Das neue Haager Kindesschutzübereinkommen von 1996

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DEuFamR (2000) 2: 125–133 c Springer-Verlag 2000 Aufs¨ atze Kurt Siehr Das neue Haager Kindesschutz ¨ ubereinkommen von 1996 The New Hague Convention of 1996 on the protection of children Schl ¨ usselw¨ orter: Internationaler Kindesschutz – Haager Kon- ferenz von 1996 – Revision des Haager Minderj¨ ahrigenschutz- abkommens von 1961 – Internationales Privat- und Verfahrens- recht Key words: International protection of children – Hague Con- ference of 1996 – Revision of the 1961 Hague Convention on Protection of Minors – Private international law – International civil procedure A. Staatsvertr¨ age und deren Revision Der Arrˆ et Boll des Internationalen Gerichtshofes 1 autete im Jahr 1958 das Totengl¨ ockchen f ¨ ur das Haager Vormundschafts- abkommen von 1902 2 . Zwei Jahre sp¨ ater wurde das Haager ¨ Ubereinkommen ¨ uber die Zust¨ andigkeit der Beh¨ orden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Min- derj¨ ahrigen (MSA) ausgearbeitet, am 5.10.1961 gezeichnet und 1971 f ¨ ur die Bundesrepublik mit der Folge in Kraft gesetzt, daß es zwischen den Vertragsstaaten des MSA an die Stelle des alten Haager Vormundschaftsabkommens trat (Art. 18 I MSA) 3 . Das MSA wird ein ¨ ahnliches Schicksal wie das Haager Vormund- schaftsabkommen ereilen. Diesmal klopft das Schicksal nicht von außen an die Pforte. Die Haager Konferenz f¨ ur IPR selbst mahnte seit 1988 zum Abschied 4 und stellte am 2.10. 1996 ein neues Kindesschutz ¨ ubereinkommen (KS ¨ U) fertig 5 , welches das MSA zwischen den Vertragsstaaten beider ¨ Ubereinkommen er- setzen soll (Art. 51 KS ¨ U). Interessant an diesem Vergleich zwischen dem Haager Vor- mundschaftsabkommen von 1902 und dem MSA von 1961 ist, daß das MSA nach Ablauf von 36 Jahren erneuert wird, w¨ ahrend das Haager Vormundschaftsabkommen von 1902 fast doppelt so lange Bestand hatte und heute nur noch im Verh¨ altnis zwischen Deutschland und Belgien gilt 6 . Nicht etwa daß das MSA ein Fehlschlag, ein Mißerfolg gewesen ist. Im Gegenteil! Das MSA ist bis heute ein verh¨ altnism¨ aßig erfolgreiches Haager ¨ Uberein- kommen. Allein in Deutschland sind ca. 500 Entscheidungen zum MSA in 25 Jahren seit 1971 publiziert worden 7 . In anderen Staaten sieht es ¨ ahnlich aus 8 . Es ist wohl gerade dieser Erfolg, der gewisse Unzul¨ anglichkeiten des MSA eher sp¨ urbar macht als die Fehler bei einem Staatsvertrag im Dornr¨ oschenschlaf. Die Erneuerung des MSA hat die Haager Konferenz f¨ ur IPR unter dem damaligen stellvertretenden Generalsekret¨ ar Adair Prof. Dr. iur. Kurt Siehr, Zentrum f ¨ ur IPR, Universit¨ at Z ¨ urich, Seilergraben 53–55, CH-8001 Z¨ urich, Schweiz 1 Affaire relative ` a l’application de la Convention de 1902 pour r´ egler la tu- telle des mineurs (Pays Bas c. Su` ede), Arrˆ et du 28 novembre 1958: C.I.J. Recueil 1958, 55. – In diesem Urteil wird festgestellt, daß Schweden nicht gegen das Haager Vormundschaftsabkommen von 1902 verst¨ oßt, wenn es f¨ ur ein niederl¨ andisches Kind mit Wohnsitz in Schweden eine ¨ offent- lichrechtliche Schutzmaßnahme anordnet; denn das Haager Abkommen gelte nur f ¨ ur die privatrechtliche Vormundschaft. 2 Haager Abkommen vom 12.6.1902 zur Regelung der Vormundschaft ¨ uber Minderj¨ ahrige, RGBl. 1904, 240; abgedruckt auch bei Jayme/Hausmann (Hrsg.), Internationales Privat- und Verfahrensrecht. Textausgabe (9. Aufl. 1998) Nr. 34. 3 Haager ¨ Ubereinkommen vom 5.10.1961 ¨ uber die Zust¨ andigkeit der Beh¨ orden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Minderj¨ ahrigen, BGBl. 1971 II 219; auch bei: Jayme/ Hausmann (oben N. 2) Nr. 35. 4 Conf´ erence de La Haye de droit international priv´ e (Hrsg.), Actes et do- cuments de la Seizi` eme session, 3 au 20 octobre 1988, Bd. I (Den Haag 1991) 34 f. (unter Nr. 3 c). 5 Haager ¨ Ubereinkommen vom 19.10.1996 ¨ uber die Zust¨ andigkeit, das an- zuwendende Recht, die Anerkennung, Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kindern, Conf´ erence de La Haye de droit international priv´ e (Hrsg.), Actes et documents de la Dix-huiti` eme session, 30 septembre au 19 octobre 1996, Bd. I (Den Haag 1999) 28 ff. Vgl. hierzu die Berichte von A. Bucher, SZIER 7 (1997) 67-109; van Iterson, Unif.L.Rev. N. S. 2 (1997) 474-487; Picone, Rev.dir.int.priv. proc. 32 (1996) 705 –748; Roth, JBl. 1999, 758-770; Siehr, RabelsZ 62 (1998) 464-501. 6 Vgl. BGBl. FN B 1999 bei Teil II unter dem 12.6.1902 (S. 200). 7 Vgl. die Publikation in IPRspr. 1971 bis IPRspr. 1997. 8 Vgl. z.B. f¨ ur die Niederlande die Sammlung Nederlands Internationaal Privaatrecht 1971 bis 1999.

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DEuFamR (2000) 2: 125–133

c© Springer-Verlag 2000

Aufsatze

Kurt Siehr

Das neue Haager Kindesschutzubereinkommen von 1996

The New Hague Convention of 1996 on the protection of children

Schlusselworter: InternationalerKindesschutz–HaagerKon-ferenz von 1996 – Revision des Haager Minderjahrigenschutz-abkommens von 1961 – Internationales Privat- und Verfahrens-recht

Keywords: International protection of children – HagueCon-ference of 1996 – Revision of the 1961 Hague Convention onProtection of Minors – Private international law – Internationalcivil procedure

A. Staatsvertrage und deren Revision

Der Arret Boll des Internationalen Gerichtshofes1 lautete imJahr 1958 das Totenglockchen fur das Haager Vormundschafts-abkommen von 19022. Zwei Jahre spater wurde das HaagerUbereinkommenuber die Zustandigkeit der Behorden und dasanzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes von Min-derjahrigen (MSA) ausgearbeitet, am 5.10.1961 gezeichnet und1971 fur die Bundesrepublik mit der Folge in Kraft gesetzt, daßes zwischen denVertragsstaaten desMSAandieStelle des altenHaager Vormundschaftsabkommens trat (Art. 18 I MSA)3. DasMSA wird ein ahnliches Schicksal wie das Haager Vormund-schaftsabkommen ereilen. Diesmal klopft das Schicksal nichtvon außen an die Pforte. Die Haager Konferenz fur IPR selbstmahnte seit 1988 zum Abschied4 und stellte am 2.10. 1996 einneuesKindesschutzubereinkommen (KSU) fertig5, welches dasMSA zwischen den Vertragsstaaten beiderUbereinkommen er-setzen soll (Art. 51 KSU).

Interessant an diesem Vergleich zwischen dem Haager Vor-mundschaftsabkommen von 1902 und dem MSA von 1961 ist,daßdasMSAnachAblauf von36Jahrenerneuertwird,wahrenddasHaagerVormundschaftsabkommenvon1902 fast doppelt solange Bestand hatte und heute nur noch im Verhaltnis zwischenDeutschland und Belgien gilt6. Nicht etwa daß das MSA einFehlschlag, einMißerfolg gewesen ist. ImGegenteil! DasMSAist bis heute ein verhaltnismaßig erfolgreiches HaagerUberein-kommen. Allein in Deutschland sind ca. 500 Entscheidungen

zumMSA in 25 Jahren seit 1971 publiziert worden7. In anderenStaaten sieht esahnlich aus8. Es ist wohl gerade dieser Erfolg,der gewisse Unzulanglichkeiten des MSA eher spurbar machtals die Fehler bei einem Staatsvertrag im Dornroschenschlaf.

