschärft, dass das größte Import-wachstum bei verarbeiteten Gütern undKonsumgütern stattfindet und nicht bei

Vorleistungs- oder Investitionsgütern.Dadurch wird die Fähigkeit eines Landes,einen eigenen dynamischen Exportsektorzu entwickeln, behindert. In Uganda zumBeispiel stiegen infolge der Liberalisie-rung in den 1980er Jahren die Konsum-güterimporte massiv an, die ihrerseits 40bis 60% der Devisen des Landes in An-spruch nahmen. In der Folge verkümmer-te die Kapazitätsauslastungsrate imIndustriesektor bei 22%.13

Zusätzlich werden die fiskalischen Ge-fahren für Entwicklungsländer, die von derNAMA-Liberalisierung ausgehen, zuneh-mend deutlich. Da Entwicklungsländerstärker von Zolleinnahmen abhängen alsIndustrieländer14 (siehe Auswahl in Tabel-le 1), führen drastische Zollsenkungenhöchstwahrscheinlich zu einem signifikan-ten Rückgang der gesamten Staatsein-nahmen. Damit gehen zerstörerische Fol-gen für ohnehin fragile Regierungspro-gramme einher, da fiskalische Einschrän-kungen durchaus Budgetkürzungen in Be-reichen wie Gesundheit, Bildung und an-deren öffentlichen Dienstleistungen erfor-derlich machen können. Das Ergebniswäre wiederum, dass die Doha-Runde dieErreichung der Milleniums-Entwicklungs-ziele und die Verringerung weltweiter Ar-mut verhindern würde.

Die obigen Zahlen sollten mit den ent-sprechenden Zahlen für Großbritannienund Nordirland (0%), Frankreich (0%),Deutschland (0%), USA (1%), Kanada(1,3%) und Japan (1,3%) verglichen wer-den. Berechnungen potenzieller Einkom-mensverluste, die aus verschiedenenHandelsliberalisierungsszenarien ent-stünden, bestätigen, dass ehrgeizige Va-rianten der gegenwärtig von Industrie-staaten in der WTO vorgeschlagenennicht-linearen Formel für viele Entwick-lungsländer zu einem Verlust von über50% der Zolleinnahmen führen könnten,die sie gegenwärtig aus dem Handel mitNicht-Agrarprodukten erhalten.15

11 Fernandez de Cordoba, S. / Vanzetti, D.(2004): Trick or Treat? DevelopmentOpportunities and Challenges in the WTONegotiations on Industrial Tariffs (Nottingham,Centre for Research in Economic Developmentand International Trade)

12 SAPRIN (2004): Structural Adjustment: ThePolicy Roots of Economic Crisis, Poverty andInequality (London, Zed Books)

13 Buffie, E. (2001): Trade Policy in DevelopingCountries (Cambridge, Cambridge UniversityPress)

14 vgl. Ebrill, L. / Stotsky, J. / Gropp, R. (1999):Revenue Implications of Trade Liberalization.IMF Occasional Paper no. 180 (Washington,International Monetary Fund)

15 Fernandez de Cordoba, S. / Vanzetti, D.(2004): Trick or Treat? DevelopmentOpportunities and Challenges in the WTONegotiations on Industrial Tariffs (Nottingham,Centre for Research in Economic Developmentand International Trade)

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1.4 Die Notwendigkeit, denInteressen der Entwicklungslän-der Vorrang zu geben

Die obigen Überlegungen umreißenknapp einige der Gefahren, denen sichEntwicklungsländer durch die NAMA-Ver-handlungen in der WTO ausgesetzt se-hen. Das heißt nicht, dass jegliche Libe-ralisierung industrieller Märkte fehlgelei-tet wäre. Es kann durchaus im nationalenInteresse liegen, Zollhürden zu senken undandere Importhindernisse für bestimmteSektoren aus dem Weg zu räumen – vorallem, wenn diese Importe in die einhei-mische Produktion fließen sollen und esbislang keine lokale Quelle dafür gibt.16

Die NAMA-Verhandlungen jedoch dro-hen die Märkte von Entwicklungsländernnicht zu deren eigenem Nutzen zu öffnen,sondern zugunsten von Exportinteressenin anderen Volkswirtschaften. Obwohl voneiner „Doha Entwicklungsrunde“ gespro-chen wird, die die entwicklungsfeindlichenVerzerrungen der Uruguay-Runde korri-gieren soll, werden die gegenwärtigenWTO-Verhandlungen nach wie vor aufeiner merkantilistischen Grundlage ge-führt, wobei Marktöffnung durch ein„Trade-off“ offensiver Interessen erreichtwird. Wie Verhandlungsführer reicher Län-der, z.B. der EU-Handelskommissar PeterMandelson, explizit formulieren, müssenEntwicklungsländer für die mögliche zu-künftige Abschaffung von Agrarsub-ventionen reicher Länder (die vor derWTO als illegal gelten) „bezahlen“, in-dem sie ihre eigenen industriellen undDienstleistungssektoren für im Nordenbeheimatete transnationale Konzerne öff-nen.17

Wenn sie aber die Möglichkeit habensollen, eigene Industriesektoren aufzu-bauen und dadurch angemessene Be-schäftigungsmöglichkeiten zu schaffen,die Armut bekämpfen, müssen Entwick-lungsländer die nötige Flexibilität behal-ten, um einzelne Wirtschaftssektoren ih-ren eigenen Interessen entsprechend zuschützen oder zu öffnen. Dieses Modell

„selektiver Intervention“ hat in den letz-ten Jahren weitreichende internationaleUnterstützung gewonnen, unter anderemim von der Entwicklungsfinanzierungs-konferenz in Monterrey im März 2002vorgelegten Bericht des High-Level Panelzur Entwicklungsfinanzierung (bekannt alsZedillo-Bericht):

So fehlgeleitet das alte Modell despauschalen Protektionismus zumZwecke der Förderung importsubsti-tuierender Industrien auch war: Eswäre ein Fehler, ins andere Extrem zuverfallen und Entwicklungsländern dieMöglichkeit vorzuenthalten, die Ent-wicklung eines industriellen Sektorsaktiv voranzutreiben.

Ein solches Modell stimmt auch miteiner wachsenden Einsicht überein, dassbislang staatliche Intervention und nichtLiberalisierung als entscheidender Faktorhinter den meisten Erfolgsgeschichten in-dustrieller Entwicklung steckte.18

Ob politische Maßnahmen, die einesolche Entwicklung fördern, die Doha-

16 Vgl. Fugazza, M. (2004) Export Performanceand its Determinants: Supply and DemandConstraints. UNCTAD Policy Issues in Interna-tional Trade and Commodities Study Series,no. 26 (New York und Genf, United Nations).Diese Bestätigung der Wichtigkeit politischerIntervention dahingehend, dass der Liberalisie-rung des Handels mit Vorleistungsgütern Vor-rang vor der des Handels mit verarbeitetenGütern eingeräumt wird, widerlegt das Argu-ment für Einheitszölle; vgl. hierzu Tarr, D.G.(2002): „Arguments for and Against UniformTariffs“ in Hoekman, B. / Mattoo, A. / English,P. (Hrsg.): Development, Trade, and the WTO:A Handbook (Washington D.C., World Bank)

17 In diesem Papier wird anstelle der offiziellenWTO-Bezeichnung EG (Europäische Gemein-schaften) der geläufigere Ausdruck EU verwen-det.

18 Vgl. zum Beispiel: Chang, H.-J. (2002):Kicking Away the Ladder: DevelopmentStrategy in Historical Perspective (London,Anthem Press); Rodrik, D. (2001): The GlobalGovernance of Trade as if Development ReallyMattered (New York, UNDP)

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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Runde überleben können, hängt weitge-hend davon ab, welche Richtung dieNAMA-Verhandlungen während des rest-lichen Jahres 2005 einschlagen werden.Der nächste Abschnitt dieses Textes unter-sucht detaillierter die spezifischen Gefah-ren, die von den Verhandlungen in ihrergegenwärtigen Form ausgehen.

2. Die NAMA-Verhandlungenin und nach Cancún

Anhang B des „Juli-Pakets“, das am1. August 2004 vom Allgemeinen Rat derWTO verabschiedet wurde (WT/L/579),umreißt einen „Rahmen für die Ausarbei-tung von Modalitäten für den Marktzu-gang für Nicht-Agrarprodukte“. Seit er2003 erstmals vorgestellt wurde, ist derText des Anhangs B Gegenstand heftigerKontroversen, weil konsequent versäumtwurde, die Perspektive der Entwicklungs-länder zu berücksichtigen. Stattdessenwurde im Anhang den Interessen der In-dustrieländer Vorrang gegeben. Folglichlehnten die WTO-Mitglieder ihn jedes-mal, wenn er auftauchte, ab.

Als der Anhang B den WTO-Mitglie-dern am 16. Juli 2004 als Entwurf vorge-legt wurde, gaben der Vorstand der Ge-neralversammlung und der WTO-Gene-raldirektor einen Begleitbrief heraus, in

dem sie bestätigten, dass es sich bei demText einfach um eine Neuauflage des An-hangs B des „Derbez-Textes“ handelte.Dieser war der WTO-Ministerkonferenzvon Cancún am 13. September 2003 vor-gelegt und daraufhin abgelehnt worden.Der Begleitbrief gab auch die Sichtweisedes Leiters der Verhandlungsgruppe fürNAMA, des isländischen BotschaftersJohansson, zur Kenntnis. Dieser sagte, derDerbez-Anhang sei „nicht als beschlosse-ner Text, sondern als Grundlage für dieoffensichtlich notwendigen weiteren Ver-handlungen reproduziert worden“. Wieder Brief feststellt, resultiert dieses Vorge-hen aus den „ernsthaften Divergenzen“zwischen den Verhandlungspositionenverschiedener WTO-Mitglieder überNAMA, von denen Johansson einige ineinem eigenen Begleitbrief vom 9. Juli2004 hervorgehoben hatte.

Der Derbez-Anhang selbst war jedochein Abbild des NAMA-Vorschlags, den Ka-nada, die EU und die USA kurz vor derMinisterkonferenz von Cancún vorgelegthatten. Der Text wurde heftig dafür kriti-siert, Anliegen von Entwicklungsländernaußen vor gelassen zu haben, obwohldiese Anliegen vor und während der Mi-nisterkonferenz von Cancún wiederholt –sowohl mündlich als auch in offiziellenund allen WTO-Mitgliedern zugänglichgemachten Dokumenten – vorgebrachtworden waren.19 Die Ministerkonferenz inCancún scheiterte, wie oben angemerkt,aufgrund der Unnachgiebigkeit der Indu-strieländer bezüglich anderer Themen –zuvor jedoch hatten Entwicklungsländerden NAMA-Anhang zurückgewiesen, weilihre Anliegen nicht integriert worden wa-ren.

Als der Anhang B dem AllgemeinenRat der WTO im Juli 2004 erneut vorge-legt wurde und man feststellte, dass essich um exakt den gleichen Text handel-te, der in Cancún von Entwicklungslän-dern abgelehnt worden war, rief diesnicht wenig Ärger hervor. Nach langenDebatten stimmten Entwicklungsländerder Integration von Anhang B ins „Juli-

19 Siehe z.B. WTO-Dokumente TN/MA/W/27(von Ghana, Kenia, Nigeria, Sambia, Simbab-we, Tansania und Uganda); TN/MAW/31 (vonÄgypten, Indien, Indonesien, Kenia, Malaysia,Mauritius, Nigeria, Simbabwe, Tansania undUganda); TN/MA/W/40 (von Ghana, Kenia,Madagaskar, Mauritius, Nigeria, Ruanda,Sambia, Simbabwe, Tansania, Tunesien undUganda); TN/MA/W/43 (von Malaysia); TN/MA/W/45 (von Argentinien, Bolivien, Brasili-en, Chile, Costa Rica, Ecuador, El Salvador,Guatemala, Kolumbien, Mexiko, Panama, Pa-raguay, Peru, Uruguay und Venezuela); sowieWT/MIN(03)/W/18 (von der G90-Koalition ausLändern der Afrikanischen Union, den am we-nigsten entwickelten Ländern (LDC) und denAKP-Staaten).

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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Paket“ nur unter der Bedingung zu, dassihm das ‚Vehikel’ vorangestellt werde,welches schließlich als Paragraf 1 desAnhangs eingebaut wurde. Dieses stelltfest, dass die Schlüsselelemente des An-hangs noch immer nicht vereinbart sindund daher Gegenstand weiterer Ver-handlung bleiben. Insbesondere werdendie Zollsenkungsformel, der Umgang mitungebundenen Zöllen, Flexibilitäten fürEntwicklungsländer, die sektorale Kom-ponente und Themen der Präferenz-erosion hervorgehoben. Alle diese The-men werden weiter unten in diesem Arti-kel behandelt.

Dieser letzte verzweifelte Versuch, et-was Verhandlungsspielraum zu erhalten,ändert nichts an der Tatsache, dass derNAMA-Verhandlungsrahmen die Agendader Industrieländer widerspiegelt, indemer eine weitreichende Liberalisierung derMärkte in Entwicklungsländern zum Zielhat. Werden die Verhandlungen auf derGrundlage von Anhang B geführt, gera-ten Entwicklungsländer von Anfang an indie Defensive, da die Verhandlungen ineinem Kontext stattfinden, der weder ihrePositionen noch ihre Anliegen repräsen-tiert. Anstatt von einer Position auszuge-hen, die auf die Entwicklungsbedürfnissedes Südens einzugehen versucht, wie eseiner „Entwicklungsrunde“ angemessenwäre, ist der Rahmen der NAMA-Verhand-lungen darauf zugeschnitten, die Markt-zugangsagenda der Industrieländer undder transnationalen Konzerne, die sie re-präsentieren, zu erfüllen. Entwicklungslän-dern bleibt nichts anderes übrig, als zuversuchen, die Möglichkeit ihrer eigenenindustriellen Entwicklung an den Ränderndieser Agenda zu verteidigen.

Für den Fall, dass noch Zweifel dar-über bestehen könnten, wer wirklich ausden durch Anhang B strukturierten Ver-handlungen Nutzen ziehen wird, veröf-fentlichte der US-Handelsbeauftragterasch eine Sammlung von Reaktionen vonUS-Unternehmen auf das „Juli-Paket“.20

Darin findet sich unter anderem eine Stel-lungnahme von der Industrielobby „Na-

tional Association of Manufacturers“, diebesagt:

Die wirklich große Leistung für Ver-handlungen zu Industrieproduktenbesteht darin, dass alle Länder dasPrinzip umfangreicher Zollsenkungenund der sektoralen Abschaffung vonZöllen akzeptiert haben.

Während diese Interpretation über dashinausgeht, was tatsächlich beschlossenwurde, befand sich die National Associa-tion of Manufacturers in ausreichenderHochstimmung, um am 9. August 2004eine Pressemitteilung zu veröffentlichen,in der sie ankündigte, eigens eine WTO-Aktionsgruppe einzurichten, um bei denNAMA-Verhandlungen Druck für weitrei-chende Liberalisierung zu machen. DesWeiteren bestätigte die Vereinigung, dasssie auch weiterhin die Leitung der „ZeroTariff Coalition“ behalten würde, einerKoalition von Industrieverbänden, die fürdie vollständige Abschaffung sektoralerZölle durch die WTO arbeitet.21 Sie führ-te ebenfalls eine „noch nie da gewese-ne“ weltweite Delegation industriellerLobbygruppen im April 2005 nach Genfan, die „wirklich ehrgeizige Einschnitte inindustrielle Zollschranken“ zugunsten ih-rer Mitgliedsfirmen forderte.22

UNICE, der europäische Dachver-band der Arbeitgeberverbände, pries das„Juli-Paket“ ebenfalls als Sieg für die

20 ‘What They Are Saying About the WTOFramework Agreement’, Pressemitteilung desUSTR, 4. August 2004

21 ‘NAM Announces New WTO Action Group’,Pressemitteilung der National Association ofManufacturers, 9. August 2004; ich dankeErik Wesselius vom Corporate EuropeObservatory dafür, dass er mir diese Mitteilungzugänglich gemacht hat.

