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5 Das offenbare Geheimnis der Drei – und die Entwicklung der menschlichen Individualität Altbekannte Tatsachen… Die Drei begegnet uns auf Schritt und Tritt. Wenn immer wir unsere Beobachtung vom abstrakten Begriff zum Erleben und zur konkreten Erfahrung hinwenden, können wir bemerken, dass sich uns die Wirklichkeit dreigestaltig darstellt. Was wir „Raum“ nennen, wird erlebt als die Dreiheit der Raumesrichtungen, in die wir hineingestellt sind, was wir „Zeit“ nennen, erleben wir als Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Aus drei Grundfar- ben mischt sich uns – als Drittes zwischen Licht und Finsternis – die gesamte farbige Erscheinungswelt, und über dem Dreiklang entfaltet sich der Klangraum unseres Musikerlebens. Unsere Sprache, die unser gesamtes Welterleben und unser Bewusstsein konstituiert, ist durch und durch dreigestaltig: Subjekt, Prädikat und Objekt sind die grundlegenden „Satzglieder“, Substantiv, Verb und Adjektiv die grundlegenden Wortarten, und in drei Personalformen drücken wir uns aus. Unser Seelenleben ist uns unmittelbar gegenwärtig als denkendes, füh- lendes und wollendes Wesen, ja sogar die inne- re Struktur unserer Logik, aus der sich das elementare Erleben der Gewissheit nährt, zeigt sich der Selbstbeobachtung als Begriff, Urteil und Schluss. Gewöhnlich beachten wir diese Dreiheiten und ihr Zusammenspiel nicht, aus dem heraus sich die ganze Fülle unseres Welterlebens ent- faltet. Wir nehmen es als selbstverständlich, es sei denn, eine Störung tritt auf: im Erleben des Gleichgewichts etwa, bei Gedächtnisverlust, oder auch nur, wenn jemand „unlogisch“ denkt. Aber selbst wenn uns diese Struktur unserer Welterfahrung irgendwie auffällig erscheint, sind wir weit davon entfernt, der Zahl darin Dreihasenfenster am Paderborner Dom, 16. Jh.

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Das offenbare Geheimnisder Drei –und die Entwicklung dermenschlichen Individualität

Altbekannte Tatsachen…Die Drei begegnet uns auf Schritt und Tritt. Wenn immer wir

unsere Beobachtung vom abstrakten Begriff zum Erleben undzur konkreten Erfahrung hinwenden, können wir bemerken, dasssich uns die Wirklichkeit dreigestaltig darstellt. Was wir „Raum“nennen, wird erlebt als die Dreiheit der Raumesrichtungen, indie wir hineingestellt sind, was wir „Zeit“ nennen, erleben wirals Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Aus drei Grundfar-ben mischt sich uns – als Drittes zwischen Licht und Finsternis –die gesamte farbige Erscheinungswelt, und über dem Dreiklangentfaltet sich der Klangraum unseres Musikerlebens. UnsereSprache, die unser gesamtes Welterleben und unser Bewusstseinkonstituiert, ist durch und durch dreigestaltig: Subjekt, Prädikatund Objekt sind die grundlegenden „Satzglieder“, Substantiv,Verb und Adjektiv die grundlegenden Wortarten, und in dreiPersonalformen drücken wir uns aus. Unser Seelenleben ist unsunmittelbar gegenwärtig als denkendes, füh-lendes und wollendes Wesen, ja sogar die inne-re Struktur unserer Logik, aus der sich daselementare Erleben der Gewissheit nährt, zeigtsich der Selbstbeobachtung als Begriff, Urteilund Schluss.

Gewöhnlich beachten wir diese Dreiheitenund ihr Zusammenspiel nicht, aus dem heraussich die ganze Fülle unseres Welterlebens ent-faltet. Wir nehmen es als selbstverständlich, essei denn, eine Störung tritt auf: im Erleben desGleichgewichts etwa, bei Gedächtnisverlust,oder auch nur, wenn jemand „unlogisch“ denkt.Aber selbst wenn uns diese Struktur unsererWelterfahrung irgendwie auffällig erscheint,sind wir weit davon entfernt, der Zahl darin

Dreihasenfenster amPaderborner Dom, 16. Jh.

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eine mehr als bloß zufällige Bedeutung beizumessen. Zahlensind ja schließlich etwas rein Formales, das mit dem Weseneiner Sache nichts zu tun hat, so scheint es zunächst: der Kuchenschmeckt schließlich nicht anders, wenn ich ihn in zwölf statt inacht Stücke teile. Zudem ist es ja offensichtlich, dass sich unsereWelt in vielen unterschiedlichen Zahlenstrukturen präsentiert. Istdann die besondere Beachtung der Drei durch die Tatsachenbegründet?