Die Erneuerung desMSA hat die Haager Konferenz fur IPRunter dem damaligen stellvertretenden Generalsekretar Adair

Prof. Dr. iur. Kurt Siehr, Zentrum fur IPR, Universitat Zurich,Seilergraben 53–55, CH-8001 Zurich, Schweiz

1 Affaire relativea l’application de la Convention de 1902 pour regler la tu-telle des mineurs (Pays Bas c. Suede), Arret du 28 novembre 1958: C.I.J.Recueil 1958, 55. – In diesemUrteil wird festgestellt, daß Schweden nichtgegen das Haager Vormundschaftsabkommen von 1902 verstoßt, wennes fur ein niederlandisches Kind mit Wohnsitz in Schweden eineoffent-lichrechtliche Schutzmaßnahme anordnet; denn das Haager Abkommengelte nur fur die privatrechtliche Vormundschaft.

2 Haager Abkommen vom 12.6.1902 zur Regelung der VormundschaftuberMinderjahrige, RGBl. 1904, 240; abgedruckt auch beiJayme/Hausmann(Hrsg.), Internationales Privat- und Verfahrensrecht. Textausgabe (9. Aufl.1998) Nr. 34.

3 Haager Ubereinkommen vom 5.10.1961uber die Zustandigkeit derBehorden und das anzuwendende Recht auf dem Gebiet des Schutzes vonMinderjahrigen, BGBl. 1971 II 219; auch bei:Jayme/ Hausmann(oben N.2) Nr. 35.

4 Conference de La Haye de droit international prive (Hrsg.), Actes et do-cuments de la Seizieme session, 3 au 20 octobre 1988, Bd. I (Den Haag1991) 34 f. (unter Nr. 3 c).

5 HaagerUbereinkommen vom 19.10.1996uber die Zustandigkeit, das an-zuwendendeRecht, die Anerkennung, Vollstreckung undZusammenarbeitauf dem Gebiet der elterlichen Verantwortung und der Maßnahmen zumSchutz von Kindern, Conference de La Haye de droit international prive(Hrsg.), Actes et documents de la Dix-huitieme session, 30 septembre au19 octobre 1996, Bd. I (Den Haag 1999) 28 ff. Vgl. hierzu die BerichtevonA. Bucher,SZIER 7 (1997) 67-109;van Iterson,Unif.L.Rev. N. S. 2(1997) 474-487;Picone,Rev.dir.int.priv. proc. 32 (1996) 705 –748;Roth,JBl. 1999, 758-770;Siehr,RabelsZ 62 (1998) 464-501.

6 Vgl. BGBl. FN B 1999 bei Teil II unter dem 12.6.1902 (S. 200).7 Vgl. die Publikation in IPRspr. 1971 bis IPRspr. 1997.8 Vgl. z.B. fur die Niederlande die Sammlung Nederlands InternationaalPrivaatrecht 1971 bis 1999.

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Dyer9, dem Prasidenten der 18. Session Jorg Pirrung (damalsMinisterialrat in Bonn, jetzt Richter in Luxemburg) und demBerichterstatter Paul Lagarde10 energisch vorangetrieben undzu einem guten Ergebnis gefuhrt.

B. Neues Kindesschutzubereinkommen

I. Struktur desUbereinkommens

Das neue Kindesschutzubereinkommen (KSU) von 1996 folgtdemselben Muster wie das MSA. Die Behorden am gewohnli-chenAufenthalt des Kindes sind primar international zustandig,Maßnahmen zum Schutz eines Kindes zu ergreifen. Diese undalle anderen zustandigen Behorden wenden ihre lex fori auf dieSchutzmaßnahmen an. Diese Abwendung vom Heimatprinzipund das Bekenntnis zum Aufenthaltsgrundsatz in Form der An-wendungder lex fori in foro proprio habensichbewahrt.Gesetz-liche Gewaltverhaltnisse unterliegen ebenfalls dem Recht amgewohnlichen Aufenthalt des Kindes. Die von den Vertrags-staaten getroffenen Schutzmaßnahmen sind in allen anderenVertragsstaaten anzuerkennen und außerdem zu vollstrecken.Schließlich haben die Vertragsstaatenuber Zentralbehorden zu-sammenzuarbeiten, um die Ziele des KSU wirkungsvoll zu er-reichen.

II. Anwendungsbereich desUbereinkommens

Wer den Anwendungsbereich eines Staatsvertrags engherzigund geizig bestimmt, verdammt dasUbereinkommen zur Be-deutungslosigkeit.Wer denAnwendungsbereich zu kompliziertgestaltet, entwertet jede Konvention. Deshalb bemuhte sich dieSpezialkommissionzurAusarbeitungdesKSU,gewisseSchwa-chen des MSA zu vermeiden und die Voraussetzungen genauzu bestimmen, bei deren Vorliegen das KSU anzuwenden ist.

1. Sachlicher Anwendungsbereich

Der Titel des KSU konnte vom Deutschen Juristentag stam-men, so lang ist er:Ubereinkommen vom 19.10.1996uber dieZustandigkeit, das anzuwendende Recht, die Anerkennung,Vollstreckung und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der elterli-chen Verantwortung und der Maßnahmen zum Schutz von Kin-dern. Dieser Titel ist nicht etwa einem kollektiven horror vacuizuzuschreiben, sondern er ist eine Reaktion auf den angeblichungenauen Namen des MSA. Das MSA enthalte in seinem Art.3, so wurde gesagt11, keine Verweisungsnormuber das gesetz-liche Gewaltverhaltnis; denn im Namen des MSA kame dieserBegriff nicht vor. Um einem solchen hergesuchten und aben-teuerlichen Argument blutarmer Interpretationskunst zu begeg-nen und jegliche Konfusion zu vermeiden12, wurden die Ge-genstande des sachlichenAnwendungsbereichs nicht nur in Art.1 I KSU als Vertragsziele aufgezahlt und in den Kapiteln II bisV desUbereinkommens gesondert behandelt, sondern auch inden Namen des KSU aufgenommen. Nun ist eindeutig klar, daßdas KSU auch regelt, welches Recht auf die elterliche Verant-wortung i.S. Art. 1 II KSU anwendbar ist (Art. 16 KSU; untenB III 2).

Noch etwas anderes wird im KSU genauer bezeichnet alsim MSA. Zwar definiert das KSU ebensowenig wie das MSAeine Schutzmaßnahme, jedoch enthalt Art. 3 KSU eine nichterschopfende Aufzahlung gewisser typischer Schutzmaßnah-men, und Art. 4 KSU verzeichnet abschließend diejenigen Fra-gen, die nicht unter das KSU fallen, namlich die Herstellungund Auflosung von Statusbeziehungen, Namensfragen, Unter-halt, Erbrecht, Sozialrecht und allgemeine Maßnahmen des Ju-gendschutzes und des Strafrechts. In der Sache hat sich ge-genuber dem MSA nichts oder kaum etwas geandert. Art. 3lit. e KSU nennt vor allem auf marokkanischen Wunsch die

”Betreuung durch Kafala oder eineahnliche Einrichtung“alseine Schutzmaßnahme, also die Pflegekindschaft islamischenRechts, das keine Adoption kennt13. In Art. 4 lit. b wird klarge-stellt, daß Maßnahmen zur Vorbereitung einer Adoption (z.B.die Pflegekindschaft der in Aussicht genommenen Adoptivel-tern) keine Schutzmaßnahmen sind (lit. b) und trusts ebensowe-nig (lit. f). Diese Artt. 3 und 4 KSU sind nicht nur fur diejenigenStaaten des common law hilfreich, die erst nach Vollendung desMSA der Haager Konferenz beigetreten sind14. Auch manchenanderen Staat nutzen diese Aufzahlungen, haben doch einigeschweizerische Gerichte auf Grund des national vorgepragtenBegriffs

”Kindesschutzmaßnahme“ i.S. der Artt. 307 ff. ZGB

die Verteilung der elterlichen Gewalt nach der Scheidung un-richtigerweise nicht als Kindesschutzmaßnahme i.S. des MSAangesehen15.

2. Raumlich-personlicher Anwendungsbereich

Angstlich beschrankt das MSA seinen raumlich-personlichenAnwendungsbereich auf solche Kindermit gewohnlichemAuf-enthalt in einem Vertragsstaat (Art. 13 I MSA), die sowohlnach ihrem Heimatrecht als auch nach dem Recht an ihremgewohnlichen Aufenthalt minderjahrig sind (Art. 12 MSA).Ginge es bei Schutzmaßnahmen nicht vorwiegend um Klein-kinder und beganne die Volljahrigkeit in den meisten Staatennicht mit Vollendung des 18. Lebensjahres16, ware der Anwen-dungsbereich desMSA schwierig zu bestimmen. Das KSU ver-meidet diese Umstandlichkeiten und bestimmt in Art. 2 KSU,

9 Vgl. Conference de La Haye de droit international prive (Hrsg.),Dyer,Report on the Revision of the 1961 Hague Convention ion Protection ofMinors (Prel.Doc. No. 1 of 1 April 1994).