22 ‘NAM Leads Manufacturers’ Fly-In to GenevaSeeking Reduction of Tariff Barriers to Trade’,Pressemitteilung der National Association ofManufacturers, 11. April 2005; ich dankeCarin Smaller vom “Institute for Agricultureand Trade Policy” dafür, dass sie mir diesePressemitteilung zugänglich gemacht hat.

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

24

Unternehmen, äußerte jedoch auch Be-sorgnis über den andauernden Wider-stand von Entwicklungsländern im BereichNAMA.23 UNICE wiederholte sein Ziel, amEnde der Doha-Runde alle NAMA-Zölleauf maximal 15% heruntergefahren zusehen – ein Ziel, dass die EU im Namenvon UNICE als offizielle Politik verfolgt.

Tatsächlich hat die EU die NAMA-Ver-handlungen explizit als (neben GATS) eineder beiden obersten Prioritäten ihrer „of-fensiven Agenda“ innerhalb der Doha-Runde benannt.24 Offizielle Stellen ver-schiedener EU-Mitgliedsstaaten bestätig-ten, dass sie von Seiten europäischerWirtschaftslobbygruppen unter Druckgesetzt wurden, während der Runde dieindustriellen Märkte von Entwicklungslän-dern ins Visier zu nehmen. Ein Ergebnisdavon ist, dass die EU mit den USA, Ka-nada und anderen Industrieländern Waf-fenbrüderschaft geschlossen hat, um dasTempo der NAMA-Verhandlungen im Vor-lauf der Ministerkonferenz in HongkongEnde 2005 zu beschleunigen. Der folgen-de Abschnitt widmet sich genauer denForderungen, die im Rahmen der NAMA-Verhandlungen an Entwicklungsländergestellt werden, und den Aktionen, dienötig sind, um diesen Forderungen zuwiderstehen.

3. Der aktuelle NAMA-Text

Paragraf 2 von Anhang B in seiner ak-tuellen Form bestätigt erneut die Wich-tigkeit von „weniger als völliger Rezipro-zität“ („less than full reciprocity“) als zen-tralem Prinzip der NAMA-Verhandlungen.

Dieses Prinzip ist in Paragraf 16 der Doha-Ministererklärung verankert, der den Auf-trag zu NAMA-Verhandlungen erteilt:

Die Verhandlungen sollen die spezi-ellen Bedürfnisse und Interessen derteilnehmenden Entwicklungs- und amwenigsten entwickelten Länder(LDCs) vollständig berücksichtigen,unter anderem durch weniger alsvöllige Reziprozität bei Zollsenkungs-verpflichtungen in Übereinstimmungmit den relevanten Vorschriften vonArtikel XXVIIIbis des GATT 1994 undden weiter unten in Paragraf 50 ge-nannten Regelungen.

Allerdings steht das Prinzip „wenigerals völliger Reziprozität“ in einem Span-nungsverhältnis zum Wunsch der Indus-trieländer und der durch sie vertretenentransnationalen Konzerne, Zugang zu denindustriellen Märkten der Entwicklungs-länder zu gewinnen – besonders zu de-nen, die groß genug sind, um von öko-nomischem Interesse zu sein. Aus diesemGrund haben die EU und die USA, wie esu.a. Indien und Brasilien bei den Sitzun-gen der Verhandlungsgruppe für NAMAim März 2005 feststellten, das Mandatvon Doha auf den Kopf gestellt, indemsie den Entwicklungsländern in der aktu-ellen Runde mehr als völlige Reziprozitätabverlangen.

In der Tat gibt es ernsthafte Bedenkendahingehend, dass das Prinzip „wenigerals völliger Reziprozität“ für Entwick-lungsländer schon im derzeit igenNAMA-Anhang verletzt wurde. Dieserreproduziert ja den Derbez-Anhang, derwiederum in weiten Teilen auf den Vor-schlag von Kanada, EU und USA vomAugust 2003 zurückgeht. Die Erklärungder G90, die die Handelsminister derAfrikanischen Union, der AKP-Staatenund der LDCs (am wenigsten entwickel-te Staaten = least developed countries)am 13. Juli 2004 in Grand Baie (Mauri-tius) abgaben, dokumentiert, dass derNAMA-Anhang „im Widerspruch mitdem Prinzip weniger als völliger Rezipro-

23 ‘WTO-Doha Development Agenda: UNICEWelcomes the WTO Decision but Calls forMore Industrial Market Access’, Pressemittei-lung von UNICE, 2. August 2004

24 ‚Außenhandel - Doha-Entwicklungsagenda -Schlussfolgerungen des Rates‘.Pressemitteilung Nr. 12767/04 des Europäi-schen Rates, 11.Oktober 2004, S.19.

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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zität steht, wie es in der Erklärung vonDoha verankert wurde. Insofern würde erdie Deindustrialisierungskrise weiter ver-tiefen und die Arbeitslosigkeits- undArmutskrise in unseren Ländern verschär-fen.“ Die folgenden Abschnitte widmensich der Frage, wie diese Drohung ver-wirklicht werden könnte.

3.1 Zollsenkungsformel

Trotz lang anhaltender Kritik seitensder Entwicklungsländer hält der Paragraf4 des Anhangs B daran fest, eine nicht-lineare Formel zu befürworten, die aufjede einzelne Zolltariflinie angewendetwird, um die von den WTO-Mitgliedsstaa-ten verlangten Senkungen der Industrie-zölle zu berechnen. Diese Formel wäreauf alle WTO-Staaten anwendbar, mitAusnahme der LDCs und einem Dutzendanderer Entwicklungsländer, die nachParagraf 6 (siehe unten) ausgenommenwerden sollen. Paragraf 8 sieht für Ent-wicklungsländer einen längeren Imple-mentierungszeitraum für die Zollsenkun-gen sowie Flexibilitätsspielräume für ei-nen bestimmten Prozentsatz von Zolltarif-linien vor – obwohl inzwischen selbst die-se Elemente einer Sonder- und Vorzugs-behandlung („special and differentialtreatment“, kurz SDT) von Industrielän-dern während der letzten Sitzungen derVerhandlungsgruppe für NAMA in Fragegestellt wurden.

Der Formelvorschlag in Anhang B spie-gelt exakt die von den Industrieländernhervorgebrachte Position wieder. Eine aufjede Zolltariflinie einzeln angewandtenicht-lineare Formel würde zu den amweitesten reichenden Zollsenkungen inEntwicklungsländern führen und damit dieweitestgehende Marktöffnung für Expor-teure aus den Industrieländern erreichen.Der nicht-lineare Aspekt der Formel sorgtfür einen „harmonisierenden“ Effekt, in-dem höhere Zölle proportional stärkergesenkt werden als niedrigere Zölle. In-dustrieländer haben diesen Punkt nochweiter getrieben, indem sie die Verwen-

dung einer „Schweizer Formel“ forderten,der extremsten verfügbaren Form harmo-nisierender Formeln.

Darüber hinaus verweigert die Anwen-dung einer solchen Formel auf jede ein-zelne Zolltariflinie (anstatt sie auf denDurchschnitt aller Zolltariflinien anzuwen-den) Entwicklungsländern jede Chance,den Liberalisierungsprozess zu ihrem ei-genen Nutzen zu steuern. Staaten wie dieEU verlangten, dass die landwirtschaftli-chen Zollsenkungen, die während derUruguay-Runde durchgeführt wurden, sichüber verschiedene Zolltariflinien hinwegausgleichen sollten, um beim geforder-ten Durchschnitt anzukommen. DiesesVorgehen sollte ihnen ermöglichen, denSchutz sensibler Produkte aufrecht zu er-halten und gleichzeitig die Zollsenkungs-vorgaben einzuhalten, indem sie die Zöl-le weniger sensibler Güter stärker senk-ten. Im Falle von NAMA jedoch weigertsich die EU, eine derartige Flexibilität fürEntwicklungsländer zu dulden, und ver-langt stattdessen die Anwendung derZollsenkungsformel auf jede einzelneZolltariflinie.

Die WTO-Mitglieder sind sich vollstän-dig der Tatsache bewusst, dass die vor-geschlagene nicht-lineare Formel unpro-portional hohe Zollsenkungen in Entwick-lungsländern verlangen wird, da diesetendenziell höhere nichtlandwirtschaft-liche Zölle haben als Industrieländer.Gebundene Zollsätze für industrielle Gü-ter betragen durchschnittlich 29,4% (ein-faches Mittel) oder 12,5% (gewichtetesMittel). In Industrieländern liegen die ent-sprechenden Sätze bei 12,3% (einfach)und 3,4% (gewichtet).25 Viele Entwick-lungsländer mit höheren Zollsätzen wer-den von der in Anhang B vorgeschlage-nen Zollreduktionsformel stark betroffen

25 Fernandez de Cordoba, S./ Vanzetti, D. (2005)Coping with Trade Reforms: Implications of theWTO Industrial Tariff Negotiations forDeveloping Countries (Genf, UNCTAD)

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

26

werden; Tabelle 2 zeigt die einfachen Mit-tel für gebundene Zölle in den Entwick-lungsländern, die ihre Zölle nach den ge-genwärtigen Vorschlägen senken müssen(also ohne die LDCs und die „Paragraf6“-Länder).

Die Staaten mit den höchsten Zöllenwerden unter der nicht-linearen Formel,die im gegenwärtigen Anhang B vorge-schlagen wird, die größten Zollsenkungenvornehmen müssen. Damit nicht genug:Staaten werden in den Linien, die siedurch überdurchschnittlich hohe Zölle zu

schützen versucht haben, besonders dras-tische Einschnitte erleben. Thailand zumBeispiel erhebt einen durchschnittlichengebundenen Zollsatz von 48,3% (d.h. dasDoppelte des Durchschnitts für alle nicht-landwirtschaftlichen Produkte) auf Impor-te von Transportausrüstung, während In-dien einen durchschnittlichen gebunde-nen Zollsatz von 100,7% (d.h. das Drei-fache des Durchschnitts) auf Fisch undFischprodukte erhebt. Auch innerhalb ei-ner Produktkategorie können die Schutz-niveaus für einzelne Zolltariflinien starkvoneinander abweichen.

TABELLE 2: Gebundene Zollsätze (einfaches Mittel) für nichtlandwirt-schaftliche Güter in Entwicklungsländern (mit Ausnahme der LDCs undder „Paragraf 6“-Staaten)(Quelle: WTO World Trade Report 2004)

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

Importmarkt Prozent Ägypten 28.3 Kolumbien 35.4 Antigua und Barbuda 51.4 Korea 10.2 Argentinien 31.8 Kuwait 100.0 Bahrain 35.1 Malaysia 14.9 Barbados 73.0 Marokko 39.2 Belize 51.5 Mexiko 34.9 Bolivien 40.0 Mongolei 17.3 Botswana 15.8 Namibia 15.8 Brasilien 30.8 Nicaragua 41.5 Brunei Darussalam 24.5 Oman 11.6 Chile 25.0 Pakistan 35.3 China 9.1 Panama 22.9 Costa Rica 42.9 Papua Neuguinea 30.1 Dominica 50.0 Paraguay 33.6 Dominikanische Republik 34.2 Peru 30.0 Ecuador 21.1 Philippinen 23.4 El Salvador 35.7 St. Kitts und Nevis 70.8 Fidschi 40.0 St. Lucia 53.9 Gabun 15.5 St. Vincent und die Grenadinen 54.6 Grenada 50.0 Singapur 6.3 Guatemala 40.8 Südafrika 15.8 Guyana 50.0 Swaziland 15.8 Honduras 32.6 Taiwan 4.8 Hong Kong, China 0.0 Thailand 24.2 Indien 34.3 Trinidad und Tobago 50.5 Indonesien 35.6 Tunesien 40.6 Jamaika 42.5 Vereinigte Arabische Emirate 13.1 Jordanien 15.2 Uruguay 31.3 Katar 14.5 Venezuela 33.9

27

Tabelle 2 sollte außerdem im Kontextder durchschnittlichen gebundenen Zöllefür nicht-agrarische Importe in Industrie-länder gesehen werden; die EU beispiels-weise hat ein einfaches Mittel von 3,9%,die USA 3,2%, Kanada 5,3% und Japan2,3%. Die Verwendung einer nicht-linea-ren Formel würde von Entwicklungslän-dern infolge der Doha-Runde eindeutigviel größere Zollsenkungen verlangen alsvon Industrieländern – daher der Vorwurf,dass somit anstelle des Prinzips „wenigerals völliger Reziprozität“ die Forderungnach „mehr als völliger Reziprozität“ anEntwicklungsländer gerichtet wird.

Die spezifischen Auswirkungen einernicht-linearen Formel auf die Zölle ver-schiedener Länder werden aus den Be-rechnungen des WTO-Sekretariats (TN/MA/S/3/Rev.2) und Indiens (TN/MA/W/10/Add.3) deutlich, die 2003 auf derGrundlage früherer Vorschläge an einerReihe von WTO-Mitgliedsstaaten durch-geführt wurden. Während die exaktenAuswirkungen in jedem Fall letztlich vomgewählten Koeffizienten abhängen, fallenin jedem Szenario die Zölle von Entwick-lungsländern im Vergleich zu den gegen-wärtigen Niveaus dramatisch. Im Gegen-satz dazu bleiben in Industrieländern so-gar nationale Spitzenzölle weitgehendverschont.26

Eine einzige Formel auf Entwicklungs-und Industrieländer gleichermaßen anzu-wenden, verletzt daher das Prinzip „weni-ger als völliger Reziprozität“ ausgerech-net dort, wo es am dringendsten ge-braucht wird. Manche Entwicklungsländersetzten sich für die Verwendung zweierverschiedener Formeln ein, um diesesPrinzip im Kern der Verhandlungen ein-zuführen. Vertreter von Industrieländernhingegen bestätigten, dass der gegenwär-tige Text ihrer Meinung nach ihr Anliegennach der Verwendung einer einzigen For-mel unterstützt. Sie betonen weiterhin,dass sie als Ergebnis der NAMA-Verhand-lungen beträchtliche neue Marktzugangs-möglichkeiten für ihre Exporteure anvisie-ren.

Dieses aggressive Ziel wurde kürzlichdurch eine neue Studie des US-amerika-nischen Wirtschaftsverbandes „NationalForeign Trade Council“ (NFTC) bestärkt.Der NFTC wurde vom früheren US-Handelsbeauftragten Robert Zoellick fürseine Bemühungen gelobt, „uns dabei zuhelfen, innerhalb der WTO Industriezölleanzupacken“. Die neue Studie des Ver-bands soll weitreichende nichtlandwirt-schaftliche Marktliberalisierung in derDoha-Runde vorantreiben und machtÄgypten, Brasilien, Indien, Malaysia undSüdafrika als besondere Ziele der NAMA-Verhandlungen aus. In diesen Ländern sei,so die Studie, der „Zollüberhang“ (d.h. dieDifferenz zwischen angewandten und ge-bundenen Sätzen) so bedeutend, dass dieNAMA-Formel Zollsenkungen von minde-stens 75% erreichen müsse, um US-FirmenGewinne auf dem Niveau zu ermögli-chen, die sie sich erhoffen.27

Als Reaktion auf ihre einheimischenWirtschaftslobbys haben die Industrielän-der den Druck auf Entwicklungsländer inder WTO erhöht, bis Ende Juni 2005 ei-ner ehrgeizigen NAMA-Formel zuzustim-men*. Vorschläge der USA, Norwegensund der EU, die bei den Sitzungen derNAMA-Verhandlungsgruppe im März2005 vorgebracht wurden, sahen vor, dasTempo in Richtung einer „Schweizer For-mel“ zu forcieren, um die maximale Har-monisierung aller Zölle zu erreichen. Zu-sätzlich betonen alle drei Vorschläge (mit

26 Die Häufigkeit von “national tariff peaks” (Zöl-le, die über dreimal so hoch sind wie der na-tionale Durchschnitt) und internationalen “tariffpeaks” (Zölle von mindestens 15%) wird Staatfür Staat in der Mitteilung des WTO-Sekreteriats für September 2002 aufgezählt:(TN/MA/S/4) WTO Members’ Tariff Profiles.