Die Antwort kann letztlich nur Erfahrung sein. Es ist natür-lich so: wenn wir eine Idee, auch noch eine so anscheinend for-male wie eine Zahl, an die Wirklichkeit herantragen, laufen wirGefahr, die Wirklichkeit unseren Vorstellungen anzupassen. Esist aber auch ebenso richtig: wenn wir ideenlos an die Wirklich-keit herantreten, nehmen wir nichts Bestimmtes wahr. Der Er-kenntnisprozess selbst ist somit dreigestaltig: im Hin und Herzwischen Wahrnehmung und Begriff bildet sich ein Drittes, daswir unsere – alltägliche oder wissenschaftliche – Erfahrungnennen. Man wird tatsächlich, wenn man einmal auf die Dreige-staltigkeit unseres Welterlebens aufmerksam geworden ist, neueBeobachtungen machen, mit denen man vielleicht überhauptnicht „gerechnet“ hat.

Unsere tägliche „Hexenküche“Sofern die Zahl rein formalen Charakter hat, liegt tatsächlich

die Gefahr nahe, die Wirklichkeit mit „Zahlenspielereien“ zuverfremden. Anders sieht die Sache allerdings aus, wenn wir unsdie Mühe machen, eine Zahl als Qualität zu erleben. Manches,

was wir bisher nur als oberflächliche Spiele-rei angesehen haben, kann dann vielleicht ineinem andern Licht erscheinen. Es ist keinZufall, dass wir eine solche Erfahrung geradean Goethes „Hexeneinmaleins“ machenkönnen. Ist doch der „Faust“ die über Jahr-zehnte gewachsene Lebensfrucht eines Wei-sen – und die „Hexenküche“ jener Ort, andem die tiefsten Welträtsel bewusst und mithintergründigem Humor zur bösen Farceverzerrt werden.

Aus Eins mach’ Zehn,Und Zwei lass gehn,Und Drei mach’ gleich,So bist du reich…Indem ich mit der Null die Eins zur Zehn

mache, entsteht eine abzählbare Vielheit, inder die Qualitäten der Zahlen verloren gehen.

Hexeneinmaleins, Holzschnittnach der Zeichnung vonGabriel Max. Berlin 1879Ausschnitt

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Anders, wenn ich nicht abzähle, sondern frage: wie entsteht ausder Eins die Zwei? Durch Teilung. Aus der ursprünglichen Ein-heit entsteht ein Gegenüber, eine Polarität. Bleibt dies als Prinzipvorherrschend, wird aus der Teilung – Zerfall. Wir dürfen geradedie Zwei nicht „gehen lassen“, sondern müssen sie als Vorstufeund Voraussetzung für ein neues Ganzes ansehen, das als kon-struktives Drittes eine neue Qualität schafft: Polarität und Stei-gerung. Charakteristisch für diese neue Ganzheit ist eben gerade,dass sie nicht eine gleichgültige Anzahl Gleicher ist. Mit„Gleichmachen“ entgeht mir gerade der „Reichtum“, der dieneue Qualität dieser dreigliedrigen Einheit – im Unterschied zurursprünglichen – ausmacht.

Wie die ganze Hexenküche mit ihrem Dunst und ihren Uten-silien, so soll das Hexeneinmaleins in „konzentrierter“ Form die„Medizin“ sein, das Denken Fausts vom klaren Erkenntnisstre-ben zu „heilen“. Mephisto, der geniale Verdreher, und seineDienerin stellen den Erkenntnisvorgang auf den Kopf. Jenesverhasste und verspottete „Himmelslicht“ nämlich, die wachbe-wusste, zu geistiger Intuition begabte Vernunft, soll ausgelöschtwerden, die „hohe Kraft der Wissenschaft“ soll aus nebulosenInstinktsphären hervorgehen:

Und wer nicht denkt,Dem wird sie geschenkt,Er hat sie ohne Sorgen.Und hier, mitten in dem ganzen Lügengespinst, bläst Me-

phisto zum Hauptangriff gegen jenes Himmelslicht der höherenVernunft:

Mein Freund, die Kunst ist alt und neu.Es war die Art zu allen Zeiten,Durch Drei und Eins, und Eins und DreiIrrtum statt Wahrheit zu verbreiten.So schwätzt und lehrt man ungestört!Wer will sich mit den Narrn befassen?Gewöhnlich glaubt der Mensch, wenn er nur Worte hört,Es müsse sich dabei doch auch was denken lassen.Mephisto weiß sehr wohl, dass sich „durch Drei und Eins,

und Eins und Drei“ alles andere als Narretei und Geschwätz,sondern die tiefste und eben deshalb so schwer fassbare Idee desChristentums manifestiert, die Idee der Dreieinigkeit und Drei-faltigkeit. Schon die allererste Begegnung zwischen Faust undMephisto vollzieht sich im Zeichen dieser Idee. Gerade alsFaust, nach dem Osterspaziergang erfrischt, sich darum bemüht,sein inneres Gleichgewicht mit der Übersetzung des Prologs ausdem Johannesevangelium zu wahren – „im Anfang war dasWort“ –, offenbart sich zum ersten Mal „des Pudels Kern“. Da-bei geht es um die Übersetzung des Begriffs „Logos“ mit

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„Wort“. Tatsächlich kommt diese dem ursprünglichen Gehaltnoch am nächsten, ist doch das gesprochene Wort Sinnträger,Seelenausdruck und leibliches Tun in Einem. Aber Fausts kriti-scher Verstand hat Zweifel an dieser Dreieinigkeit des „Wortes“:„Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen.“ So durchläufter in seiner Übersetzung alle drei Aspekte nacheinander, ohnedas Wesen des „Logos“ damit fassen zu können – und am Ende,als er übersetzt „Im Anfang war die Tat!“, steht er Mephistogegenüber.