10 Lagarde,Rapport explicatif de la convention concernant la competence, laloi applicable, la reconnaissance, l’execution et la cooperation en matierede responsabilite parentale et de mesures de protection des enfants (DenHaag 1997).

11 Zu einem solchen Argument vgl.Dorner,Der Anwendungsbereich vonArt. 3 MSA: JR 1988, 265-292 (268).

12 Lagarde(oben N. 10) 36 (No. 7).13 Vgl. Art. 83 III des marokkanischen Gesetzbuchs des Personen- und

Erbrechts (Bergmann/Ferid,Internationales Ehe- und Kindschaftsrecht,Marokko S. 24, 33, Stand 30.11.1998):

”Die gewohnliche Adoption ist

null und nichtig und erzeugt keine Wirkungen der Abstammung.“14 MitgliedderHaagerKonferenzwurden folgendeStaaten indeneingeklam-

merten Jahren: Australien (1961), Großbritannien (1955), Kanada (1968)und die Vereinigten Staaten von Amerika (1964).

15 Vgl. hierzu richtigstellend BGer. 8.12.1983, BGE 109 II 375, 378 f.16 Vgl. die Tabelle der Volljahrigkeitsalter nach sehr vielen Rechtsordnungen

Siehrin: Munchener Kommentar zum BGB Bd. 10 (3. Aufl. 1998) Art. 19EGBGB Anhang I, Art. 12 MSA RdNr. 411.

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daß dasUbereinkommen auf alle”Kinder von ihrer Geburt bis

zur Vollendung des 18. Lebensjahres“ anzuwenden ist. DieseSachaussage lost die komplizierte kumulative Verweisung desArt. 12 MSA ab und sagt außerdem, daß das KSU nicht fureinen pranatalen Kindesschutz und nicht fur die Schwanger-schaftsunterbrechung insoweit gilt, als es um den Schutz desnoch nicht geborenen Leben geht17. Diese Vereinfachung durchArt. 2 KSU kann dazu fuhren, daß eine bereits mundige Personunter das KSU fallt, etwa eine nach ihrem Heimatrecht (Art.7 I EGBGB) durch Heirat volljahrig gewordene Person unter18 Jahren. Es bleibt dann dem jeweiligen Vertragsstaatuberlas-sen, ob sein Sachrecht noch Schutzmaßnahmen zugunsten einersolchen Person zulaßt. Gewisse Abgrenzungsfragen kann maneben getrost dem Sachrecht zur Beantwortunguberlassen.

Das KSU enthalt keine allgemeine und umfassende Vor-schrift daruber, in welchem Verhaltnis ein Kind zu einem Ver-tragsstaat stehenmuß, damit das KSU uberhaupt anwendbar ist.Dies sagt vielmehr jeder Abschnitt selbst fur die von ihm ge-regelte Materie. Nach den Artt. 5-14 KSU sind die Behordender Vertragsstaaten fur alle Kinder mit gewohnlichem Aufent-halt in einem Vertragsstaat zustandig. Das entspricht nicht etwadem Art. 13 I MSA; denn nach dem KSU haben die Heimat-behorden desKinds keine originare Zustandigkeit wie nachArt.4 I MSA. Andererseits sind Vertragsstaaten, in denen sich Kin-desvermogen befindet, auch dann zu dringenden oder vorlaufi-gen Maßnahmen zum Schutze dieses Vermogens zustandig,wenn dasKind seinen gewohnlichenAufenthalt in einemNicht-vertragsstaat hat (vgl. Artt. 11 III, 12 III KSU). Die Staatsan-gehorigkeit eines Kindes ist nur dann erheblich, wenn sein Hei-matstaat um Hilfe gebeten wird oder selbst Hilfe anbietet (s.unten B III 3).

Schließlich gilt das KSU auch fur Fluchtlingskinder i.S. desArt. 6 I KSU18, die sich in einemVertragsstaat befinden, und furKinder, derengewohnlicherAufenthalt nicht festgestelltwerdenkann (Art. 6 II KSU).

3. Verhaltnis zu anderen Staatsvertragen

a) Verhaltnis zum MSA. Das KSU ersetzt zwischen seinenVertragsstaaten das MSA und auch – sofern noch anwendbar– das Haager Vormundschaftsabkommen von 1902 (Art. 51KSU).

b) Verhaltnis zum HaagerUbereinkommenuber Kindesentfuh-rungen. Das HaagerUbereinkommen vom 25.10.1980uberdie zivilrechtlichen Aspekte internationaler Kindesentfuhrung(Haager KEntfU)19 kollidiert weder mit dem MSA noch mitdem KSU (vgl. Art. 50 KSU). Schwierig ist es lediglich, denBeteiligten an einer Kindesentfuhrung sowie denGerichten undAnwaltenklar zumachen,daßdasHaagerKEntfU vonzwei fun-damentalen Grundsatzen ausgeht: (1) Das entfuhrte Kind mußmoglichst schnell zuruckgeschickt werden; (2) bevoruber einenRuckfuhrungsantrag nicht positiv oder negativ entschieden ist,darf die Instanz im Zufluchtsstaat keine Kindesschutzmaßnah-men treffen (Art. 16 Haager KEntfU). Erst nach einer solchenEntscheidunguber die Ruckfuhrung ist Raum fur die Anwen-dung des MSA. Darananderte auch nichts das KSU. Es be-stimmt lediglich in Art. 7, was heute schon gilt, daß namlich derHerkunftsstaat noch solange fur Schutzmaßnahmen zustandig

bleibt, als das rechtswidrig entfuhrte Kind (Art. 7 II KSU)nochkeinen gewohnlichen Aufenthalt in einem anderen Staat erwor-ben hat (Art. 7 I KSU), und daß der Zufluchtsstaat keine Schutz-maßnahmen treffen darf, solange der Herkunftsstaat noch inter-national zustandig ist (Art. 7 III KSU). Hiermit bestatigt dasKSU, daß es – ebenso wie das MSA – nicht dafur geschaf-fen ist, Kindesentfuhrungen zu verhindern oder ruckgangig zumachen20. Mißstande auf diesem Gebiet hat weder das MSAzu verantworten noch in Zukunft das KSU. Das KSU bietetvielmehr eine andere Moglichkeit, ein entfuhrtes Kind zuruck-zuholen (Art. 50 Satz 2 KSU; s. unten B V 2).

c) UN-Ubereinkommenuber die Rechte des Kindes. DasUN-Ubereinkommen vom 20.11.1989uber die Rechte des Kin-des (UNKRK) enthalt großtenteils nicht direkt anwendbareVor-schriften des Sachrechts21. Immer wieder wurde vor allem vonBeobachtern internationalerOrganisationenauf dieseKonventi-on hingewiesenund verlangt, ihr genugendRechnung zu tragen.Offenbar ist es schwer zu vermitteln, daß eine IPR-Konventionwie das KSU nicht unmittelbar das Kindeswohl regelt, sondernnur den Rahmen abstecken soll, innerhalb dessen die zustandi-ge nationale Instanz unter Berucksichtigung des Kindeswohlsihre Schutzmaßnahmen zu treffen hat22. Es ist also zu Rechtdabei geblieben, die UNKRK in der Praambel zu erwahnen undstellenweise in dem KSU selbst auf die Berucksichtigung desKindeswohls hinzuweisen (vgl. etwa Artt. 8 I und IV, 9 I, 22,23 II lit. d, 28, 35 II KSU).

d) Verhaltnis zu bilateralen Abkommen. Nach Art. 52 I KSUbleiben die beiden Abkommen Deutschlands mit dem Iran23

und mit Osterreich24 unberuhrt und gehen in ihrem jeweiligenAnwendungsbereich dem KSU vor.

17 Lagarde(oben N. 10) 40 (No. 15).18 FluchtlingskindernwerdenKindergleichgestellt,

”die infolgevonUnruhen

in ihremLand ineinanderesLandgelangt sind.“DerBegriff”Fluchtling“ist

untechnisch gemeint und setzt nicht voraus, daßman als solcher anerkanntsein muß.