27 NFTC (2005): Making the Case for AmbitiousTariff Cuts in the WTO’s Non-AgriculturalMarket Access Negotiations (Washington DC,National Foreign Trade Council)

* Dieses Ziel wurde nicht erreicht (Anm. d.Red.).

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Hilfe unterschiedlicher Formulierun-gen)28 , dass Entwicklungsländer auf ihreRechte auf Sonder- und Vorzugsbehand-lung nach Paragraf 8 im Anhang B ver-zichten müssen, wenn sie bei der Anwen-dung der Zollsenkungsformel von „weni-ger als völliger Reziprozität“ Gebrauchmachen möchten.

Diese neue Unterstellung von Industrie-ländern, dass Sonder- und Vorzugsbe-handlungen (SDT) in irgendeiner Weiseeine Alternative zum Prinzip „weniger alsvölliger Reziprozität“ innerhalb derNAMA-Verhandlungen seien, stellt sogarim Vergleich zum Status Quo einen Rück-schritt dar. Paragraf 2 im Anhang B be-stätigt erneut „die Wichtigkeit von Son-der- und Vorzugsbehandlung und weni-ger als völliger Reziprozität bei denZollsenkungsverpflichtungen als integra-ler Bestandteil der Modalitäten“ (Hervor-hebung hinzugefügt). Entwicklungsländerwie Argentinien, Brasilien, China und In-dien haben daher jeden Versuch zurück-gewiesen, die beiden Instrumente gegen-einander auszuspielen.

Noch wichtiger ist jedoch folgendes:Sollten die Entwicklungsländer eine nicht-lineare Formel zur Anwendung auf jede

Zolltariflinie akzeptieren, würde das eine inihrer Gefährlichkeit noch nie da geweseneLiberalisierung ihrer Industriezollpolitik be-deuten. In der Uruguay-Runde stellte derEinspruch der USA gegen eine einzelnenicht-lineare Formel sicher, dass Staaten dieMöglichkeit hatten, ihre eigene Heran-gehensweise an die Zollsenkung zu bestim-men. Entwicklungsländer wählten einenForderung-Angebot-Ansatz („request-offer-approach“) für die Verhandlungen sowie einauf alle Zolltariflinien verteiltes durchschnitt-liches Zollsenkungsziel, wodurch sie sich einangemessenes Maß an Flexibilität in dervorgenommenen Liberalisierung ermög-lichten.29

Die Doha-Runde wird „Entwicklungs-runde“ genannt; und doch verlangen dieNAMA-Verhandlungen sogar noch mehrvon Entwicklungsländern als die berüch-tigte entwicklungsfeindliche Uruguay-Run-de. Das gefährliche Zollsenkungspro-gramm, das die Industrieländer vorschla-gen, verlangt nach aktivem Widerstandnicht nur seitens der Entwicklungsländer-vertreter in der WTO, sondern auch sei-tens der weltweiten Zivilgesellschaft. Esgibt keinen Zwang für Entwicklungsländer,der Anwendung einer nicht-linearen For-mel auf individuelle Zolltariflinien zuzu-stimmen, genau so wenig wie es einenZwang gab, vor Ende Juli 2005 irgend-eine Vereinbarung über Modalitäten zutreffen. Der Schaden, den eine solch ra-dikale Liberalisierung für Industriepolitikund Initiativen zur Armutsreduktion anrich-ten kann, erfordert eine weit vorsichtige-re Herangehensweise.

3.2 Senkung ungebundenerZölle

Die oben zitierte NFTC-Studie machtauch die Existenz ungebundener Zölle alsein weiteres Hindernis für US-Exporteureaus, die danach streben, die Märkte vonEntwicklungsländern zu erobern. AnhangB bestätigt, dass Zollsenkungen von ge-bundenen statt von angewandten Sätzenausgehen sollen, wie es im Kontext inter-

28 Die Papiere der EU und Norwegens schlagenKreditsysteme vor, durch die Entwicklungslän-der sich einen weniger schädlichen Koeffizien-ten in der Zollsenkungsformel “verdienen”können, indem sie die auf Flexibilitäten ausParagraf 8 verzichten und/oder (im norwegi-schen Vorschlag) indem sie an der Sektor-initiative teilnehmen. Das US-Papier schlägt ei-nen dualen Koeffizienten in der Zollsenkungs-formel als direkte Alternative zu den Flexibili-täten aus Paragraf 8 vor; selbst dann argu-mentieren die USA jedoch, dass die Koeffizien-ten „nah beieinander liegen“. Dadurch wird si-chergestellt, dass Entwicklungsländer trotzdemmehr als Industrieländer zur Doha-Runde bei-tragen.

29 Khor, M. / Goh, C.Y. (2004): The WTONegotiations on Non-Agricultural MarketAccess: A Development Perspective. Paperpresented to UNDP/TWN/North-SouthInstitute’s Asia-Pacific Conference on Trade,Penang, 22-24 November 2004

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nationaler Handelsvereinbarungen Stan-dard ist. Nach Paragraf 5, Absatz 2 je-doch müssen Staaten, die bestimmteZolltariflinien ungebunden gelassen ha-ben, ihre Zollsenkungen auf diese Pro-duktlinien nach derselben Formel durch-führen, die für die gebundenen Zölle gilt.Die gegenwärtig diskutierte Basis für denBeginn der Zollsenkungen beträgt dasDoppelte des zum Stichtag 14. Novem-ber 2001 angewandten MFN-Satzes(Meistbegünstigungssatzes).

Dieser Vorschlag ist von vielen Seitenkritisiert worden, nicht zuletzt deshalb, weilder Ausgangspunkt (das Doppelte desangewandten MFN-Satzes) die Realitä-ten, wie sie sich in vielen bereits gebun-denen Zolltariflinien widerspiegeln, nichtausreichend berücksichtigt. Selbst wennman den Durchschnitt auf dem höchstenNiveau ermittelt (d.h. über die ganzeBandbreite nichtlandwirtschaftlicher Gü-ter) erhalten viele Entwicklungsländer ge-bundene Zollsätze aufrecht, die viel hö-her liegen als der entsprechende doppelteDurchschnitt angewandter Sätze. Bei-spielsweise liegen diese bei

dem zehnfachen des angewandtenDurchschnitts in den Fällen von Bruneiund Nicaraguadem neunfachen in Costa Ricadem achtfachen in Barbados, St. Kitts& Nevis, Trinidad & Tobagodem siebenfachen in Dominica, Gua-temala, Jamaika, Papua Neuguinea,St. Luciadem sechsfachen in Antigua & Bar-buda, Belize, Fidschi, St. Vincent &Grenadinendem fünffachen in El Salvador, Grena-da, Guyana, Honduras, Indonesiendem vierfachen in Bahrain, Bolivien,Dominikanische Republik, Philippinen,Katardem dreifachen in Botswana, Chile,Kolumbien, Namibia, Panama, Süd-afrika, Swaziland, Venezuela30

Ähnlich große Gefälle lassen sich zwi-schen MTN-Kategorien (Multilateral Trade

Negotiations-Kategorien, siehe Glossar)und einzelnen Zolltariflinien wieder finden.Um ein Beispiel herauszugreifen: Barba-dos erhebt auf Importe von Transportaus-rüstung einen durchschnittlichen gebunde-nen Zollsatz in Höhe von 97,2%, neunmalso hoch wie der entsprechende angewand-te Zollsatz in Höhe von 10,2%. DerartigeGefälle ermöglichen Entwicklungsländerndie Flexibilität, Zölle nach Bedarf zu erhö-hen, auch wenn die tatsächlich angewand-ten Sätze in der Regel weit niedriger blei-ben. Diese Flexibilität ist insbesondere zurBewältigung von Preisschocks unverzicht-bar, die wie oben beschrieben einen plötz-lichen und katastrophalen Anstieg von Ar-mut herbeiführen können.

Entwicklungsländer brauchen die Fle-xibilität, die durch diese Gefälle ermög-licht wird, und äußerten große Bedenkengegenüber den Versuchen von Industrie-ländern, diesen Spielraum durch dieNAMA-Verhandlungen zu verringern. DerVorschlag von Kanada, Hongkong (Chi-na), Neuseeland und Norwegen (TN/MA/W/51), Basissätze für ungebundene Zöl-le zu schaffen, indem man einfach fünfProzentpunkte zum angewandten Zollsatzhinzurechnet, wurde von den meisten Ent-wicklungsländern abgelehnt. Verständli-cherweise, so die Sichtweise eines Vertre-ters eines Industrielandes, da ein solchesVorgehen Basissätze nur marginal höheransetzen würde als die gegenwärtig an-gewandten Zollsätze – nur um diese an-schließend mittels einer „Schweizer For-mel“ dramatisch zu senken.

30 Diese Vergleiche sind handlich (wenn auch un-vollständig) aufgelistet in: Mitteilung des WTO-Sekretariats für Januar 2005 (TN/MA/S/14):Statistical Indicators Related to UnboundTariff Lines, Tabelle 3. Zusätzlich zu den aufgeli-steten Staaten erhält Kuwait einen gebundenenDurchschnittszollsatz von 100% aufrecht, wasdem 25fachen des angewandten Durchschnitts-zollsatzes von 3,9% entspricht. Auch Singapursgebundener Durchschnittszollsatz von 6,3% istunendlich viel höher als der durchschnittlicheangewandte MFN-Satz von 0%.

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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Im Gegensatz dazu schlug das vonMalaysia anlässlich der Sitzungen derNAMA-Verhandlungsgruppe im März2005 vorgelegte Papier vor, ungebunde-ne Zölle anders zu behandeln als gebun-dene Zölle. Insbesondere argumentierteMalaysia dahingehend, dass ungebunde-ne Zölle, deren Bindung Länder in dergegenwärtigen Runde zustimmen, nichtder Senkung anhand der beschlossenenFormel ausgesetzt werden sollten, da dieBindung von Zöllen als solche im Kontextder WTO bereits als Verpflichtung gilt (sie-he nächster Abschnitt). Andere Entwick-lungsländer wie Thailand, die Philippinenund Indien unterstützten Malaysias Argu-ment, dass Entwicklungsländer nicht in-nerhalb einer einzigen Runde ein doppel-tes Zugeständnis – Zölle erst an einenDurchschnittswert zu binden und dannnach der beschlossenen Formel zu sen-ken – machen sollten. Eine am 15. April2005 von Argentinien, Brasilien und In-dien eingereichte Mitteilung (TN/MA/W/54) bestätigte ebenfalls, dass ungebun-dene Zölle anders behandelt werdenmüssen als gebundene.

3.3 Das Binden von Zöllen

Das Binden von Zöllen wird im Kon-text internationaler Handelsvereinbarun-gen insofern schon lange als beträchtli-che Verpflichtung gewertet, als es für dasjeweilige Land einen Verlust von Souve-ränität über seine zukünftige Handelspo-litik bedeutet. Traditionell haben vieleStaaten einzelne Zolltariflinien genau

deswegen ungebunden gelassen, um vol-le Flexibilität bezüglich der Höhe der Im-portzölle sicherzustellen. Zwischen ver-schiedenen Zollsätzen wechseln zu kön-nen, ist insbesondere in solchen Fällenwichtig, in denen plötzliche Einfuhrwellendie Existenz einheimischer Produzentenbedrohen.

Für Entwicklungsländer ist der politi-sche Spielraum, den ungebundene Zoll-tariflinien gewähren, besonders wichtig.Ihre industrielle Entwicklung kann schließ-lich von ihrer Fähigkeit abhängen, ent-stehende Industriezweige vor Import-konkurrenz zu schützen, indem Zölle alsReaktion auf externe Faktoren erhöht wer-den. Diesen politischen Spielraum zuschützen, ist auch für zukünftige Ent-wicklungsentscheidungen von zentralerBedeutung, da Staaten möglicherweiseihre Volkswirtschaften in industrielle Sek-toren diversifizieren möchten, in denen siezur Zeit noch keine aktiven Produktions-kapazitäten haben. Zölle zu binden,schränkt hingegen diese Flexibilität ein,die Staaten haben und brauchen, um ihreImportregime an externe Herausforderun-gen oder Entwicklungserfordernisse an-passen zu können.

Diese Flexibilität ist noch wichtiger ge-worden, seitdem in der Uruguay-RundeBeschränkungen für den Schutz heran-wachsender Industriezweige eingeführtwurden. Zuvor konnten Entwicklungslän-der Artikel XVIII des GATT verwenden, umImporte zu beschränken. InsbesondereTeil B dieses Artikels ermöglichte Entwick-lungsländern, ihre einheimischen Industri-en aus Zahlungsbilanzgründen zu be-schützen, ohne andere Handelspartnerentschädigen zu müssen und ohne Ver-geltungsmaßnahmen zu riskieren. Mit derVereinbarung über die Zahlungsbilanz-bestimmungen des GATT 1994 wurdenjedoch die Flexibilitäten des Artikels XVIIIBdrastisch beschnitten. Entwicklungsländersehen sich damit dem Druck ausgesetzt,Zölle zu binden, ohne sich in Zukunft aufsolche vorteilhaften Schutzmechanismenberufen zu können.31

31 Vgl. Pangestu, M. (2002): ‘Industrial Policyand Developing Countries’, sowie Finger, J.M.(2002): ‘Safeguards: Making Sense of GATT/WTO Provisions Allowing for Import Restric-tions’, beide in Hoekman, B. / Mattoo, A. /English, P. (Hrsg.): Development, Trade, andthe WTO: A Handbook (Washington DC,World Bank). Entwicklungsländer können im-mer noch von Artikel XVIII Abschnitt C desGATT Gebrauch machen, der speziell vomSchutz entstehender Industrien handelt, aberhier sind Entschädigungen für betroffene Han-delspartner nötig.

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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Die Bedeutung der Bindung von Zöl-len wird in den Regeln der WTO explizitanerkannt. Artikel XXVIIIbis 2(a) des GATTbesagt, dass das Binden von Zöllen aneinen niedrigeren Durchschnittswert„grundsätzlich als ein Zugeständnis [gilt],das der Herabsetzung hoher Zölle gleich-wertig ist.“ Damit ist die Behauptung derEU widerlegt, dass die Länder, die Zölle„nur“ binden anstatt sie zu senken, gewis-sermaßen eine „Freirunde“ („Round forfree“) bekämen. Dies hatte die EU in ei-nem Brief von Pascal Lamy und FranzFischler behauptet, der im Mai 2004 anandere WTO-Länder ging. Von Entwick-lungsländern eine Bindung ihrer Zölle zuverlangen, stellt ebenfalls sicher, dass siein den Radius der Verhandlungen zur Li-beralisierung des Handels gebracht wer-den, und verpflichtet sie dazu, währendder nächsten Runde Zollsenkungen durch-zuführen.

Die Flexibilität, die die Möglichkeitbietet, bestimmte Zolltariflinien ungebun-den zu lassen, wird in Anhang B gleichzweimal direkt bedroht. Die erste Bedro-hung findet sich, wie oben diskutiert, inParagraf 5, Absatz 2, der in seiner gegen-wärtigen Form impliziert, dass Entwick-lungsländer ungebundene Zolltarifliniensowohl binden als auch unter Anwendungder Zollsenkungsformel senken sollen.Die Tatsache, dass der Text das Bindenvon Zöllen nicht explizit erwähnt, vermagdiese Absicht nicht zu verschleiern, da in-nerhalb der WTO alle Zollsenkungen vongebundenen Zollsätzen ausgehen.

Die einzige Stelle in Anhang B, in derEntwicklungsländer explizit dazu aufgefor-dert werden, den Anteil gebundenerZolltariflinien zu erhöhen, findet sich (iro-nischerweise) ausgerechnet in dem Para-grafen, der vorgibt, ihnen „Flexibilität“ inder Umsetzung von NAMA-Vorschriften zuermöglichen. Paragraf 8 legt nahe, dassEntwicklungsländer einen marginalenSpielraum entweder bei der Anwendungder NAMA-Zollsenkungsformel oder beider Bindung von Zolltariflinien erhaltensollen – im letzteren Fall äußert sich das

in der Erlaubnis, (nach aktuellen Zahlen)lediglich 5% der Zolltariflinien ungebun-den zu lassen.

Auf gut Deutsch gesagt verfügt Artikel8 jedoch, dass Entwicklungsländer denAnteil gebundener Zolltariflinien auf min-destens 95% der nichtlandwirtschaftlichenZolltariflinien ausdehnen müssen. Diese„Sonder- und Vorzugsbehandlung“ wirdals „Ausnahme“ von der ungeschriebe-nen Annahme gehandelt, dass Staatenihren Anteil gebundener Zölle in der jet-zigen Runde eigentlich auf 100% dernichtlandwirtschaftlichen Zolltariflinien er-höhen sollten. Für die Entwicklungsländer,die weder zur Kategorie der LDCs gehö-ren noch von den Ausnahmen in Paragraf6 profitieren können, aber dennoch einenbeträchtlichen Anteil ihrer Zolltariflinienungebunden halten, würde das jedocheine massive Steigerung bedeuten. Staa-ten wie Bahrain (29% der nichtlandwirt-schaftlichen Zölle ungebunden), Fidschi(55% ungebunden), Indien (30,2% unge-bunden), Malaysia (18,8% ungebunden),Pakistan (63% ungebunden), Philippinen(38,2% ungebunden), Singapur (35,5%ungebunden), Thailand (29,1% ungebun-den) und Tunesien (48,9% ungebunden)würden dadurch im Kontext der Doha-Runde beträchtliche zusätzliche Zuge-ständnisse machen.

Selbst die Länder, die als besondereKategorien in den NAMA-Verhandlungenherausgegriffen wurden, müssen bedeu-tende Zugeständnisse durch das Bindennichtlandwirtschaftlicher Zolltariflinienmachen. Die „Paragraf 6-Länder“ wer-den entsprechend des Anteils ihrer gebun-denen Zölle ausgewählt und müssen nachden Regeln von Anhang B (wie sie gegen-wärtig konzipiert sind) diese Deckung inZukunft auf 100% der nichtlandwirtschaft-lichen Zolltariflinien ausdehnen (siehenächster Abschnitt).

Nach den Regeln von Paragraf 9 sindLDCs sowohl von der Anwendung derZollsenkungsformel als auch von der Teil-nahme an der Sektorinitiative befreit.

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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Derselbe Paragraf geht jedoch weiter:„Als Teil ihres Beitrags zu dieser Verhand-lungsrunde wird erwartet, dass sie dasNiveau ihrer Zollbindungsverpflichtungendeutlich erhöhen.“ Zwar werden keineZahlen genannt, um zu zeigen, was da-mit gemeint ist, aber jede wesentlicheErhöhung des Anteils gebundener Zöllewird für viele LDCs ein beträchtliches Zu-geständnis darstellen. Tabelle 3 zeigt dashohe Gefälle im Anteil gebundener Zöllezwischen LDCs, die Mitglied der WTO sind– inklusive derer, die bislang minimalegebundene Anteile haben und daher ef-fektiv bei Null anfangen müssten.

Aus diesem Grund haben Handelsmi-nister der G90 wiederholt nach politischemSpielraum und Flexibilität im NAMA-An-hang verlangt, um Industriepolitik undnationale Entwicklungsziele in ihren Staa-

TABELLE 3: Anteil gebundener Zolltariflinien für nichtlandwirtschaftlicheErzeugnisse in den WTO-Mitgliedsstaaten, die zur Kategorie der LDCgehören (in Prozent)(Quelle: Mitteilung des WTO-Sekretariats (TN/MA/S/14): Statistical Indicators Related to UnboundTariff Lines)

ten aufrechterhalten zu können. Sambia,das die LDCs bei den Sitzungen derVerhandlungsgruppe für NAMA im März2005 vertrat, wiederholte, dass Entwick-lungsländer die volle Entscheidungsgewaltdarüber behalten sollten, ob und in wel-chem Ausmaß sie Zolltariflinien binden.32

3.4 „Paragraf 6-Länder“

Laut Anhang B, Paragraf 6, wären Ent-wicklungsländer in der WTO, die einenbestimmten Anteil gebundener Zolltarif-linien vorweisen (nach den aktuellen Zah-len müssen weniger als 35% der nicht-landwirtschaftlichen Zolltariflinien gebun-den sein), von der Umsetzung der NAMA-Zollsenkungsformel befreit. Stattdessenmüssten diese Staaten einen bestimmtenProzentsatz ihrer Zölle (nach aktuellen Zah-len 100%) an einen Durchschnitt binden,der den Gesamtdurchschnitt der gebunde-nen Zölle für alle Entwicklungsländer nichtüberschreitet. Darüber hinaus müssten siean der im nächsten Abschnitt beschriebe-nen Sektorinitiative teilnehmen.

32 Khor, M. (2005): ‘North onslaught on South’sindustrial tariffs in NAMA talks’. Third WorldNetwork Info on WTO and Trade Issues, 23.März 2005

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

Importmarkt Prozent Mali 31.6 Angola 100.0 Mauretanien 30.1 Bangladesch 3.0 Mosambik 0.5 Benin 30.1 Myanmar (Burma) 4.7 Burkina Faso 29.9 Nepal 99.3 Burundi 9.9 Niger 96.3 Djibuti 100.0 Ruanda 100.0 Gambia 0.5 Sambia 4.1 Guinea 29.6 Senegal 100.0 Guinea-Bissau 97.4 Sierra Leone 100.0 Haiti 87.6 Salomonen 100.0 DR Kongo 100.0 Tansania 0.1 Lesotho 100.0 Togo 0.9 Madagaskar 18.9 Tschad 0.3 Malawi 20.7 Uganda 3.0 Malediven 96.7 Zentralafrikanische Republik 56.8

33

Die Regeln von Paragraf 6 wären aufein Dutzend Entwicklungsländer anwend-bar, deren Anteil gebundener Zölle Tabel-le 4 zeigt: Alle diese Staaten müssten ih-ren gebundenen Anteil nichtlandwirt-schaftlicher Zolltariflinien dramatisch er-höhen, sollte die vorgegebene Endziffervon 100% aufrechterhalten werden. In derTat sollte angemerkt werden, dass einBindungsziel von 100% bedeutet, dassden Paragraf 6-Ländern noch mehr ab-verlangt wird als anderen Entwicklungs-ländern, die nach Paragraf 8 „nur“ min-destens 95% ihrer Zolltariflinien bindensollen (siehe vorangegangener Abschnitt).Welche Zahl auch immer im Text stünde,so müssten Staaten wie Ghana, Kamerun,Kenia, Kongo, Mauritius und Nigeria ihrenicht-agrarischen Sektoren quasi von Nullausgehend binden – innerhalb der Doha-Runde ein massives Zugeständnis.

Zahlreiche der Paragraf 6-Länder wer-den durch die NAMA-Verhandlungenwahrscheinlich einen doppelten Schlagerleben, indem von ihnen zusätzlich zurbedeutenden Steigerung des Anteils ge-bundener Zolltarife noch dramatischeZollsenkungen verlangt werden. Wie obenangemerkt, wird von Paragraf 6-Ländernerwartet, dass sie ihre nichtlandwirt-schaftlichen Zölle an einen Durchschnitts-wert binden, der den Durchschnitt dergebundenen Zölle aller Entwicklungslän-der nicht übersteigt. Das einfache Mittelder gebundenen Zölle für nichtlandwirt-schaftliche Güter für alle Entwicklungslän-der beträgt 24,9%. Nach dem gegenwär-tigen Stand könnten Paragraf 6-Staatengezwungen sein, diese Zahl als den ma-ximalen Durchschnitt ihrer nichtlandwirt-schaftlichen Zolltariflinien zu betrachten.Für Staaten wie Kamerun (derzeitigerDurchschnitt 57,5%), Ghana (35,9%), Ke-nia (54,8%) und Nigeria (48,8%) würdedies zusätzlich zu den massiven Bindungs-verpflichtungen einen regelrechten Libe-ralisierungsschock bedeuten.

Die oben genannten Zahlen beziehensich auf einfache Mittelwerte; Paragraf 6schweigt sich jedoch darüber aus, ob am

TABELLE 4: Anteil gebundenerZolltariflinien für nichtland-wirtschaftliche Erzeugnisse in den„Paragraf 6-Länder“ (in Prozent)(Quelle: Mitteilung des WTO-Sekretariats (TN/MA/S/14): Statistical Indicators Related toUnbound Tariff Lines)

Ende der NAMA-Verhandlungen einfacheoder gewichtete Mittel angewendet wür-den, um das Maximum für Paragraf-6-Staaten festzulegen. Werden gewichteteMittel herangezogen (wie es traditionellder Fall gewesen ist), wird der maximaleDurchschnitt, der Paragraf-6-Staaten er-laubt ist, bei 12,5% liegen.

Während die Regeln von Paragraf 6beträchtliche Zugeständnisse von denStaaten vorsehen, für die er gilt, ist auchdie Frage danach, welche Staaten dieserspeziellen Kategorie zugeordnet werdensollen, strittig. Es wird weithin – auch vonVertretern der Industrieländer – aner-kannt, dass die Grenze von 35% gebun-dener Zolltariflinien als dem Merkmal für„Paragraf-6-Staaten“ eine willkürlich ge-setzte Marke ist, die keineswegs alle Staa-ten umfasst, für die von den NAMA-Ver-handlungen hohe Risiken ausgehen. Ver-schiedene alternative Indikatoren wurdenzur Diskussion gestellt, darunter höhereSchwellen für den Anteil gebundenerZolltariflinien, verschiedene Indikatorenmenschlicher Entwicklung oder aus bei-den zusammen gesetzte Indikatoren-

Importmarkt Prozent Elfenbeinküste 22.9 Ghana 1.2 Kamerun 0.1 Kenia 1.6 Kongo 3.2 Kuba 20.4 Macao (China) 15.6 Mauritius 5.3 Nigeria 6.9 Simbabwe 9.0 Sri Lanka 28.3 Surinam 15.1

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

34

pakete. Werden jedoch keine bewusstenAnstrengungen unternommen, um die ge-genwärtige Grenzmarke von 35% zu Fallzu bringen, muss befürchtet werden, dasssie im Text beibehalten wird.

3.5 Sektoraler Ansatz

Vorschläge, die NAMA-Verhandlungenzusätzlich zur in den Paragrafen 4 und 5umrissenen Zollsenkung durch einesektorale Komponente zu ergänzen, stie-ßen von Seiten der Entwicklungsländerauf scharfe Kritik. Paragraf 7 des AnhangsB besagt in seiner gegenwärtigen Form,dass alle WTO-Mitglieder (mit Ausnahmeder LDCs) Verhandlungen aufnehmensollen, die die Abschaffung oder Harmo-nisierung nichtlandwirtschaftlicher Zöllefür im Laufe der Verhandlungen zu bestim-mende Sektoren zum Ziel haben.

Entwicklungsländer auf allen Entwick-lungsstufen haben die Aussage vonParagraf 7 zurückgewiesen, nach der diesektorale Komponente der Verhandlun-gen eine „Teilnahme aller Beteiligten“ ver-lange. Während LDCs nach Paragraf 9vom sektoralen Ansatz ausgenommensind, wären alle anderen WTO-Mitglieds-staaten verpflichtet, ihre Zölle auf dieausgewählten Produktlinien abzuschaffenoder deutlich zu senken. ObligatorischeTeilnahme aller Staaten war die zentraleForderung im gemeinsamen Papier Ka-nadas, der EU und der USA, das der WTOim August 2003 vorgelegt wurde. Daherwird diese Forderung im gegenwärtigenEntwurf beibehalten.

Dagegen protestierten Entwicklungs-länder: Eine derart dramatische Libera-lisierung ihrer Importregime hätte nichtnur weitaus härtere Zollsenkungen vonihnen als von den Industrieländern zurFolge, sie würde auch ihre eigenen Indu-strien plötzlicher und überwältigenderKonkurrenz aussetzen – mit katastropha-len Konsequenzen. Folgerichtig habenEntwicklungsländer konsequent beteuert,

dass sie an jedweden sektoralen NAMA-Verhandlungen nur auf freiwilliger Basisteilnehmen würden.

Zusätzlich zu dieser Kritik äußerten ei-nige der ärmsten Entwicklungsländer Be-denken, dass der sektorale Ansatz zu ei-nem Verlust von (Zoll-)Präferenzen führenkönnte. Wenn auch das allgemeine The-ma der Präferenzerosion weiter untenbehandelt wird, gibt es auch in diesemKontext erhöhte Bedenken, da die für dieHarmonisierung nach dem Sektoransatzvorgesehenen Zolltariflinien „insbesonde-re“ Produkte enthalten würden, die für Ent-wicklungsländer von Exportinteresse sind.

Solch eine drastische Liberalisierungwürde die bestehenden Präferenzen, dieEntwicklungsländer in ihren wichtigstenExportsektoren genießen, effektiv ausmer-zen. Entsprechend betonten Handelsmi-nister der G90 im NAMA-Abschnitt ihrerErklärung von Grand Baie vom 13. Juli2004, dass „sich ein sektoraler Ansatz aufG-90-Mitglieder, die in wichtigen Export-märkten von langjährigen Präferenzenprofitieren, nachteilig auswirken würde“.Dieselbe Sichtweise wurde von Ruanda imNamen der Afrikanischen Gruppe im Fe-bruar 2005 wiederholt (TN/MA/W/49):

Angesichts der niedrigen Industriali-sierungsniveaus afrikanischer Staatenwerden sektorale Initiativen die Ent-wicklung industrieller Sektoren in Afri-ka behindern.

Dieses wachsende Problembewusst-sein bezüglich der Gefahren, die von dersektoralen Initiative sogar für Staaten aus-gehen, die nicht an ihr teilnehmen müs-sen, führt zunehmend zu der Einsicht, dassdie Initiative selbst möglicherweise einnicht wünschenswertes Element innerhalbder NAMA-Verhandlungen ist. Zu den For-derungen, dass Entwicklungsländer nurauf freiwilliger Basis an der sektoralen In-itiative teilnehmen sollten, gesellen sichnun Aufrufe, das gesamte Paket zu über-denken.

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

35

Aus der Perspektive der Exporteure inIndustrieländern bietet die sektorale Ini-tiative jedoch die Aussicht auf Abschaf-fung von Handelshemmnissen in Sekto-ren, die für sie von Interesse sind. US-Her-steller haben, wie oben erwähnt, ein be-sonderes Interesse bekundet, die Initiati-ve zu ihrem eigenen Vorteil auszunutzen;prompt drängte die US-Regierung dazu,der sektoralen Initiative im Kontext derDoha-Runde besondere Wichtigkeit zuzu-sprechen. Zudem bestätigen Unterhänd-ler, dass die ausgewählten Sektoren zwarangeblich die Interessen der Entwicklungs-länder bevorzugen sollen, die US-Vor-schläge in Wahrheit aber auf den Export-interessen der US-Industrie basieren.

Die EU verfolgt ihr Ziel tiefst- undbreitestmöglicher Liberalisierung zurzeiteher durch die Zollsenkungsformel alsdurch den sektoralen Ansatz und hat vor-geschlagen, dass sich die sektorale Initia-tive auf nur zwei Sektoren – Textilien undBekleidung – beschränken soll. Keine zweiSektoren können jedoch die Gefahren,die von der in der Initiative vorgesehe-nen drastischen Liberalisierung ausgehen,besser verdeutlichen.