19 BGBl. 1990 II 207;Jayme/Hausmann(oben N. 2) Nr. 114.20 EineNeuerungmuß jedocherwahntwerden.DamandenBegriff

”gewohn-

licherAufenthalt“nicht definierenwollte, aber befurchtete, der zweiteStaatkonnte allzu leicht und zu fruh die Begrundung eines neuen gewohnlichenAufenthalts annehmen,machtemandenVerlust der Zustandigkeit desHer-kunftsstaates nicht nur vomErwerb eines neuen gewohnlichenAufenthaltsimZufluchtsstaat abhangig, sondern von zwei alternativ gegebenen zusatz-lichen Voraussetzungen: entweder muß das Kind mindestens ein Jahr seitdemjenigen Zeitpunkt im Zufluchtsstaat leben, in dem der beraubte Sorge-rechtsinhaber den neuen Aufenthaltsort kannte oder hatte kennen mussen,und wahrend dieses Zeitraums kein Ruckgabebegehren mehr anhangig istund das Kind sich in seinem neuen Umfeld eingelebt hat (Art. 7 I lit. bKSU); oder der beraubte Sorgerechtsinhaber muß die Entfuhrung hinge-nommen haben (Art. 7 I lit. a KSU).

21 BGBl. 1992 II 122, 990.Vgl. hierzuBaer/Marx,FamRZ1997, 1185-1187;Verschraegen,Die Kinderrechtskonvention (Wien 1996).

22 Vgl. hierzu Siehr,Menschenrecht und internationale IPR-Ubereinkom-men, in: Wege zur Globalisierung des Rechts, Festschrift Rolf A. Schutze(Munchen 1999) 821-829 (827 f.).

23 Niederlassungsabkommenvom17.2.1929 zwischendemDeutschenReichunddemKaiserreichPersien,RGBl. 1930 II 1006;Jayme/Hausmann(obenN. 2) Nr. 17 (Art. 8 des Abkommens).

24 Vormundschaftsabkommen vom5.2.1927 zwischen demDeutschenReichund der RepublikOsterreich, RGBl. 1927 II 511;Jayme/Hausmann(obenN. 2) Nr. 36

128 K. Siehr: Das neue Haager Kindesschutzubereinkommen von 1996

e)Verhaltnis zu einemzukunftigenGVU II. Seit 1999 liegt einEntwurf zu einer EU-Verordnunguber die Zustandigkeit, An-erkennung und Vollstreckung von Entscheidungen in Eheschei-dungs- und sorgerechtlichen Folgesachen vor25. Ein besondersdelikates Problem bei den Verhandlungen imHaag bestand dar-in, dieses EU-Instrument vom Geltungsbereich des KSU durcheine Ausschlußklausel auszunehmen und so der europaischenRechtsvereinheitlichung zwischen denEU-Staaten denVorrangzu sichern. Dieses Problem war deshalb delikat, weil es den-jenigen Mitgliedstaaten der Haager Konferenz, die nicht EU-Staaten sind, schwer verstandlich zu machen war, wieso aufdie erst kunftige Gesetzgebung innerhalb der EU Rucksicht ge-nommen werden musse. Das Ergebnis dieser Bemuhungen fin-det sich in Art. 52 II-IV KSU und beschrankt die europaischeSonderregelung auf sorgerechtliche Folgesachen fur Kindermitgewohnlichem Aufenthalt in einem EU-Staat.

III. Zustandigkeitsordnung

1. Grundzuge der neuen Zustandigkeitsordnung

Ziemlich bald stand innerhalb der Spezialkommissionen zurAusarbeitung des KSU fest, daß der komplizierten Zustandig-keitsordnung desMSA nicht zu folgen ist, auf eine eigenstandi-ge Heimatzustandigkeit verzichtet werden musse und daß ei-ne einfachere Zustandigkeitsordnung zu schaffen sei. Die neueKonzeption desKSUberuht auf demVorrang einer Aufenthalts-zustandigkeit am gewohnlichen Aufenthalt des Kindes (Art. 5).Außerdem kann die Zustandigkeit an gewisse andere Behordenubertragen (Art. 8 KSU) bzw. von diesen erbeten werden (Art.9 KSU). Erganzt werden diese Vorschriften durch eine Schei-dungszustandigkeit mit Zustimmung der sorgeberechtigten El-tern (Art. 10 KSU) sowie durch gewisse Eilzustandigkeiten(Artt. 11 und 12 KSU). Nach dreißigjahriger Erfahrungmit Art.4 MSA haben auch die Staaten, die am Staatsangehorigkeits-prinzip festhalten, eingesehen, daß sich die Heimatzustandig-keit nicht bewahrt hat. Die Kooperationszustandigkeiten derArtt. 8und9KSUunddieeinverstandlicheScheidungszustandig-keit (Art. 10 KSU) genugen.

2. Aufenthaltszustandigkeit (Art. 5 KSU)

Die Gerichte und Behorden am jeweiligen gewohnlichen Auf-enthalt des Kindes sind primar zustandig, Maßnahmen zumSchutz der Person oder des Vermogens des Kindes zu tref-fen. Ungeregelt bleibt, wann der gewohnliche Aufenthalt imEntscheidungsstaat bestanden haben muß, bei Verfahrenseroff-nung, bei der Entscheidung oder in beiden Zeitpunkten. JederStaat muß die Frage der perpetuatio fori fur sich entscheiden26.

Auch beim KSU hat man es absichtlich vermieden, dengewohnlichen Aufenthalt zu definieren; denn einmal gibt es –abgesehen von Kindesentfuhrungen – wenig Situationen, in de-nen die Lokalisierung des gewohnlichen Aufenthalts Problemebereitet haben. Zum andern wollte man durch eine Definitiondes gewohnlichen Aufenthalts im KSU nicht den Eindruck er-wecken, man weiche vom bisherigen Verstandnis des gewohn-lichen Aufenthalts als dem tatsachlichen Mittelpunkt der Le-bensfuhrung ( centre effectif de la vie) ab27. Sollte dieser Le-benspunkt nicht feststellbar sein, gilt das KSU auch fur Kinder

mit schlichtemAufenthalt in dem befaßten Vertragsstaat (Art. 6II KSU). Ebenfalls fur Fluchtlingskinder i.S. desArt. 6 I KSU istder Staat ihres schlichten Aufenthalts zustandig (Art. 6 I KSU).Das sind wichtige Erganzungen des Kindesschutzes im KSU.

3. Ubertragene und erbetene Zustandigkeit

Vollkommen neu sind zwei Zustandigkeiten, die eine gute in-ternationaleZusammenarbeit voraussetzen.AufSchleichwegenbahnt sich hier eine Variante des

”forum non conveniens“und

des”forum conveniens“an.

a)UbertrageneZustandigkeit. DieAufenthaltsbehordenwer-den in Art. 8 I KSU ermachtigt, andere Vertragsstaaten zu bit-ten, die Zustandigkeit fur Schutzmaßnahmen zuubernehmen,oder die Beteiligten einzuladen, in einem anderen VertragsstaatAntrage fur Schutzmaßnahmen zu stellen. Vertragsstaaten, dieum dieUbernahme des Kindesschutzes ersucht werden konnen,sind nach Art. 8 II KSU ein Heimatstaat des Kindes; ein Staat,in dem sich Vermogen des Kindes befindet; ein Staat, bei des-sen Behorden die Eltern des Kindes ein Scheidungsverfahrenanhangig gemacht haben; ein Staat, zu dem das Kind eine engeVerbindung hat, z.B. durch Angehorige, welche die Sorge furdas Kindubernehmen wollen. Die ersuchten Behorden konnendie angetragene Zustandigkeitubernehmen, wenn dies nach ih-rer Auffassung dem Wohl des Kindes dient (Art. 8 IV KSU).Hieraus ergibt sich, daß die Heimatbehorden eines Kindes nichtmehr wie nach Art. 4 I MSA aus eigenemRecht fur Schutzmaß-nahmen zustandig sind.

b) Erbetene Zustandigkeit. Die in Art. 8 II KSU genann-ten Behorden konnen nach Art. 9 KSU auch von sich aus dieAufenthaltsbehorden ersuchen, ihnen die Zustandigkeit fur denKindesschutz zuubertragen.

4. Scheidungszustandigkeit

EineSorgerechtszustandigkeit derScheidungsinstanzen furKin-der, die im Scheidungsstaat keinen gewohnlichen Aufenthalthaben, hat sich unter dem Art. 15 MSA nicht bewahrt. Zahlrei-cheStaatenhattensichdieseZustandigkeit vorbehalten28, spaterjedoch ihren Vorbehalt zuruckgenommen29. Deshalb sieht dasKSU nur fur diejenigen Scheidungsverfahren eine Zustandig-keit dann vor, wenn dieBeteiligtenmit dieser Zustandigkeit ein-verstanden sind und deshalb die Entscheidung der Scheidungs-instanzen akzeptieren30. Im einzelnen konnen die Scheidungs-instanzen nach Art. 10 I KSU unter folgenden Voraussetzungen

25 Vgl. den deutschen Text des Vorschlags in IPRax 2000, 41 ff.26 Lagarde(oben N. 10) 56 f. (No. 42). Richtig durfte es sein, eine perpe-

tuatio fori abzulehnen und den gewohnlichen Aufenthalt im Zeitpunkt derEntscheidung zu verlangen, aber auch genugen zu lassen.