Die Sektoren Textil und Bekleidung sindim Prozess industrieller Entwicklung vonbesonderer Bedeutung, da sie nur ein re-lativ niedriges Niveau von Know-how undTechnologie erfordern. Daher haben vie-le Entwicklungsländer von ihnen Ge-brauch gemacht, um die entscheidendeerste Sprosse auf der Leiter industriellerEntwicklung zu erklimmen, und für einigeder ärmsten Länder sind sie nach wie vorunverzichtbare Bestandteile ihrer Export-sektoren. In Kambodscha, Lesotho, Ban-gladesch und Haiti hängen über 75% derWarenexporte vom Textilsektor ab (imFalle der beiden erstgenannten Ländersind es sogar 90%), für die Gruppe derasiatischen LDCs liegt der entsprechen-de Wert bei 61,2%.33

Solche Staaten sehen allerdings jetztschon dem Verlust dieses Fortschritts ent-gegen – eine Folge der nach dem Ende

des Multifaserabkommens (MFA) Anfang2005 eingeleiteten Liberalisierung derSektoren. Durch das MFA konnten ärme-re Länder nicht nur von den Zollvergün-stigungen profitieren, die sie in Schlüssel-märkten wie der EU und den USA genie-ßen, sondern auch von einem Quoten-system, das Investitionen in ihre Länder„lockte“, sobald die Quoten in weiter fort-geschrittenen Entwicklungsländern aufge-braucht waren. Das Auslaufen des MFAhat diesem Quotensystem ein Ende be-reitet, und es wird weithin prognostiziert,dass China und Indien künftig beinahealle Wohlfahrtsgewinne aus den Textil-und Bekleidungssektoren auf sich verei-nigen werden. Ärmere Länder werden vor-aussichtlich die großen Verlierer sein.Schätzungen zufolge werden 27 MillionenArbeitsplätze verloren gehen (viele davonfür Frauen), und damit einhergehend wirddie Armut ansteigen.34

Ein Ergebnis des Auslaufens des MFAist, dass Bekleidung und Textilien nun Sei-te an Seite mit anderen nichtlandwirt-schaftlichen Gütern Gegenstand derNAMA-Verhandlungen sind. Würden sie,dem Vorschlag der EU entsprechend, alsSektoren für Zollharmonisierung oder

33 UNCTAD (2004): Least Developed CountriesReport 2004: Linking International Trade withPoverty Reduction (New York und Genf, UnitedNations), S. 233

34 Vgl. zum Beispiel Nordas, H.K. (2004): TheGlobal Textile and Clothing Industry post theAgreement on Textiles and Clothing (Genf,World Trade Organisation); Hale, A. (2002):‘Trade liberalisation in the garment industry:who is really benefiting?’, in: Development inPractice, 12 (1), S. 33-44; Strange, R. / New-ton, J. (2004): ‘From Rags to Riches? China,the WTO and World Trade in Textiles andClothing’, in: Katrak, H. / Strange, R. (Hrsg.):The WTO and Developing Countries (London,Palgrave Macmillan); Hayashi, M. et al.(2004): ‘Gender-Related Issues in the Textilesand Clothing Sector’, in: Tran-Nguyen, A.-N./ Beviglia Zampetti, A. (Hrsg.): Trade andGender: Opportunities and Challenges forDeveloping Countries (New York und Genf,United Nations)

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

36

-abschaffung innerhalb der sektoralen In-itiative ausgewählt, hätte das katastro-phale Auswirkungen auf die ärmsten Län-der der Welt. Zusätzlich zu den Verlusten,die sie durch die Abschaffung der MFA-Quoten erlitten haben, würden ihnendann noch ihre Zollvergünstigungen weg-genommen. Die Aussicht, so noch direk-ter mit China und Indien konkurrieren zumüssen, hat eine Gruppe von Entwick-lungsländern dazu gebracht, das Themainnerhalb der WTO als dringend aufzu-werfen.35

Die Sektoren Bekleidung und Textilienbieten ein anschauliches Beispiel für diePräferenzerosion, die den ärmsten Län-dern der Welt durch die Liberalisierungdes Welthandels droht. Das Prinzip lässtsich jedoch auch auf andere Sektorenausdehnen, wo ökonometrische Progno-sen ebenfalls vorhersagen, dass die größ-ten Gewinne aus der Liberalisierung vonDrittmärkten den stärksten Entwicklungs-ländern zufallen werden.36 Als Reaktiondarauf haben viele WTO-Mitglieder ge-fordert, dem Thema der Präferenzerosionviel höhere Priorität einzuräumen als bis-her, vor allem weil die NAMA-Verhand-lungen nun einem vorschnellen und an-spruchsvollen Ergebnis entgegen getrie-ben werden.

3.6 Präferenzerosion

Der vorletzte Paragraf von Anhang Bbeschäftigt sich oberflächlich mit derPräferenzerosion als einem Ergebnis derNAMA-Verhandlungen in der Doha-Run-de. Mitglieder der G90 lenkten zuneh-mend Aufmerksamkeit auf ihre Notlage:Im Kontext von Verhandlungen, die dazugedacht sind, Zölle auf der ganzen Liniezu senken, werden die Spielräume fürpräferentiellen, d.h. begünstigten Markt-zugang schwinden, die ihre Exportpro-dukte derzeit noch genießen. So werdendie Entwicklungsländer in ungleiche Kon-kurrenz mit weiter fortgeschritteneren Pro-duzenten gebracht. Im Falle der drastisch-sten Liberalisierungsinitiativen, wie z.B.der oben diskutierten sektoralen Harmo-nisierung, werden ärmere Länder ihreExportmärkte wahrscheinlich vollendsverlieren.

In ihrer Erklärung vom 13. Juli 2004forderten Handelsminister der G90, inner-halb der WTO-Verhandlungen Lösungenfür das Problem der Präferenzerosion zufinden. Die Dringlichkeit ihrer Forderungfand sich im NAMA-Anhang jedoch nichtwieder. Trotz wiederholter Appelle durchzahlreiche Vertreter von Entwicklungslän-dern über die letzten zwei Jahre hinwegwird die Verhandlungsgruppe für NAMAin Anhang B, Paragraf 2 lediglich dazuaufgefordert, die Bedürfnisse der WTO-Mitglieder, die als Ergebnis der Präferenz-erosion in der Doha-Runde den Verlustvon sowohl Einkommens- als auch Han-delsmöglichkeiten befürchten müssen, zu„berücksichtigen“.

Benin hat als Vertreter der AKP-Grup-pe in einer Mitteilung (TN/MA/W/53)anlässlich der Sitzungen der Verhand-lungsgruppe für NAMA im März 2005 aufdie Marginalisierung des Problems Prä-ferenzerosion aufmerksam gemacht. DerEingabe zufolge haben andere Ländersich von Anfang an dagegen gewehrt, dasThema zu behandeln, weil das den (ausihrer Sicht) wichtigeren Prozess der Eini-gung auf ein ehrgeiziges Paket der Libe-

35 Vgl. die im September 2004 von Bangladesch,der Dominikanischen Republik, Fidschi, Mada-gaskar, Mauritius, Sri Lanka und Uganda ein-gereichte “Initial Submission on Post-ATCAdjustment-related Issues” (G/C/W/496), diedurch andere Entwicklungsländer weitreichen-de Unterstützung erfuhr.

36 Fernandez de Cordoba, S. / Vanzetti, D.(2005): Coping with Trade Reforms:Implications of the WTO Industrial TariffNegotiations for Developing Countries (Genf,UNCTAD). Bezüglich der Herausforderungdurch China, vgl. Ianchovichina, E. / Martin,W. (2001): Trade Liberalization in China’sAccession to the World Trade Organization(Washington DC, World Bank); Shafaeddin,M. (2002): The Impact of China’s Accession toWTO on the Exports of Developing Countries.UNCTAD Discussion Paper no 160 (Genf,UNCTAD)

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

37

ralisierung des Handels mit industriellenGütern aufhalten würde. Daraufhin umrissBenin den Vorschlag der AKP für eineMethode, um von der Präferenzerosionbedrohte Produkte zu identifizieren, undwies darauf hin, dass „man nicht verges-sen sollte, dass sich Handelsliberalisie-rung auf unterschiedliche Länder unter-schiedlich auswirkt“.

Der IWF hat durch seinen im April 2004eingeführten Handelsintegrationsmecha-nismus (Trade Integration Mechanism, kurzTIM) in den Bereich der Präferenzerosioneingegriffen. Der IWF erkennt an, dass „dieErosion von Zollvergünstigungen zu einemNachfragerückgang für die Exportproduk-te eines Landes führen kann, weil andereAnbieter nun unter gleichen Bedingungenkonkurrieren können. Ähnlich könnte derAblauf der Quoten nach dem WTO-Textil-abkommen (im Jahr 2005) zu intensivier-ter Konkurrenz auf den Textil- und Beklei-dungsmärkten führen – und damit in man-chen Ländern zu höheren Importen und /oder niedrigeren Exporten.“37 Der TIM istdarauf ausgerichtet, den Weg für an-spruchsvollere Handelsliberalisierung inder WTO zu ebnen, indem er Finanzen be-reitstellt, um durch Präferenzerosion ent-standene Zahlungsbilanzdefizite oder an-dere durch die Liberalisierung des Welt-handels hervorgerufene Verluste aufzufan-gen.

Der IWF machte deutlich, dass er durchden TIM keine neue Finanzierung bereit-stellt, sondern dass es sich bei dem Me-chanismus vielmehr um eine Umwidmungbereits durch existierende IWF-Instrumen-te erhältlicher Kredite handelt. So bietetder TIM den ärmsten Ländern der Welt dieMöglichkeit, ihre existierende Schuldenlastzu erhöhen – und das zu einer Zeit, in derder Rest der Welt versucht, sie zu reduzie-ren – um die Verluste, die ihnen durch dieHandelsliberalisierungsinitiativen reicherLänder wie der EU und den USA zugefügtwurden, auszugleichen. Kein Wunder also,dass die G90 gefordert hat, das Problemstattdessen an seiner Wurzel innerhalb derWTO zu bearbeiten.

Zu diesem Zweck hat Ruanda im Fe-bruar 2005 die aktuellste WTO-Mitteilungder Afrikanischen Gruppe zum Themanicht-reziproker Präferenzen bzw. nicht-gegenseitiger Begünstigungen (TN/MA/W/49) eingereicht. Das Papier bestätigteerneut, dass jede weitere innerhalb derWTO beschlossene Liberalisierung dieGefahr der Präferenzerosion von Anfangan in Betracht ziehen sollte, um dieDeindustrialisierungskrise sowie die Ar-beitslosigkeit und Armut, die bereits inafrikanischen Staaten existieren, nichtnoch weiter zu verschlimmern. Insbeson-dere schlug die Afrikanische Gruppe ei-nen Korrekturkoeffizienten vor, um dieMargen für Produkte zu erhöhen, die der-zeit bevorzugten Marktzugang genießen,aber von den NAMA-Verhandlungen inder WTO bedroht sind. In Verbindung mitder AKP-Methodik zur Identifizierung derProdukte, die durch Präferenzerosion be-droht sind, stellt dies einen ersten Schrittin die richtige Richtung dar, nämlich dasProblem im Kontext der eigentlichen Ver-handlungen zu behandeln.

Das Papier sprach auch das Potentialan, einige der voraussichtlichen Verlustedurch Präferenzerosion an zwei weiterenFronten innerhalb der NAMA-Verhand-lungen auszugleichen: die Bereitstellungzollfreien und quotenfreien Zugangs zuIndustrieländermärkten für Exporte ausden LDC sowie die Behandlung nicht-tarifärer Handelshemmnisse, die die vol-le Ausschöpfung der momentan verfüg-baren Vergünstigungen behindern.38 DieBemühungen, zoll- und quotenfreien Zu-

37 IMF (2005): The IMF’s Trade IntegrationMechanism (TIM) (Washington DC, Internatio-nal Monetary Fund)

38 Vgl. hierzu UNCTAD (2003): Trade Preferencesfor LDCs: An Early Assessment of Benefits andPossible Improvements (Genf, UNCTAD);UNCTAD (2001): Improving Market Access forLeast Developed Countries (Genf, UNCTAD); sie-he auch WTO (2004): World Trade Report 2004:Exploring the linkage between the domesticpolicy environment and international trade(Genf, World Trade Organisation), S. 26-46

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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gang für LDC-Exporte zu erreichen, äh-neln seit der ersten WTO-Ministerkonfe-renz 1996 einem ständigen Kampf. Wäh-rend eine Handvoll Industrie- und Entwick-lungsländer LDC-Exporten solchen Zu-gang zu allen oder fast allen ihren Märk-ten gewährt hat,39 ist es der WTO nichtgelungen, den Industrieländern insge-samt eine Verpflichtung abzuringen, ei-nen solchen Marktzugang zu gewährenstatt nur zu versprechen, sich ‚nach bestenKräften darum zu bemühen’.

Auch der aktuelle NAMA-Anhang ver-säumt es wieder, eine solche Verpflichtungzu erreichen. Stattdessen ruft Paragraf 10Industrieländer und andere, „die sichdazu entscheiden“, lediglich dazu auf,Nicht-Agrarprodukten aus LDCs auf ei-genständiger Basis zoll- und quotenfreienZugang zu ihren Märkten zu gewähren.Zahlreiche Studien bestätigten, dass einesolche Maßnahme für die Industrieländer,die sich zu einer solchen Öffnung ihrerMärkte verpflichten, nur vernachlässig-bare Auswirkungen hätte.40 Es ist höchsteZeit, diesen Appell in eine bindende Ver-pflichtung für Industrieländer in der WTOumzuwandeln und sie zu verpflichten, zoll-und quotenfreien Marktzugang für alleLDC-Exporte zu gewähren. Gleichzeitigsollten sie andere Entwicklungsländerweiterhin dazu ermutigen, im Rahmenihrer Möglichkeiten verbesserten Markt-zugang für LDC-Exporte zu gewähren.

Zur zweiten Front, der Bearbeitungnichttarifärer Handelshemmnisse (Non-

tariff trade barriers, kurz NTBs): Paragraf14 von Anhang B verspricht, nichttarifäreHandelshemmnisse im Kontext derNAMA-Verhandlungen zu untersuchen.Nachdem Ende 2004 eine Phase derNotifizierung nichttarifärer Handels-hemmnisse stattgefunden hatte, widme-ten die Sitzungen der NAMA-Verhand-lungsgruppe im März 2005 ihrer Diskus-sion einen vollen Tag. Am Ende jedochwurden die meisten nichttarifären Han-delshemmnisse zur Diskussion an andereKomitees innerhalb der WTO verwiesen,wobei die NAMA-Verhandlungsgruppeden Diskussionsfortschritt überblicken soll-te. Einige Entwicklungsländer äußertenBedenken gegen diese Entscheidung, dasie einige nichttarifäre Handelshemm-nisse ganz aus dem Blickfeld der Ver-handlungsgruppe für NAMA nehmenkönnte.

4. Schluss

Die gemeinsame Vorlage Ghanas,Kenias, Nigerias, Sambias, Simbabwes,Tansanias und Ugandas im Februar 2003(ND/MA/W/27) stellte fest:

Das Ziel der Verhandlungen überMarktzugang für Nicht-Agrarproduk-te sollte aus unserer Sicht sein,Entwicklungs- und industrielle Prozes-se in Entwicklungsländern zu fördernund zu ermöglichen.

Stattdessen sind die NAMA-Verhand-lungen, wie sie gegenwärtig in der WTOforciert werden, darauf ausgerichtet, raschein ehrgeiziges Niveau von Handels-liberalisierung zum Wohle der reichstenLänder und insbesondere die Öffnungindustrieller Sektoren für externe Konkur-renz zu erreichen. Diese eigennützige „of-fensive Agenda“ im NAMA-Bereich wur-de von Industrieländern in der WTO wieden USA und der EU, für die die hochgelobte „Doha-Entwicklungsrunde“ we-nig mehr als dienliche heiße Luft ist, alsbesondere Priorität benannt.

39 Kanada, die EG, Neuseeland, Norwegen unddie Schweiz sowie Hongkong-China und Sin-gapur; Mauritius, Ägypten und Südkorea ha-ben LDC-Exporten ebenfalls bevorzugtenMarktzugang gewährt; vgl. Bacchetta, M. /Bora, B. (2003): Industrial Tariff Liberalizationand the Doha Development Agenda (Genf,World Trade Organisation)

40 z.B. Bora, B. / Cernat, L. / Turrini, A. (2002):Duty and Quota-Free Access for LDCs: Furtherevidence from CGE modelling (Genf,UNCTAD)

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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Wie oben umrissen, drohen die NAMA-Verhandlungen die industrielle Entwick-lung vieler Entwicklungsländer zu unter-graben und die Ärmsten der Armen zunoch größerer Armut zu verdammen. Ent-wicklungsländer müssen weit über diemarginalen Flexibilitäten, die in denNAMA-Verhandlungen derzeit angebotenwerden, hinaus das Recht behalten, die

Pfade und die Geschwindigkeit ihrer Ent-wicklung selbst zu bestimmen. Zusammen-fassend lässt sich sagen, dass die WTO-Mitglieder den gegenwärtigen NAMA-An-hang dringlich ablehnen und ihn mit ei-nem Text ersetzen sollten, der auf die Be-dürfnisse der Entwicklungsländer in derWTO abgestimmt ist – nicht auf die ex-pansionistischen Interessen der Reichen.

Aus dem Englischen von Elena Futter –Redaktion: Christina Deckwirth

& Peter Fuchs (WEED)

John Hilary ist Mitarbeiter derbritischen NGO War on Want.

Der Beitrag ist zuerst erschienen als:„The Doha Deindustrialisation Agenda:Non-Agricultural Market Access Nego-

tiations at the WTO, London 2005, hrsg.von War on Want, erhältlich unter:

www.waronwant.org

Die Deindustrialisierungsagenda von Doha

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D ie durch die Welthandels-organisation vorangetriebeneLiberalisierung der Märkte für

Güter und Dienstleistungen erschwert es,auf nationaler wie internationaler Ebeneneue Maßnahmen zum Schutz der Um-welt, der Ernährungssouveränität und derwirtschaftlichen, sozialen und kulturellenRechte zu ergreifen. Bereits heute stehendie vorhandenen Umweltgesetze einzel-ner Länder wie auch die multilateralenUmweltabkommen unter dem Damokles-schwert des Streitbeilegungsmechanis-mus der WTO. Falls ein WTO-Mitgliedsich in seinen Handelsinteressen durcheine Umwelt-Maßnahme eines anderenMitgliedes beeinträchtigt sieht, steht ihmder Weg der WTO-Gerichtsbarkeit offen.WTO-Recht bricht dabei nationales wieinternationales Umweltrecht – und so istdie WTO eine effektive Drohkulisse ge-gen fortschrittliche soziale und ökologi-schen Gesetze.1

Agrargüter und Dienstleistungen domi-nierten bisher die Agenda der WTO. Im Rah-

Verbesserter Marktzugangauf Kosten der Umwelt:Die Umweltrisiken der NAMA-Verhandlungen

Jürgen Knirsch und Daniel Mittler

men der laufenden „Doha-Runde“ sollenjedoch weitere Wirtschaftssektoren hinzu-kommen. Non Agricultural Market Access(NAMA), also Marktzugang für nicht-agra-rische Güter, heißt das Zauberwort. Dahin-ter versteckt sich der Versuch, alle gehan-delten Güter weltweit dem Liberalisierungs-druck zu unterwerfen. Viele entwicklungs-politische Nichtregierungsorganisationenund Kommentatoren2 lehnen die derzeiti-gen NAMA-Verhandlungen vehement ab.Sie befürchten, dass ein NAMA-AbkommenArmut und Unterbeschäftigung in den Ent-wicklungsländern erhöhen und dort denAufbau nationaler Wirtschaftszweige zu-rückwerfen würde. Die momentanen Ver-handlungen erfüllen allein den großen Un-ternehmen in den Industrieländern denWunsch nach Öffnung weiterer Märkte.

Die dramatischen und gravierendenAuswirkungen der NAMA-Verhandlungensind bisher der Öffentlichkeit wenig be-kannt. Die für die deutsche Handelspo-litik Verantwortlichen im Bundesministe-rium für Wirtschaft und Arbeit (BMWA) se-hen nur die Chancen für den Export-weltmeister Deutschland, nicht jedochdie Gefahren für Entwicklung und Um-welt, die mit der forcierten Liberalisie-rung der Industriegütermärkte einherge-hen. Nachfolgend werden einige der zuerwartenden Umweltauswirkungen dar-

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

1 Vgl. Forum Umwelt und Entwicklung, EED,Greenpeace (2005).

2 Siehe auch die Beiträge von Ha-Joon Changund John Hilary in dieser Publikation

41

gestellt – Umweltauswirkungen, die inden bisherigen Verhandlungen einfachignoriert werden und die die deutschenUmweltverbände zu einer eindeutigenPositionierung veranlasst haben. Sie for-dern den sofortigen Stopp der Verhand-lungen und eine unabhängig durchge-führte Folgenabschätzung für eine wei-tere Liberalisierung der Märkte fürIndustriegüter.3

„Von vornherein ohneAusnahmen“

Das Mandat für die NAMA-Verhand-lungen ist in Artikel 16 der Doha-Minister-erklärung von 2001 festgelegt. Es betontausdrücklich, dass kein Industriesektor vonden Verhandlungen ausgeschlossen wird:„Wir stimmen Verhandlungen zu, die,noch zu beschließenden Modalitäten fol-gend, das Ziel haben sollen, sowohl Zöl-le zu reduzieren und, wo angebracht, zubeseitigen, einschließlich der Reduzie-rung und Beseitigung von Zollspitzen,hohen Zöllen und Zolleskalationen, alsauch von nichttarifären Handels-hemmnissen, insbesondere für Produkte,bei denen die Entwicklungsländer einExportinteresse haben. Die Behandlungvon Produkten soll umfassend und ohnevon vornherein gegebene Ausnahmensein...“4 .

Sektorale Verhandlungen:„informell, intransparent,untergrundmäßig“

Trotz der Tatsache, dass die NAMA-Verhandlungen umfassend und ohne Aus-nahme geführt werden sollen, tauchenimmer wieder einige Sektoren auf, die voninteressierten Ländern in den Vorder-grund gedrängt werden. Im ersten Halb-jahr 2005 wurden zum Beispiel außerhalbder eigentlichen NAMA-Verhandlungs-gruppe in informellen Sitzungen die fol-genden neun Sektoren verhandelt:

1. Elektronische Geräte2. Fahrräder und Gymnastikgeräte3. Chemikalien4. Fischereiprodukte5. Schuhwaren6. Waldprodukte7. Pharmazeutische Produkte8. Rohstoffe9. Edelsteine

An diesen sektoralen Verhandlungensind nur ca. 45 Länder, darunter 20 Ent-wicklungsländer, beteiligt, d.h. mehr alszwei Drittel der 148 WTO-Mitglieder blei-ben außen vor. Die Mehrzahl der Entwick-lungsländer ist gegen den sektoralen An-satz und will statt dessen ein umfassen-des Entwicklungsmodell für alle Sektorenentwickeln. Es ist nicht weiter überra-schend, dass die einzelnen Sektoren vonverschiedenen Ländern vorangetriebenwerden, die in diesem Bereich besonde-re wirtschaftliche Interessen verfolgen. Solädt z.B. Neuseeland regelmäßig zu in-formellen Verhandlungen zu Wald- undMeeresprodukten ein.

„Die Diskussion über Sektorverhand-lungen verschob die Akzente mehr aufeine freiwillige Beteiligung an eventuel-len plurilateralen Sektorabkommen“ be-schreibt das Ministerium für Wirtschaft undArbeit (BMWA) diese Entwicklung.5 Mitanderen Worten: Es ist möglich, dass zu-sätzlich zu einem multilateralen NAMA-Rahmenabkommen sektorale Abkom-men plurilateral, also nur unter Beteili-gung von einigen Ländern, geschlossen

3 Diese Forderungen der großen Umweltver-bände sind in deren Kernforderungen zurBundestagswahl enthalten. Siehe DeutscherNaturschutzring et al. (2005).

4 Auszug aus Artikel 16 der Abschlusserklärungder Vierten Ministerkonferenz der Welthandels-organisation (WTO), angenommen am 14.November 2001 in Doha. Nicht-offizielle Über-setzung der Zeitschrift “Internationale Politik”,nachträgliche Hervorhebung.

5 BMWA: Stand der Welthandelsrunde (DohaDevelopment Agenda – DDA): Juli 2005.

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

42

werden. Diese Abkommen wären nur fürdie unterzeichnenden WTO-Mitgliederbindend. Die informellen sektoralen Ge-spräche sind nicht miteinander verknüpft,so dass sie keinen ganzheitlichen Ent-wicklungsansatz zulassen. Außerdem fin-den sie hinter verschlossenen Türen statt.Carin Smaller, die für die US-amerikani-sche Nichtregierungsorganisation Institu-te for Agriculture and Trade Policy (IATP)in Genf das Geschehen bei der WTO ver-folgt, fasst treffend zusammen: „informell,intransparent, untergrundmäßig“6.

Zwei Wege – ein Effekt:Bedrohung der Umwelt

Um den Marktzugang zu verbessern,kennt die WTO zwei Wege: zum einen denAbbau von Zöllen (bis hin zu Null-Zöllen);zweitens den Abbau sonstiger Maßnah-men, die den Handel beeinträchtigenkönnen. Zu diesen „nicht-tarifären“ Maß-nahmen (NTM – non tariff measures) zäh-len u.a. Einfuhrverbote, Subventionenoder die Kennzeichnung von Produkten.

Zollsenkungen: Eine einfacheGleichung mit negativen Fol-gen

Die Logik der NAMA-Verhandlungenist einfach. Ein verbesserter Marktzugangfür nicht-agrarische Güter soll diese billi-ger machen und dadurch ihre Nachfra-ge erhöhen. Wachsende Produktion undwachsender Handel werden mit Entwick-lung gleichgesetzt. Da aber häufig dieProduktion von Gütern nicht nachhaltig

ist, führt ein sinkender Preis, eine wach-sende Nachfrage und eine erhöhte Pro-duktion zu mehr Umweltzerstörung.

Noch schlimmer: Auch wenn oft überNAMA geredet wird, als ginge es nur umIndustriegüter, ist dies leider nicht der Fall.Nach der WTO-Güterklassifizierung sindauch ökologisch höchst sensitive Produk-te aus Wald und Meer „Industriegüter“.Deswegen steht zu befürchten, dass dieNAMA-Verhandlungen z.B. auch die dieZerstörung der Wälder und Plünderungder Meere vorantreiben werden.

Welthandel contra Urwald-schutz

Bereits die gegenwärtigen WTO-Re-geln unterlaufen alle Anstrengungen,Wälder zu schützen und nachhaltig zunutzen. Umweltabkommen können durchdas Streitschlichtungsverfahren der WTOzugunsten von Handelsmaßnahmen auf-gehoben werden. Vorsorgemaßnahmenkönnen als nicht zulässige Handels-hemmnisse interpretiert und geahndetwerden. Länder, die die Einfuhr vonRaubbauholz verbieten wollen, könnendaran gehindert werden. Auch kann mitdem WTO-Strafgericht gedroht werden,wenn über den Handel Anreize zum Auf-bau einer nachhaltigen Forstwirtschaft ge-schaffen werden sollen, etwa durch Kenn-zeichnung von Produkten mit dem Siegeldes Forest Stewardship Councils (FSC),das eine nachhaltige Holzproduktion si-chert.7 Dieser so genannte „chill effect“sorgt auch dafür, dass effektivere Maß-nahmen gegen den Handel mit illegalgeschlagenem Holz ausbleiben.8

Da der Welthandel massive Auswir-kungen auf den Umgang mit Wäldernhat, hängt deren nachhaltige Nutzungstark vom nachhaltigen Handel mit Wald-produkten ab. Lösungen sind zwingenderforderlich, wenn nicht die letzten verblei-benden Urwälder der Welt dem freienHandel geopfert werden sollen.

6 Carin Smaller, Meeting on Market Access andthe Environment, Genf, 28. Juli 2005.

7 Siehe http://www.fsc-deutschland.de/8 Chill effect: Die Drohung mit der WTO reicht

aus, um eine geplante Maßnahme zu verhin-dern oder abzuschwächen. Vgl. hinsichtlichder Wälder: Greenpeace International (2001).

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

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Der geplante Zollabbau, der sehrwahrscheinlich zu billigeren Preisen unddamit einer verstärkten Nachfrage führenwird, ist aber nicht die einzige Bedrohungdes Waldes durch die NAMA-Verhandlun-gen. Neben den Zöllen sollen auch diehandelsrelevanten nicht-tarifären Maß-nahmen beschränkt werden. Zu diesenzählen sehr unterschiedliche Instrumente,wie zum Beispiel Subventionen, Siegel,Ausfuhrverbote für unverarbeitetes Holz,oder Einfuhrverbote für Holz mit beglei-tenden Schadorganismen.9 Im letzterenFalle bestehen Befürchtungen, dass dieWTO dem Eindringen von unerwünschtenSchadorganismen Vorschub leistet. Die-se im Holz lebenden Tiere gelangen mitden Holzeinfuhren in fremde Ökosyste-me. In der fremden Umgebung haben siehäufig keine natürlichen Feinde, sie kön-nen sich dadurch massenhaft vermehrenund somit die Biodiversität ihrer neuenHeimat beeinträchtigen. Importverboteoder Beschränkungen, die die Einfuhr vonunbearbeitetem Holz begrenzen, könntenvon der WTO als nicht-tarifäre Maßnah-men (NTM) deklariert und im Rahmen ei-ner NTM-Eliminierung für ungültig erklärtwerden. Dadurch kann der effektiveSchutz, z.B. vor Schädlingen, untergrabenwerden. Da unter NTM auch alle Siege-lungs-, Labelling und Zertifizierungs-maßnahmen wie etwa das FSC-Siegelfallen, ist akute Gefahr im Verzug. Soll-ten im Rahmen der NAMA-VerhandlungenZölle für forstwirtschaftliche Produkte re-duziert und die so genannten nicht-tari-fären Handelshemmnisse abgeschafftwerden, würde damit weiterer Abholzungder Wälder Vorschub geleistet. Regierun-gen müssen deshalb dringend klarstellen,dass z. B. Ökolabelling eine legitimeForm der Verbraucherinformation ist undsomit nicht als „ungerechtfertigtes Han-delshemmnis“ verstanden werden darf.

NTMs und NAMA: Umwelt-schutz auf der Abschussliste?

Als Teil der NAMA-Verhandlungen wa-ren alle Staaten aufgefordert, die nicht-tarifären Handelshemmnisse zu benen-nen, die sie gerne im Rahmen einer Libe-ralisierung beseitigt sehen würden. DasResultat ist eine kuriose Sammlung ab-surder, bürokratischer – aber auch sozialund ökologisch wichtiger – NTMs, dieverschiedenen Ländern ein Dorn im Augesind. Aus ökologischer Sicht ist vor allembedenklich, dass einige Zertifizie-rungssysteme (wie FSC) genauso in Fra-ge gestellt werden, wie z.B. Energie-effizienzlabels und -gesetze oder die Be-vorzugung ökologisch weniger schädli-cher Autos10. Die jetzige Liste ist aber nichtendgültig. Sie ist lediglich eine Wunschli-ste aller Staaten, die sich die Mühe ge-macht haben, NTMs, die ihnen nicht pas-sen, zu identifizieren. Einige Staaten, wiedie USA und Japan, haben sich explizitdas Recht heraus genommen, im Laufeder Verhandlungen noch weitere NTMs zuidentifizieren. Gleichzeitig ist klar, dassüber viele der aufgelisteten NTMs über-haupt nicht verhandelt werden wird. Daswird bei den NTMs, die Umwelt undMensch schützen, positiv sein. Nicht alleökologischen Label und Gesetze, die aufder NAMA-Abschussliste stehen, werdenauch dem WTO-Hammer im Laufe derDoha-Runde zum Opfer fallen. Doch dientdie Notifizierung unter den NAMA-Ver-handlungen auch dazu, eine Drohkulissegegen Umwelt- und Sozialstandards auf-zubauen. Mit der NTM-Notifizierung alsTeil der NAMA-Verhandlungen wollen Re-gierungen andere Regierungen unterDruck setzen, Gesetze zu überdenken und– beispielsweise auch in bilateralen Ab-kommen11 – zu beseitigen. So sind die

9 Vgl. Forest Research (1999). 10 Siehe Friends of the Earth International (2005). 11 Vgl. dazu EED, WEED (2005).

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

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NAMA-Verhandlungen zu NTMs auch eingutes Beispiel für den „chill effect“: DieWTO wird als Drohkulisse genutzt, um pro-gressive soziale und ökologische Geset-ze zu unterminieren.