27 Lagarde(oben N. 10) 54-56 (No. 40-41).28 Dies waren in Frankreich, Luxemburg, die Niederlande, Polen, Schweiz,

Spanien und die Turkei.29 Den Vorbehalt haben zuruckgezogen Frankreich, die Niederlande, die

Schweiz und Spanien.30 Lagarde(oben N. 10) 138 (No. 181).

K. Siehr: Das neue Haager Kindesschutzubereinkommen von 1996 129

uber ein nicht im Scheidungsstaat lebendes Kind entscheiden:Das Kindmuß in einem anderen Vertragsstaat seinen gewohnli-chen Aufenthalt haben; die Scheidungsinstanzen mussen nachihrer lex fori auch fur Sorgerechtssachenuber die Kinder derEheleute zustandig sein, mussen also eine Verbundzustandig-keit (vgl. etwa§§621 II, 623 ZPO) besitzen; ein Elternteil mußzu Beginn des Verfahrens seinen gewohnlichen Aufenthalt imScheidungsstaat haben, und ein Elternteil muß die elterlicheVerantwortung fur das Kind besitzen; die Eltern und jede ande-re sorgeberechtigte Personmussen die Zustandigkeit der Schei-dungsinstanzen anerkennen; die Inanspruchnahme der Sorge-rechtszustandigkeit durch die Scheidungsbehorden muß demWohl des Kindes entsprechen. Art. 10 II KSU stellt klar, daß dieZustandigkeit der Scheidungsinstanzen endet, sobald sieuberden Schutz des Kindes entschieden haben. Es gibt also keinefortdauernde Zustandigkeit dieser Behorden. Sie konnen aberals Aufenthaltsbehorden ihre Zustandigkeit ausuben, wenn dasKind nach dem Verfahren seinen gewohnlichen Aufenthalt inden Scheidungsstaat verlegt.

5. Eilzustandigkeiten

Die Behorden eines Vertragsstaates, in dem das Kind sich be-findet oder Vermogen besitzt, sind in dringenden Fallen fur dieerforderlichenSchutzmaßnahmenzustandig (Art. 11 I KSU) so-wie fur vorlaufigeundaufdasHoheitsgebietdieserVertragsstaa-ten beschrankte Maßnahmen (Art. 12 I KSU). Diese Entschei-dungen treten außer Kraft, sobald die normalerweise zustandi-gen Instanzen von Vertragsstaaten ihrerseits entschieden ha-ben oder Entscheide aus Nichtvertragsstaaten im Staat der Eil-zustandigkeiten nach dem Recht außerhalb des KSU anerkanntwerden mussen (Artt. 11 II und III, 12 II und III KSU).

6. Vorbehaltene Belegenheitszustandigkeit

Auf Vorschlag Australiens, Großbritanniens und Kanadas kon-nen sich Vertragsstaaten nach Art. 55 I KSU die Zustandig-keit vorbehalten, Maßnahmen zum Schutz des in ihrem Ho-heitsbereich belegenen Vermogens des Kindes zu treffen undauch die elterliche Verantwortung sowie Maßnahmen insoweitnicht anzuerkennen, als sie mit ihren lokalen Maßnahmen un-vereinbar sind. Durch diesen Vorbehalt soll es z.B. englischenBehorden ermoglicht werden, einen

”guardian“fur das in Eng-

land befindliche Vermogen des Kindes einzusetzen, ohne gegendas KSU verstoßen zu mussen.

7. Koordinierung

Solangebei einer zustandigenBehordeeinKindesschutzverfah-ren anhangig ist, durfen andere Vertragsstaaten ihre Zustandig-keit nicht ausuben (Art. 13 I KSU). Etwas anderes muß frei-lich fur die Eilzustandigkeiten (s. oben B III 5) gelten. DieseZustandigkeiten werden nicht durch das Anhangigmachen vonKindesschutzverfahren in anderen Vertragsstaaten blockiert.Erst endgultige Maßnahmen der normalerweise zustandigenInstanzen machen Eilmaßnahmen und vorlaufige Maßnahmen

hinfallig (Artt. 11 II, 12 II KSU). Ebenfalls die normalerwei-se zustandigen Instanzen werden durch anhangige Eilverfahrennicht gehindert, das normale Verfahren durchzufuhren und ab-zuschließen.

Art. 14KSUbekraftigt dasauchbisherschongeltendeRecht:Schutzmaßnahmen bleiben selbst bei spateremWegfall der Ent-scheidungszustandigkeit solange in Kraft, als sie durch keinezustandige Behorde geandert, ersetzt oder aufgehoben werden.

IV. Anwendbares Recht

1. Schutzmaßnahmen

Die Behorden der Vertragsstaatenwenden bei der Entscheidunguber Schutzmaßnahmen ihr eigenes Recht an (Art. 15 I KSU).Nach Art. 15 II KSU konnen die Behorden ausnahmsweise undsoweit erforderlich dasRecht desjenigenStaates anwendenoderberucksichtigen, zu demder Sachverhalt engeBeziehungen hat.Deutsche Behorden konnten also bei Kindesschutzmaßnahmenzugunsten eines turkischen Kindes von nicht voll integriertenturkischen Eltern auf turkisches Recht und dessen Anwendungauf eine religiose Familie Rucksicht nehmen31.

So einfach die Anwendung der lex fori in foro proprio ist, soschwer kann der Vollzug auslandischer Maßnahmen am neuengewohnlichenAufenthalt eines Kindes sein. Deshalb raumt Art.15 III KSU den Behorden am neuen gewohnlichen Aufenthaltdes Kindes die Befugnis ein, die Bedingungen zu formulieren,unter denen eine auslandische Maßnahme im Inland durchzu-setzen ist.

2. Gesetzliche elterliche Verantwortung

a) Entstehung und Inhalt. Art. 3 MSA mit seiner fur dendeutschen Sprachgebrauch ungewohnten Ausdrucksweise (Unrapport d’autorite resultant de plein droit... est reconnue danstous les Etats contractants) und mit seinem Abstellen auf dasHeimatrecht des Kindes ist einer derjenigen Artikel, an denendas MSA von Anfang an litt und zum Teil heute noch lei-det32. Ob sich die damaligen Konferenzteilnehmer wohl des-sen bewußt waren33 oder gilt fur sie Lukas 23, 34? War essinnvoll, einigen Landern (vor allem Italien und Jugoslawi-en) zuliebe, Kompromisse zu schließen34? Hatte nicht Art. 3MSA anders ins Deutscheubersetzt werden mussen, damit erin deutscher Fassung denselben Charakter einer Verweisungs-normerhaltwie im franzosischenOriginaltext, im franzosischenIPR-Sprachgebrauch35 und im Verstandnis aller franzosischen

31 EinemScheidungsverfahrengleichgestellt sindVerfahrenmitAntragenaufTrennung, Aufhebung oder Nichtigerklarung der Ehe der Kindeseltern.

32 Vgl. hierzu Kropholler bei: Staudinger,Kommentar zum BGB undEinfuhrungsgesetz, Kindesrecht (13. Aufl. 1994) Vorbem. zu Art. 19EGBGB RdNr. 151 ff. und 270 ff.; MunchKomm -Siehr (oben N. 16)RdNr. 110, 158

33 Vgl. hierzu Batiffol, Rev. crit. 50 (1961) 461, 471; Ferid, RabelsZ 27(1962/63) 411, 442 f.;von Overbeck, Festgabe fur Deschenaux (Fribourg1977) 447, 462 (oben N 4).

34 Vgl. zu diesem Kompromiß vgl. MunchKomm -Siehr(oben N. 16) RdNr.110.

35 Hierzu MunchKomm –Siehr (oben N. 116), 2. Aufl., Art. 19 EGBGBAnhang MSA RdNr. 162.

130 K. Siehr: Das neue Haager Kindesschutzubereinkommen von 1996

Autoren, die sich zu Art. 3 MSA geaußert haben36? Die Kom-mission zur Ausarbeitung des KSU hat sich nicht bemuht, dieseFragen zu beantworten. Denn jedem war klar, um Kompromis-se kommt man nicht herum, auch internationale Konventionensind Ausdruck des jeweiligen Zeitgeistes zur Zeit ihrer Ent-stehung und werden mit Lasten von gestern befrachtet in derstillen Hoffnung, diese Lasten nach bosen Erfahrungen, aberermutigt durch einen neuen Zeitgeist spateruber Bord werfenzu konnen. Das hat man nun getan. Art. 16 I KSU spricht ei-ne klare Sprache und beruft fur die gesetzliche elterliche Ver-antwortung (la responsabilite parentale attribue de plein droit,parental responsibility by operation of law) das Recht des Staa-tes des gewohnlichen Aufenthalts des Kindes. Weggefallen istdie mißverstandliche Vokabel der Anerkennung in Art. 3 MSA.Uberall verstandlich heißt es nun, daß sich die gesetzliche elter-licheVerantwortungnachdemAufenthaltsrecht bestimmt (...estregie,... is governed).