Welthandel contra Meeres-schutz

Unsere Meere sind weitgehend leergefischt. Es fehlen Schutzgebiete, die eineErholung der Fischbestände ermögli-chen. Es sind dringende Maßnahmen zur

Regulierung der Nutzung der Meere nö-tig12 . Statt dessen steht zu befürchten,dass durch den Wegfall von Zöllen unddurch die Beseitigung der nicht-tarifärenHandelshemmnisse die Ausbeutung derMeere noch weiter voranschreiten wirdund die Möglichkeit von Staaten, regu-lativ effektiv einzugreifen, durch weitereLiberalisierungsschritte unterlaufen wird.Es gilt dieselbe Logik wie bei forst-wirtschaftlichen Produkten: Zollabbauführt zu billigeren Produkten, was dieNachfrage nach diesen erhöht. Solangediese nicht mit Fischen aus nachhaltigerFischerei befriedigt werden kann, werdensich die Fischbestände weiter dezimie-ren.

Der internationale Handel mit Fischenund Fischprodukten ist in den letztenzwanzig Jahren deutlich angestiegen, dasVolumen steigerte sich von 6,1 MilliardenUS-Dollar im Jahre 1980 auf 56 Milliar-den US-Dollar im Jahre 200113 . Bisherbestehen sehr unterschiedliche Zollsätzefür Fische. In einigen Ländern sind dieseZölle sehr hoch; so erhebt Thailand auflebende Fische 60 Prozent Zölle (siehe Ta-belle 1). Das Beispiel der FischausfuhrenBrasiliens in die EU zeigt auf, wie die Re-duzierung des Zollsatzes die Exporte unddamit auch den Fang steigen lässt. Ob-wohl das Volumen der Exporte Brasiliensvon Fisch und Fischprodukten in die EUmit 170 Millionen Euro (2003) noch re-lativ klein ist, so zeigt der Handel zwischenBrasilien und der EU zwischen 1988 und2003 einen deutlichen Anstieg. Zwischen1999 und 2003 wuchs das Exportvolumenum durchschnittlich jährlich 60 Prozent.Wesentlich verantwortlich für diesen deut-lichen Anstieg war die Ausfuhr von gefro-renen Krebsen (Shrimps und Prawns14 ),die allein fast 80 Prozent des Exports stell-ten. Die Ausfuhrsteigerungen für dieseKrebse ist auf die Tatsache zurückzufüh-ren, dass der Zollsatz von 12% auf 4,3%gesenkt wurde, da Brasilien vom deutlichniedrigen Zollsatz des AllgemeinenPräferenzsystems der EU profitieren konn-te15.

TABELLE 1: Zollsätze fürlebende Fische

Prozent EU 6,8 Japan 2,3 USA und Kanada 0,0 China 11,7 Korea 10,0 Thailand 60,0 Brasilien 6,9

Quelle: nach Bacchetta & Bora (2003), S. 23.

12 Siehe Greenpeace International (2005).13 Sehe Kurien (2004).14 "Garnelen gibt es in vielen verschiedenen Ar-

ten, die auf der ganzen Welt verbreitet sind. Eshandelt sich dabei nicht um eine natürlicheGruppe von Organismen, sondern um eineZusammenfassung mehrerer Tiergruppen(Paraphylum). Für kleinere Garnelen als Han-delsware sind auch die englische BezeichnungShrimps, die italienischen Scampi (fälschlicher-weise! Ein Scampo (zu dt. auch Kaisergranat)ist nämlich keine Garnele, sondern gehört zurGattung Nephropidae/Homaridae - er hat jaauch Scheren) sowie die französische Crevettenbeziehungsweise Krevetten gebräuchlich, grö-ßere werden auch als Prawns bezeichnet. Inder Nordsee findet sich die häufig gefischteNordseegarnele. Die industrielle Aufzucht vonGarnelen in Shrimps-Farmen führt zu massi-ven Umweltschäden, zur Beeinträchtigung derlokalen Bevölkerung und zur Belastung derproduzierten Tiere mit Antibiotika und diversenGiftstoffen“. Quelle: Wikipedia http://de.wikipedia.org/wiki/Garnele.

15 European Commission (2004).

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

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Wie gut ist das Gut imUmweltgut?

Verbesserter Marktzugang wird in derlaufenden Handelsrunde auch für Um-weltgüter und Umweltdienstleistungengefordert. Die Verhandlungen über Um-weltgüter werden ebenfalls in der NAMA-Verhandlungsgruppe geführt16 . Hinterdiesen Liberalisierungsmaßnahmen fürUmweltgüter und -dienstleistungen stek-ken unter einem grünen Mäntelchen har-te wirtschaftlichen Interessen. Das Markt-volumen für Umweltgüter und Dienstlei-stungen wird auf 550 Milliarden US-Dol-lar geschätzt und soll bis zum Jahre 2010auf 600 Milliarden US-Dollar anwach-sen17. Zu diesem Wachstum sollen vor al-lem die Entwicklungsländer und Transfor-mationsländer beitragen, denn sie wei-sen schon jetzt die höheren Wachstums-raten auf. Nur – wie Tabelle 2 zeigt – ha-ben diese Länder vergleichsweise höhe-re Zollsätze. So ist ihr durchschnittlichangewandter Zollsatz zwei- bis fünfmalhöher als der der Industriestaaten, die ander Liberalisierung interessiert sind. Alsomüssen die höheren Zollsätze gesenkt wer-den, damit das angestrebte Wachstumauch realisiert werden kann.

Auf den ersten Blick mag die Verbes-serung des Marktzugangs für Umwelt-

güter und -dienstleistungen als ein Be-reich erscheinen, bei dem aus Umwelt-sicht die Liberalisierung begrüßt werdenmüsste. Schließlich wollen Umweltschüt-zer, dass z.B. mehr Windräder möglichstleicht überall auf der Welt gebaut werdenkönnen. Doch ein intensiverer Blick aufdie WTO-Verhandlungen in diesem Be-reich lehrt einen rasch des Besseren – nichtnur weil das ökonomische Ziel, nämlichdas Wachstum der Märkte, immer deutli-cher als das Umweltziel im Mittelpunkt derVerhandlungen steht. Bedenklich ist auch,dass bis heute nicht klar ist, was eigent-lich ein Umweltgut ist18 .

Denn die WTO-Mitglieder hatten, alssie die Doha-Verhandlungsrunde festleg-ten, nicht konkretisiert, was sie unter Um-weltgütern verstehen. Sind das Güter der

TABELLE 2: Angewandte durchschnittliche Zollsätze für Umweltgüter

Anmerkungen:Zentral- und osteuropäische Länder: Tschechische Republik, Ungarn, Polen, SlowakeiSchnell wachsende Entwicklungsländer in Lateinamerika: Argentinien, Brasilien, Chile, VenezuelaSchnell wachsenden Entwicklungsländer in Asien: China, Hongkong, Indien, Indonesien, Malaysia, Paki-stan, Philippinen, Singapur, Taiwan, Thailand, VietnamTransformationsländer in Osteuropa: Estland, Lettland, Litauen, Rumänien, Russland, Slowenien, Ukraine

Quelle: OECD 2002.

16 Dagegen kümmert sich die Verhandlungs-gruppe für die Dienstleistungsverhandlungenum die Umweltdienstleistungen.

17 Damit erreicht der Markt für Umweltgüter und-dienstleistungen ein ähnliches Volumen wieder globale Markt für Pharmazeutika und Pro-dukte der Informationstechnologie. Vgl.Vikhlyaev (2003).

18 Bei den Umweltdienstleistungen ist die Situati-on einfacher, denn aus den Verhandlungenzum Dienstleistungsabkommen GATS liegt eineKlassifizierung für Umweltdienstleistungen vor.

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

Ländergruppe Prozent Quads (EU, USA, Kanada, Japan) 2,1 Korea, Mexiko, Türkei 8,2 Vier Zentral- und Osteuropäische Länder 7,4 Schnell wachsende Entwicklungsländer in Lateinamerika 11,2 Schnell wachsende Entwicklungsländer in Asien 9,7 Transformationsländer in Osteuropa 5,1

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Umwelt (Wälder, Meere, Luft)? Güter ausder Umwelt (Holz, Erz, Fische)? Umwelt-freundliche Güter (Recycling-Papier,energieeffiziente Kühlschränke, Bio-To-maten)? Oder Produkte, die zu Umwelt-schutzzwecken eingesetzt werden (Filter-anlagen, Katalysatoren, Sonnenkollekto-ren oder gar Doppelhüllentanker)?

Inzwischen haben verschiedene WTO-Mitglieder sehr unterschiedliche Vor-schläge eingebracht, wie Umweltgüterklassifiziert und definiert werden kön-nen19 . Viele Länder haben Listen vorge-legt, was für sie Umweltgüter sind. Zwi-schen diesen Listen besteht aber wenigEinigkeit – und in einigen von ihnen sindauch ökologisch sehr bedenkliche Tech-nologien, wie z.B. Müllverbrennungsan-lagen, als „Umweltgüter“ deklariert. In-dien hat mit einem eigenen Vorschlagden Finger in die Wunde dieses Listen-chaos gelegt und einen umfassendenAnsatz in die Diskussion gebracht: “DieVorschläge für die endgültige Liste ge-hen noch sehr weit auseinander. Das istein Grund zur Sorge. Es ist in der Tat so,dass die bisher vorgelegten Listen einenSchwerpunkt auf solche Güter legen, beidenen die Industrieländer aller Wahr-scheinlichkeit nach einen kompetitivenVorteil haben werden. Wir [...] schlagendeshalb einen alternativen „Umwelt-projektansatz“ vor [...] Unter diesem An-satz werden Projekte, die bestimmten Kri-terien entsprechen, von einer für zustän-dig zu erklärenden nationalen Behördegeprüft. Falls sie angenommen werden,würden diese Projekte für einen festzule-genden Zeitraum bestimmte Vergünsti-gungen erhalten“20 . Doch da der Vor-

stoß Indiens nicht von anderen Entwick-lungsländern unterstützt wird, scheint sichdoch ein Listenansatz durchzusetzen.Nachdem sich jahrelang in der Debattewenig bewegte, ist es nun aufgrund derDynamik der letzten Monate durchausdenkbar, dass auf der 6. WTO-Minister-konferenz im Dezember 2005 in Hong-kong eine Einigung für einen Listenan-satz erfolgen kann.

Der Teufel im Detail

Sollten sich die Regierungen auf einenListenansatz einigen, wird es weitereSchwierigkeiten geben, wenn es darumgeht, die Listen zu konkretisieren. Einigedavon sind:

Flexibilität in der DefinitionJede Liste oder Klassifikation birgt dieGefahr, ungewollte Güter mit einzube-ziehen und gewollte Güter auszuschlie-ßen. Umweltgüter sind zudem abhän-gig vom jeweiligen Stand der Technik.Eine gute Definition muss flexibel ge-nug sein, um auf künftige technologi-sche Entwicklungen eingehen und rea-gieren zu können.

MehrfachnutzenMit Zentrifugen kann man Müll tren-nen (und damit der Umwelt nützen), siekönnen aber auch für vielfältige wei-tere Aufgaben genutzt werden. Daman Produkten ihre schlussendlicheVerwendung an der Grenze nicht an-sehen kann, scheint die Definition vonUmweltgütern als Produkte, die zu Um-weltschutzzwecken eingesetzt werden,schwierig.

Abgase vermeiden statt filternModerne Umwelttechnik setzt schonwährend des Produktionsprozesses anund versucht, schädliche Stoffe erst garnicht entstehen zu lassen. Viele als Um-weltgüter vorgeschlagene Güter sinddagegen Produkte, die erst ganz amEnde der Produktionskette eingesetzt

19 Eine Übersicht über die im Rahmen der Ver-handlungen zu „Paragraph 31(iii) Environmen-tal goods and services“ eingereichten Vorschlä-ge findet sich unter http://www.trade-environment.org/page/theme/tewto/para31iii.htm.

20 WTO (2005b).

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

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werden und dort die Umweltauswir-kungen begrenzen sollen (z.B. Filteran-lagen). Der Abbau von Handels-hemmnissen für solche „End-of-Pipe“Technologien könnte dazu führen, dassin den Entwicklungsländern moderne,prozessorientierte Produktionstechniknur langsam weiterentwickelt wird undveraltete Produktionstechnologien ei-nen Marktvorteil erhalten.

Unterscheidung gleichartigerProdukteDie WTO erlaubt handelspolitisch kei-ne unterschiedliche Behandlung so ge-nannter gleichartiger Produkte. Daunter anderem die Austauschbarkeitund der gleiche Gebrauch als Kriteri-en für Gleichartigkeit herangezogenwurden, wird es schwer zu begründen,warum z.B. der energieeffiziente Kühl-schrank einem anderen an der Gren-ze vorgezogen werden sollte.

Verfahrens- und Produktions-methodenÄhnlich sieht es bei Produkten aus, diezwar äußerlich gleich sind, aber unter-schiedlich produziert wurden (z.B. Holzaus Raubbau oder aus nachhaltigerForstwirtschaft). Ein Großteil der Um-weltauswirkungen wird bei der Herstel-lung eines Produktes verursacht. DieWTO-Regeln machen keine Aussage zuProduktionsmethoden, die Rechtspre-chung in diesem Punkt ist unklar. Ent-wicklungsländer fürchten noch höhereHandelsschranken für ihre Güter, wenndie Unterscheidung nach Produktions-methoden in der WTO erlaubt ist. EinAusblenden der Verfahrens- und Pro-duktionsmethoden dagegen machtviele umweltpolitische Maßnahmenund eine Definition von Umweltgüternanhand der tatsächlichen Umweltaus-wirkungen unmöglich.

Label und Siegel für Umwelt-zweckeAm einfachsten wäre es, ein Umwelt-gut durch ein entsprechendes Labelbzw. Siegel zu kennzeichnen. Doch

auch hier beisst sich die Katze in denSchwanz, denn Label und Siegel wer-den in der WTO potenziell als Handels-hemmnis angesehen.

Das nachfolgende Beispiel zeigt, wel-che Umwelt- und Gesundheitsgefahrenentstehen können, wenn der Deckmantel„Umweltgut“ es ermöglicht, sich proble-matischer Güter zu entledigen.

Elektronikschrott –ein Umweltgut?

Solange keine klare Definition für Um-weltgüter vorliegt, ist es durchaus denk-bar, dass der folgende Vorschlag, den einDelegierter eines Industrielandes bei ei-nem informellen Treffen der Organisati-on für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung (OECD) machte, Reali-tät werden kann: Warum nicht Elektronik-schrott als Umweltgut deklarieren?Schließlich böte dies eine klassische „Win-Win“-Situation: die Industrieländer wür-den ihre wachsenden Berge von Elektro-nikschrott loswerden, und die Entwick-lungsländer bekämen zwar den Schrott,aber damit auch wertvolle Rohstoffe undMaterialien zum Ausschlachten. Wie rea-listisch ist ein derartiger Vorschlag? Be-reits jetzt führen einige Vorschlagslisten fürUmweltgüter Materialien für die Behand-lung fester Abfälle auf; und dass alte Com-puter und Bildschirme, Masterboards,Handies etc. augenscheinlich nicht dabeisind, mag daran liegen, dass sie sich hin-ter ihren brauchbaren Inhalten verstecken.So weist z.B. der Vorschlag Kanadas Pro-dukte auf, die sich in Altgeräten finden:Polyethylen- und PVC-Reste, Kupfer undAluminium21 .

Kupfer und Aluminium sind aber Roh-stoffe, die, wie nachfolgend gezeigt, beimSkandal des Elektronikschrott-Exportseine Rolle spielen.