Damit sind jedochnochnichtalleSchwierigkeitenuberwun-den. Art. 16 I KSU verweist auf das Recht am gewohnlichenAufenthalt des Kindes, und zwar auch dann, wenn das Kind ineinem Nichtvertragsstaat lebt (Art. 20 KSU). Diese Vorschriftersetzt also das autonome IPR fur die gesetzliche elterliche Sor-ge (Art. 21 EGBGB) und ist immer anwendbar, wennuber dieseFrage als Haupt-, Vor- oder Teilfrage zu entscheiden ist, al-so auch bei einem inlandischen Unterhaltsprozeß eines Kindesmit gewohnlichem Aufenthalt in einem Nichtvertragsstaat ge-gen Verwandte im Inland als einem Vertragsstaat. Ob der Ver-treter des Kindes kraft Gesetzes die elterliche Verantwortungtragt und damit das Kind wirksam vertreten kann, richtet sichnach dem Recht des Staates, in dem das Kind seinen gewohn-lichen Aufenthalt hat. Wie jedoch dann, wenn dieses Recht garnicht angewandt sein will, also durch sein IPR zuruck- oderweiterverweist? Eine Verweisung auf das Recht eines Vertrags-staates ist eine Sachnormverweisung (Art. 21 I KSU). Wirdjedoch das Recht eines Nichtvertragsstaates berufen, so wirdnach Art. 16 II KSU das IPR des Nichtvertragsstaates nur fureine einzige Konstellation beachtet, namlich wenn der berufeneNichtvertragsstaat auf das Recht eines anderen Nichtvertrag-staates verweist und dieser die Verweisung annimmt. Verweistalso Art. 16 I KSU auf dasRecht desNichtvertragsstaates A undunterstellt dessen IPR die gesetzliche elterliche Verantwortungdem Ehewirkungsstatut des Nichtvertragsstaates B und tut die-ser dasselbe, so verweist Art. 16 I KSU im Endergebnis auf dasRecht des Nichtvertragsstaates B. In allen anderen Fallen bleibtes bei der Maßgeblichkeit des Rechts von A, also auch dann,wenn dessen IPR auf das Recht eines Vertragsstaates zuruck-oder weiterverweist. Mußte hier nicht erst recht ein angenom-mener Renvoi ebenfalls beachtet werden? Mit dem Argument

”erst recht“ist es im IPR so eine Sache37. Wer es benutzt, mußzuerst erklaren, daß der gesetzlich geregelte Fall eine Regelungenthalt, die fur eine angeblich sehr viel naher liegendeahnlicheSituation noch viel besser paßt. Das ist aber hier nicht der Fall;denn die Vertragsstaaten des KSU nehmen wegen des Art. 16 IKSU einen Renvoi des Aufenthaltsstaates nicht an, so daß diein Art. 16 II KSU geschilderte Situation bei einer Verweisungdes Nichtvertragsstaates auf das Recht eines Vertragsstaates garnicht eintreten kann. Er wurde namlich einen Renvoi niemalsannehmen.

b) Aufenthaltswechsel. Wechselt das Kind seinen gewohn-lichen Aufenthalt, so bleibt die einmal gesetzlich begrundeteelterliche Verantwortung bestehen (Art. 16 III KSU), und de-ren Ausubung bestimmt sich seit demWechsel nach dem Rechtdes Staates des neuen gewohnlichen Aufenthalts (Art. 17 Satz2 KSU). Wenn also Eltern mit ihrem Kind von Italien nachDeutschland ziehen,ubendieEltern ihre in Italiengesetzlich be-grundete

”potesta dei genitori“nach den Vorschriften des BGB

zur elterlichen Sorge aus (§§1626 ff. BGB). Dies gilt bereitsjetzt unter Art. 21 EGBGB und geht wohl weiter als die Vor-schrift des Art. 15 III KSU uber die Verwirklichung auslandi-scher Schutzmaßnahmen nach einem Aufenthaltswechsel. Furdie elterliche Verantwortung, die durch eine Schutzmaßnahme(z.B. durch Zuweisung durch den Scheidungsrichter)ubertra-gen wurde, muß jedoch auch Art. 17 KSU gelten und nicht derArt. 15 III KSU38.

Art. 16 IV KSU regelt eine beruhmte Kontroverse in einemetwas anderen Gewande. Bereits bei Art. 3 MSA war streitig,was eigentlich gelte, wenn das Heimatrecht des Kindes keingesetzliches Gewaltverhaltnis anordnet, jedoch das Recht amgewohnlichenAufenthalt desKindes ein solchesVerhaltnis vor-sieht39. Eineahnliche Situation tritt beim KSU dann auf, wenndas Kind seinen gewohnlichen Aufenthalt wechselt und dasneue Aufenthaltsrecht einer solchen Person die gesetzliche el-terliche Verantwortung zuweist, die sie bisher nach altem Auf-enthaltsrecht nicht innehatte. Soll nun dieser Person automa-tisch kraft neuenGesetzes die elterlicheVerantwortung zufallenoder muß diese durch eine konstitutive Schutzmaßnahmeuber-tragen werden? Art. 16 IV KSU bekennt sich zur automatischwirkenden Losung. Dies fuhrt dazu, daß eine Mutter, die nachaltem auslandischem Aufenthaltsrecht die gesetzliche elterli-che Verantwortung nicht innehatte, sie automatisch nach§1626BGBerhalt, sobald dasKind seinen gewohnlichenAufenthalt inDeutschland begrundet. Das fuhrt notwendigerweise dazu, daßeine fruher begrundete alleinige elterliche Verantwortung ent-sprechend eingeschrankt wird. Entfallen kann sie jedoch nicht.Dafur ist eine Schutzmaßnahme (zu Art. 18 KSU s. unten IV 2c) erforderlich. Verlegt also ein Kind einer unverheiratetenMut-ter seinen gewohnlichen Aufenthalt von Italien nach Deutsch-land, so behalt der Vater, der das Kind anerkannt hat, seine

”po-

testa“(Art. 317 bis Codice civile) und verliert sie nicht, weil dasdeutsche Recht eine solche automatische elterliche Verantwor-tung nicht kennt, sondern sie nur bei gemeinsamer Erklarungder Eltern vorsieht (§1626 a I Nr. 1BGB).

c) Beendigung. Die elterliche Verantwortung gemaß Art. 16KSU erlischt kraft Gesetzes nach dem Recht ihrer Entstehung(Art. 16 I und IVKSU) und kann von den zustandigenBehordenentzogen oder deren Ausubung geandert werden (Art. 18 KSU).Anders als nach dem Vorbehalt in Art. 1 MSA zugunsten des

36 Nachweiseder einhelligen franz. Literatur bei:MunchKomm–Siehr(obenN. 16) RdNr. 158 in FN. 173. Interessant ist, daß man diese Haltung dessprachlichwichtigstenVertragspartners inDeutschland kaumbeachtet hat.Befleißigt man sich einer

”internationalen“ Auslegung nur dann, wenn es

einem in den Kram paßt?37 Zu diesem Argument bei Art. 14 I Nr. 3 EGBGB und der Anwendung des

Renvoi bei einer Verweisung auf das Recht der engsten Verbindung vgl.Kropholler, IPR (3. Aufl. 1997)§24 II 3a (S. 154).

38 Anders nochSiehr,RabelsZ 62 (1998) 488.39 Vgl. hierzuStaudinger (-Kropholler), (oben N. 32) RdNr. 232 ff.

K. Siehr: Das neue Haager Kindesschutzubereinkommen von 1996 131

Art. 3 MSA ist also die gesetzliche elterliche Verantwortungkein Hindernis mehr fur Schutzmaßnahmen der zustandigenBehorden.

Auslandische Schutzmaßnahmen mussen anerkannt undsolltennurabgeandertwerden,wennsichseitTreffenderSchutz-maßnahme die Umstande geandert haben. Das ist anders beider gesetzlichen elterlichen Verantwortung. Sie tritt automa-tisch ein, und deshalb ist eine Korrektur ohne Rucksicht auf dieSituation im Zeitpunkt der Begrundung dieser Verantwortungmoglich.