21 WTO (2005a).

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

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World Wide Waste –Der Skandal des Elektronik-schrott-Exports

Die Liste der Altlasten, die wir durch denExport in Entwicklungsländer entsorgen, istebenso lang wie unvollständig: Chemi-kalienabfälle und -reste, Altpestizide, Alt-batterien, Krankenhausmüll, ausrangierteSchiffe, die beim Versuch, ihren Stahl zurecyceln, Gefahrstoffe wie Asbest und Di-oxine freisetzen. Neuestes Beispiel für un-sere Entsorgungspraxis ist das „schmutzi-ge Geheimnis der High-Tech-Revolution“,es gibt dem „www“ eine andere Bedeu-tung. Denn das „www“ steht heutzutageauch für „world wide waste“: der Exportvon alten Computern, Druckern, Monito-ren, Leiterplatinen, CD-Rom-Laufwerken.

Die Produktion von elektrischen undelektronischen Geräten ist einer der amschnellsten wachsenden Bereiche in derIndustriegüterproduktion der Industrielän-der. Technische Neuerungen, Monopol-stellungen und Marktexpansionen ma-chen den Austausch von neuen gegen alteGeräte zur regelmäßigen Routine. So ver-wundert es nicht, dass die Elektro- undElektronikschrottberge dreifach schnellerwachsen als die Berge der Haushaltsab-fälle.

In den USA kostet zum Beispiel diesachgerechte Entsorgung eines Compu-ters bis zu 20 Dollar die Stunde. In Indienbekommen Arbeiterinnen und Arbeiter ei-nen Dollar pro Tag dafür, dass sie mit ar-chaischen Methoden und unter hohen Ri-

siken für ihre Gesundheit und die Umweltnoch verwertbare Metalle und Plastikteileaus den Altgeräten holen. In einem PCmit Monitor stecken bis zu 3.500 verschie-dene Materialien, darunter allein bis zu40 verschiedene Kunststoffe. Vor allemKupfer, Aluminium und Gold sollen demSchrott entnommen werden, gratis dazugibt es jedoch Blei, Cadmium, Arsen,Brom und Quecksilber sowie eine Unzahlgiftiger Chemikalien.

Nach Schätzungen werden zwischen50 und 80 Prozent des Elektronikschrottsder Industrienationen exportiert. Empfän-ger sind vor allem die Länder China, Pa-kistan und Indien. Indien ist – so die Timesof India – zur bevorzugten Müllhalde fürElektronikschrott aus den USA, aus Euro-pa und einigen Tigerstaaten geworden.Allein 100.000 Menschen sind in und umNew Delhi damit beschäftigt, Elektronik-schrott zu verarbeiten.

Während in der EU neue Richtlinien22

versuchen, das Problem in den Griff zubekommen, fehlen in den Empfänger-ländern rechtliche Regelungen für die Ein-fuhr und die Behandlung von Elektronik-schrott. Die Auswirkungen des Fehlensstaatlicher wie freiwilliger Maßnahmenbeschreibt der Journalist Frank Hartmannam Beispiel Indiens wie folgt: „Geschmei-chelt von der erfundenen Geschichte, dassein deutscher Unternehmer etwas überihre Recyclingmethoden lernen möchte,öffnen zwei Betriebsleiter ihre Tore: Dereine lässt in ebenerdigen offenenBrennöfen das flüssige Aluminium in For-men gießen und von Arbeiterinnen dieAschereste durchsieben, die noch kleineMetallkrümmel enthalten könnten. Demanderen Betriebsleiter geht es um Kupfer.Frauen hämmern auf erkalteten Schlacke-brocken ein, um anschließend noch dieletzten verwertbaren Teile herauszupulen.Fragen nach Gesichtsmasken, Schutzklei-dung und Filtern in Schornsteinen beant-worten die Betriebsleiter verständnislosmit Nein“23 .

22 Gemeint sind WEEE (Richtlinie über Elektro-und Elektronikaltgeräte - Directive on wastefrom electrical and electronic equipment) undRoHS (Richtlinie zur Beschränkung der Verwen-dung bestimmter gefährlicher Stoffe in elektri-schen und elektronischen Geräten - Directiveon the restriction of the use of certainhazardous substances in electrical andelectronic equipment).

23 Hartmann (2005).

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

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Internationale Umweltpolitikstatt Zollsenkungen

Weniger Handelshemmnisse für Um-weltgüter bedeuten nicht automatischmehr Umweltschutz. Im Gegenteil: Solltesogar Schrott als Umweltgut deklariertwerden, verlagern wir im Namen der„Entwicklung“24 unsere Altlastenpro-bleme in Entwicklungsländer und überlas-sen ihnen gravierende Umwelt- undGesundheitsprobleme.

Noch eindeutiger sieht die Situationbei den restlichen NAMA-Verhandlungenaus. Hier erhöhen die angestrebtenLiberalisierungsmaßnahmen die Bedro-hung v.a. für Wälder und Meere. Vielfaltgeht verloren, Ökosysteme geraten ausdem Ruder, Nahrungsgrundlagen ver-schwinden. Die Auswirkungen betreffennicht nur die Menschen in den Entwick-lungsländern, sondern direkt und indirektauch uns. Wir versuchen zwar, unsereGrenzen für Migrantinnen und Migrantenzu verschließen, können jedoch die Aus-wirkungen von Klimakatastrophen undgeopolitischer Instabilität nicht von unse-rem Land fernhalten.

Greenpeace fordert deshalb:

1. Die Verhandlungen zum verbessertenMarktzugang für nicht-agrarische Pro-dukte (NAMAs) müssen gestoppt wer-den. Pläne für die Liberalisierung öko-logisch sensibler Sektoren wie Wald-und Meeresprodukte müssen aufgege-ben werden.

2. Die internationale Staatengemeins-schaft muss sich endlich dazu durch-ringen, eine umfassende globale Um-weltpolitik nicht nur auf dem Papier,sondern auch in der Praxis durchzuset-zen. Dazu müssen die entsprechendenStrukturen im System der VereintenNationen ausgebaut werden25 .

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Friends of the Earth International(2005)(2005)(2005)(2005)(2005): Summary of analysis of notificationsof non-tariff measures (NTMs) in NAMA ne-

24 Die laufende Handelsrunde läuft unter demNamen „Doha Entwicklungsagenda“; vgl. füreinen Überblick Forum Umwelt und Entwick-lung, EED (2005).

25 Siehe Mittler (2005).

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

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Homepages:

http://www.namawatch.org/http://www.trade-environment.org/page/theme/goods.htm

Verbesserter Marktzugang auf Kosten der Umwelt

Jürgen Knirsch arbeitet zuWelthandel und Globalisierung im

deutschen Büro von Greenpeace.Daniel Mittler leitet die Welthandels-arbeit bei Greenpeace International.

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Afrikanische Gruppe: Gruppe von 41 afri-kanischen Mitgliedsstaaten der WTO, die dort ge-meinsame Vorschläge einbringen und versuchen,sich in ihrer Verhandlungsstrategie abzustimmen.

AKP-Staaten: 77 Staaten Afrikas, der Karibikund des Pazifik. Unter diesen sind viele LDCssowie kleine und Inselstaaten.

Anhang B: Der Anhang des Juli-Pakets, in demdie grundlegenden Modalitäten für die NAMA-Verhandlungen beschlossen wurden. Aufgrundstarken Protests von Entwicklungsländern wurdeeine Klausel in Anhang B aufgenommen, diediesen ausdrücklich als Provisorium bezeichnet.Jedoch wird bis jetzt auf Basis dieses damals unterstarkem Vorbehalt beschlossenen und bis heuteunveränderten Anhangs B verhandelt.

Derbez-Text: Auf der WTO-Ministerkonferenzin Cancun vom mexikanischen HandelsministerDerbez eingebrachter Text, der als Grundlage fürdie NAMA-Verhandlungen dienen sollte. Eigent-lich nur von Industrieländern befürwortet, wurdeder Derbez-Text nach dem Scheitern von Cancunim Juli-Paket 2004 trotz großen Widerstandes ausdem Süden tatsächlich zur Grundlage des An-hang B und damit der NAMA-Verhandlungen.

Doha-Runde: Die laufende Welthandelsrundeder WTO, die 2001 auf der Ministerkonferenzin Doha/Katar begonnen wurde.

EPAs (Economic Partnership Agreements):Von der EU mit den AKP-Staaten derzeit verhan-delte Handels- und Investitionsabkommen, die v.a.weitgehende Importliberalisierung der AKP-Staa-ten beinhalten.

Forderung-Angebot-Ansatz: Verhandlungs-ansatz, in dem alle Beteiligten Angebote und For-derungen vorbringen, die dann jeweils verhan-delt werden.

GATT (General Agreement on Tariffs andTrade): Das Allgemeines Zoll- und Handelsab-kommen (erste Fassung von 1947, Neufassungvon 1994) ist eines der grundlegenden Abkom-men der WTO.

GATS (General Agreement on Trade inServices): WTO-Abkommen über den Handelmit Dienstleistungen

G90: Entstand auf der Ministerkonferenz inCancún als Zusammenschluss afrikanischer Län-der, AKP-Staaten und LDCs. Die G90 wehrtensich erfolgreichgegen die Versuche der EU undder USA, die so genannten Singapur-Themen indie Doha-Runde aufzunehmen.

Gebundene / angewandte Zölle: Mitglie-der der WTO sollen ihre Zölle binden, d.h. Zoll-sätze für bestimmte Waren festlegen, die dannnicht mehr überschritten werden dürfen. Um Fle-xibilität zu behalten, sind die gebundenen Zöllevieler Entwicklungsländer sehr hoch, obwohl auchvon ihnen im Normalfall viel niedrigere (ange-wandte) Zölle erhoben werden.

Juli-Paket: Vom Generalrat der WTO im Juli2004 verabschiedeter Rahmen zur Weiterfüh-rung der Welthandelsrunde.

LDCs (Least Developed Countries): Am we-nigsten entwickelte Länder nach der Definition derUNO anhand von Merkmalen wie Bruttoinlands-produkt pro Kopf, durchschnittliche Lebenserwar-tung, Kalorienversorgung pro Kopf, Alphabe-tisierungsrate u.a. Nach den Regeln von Paragraf9 Anhang B im Juli-Paket der WTO sind LDCssowohl von der Anwendung der Zollsenkungs-formel als auch von der Teilnahme an der Sektor-initiative befreit, sind aber anderweitig in denNAMA-Verhandlungen verpflichtet.

Meistbegünstigung (MFN principle):Grundlegendes Prinzip des GATT und der WTO,nach dem Handelsvorteile, die ein WTO-Mitglieds-land einem anderen gewährt, auch den übrigenWTO-Mitgliedsländern gewährt werden sollen.

MFA (Multi Fibre Arrangement): Multilate-rales Abkommen zum Handel mit Textilien ne-ben dem GATT. In einem Quotensystem wurdendarin bilateral Export- und Importmengen ver-einbart.

MFN Duty/ Meistbegünstigungssatz: Diesist der jeweils momentan tatsächlich angewand-te Zollsatz, den ein Mitgliedsstaat der WTO vonden anderen Mitgliedsstaaten auf Importe erhebt.

Glossar

Glossar

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MTN-Kategorien: Zwölf Kategorien von Wa-ren, in denen Zollbindungen bei der Gründungder WTO erfasst wurden (MTN steht für Multila-teral Trade Negotiations). Beispiele für MTN-Ka-tegorien: Holz und Holzprodukte, Textilien und Be-kleidung, elektrische Maschinen, Chemikalien.

Nicht-lineare Formel: (Mathematische) For-mel zur Zollsenkung, die höhere Zölle stärkerreduzieren würde als niedrigere. Die ausgepräg-teste Variante einer non-linearen Zollsenkungs-formel ist die aktuell in den Agrar- und NAMA-Verhandlungen der WTO verhandelte „Schwei-zer Formel“.

NTM / NTB: NTMs (Non-Tariff Measures) sindMaßnahmen zur Einfuhrregulierung, die keineZölle sind. Als NTBs (Non-Tariff Barriers),nichttarifäre Handelshemmnisse, können NTMsund andere Regulierungen im Rahmen derNAMA-Verhandlungen bei der WTO angezeigtwerden, mit dem Ziel diese wegzuverhandeln.

Paragraf-6-Länder: Zwölf Länder, die bis jetztweniger als 35% ihrer Zölle gebunden haben.Diese werden nach Paragraf 6 in Anhang B desJuli-Pakets anders behandelt als die übrigen Mit-glieder der WTO.

Präferenzerosion: Durch Regelungen imGATT ist es Industrieländern möglich, Warenim-porten aus schwach entwickelten Ländern Vor-rang vor anderen Importen einzuräumen. Diesgeschieht tatsächlich sowohl innerhalb der WTOals auch auf anderen Wegen. In den neuenNAMA-Verhandlungen drohen diese Präferen-zen zu verschwinden und mit ihnen die Export-chancen für schwache Entwicklungsländer.

PRSP (Poverty Reduction Strategy Paper):Seit 1999 müssen die Regierungen von Entwick-lungsländern im Rahmen von IWF/Weltbank-Strukturanpassungsprogrammen Strategiepapierezur Reduzierung von Armut erstellen. Diese sollenunter Einbindung der Zivilgesellschaft entstehen unddefinieren die Verringerung von Armut als über-geordnetes Ziel.

Quads: Quadriga oder quadrilaterale Gruppeder wichtigsten Handelsmächte USA, EU, Japanund Kanada, dominierte jahrelang das Gesche-hen der WTO.

Reziprozität: Ein Prinzip in der internationa-len Handelspolitik, nach dem sich zwei (odermehr) Staaten Vergünstigungen im Außenhan-del auf Gegenseitigkeit gewähren. Dies kann z.B.die Vereinbarung gleich niedriger Zölle in Indu-strie- wie Entwicklungsländern bedeuten. Nicht-reziproke Vereinbarungen erlauben Entwick-lungsländern niedrigere Verpflichtungen als denIndustrieländern.

Sektorinitiative: In den NAMA-Verhandlungenmeist von mehreren Ländern eingebrachte In-itiativen, um für einen bestimmten Sektor (Bsp.:Chemie, Forstwirtschaft) weitergehende Zollsen-kungen zu vereinbaren. Diese sollen über dieSenkung durch eine Formel hinausgehen oderZölle vollständig abschaffen.

SDT (Special and Differential Treatment):Sonderbehandlung der Entwicklungsländer. Sam-melbegriff für alle Provisionen und Maßnahmender Handelspolitik, die mit Rücksicht auf die In-teressen von Entwicklungsländern existieren.Dazu gehören längere Fristen zur Zollsenkung,Ausnahmen vom Prinzip der Meistbegünstigungund technische Hilfe zur Präsenz in den Verhand-lungen.

Singapur-Themen: Vor allem die EU machtemassiven Druck, dass die vier auf der 1. WTO-Ministerkonferenz in Singapur 1996 als soge-nannte neue Themen identifizierten BereicheInvestitionen, Wettbewerb, Transparenz im öf-fentlichen Beschaffungswesen und Handelser-leichterungen in die Doha-Runde aufgenommenwerden. Der Streit darüber war mit verantwort-lich für das Scheitern der WTO-Konferenz inCancún. Durch das Juli-Paket sind seit Sommer2004 drei der vier Themen vorübergehend auf-geschoben worden, lediglich das ThemaHandelserleichterungen ist seitdem Bestandteilder Doha-Runde.

Zolltariflinie: Kategorie von Waren, für die je-weils eine bestimmte Zollhöhe festgelegt wird.In der WTO sind handelbare Waren nachZolltariflinien sortiert. Binden Mitgliedsstaaten ihreZölle, so soll dies nach dem Wunsch der Indu-strieländer grundsätzlich Linie für Linie gesche-hen, d.h. die Zollbindung gälte immer für eineganze Zolltariflinie. Ausnahmen für einzelne Pro-dukte wären dann kaum noch möglich. DieZolltariflinien unterscheiden sich von den MTN-Kategorien.

Glossar

Globale Gerechtigkeit ökologisch gestalten

Das NAMA-DramaWie die WTO-Verhandlungen über Industriegüter

Umwelt und Entwicklung bedrohen

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Umschlag_NAMA 21.09.2005 10:11 Uhr Seite 2