3. Vereinbarte elterliche Verantwortung

Nach demRecht einiger skandinavischer Staaten kann die elter-liche Verantwortung ohne richterliche Mitwirkung durch Ver-einbarung oder einseitiges Rechtsgeschaft begrundet und been-det werden40. Dieser Situation tragt Art. 16 II KSU Rechnungund unterwirft eine solche parteiautonomeRegelung demRechtdes Staates, in dem das Kind im Zeitpunkt dieser Regelung sei-nen gewohnlichen Aufenthalt hat. Dieses Recht kann das ei-nes Nichtvertragsstaates sein (Art. 20 KSU). Ob nach Art. 21II KSU eine akzeptierte Weiterverweisung (s. oben B IV 2 a)zu beachten ist, erscheint fraglich. Art. 21 II KSU enthalt kei-ne Einschrankung auf Falle des Art. 16 I KSU, und Art. 16 IIKSU ermachtigt zu keiner Rechtswahl, sondern bestimmt ob-jektiv das Recht fur eine autonome Rechtsgestaltung des Sach-rechts. Trotzdem fragt sich, ob bei einer gultigen Vereinbarungnach dem Sachrecht des Nichtvertragsstaates A das Recht desNichtvertragsstaates B angewandt werden darf, der die Weiter-verweisung annimmt, jedoch der Vereinbarung einen anderenInhalt gibt. M.E. sollte man Art. 21 II KSU auf Falle der gesetz-lichen elterlichen Verantwortung beschranken.

Wechselt das Kind seinen gewohnlichen Aufenthalt, bleibtdie vereinbarte elterliche Verantwortung bestehen (Art. 16 IIIKSU). Sie wird nach dem Recht am gewohnlichen Aufent-halt des Kindes ausgeubt, nach einem Aufenthaltswechsel al-so gemaß dem neuen Aufenthaltsrecht, und kann auch ohneAufenthaltswechsel von den zustandigenBehorden aufgehobenoder geandert werden (Art. 18 KSU).

4. Verkehrsschutz

Wir kennen einen kollisionsrechtlichen Verkehrsschutz in denArtt. 12 und 16 EGBGB fur die Geschaftsfahigkeit und dasEheguterrecht. Es gibt keinen generellen Schutz im IPR bei derVertretungsmacht. Lediglich in Art. 16 II EGBGB,§1357 BGBgibt es einen Verkehrsschutz bei der Schlusselgewalt der Ehe-leute. Imubrigen versuchen wir durch Anknupfung an den Ort,andemvoneiner schuldrechtlichenVertretungsmachtGebrauchgemacht wurde, eine sachgerechte Losung zu erreichen41. ImKindesrecht gilt dieseungeschriebeneRegelungnicht.Weil diesin vielen Staaten so ist42, hat man in Art. 19 KSU eine Norm furden Verkehrsschutz formuliert. Bei Rechtsgeschaften unter An-wesenden in demselben Staat soll sich ein gutglaubiger Dritterauf das Recht am Abschlußort verlassen konnen, und er kannnicht deshalb fur haftbar gehaltenwerden, weil der Vertreter desKindes nach dem Recht, das gemaß dem KSU anwendbar ist,nicht vertretungsberechtigt war.

Nach Art. 40 KSU kann der Vertreter eines Kindes vomzustandigen Vertragsstaat eine Bescheinigunguber seine Ver-tretungsmacht verlangen. Die Richtigkeit dieser Bescheinigungwird bis zum Beweis des Gegenteils vermutet (Art. 40 II KSU).Der Dritte kann also auch die Vorlage einer solchen Bescheini-gung vom Vertreter verlangen und kann dann befreiend an denVertreter leisten.

5. Ordre public

Das berufene auslandischeRecht braucht dann nicht angewandtzu werden, wenn es offensichtlich mit dem ordre public desForumstaates unvereinbar ist.

V. Anerkennung und Vollstreckung

1. Anerkennung auslandischer Maßnahmen

Art. 7 MSA enthalt eine sehr rudimentare Vorschriftuber dieAnerkennung auslandischer Schutzmaßnahmen. Das KSU istausfuhrlicher. Nach Art. 23 I KSU sind auslandische Maßnah-men anzuerkennen, und zwar kraft Gesetz (de plein droit, byoperation of law), also ohne Exequatur. Art. 23 II KSU for-muliert sechs Verweigerungsgrunde, bei deren Vorliegen eineauslandische Maßnahme nicht anerkannt zu werden braucht.Selbstverstandlich sind die Verweigerungsgrunde der fehlen-den internationalen Zustandigkeit (Art. 23 II lit. a KSU), derVerweigerung des rechtlichen Gehors (Art. 23 II lit. b und cKSU) und der Verstoß gegen den ordre public (Art. 23 II lit. dKSU). Ungewohnlich sind nur zwei weitere Grunde: Kollisionmit anzuerkennenden Schutzmaßnahmen dritter Staaten (Art.23 II lit. e KSU) und ein Verstoß gegen die Zusammenarbeitin Unterbringungsfallen (Artt. 23 II lit. f, 33 KSU). Beim er-sten dieser Grunde mußte auf das Verhaltnis gegenuber Nicht-vertragsstaaten Rucksicht genommen werden. So braucht eineSchutzmaßnahme eines fruheren Aufenthaltsstaates nicht aner-kannt zu werden, wenn sie einer Maßnahme widerspricht, dieein Nichtvertragsstaat am Ort des spateren gewohnlichen Auf-enthalts des Kindes getroffen hat und die nach dem Recht desersuchten Staates anzuerkennen ist. Ware er ein Vertragsstaat,hatte er die fruhereMaßnahme durch seine eigene ersetzt. Dochauch gegenuber einemNichtvertragsstaat muß bei Kollision diezuletzt ergangene Entscheidung Vorrang haben. Die andere An-omalie bezieht sich auf die Unterbringung im Inland durch eineMaßnahme, die ein anderer Vertragsstaat ohne Zustimmung desInlands getroffen hat (Artt. 23 I lit. f, 33 KSU; s. unten VI 1 c).

AusgutemGrund fehlenzweiandereVerweigerungsgrunde,die Zustellung eines das Verfahren einleitenden Schriftstucksund die Rechtskraft. Beides ist hier unangebracht; denn einKindesschutzverfahren wird haufig von Amtes wegen nach be-sonderen Regeln (vgl. fur Deutschland das FGG) eroffnet, unddie Kindesschutzmaßnahmen erwachsen nicht in Rechtskraft,sondern sind jederzeit abanderbar.

40 Vgl. 6. Kapitel §4 II des Elterngesetzes (Foraldrabalken) von 1949, beiBergmann/Ferid(oben N. 13) Schweden S. 25, 51 (Stand: 31.5.1999).

41 Vgl. Kropholler (oben N. 37)§41 I 2 (s. 279 f.).42 Vgl. z.B.§49osterr. IPR-Gesetz; Art. 126 schweiz. IPRG, die sich nur auf

die gewillkurte Stellvertretung beziehen.

132 K. Siehr: Das neue Haager Kindesschutzubereinkommen von 1996

Bei derUberprufung der indirekten Zustandigkeit ist der an-erkennende Staat an die Tatsachenfeststellungen der auslandi-schen Entscheidungsinstanz gebunden (Art. 25 KSU), und imubrigen ist eineUberprufung in der Sache selbst verboten (Art.27 KSU). Nach Art. 24 KSU kann jede betroffene Person vomAnerkennungsstaat eine Bescheinigung daruber verlangen, daßeine auslandische Schutzmaßnahme die Voraussetzungen einerAnerkennung oder Nichtanerkennung erfullt. Eine solche posi-tive Bescheinigung hat im Inland nur dann einen Wert, wennsie wie bei Art. 7§1 VIII FamRAndG mit Bindungswirkungausgestattet ist.

2. Vollstreckung auslandischer Maßnahmen

Ein großer Nachteil des MSA besteht darin, daß es nicht zurVollstreckung auslandischer Maßnahmen verpflichtet. Dies istnach dem KSU anders. Vollstreckbare auslandische Maßnah-men sind in den anderen Vertragsstaaten durchzusetzen, wennkeine Anerkennungshindernisse vorliegen (Artt. 26 I, 28 Satz2 KSU). Die Vollstreckung richtet sich nach dem autonomenRecht des Vollstreckungsstaates (Art. 26 II KSU). Bei dieserVollstreckung ist so zu verfahren, als wenn die auslandischeEntscheidung im Inland getroffen worden ware (Art. 28 Satz1 KSU). Eine Differenzierung zwischen in- und auslandischenSchutzmaßnahmen ist also unzulassig. Diese Vorschriftenuberdie Vollstreckung auslandischer Schutzmaßnahmen kann ge-rade in Fallen der Kindesentfuhrung zu neuen Konstellationenfuhren.Verzichtet der beraubteElternteil auf einRechtshilfever-fahren nach dem Haager Kindesentfuhrungsubereinkommen,so kann er im Zufluchtsstaat eine Ruckfuhrungsanordnung derBehorden des Herkunftsstaates im Zufluchtsstaat vollstreckenlassen, und zwar durch staatlich erzwungene Ruckfuhrung desKindes, ohne daß die Ausnahmen des Haager Entfuhrungsube-reinkommens imWege stehen. Denn nur selten durfte die Ruck-fuhrung gegendenordre public verstoßen (Art. 23 II lit. d KSU).Ein paralleles Rechtshilfeverfahren nach dem Kindesentfuh-rungsubereinkommen ware sogar gefahrlich; denn dann drohtdie Ablehnung einer Ruckfuhrung und errichtet damit eineSchranke fur die Anerkennung fruher ergangener auslandischergegenteiliger Maßnahmen43.

VI. Zusammenarbeit

1. Zentrale Behorden

Seit dem Haager Entfuhrungsubereinkommen von 1980 gibt esin den Vertragsstaaten dieses Vertrags Zentrale Behorden zurBewaltigung der internationalen Zusammenarbeit44. DasselbeBedurfnis muß auch beim KSU befriedigt werden, sind dochnach diesemUbereinkommen sehr viel mehr Aufgaben interna-tionaler Kooperation zu erledigen als nach demMSAmit seinenMitteilungspflichten (Artt. 4 I, 10, 11 I MSA). Deshalb mussendie Vertragsstaaten des KSU Zentrale Behorden benennen, wel-che die nach dem KSU bezeichneten Aufgaben wahrnehmen(Art. 29 I KSU). Die allgemeinen Aufgaben gegenseitiger Hil-fe werden in Artt. 30 und 31 KSU umschrieben. Artt. 32-34KSU betreffen die Zusammenarbeit beim Treffen von Schutz-maßnahmen. Eine besondere Stellung nimmt hierbei Art. 33

KSU ein. Hier geht es um die inlandische Unterbringung ei-nes Kindes in einer Pflegefamilie oder einem Heim durch eineauslandische Instanz. Hier ist die Zustimmung der zustandigenBehorde im Staat der Unterbringung erforderlich. Wird dieseZustimmung nicht eingeholt, braucht die auslandische Unter-bringungsverfugung nicht anerkannt zu werden (Art. 23 II lit. fKSU).

Ebenfalls bei der Durchfuhrung von Schutzmaßnahmen lei-sten sich die Behorden der Vertragsstaaten Hilfe. Dies ist be-sonders wichtig fur die Ausubung des Rechts zum personli-chen Umgang mit dem Kind. Bislang ist Art. 21 des HaagerKindesentfuhrungsubereinkommen von 198045 uber das Be-suchsrecht toter Buchstabe geblieben. Ob sich das durch Art.35 KSU andern wird, ist zwar fraglich, aber zumindest wirdversucht,uber die Kanale der Zentralen Behorden Informatio-nenuber die umgangsberechtigtenElternteil zu erhalten (Art. 35II KSU). Eine andere wichtige Vorschrift ist Art. 36 KSU uberdie Sorge um gefahrdete Vagabunden. Ist namlich ein Kind ei-ner schweren Gefahr ausgesetzt und hat es seinen Aufenthaltgewechselt, so benachrichtigen die Behorden des Staates, derSchutzmaßnahmen getroffen oder erwogen hatte, die Behordendes neuen Aufenthaltsstaates von der Gefahr und den getroffe-nen oder erwogenen Maßnahmen.

2. Allgemeine Verfahrensregeln

Internationale Rechtshilfe wird nach den Verfahrensregeln desersuchten Staates erteilt, soweit staatsvertraglich nichts ande-res vorgesehen ist. Das KSU halt sich mit solchen Sonderre-geln zuruck. Wichtig schien allein dreierlei. Zum einen durfensensible Informationen, die das Kind oder dessen Vermogengefahrden oder das Leben von Familienangehorigen bedrohenkonnten,wedererbetennocherteiltwerden (Art. 37KSU).Beimzweiten Punkt geht es ums Geld. Die personelle und materiel-le Ausstattung von Zentralen Behorden ist bereits kostspielig.Zusatzliche Lasten wollte man den Vertragsstaaten nicht zumu-ten. Zugestanden wurde ihnen sogar, fur die Dienstleistungender Zentralen Behorden eine Kostenbeteiligung zu verlangen(Art. 38 I KSU). Schließlich sind die Vertragsstaaten frei, durchVereinbarungenmit anderenVertragsstaatenKostenfragen (Art.38 II KSU) und andere Rechtshilfeprobleme zu regeln (Art. 39KSU).

VII. Allgemeine Vorschriften

Von den Allgemeinen Bestimmungen der Artt. 40-56 KSU sindvor allem funf Vorschriften erwahnenswert. Zum einen mussendie Vertragsstaaten fur den Inhaber der elterlichen Verantwor-tung einen Ausweis vorsehen, der diesen Inhaber im Ausland

43 Diese Schranke ergibt sich entweder aus der Tatsache, daß die Ablehnungder Ruckfuhrung als eine spatere Schutzmaßnahme die fruhere Schutz-maßnahme des Herkunftsstaates (Ruckfuhrungsanordnung) aufhebt, oderweil Art. 23 II lit. e KSU analog anzuwenden ist. (Hindernis einer spaterenanzuerkennenden und hier sogar selbst erlassenen gegenteiligen Entschei-dung).

44 Die deutsche Zentrale Behorde befindet sich in Berlin bei der Bundesan-waltschaft.

45 s. oben N. 19.

K. Siehr: Das neue Haager Kindesschutzubereinkommen von 1996 133

legitimieren kann (s. Art. 40 KSU und oben B IV 4). Die zwei-te wichtige Regelung betrifft vor allem den Datenschutz (Artt.41, 42). Der leidigen Sprachenfrage nimmt sich der Art. 54KSU an. Das KSU laßt nur zwei Vorbehalte zu, die sich auf dasinlandische Vermogen eines Kindes beziehen (Art. 55 KSU),undschließlichbekraftigtArt. 56KSUdieHaagerTradition, dasFunktionierenvonUbereinkommen in regelmaßigenAbstandenzu uberprufen.

Zusammenfassung.Das KSU, bislang noch eine”sleeping be-

auty“46, wird, sobaldwach gekusst, dasMSAersetzen und dannseine ganze Schonheit entfalten. Diese Schonheit zeigt sich vorallem in verschiedenen Verbesserungen:

– Die Gerichte und Behorden am gewohnlichen Aufenthaltdes Kindes sind primar zustandig und dulden daneben kei-ne konkurrierende Zustandigkeiten, wenn man von der Eil-zustandigkeit und der Zustandigkeit fur vorlaufigeMaßnah-men absieht.

– Wofur die Gerichte und Behorden zustandig sind, wird aus-fuhrlich geregelt.

– Kind i.S. des KSU ist jede Person, die noch nicht das 18.Lebensjahr vollendet hat.

– Diese primare Zustandigkeit wird auch nicht eingeschranktdurch gesetzliche Gewaltverhaltnisse. Die gesetzliche Ver-antwortung wird nach dem Recht des Staates beurteilt, indem das Kind seinen gewohnlichen Aufenthalt hat.

– Alle Gerichte und Behorden wenden ihre lex fori an undkonnen auf auslandisches Recht Rucksicht nehmen.

– AlleVertragsstaaten habendieSchutzmaßnahmender ande-renVertragsstaaten anzuerkennen,wenn nicht ein ausdruck-lich genanntes Anerkennungshindernis vorliegt.

– Solche auslandischen Schutzmaßnahmen sind auch zu voll-strecken, falls sie einer Vollstreckung bedurfen.

– Die internationale Zusammenarbeit wird durchZentraleBe-horden der Vertragsstaaten gefordert.

Nach Art. 61 I KSU bedarf das KSU dreier Ratifikationen, umin Kraft zu treten. Hoffentlich geschieht dies bald.

Summary. In 1996 the Hague Conference on Private Interna-tional Law completed the preparation of a new Convention onInternational Protection of Children. This Convention is a revi-sion of the 1961 Hague Convention on the Protection of Minorsand shall replace it as soon as a state party to the 1961 Conven-tion ratifies the newConvention. Themain characteristics of the1996 Convention are the following:

– Almost excusive jurisdiction of the courts in the child’scountry of habitual residence.

– Application of the law of the State in which the child habit-ually resides.

– Recognition and enforcement of foreign protective mea-sures.

– Assistance from central authorities for communication be-tween member states.

46 SoWilliamDuncan, Erster Sekretar des Standigen Buros der Haager Kon-ferenz, am 26.2.2000 bei einem Vortrag in New York vor dem

”Secretary

of State’s Advisory Committee on Private International Law.“