Das sinnentleerte Tun und die Unfähigkeit, in den Formenund Strukturen der Welt den lebendigen Geist wahrzunehmen,sind zwei Seiten desselben Problems: des Mangels an Gegen-wart, an Wachheit für die Anwesenheit des Logos, des Wortes.Wir erleben die Welt, um mit Kafka zu sprechen, in der „Ver-wirrung der Sinne“ wie ein „je nach der Laune und Verwundungdes einzelnen entzückendes oder ermüdendes kaleidoskopischesSpiel“1. Die Welt ist uns zur nichtssagenden, abzählbaren Ge-genständlichkeit verblasst, in der sich uns nichts Höheres mehroffenbart, die wir stattdessen zum Ziel unserer instinktivenWünsche und Begehrlichkeiten machen. Zu den Aufgaben derErziehung, auch der Selbsterziehung gehört deshalb, die wacheAufmerksamkeit und die liebevolle Hingabe gegenüber denWelterscheinungen zu üben und zu pflegen, in der Natur, in derKunst, in der Wissenschaft, in der menschlichen Begegnung.Goethe ist zweifellos ein großer Lehrmeister in dieser Tugend.

Die Drei als LebensweisheitVon der Dreigestalt der menschlichen Existenz erzählt schon

der Anfang des Faust-Dramas. Goethe hat der eigentlichenHandlung, die mit dem verzweifelten Monolog des Wissen-schaftlers in seinem „dumpfen Mauerloch“ beginnt, drei Prologevorangestellt, die jeweils eine andere Perspektive auf das Stückeröffnen. Der erste, die „Zueignung“, ist eine in feierlichenStanzen verfasste, lyrische Innenschau des Autors. Sie wendetsich von der Erinnerung an die „Bilder froher Tage“, von den„lieben Schatten“ und den „Guten“, die ihm „hinweggeschwun-den“, zur Gegenwart der Verstorbenen, die – gleichsam inspirie-rend – geistig anwesend sind.

Und mich ergreift ein längst entwöhntes SehnenNach jenem stillen ernsten Geisterreich…Was ich besitze, seh’ ich wie im Weiten,Und was verschwand, wird mir zu Wirklichkeiten.Diesem inneren, geistigen Erleben dichterischen Schaffens

steht im dritten Prolog, dem „Prolog im Himmel“, das ganzeumfassende kosmische „Geisterreich“ gegenüber, in welchem

1 Franz Kafka:Eisenbahnreisende

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der göttliche Schöpfer, der „Herr“, im Dialog mit Mephisto aufden Menschen blickt. Hier wird Mephisto der Freiraum gewährt,an den Menschen heranzutreten, damit dieser in der Auseinan-dersetzung mit dem Wesen des Bösen aus eigener, freier Kraftden „rechten Weg“ gehe – und sich nicht zur Ruhe setze.

Solang’ er auf der Erde lebt,Solange sei dir’s nicht verboten.Es irrt der Mensch solang’ er strebt.Zwischen diesen beiden polaren Perspektiven auf den Men-

schen und seine Stellung in der Welt breitet sich im zweitenProlog, dem „Vorspiel auf dem Theater“, das menschliche Le-ben aus, gleichsam als die „Bühne des Lebens“ – und diese wirdwiederum von drei Personen bewohnt: dem Direktor, demDichter und der „lustigen Person“. Während der Dichter mitBegeisterung die Freiheit seiner Kunst vertritt und deren sinn-stiftende geistige Kraft besingt, meldet der Direktor seine prag-matischen, materiellen Interessen an, damit die Kassenklingeln. Zwischen diesen anscheinend unversöhnli-chen Gegensätzen nimmt die „lustige Person“, derSchauspieler, in vielerlei Hinsicht eine mittlere Positi-on ein. Mit Humor und durchaus mit Weisheit geseg-net, schafft er eine Mitte zwischen den hohen geistigenIdealen des Dichters und den materiellen Gegebenhei-ten. In dieser Mitte erst entfaltet sich die ganze Vielfaltund Farbigkeit des Lebens, hier findet Begegnung statt,hier lebt das Soziale.

Lasst uns auch so ein Schauspiel geben!Greift nur hinein ins volle Menschenleben!Ein jeder lebt’s, nicht vielen ist’s bekannt,Und wo ihr’s packt, da ist’s interessant.Arbeitet man im Unterricht heraus, wie alle drei

Positionen ihre Berechtigung haben, wie sie im Grundefür jeden erfahrbare Aspekte des menschlichen Lebens, ja derganzen lebendigen Wirklichkeit darstellen, kann man bemerken,wie die Schüler mit Staunen und Hochachtung die lebensvolleWeisheit des künstlerischen Genius zu würdigen wissen. Derabstrakte Verstand neigt dazu, alles auf ein Prinzip zurückführenzu wollen, die „Weltformel“ zu ergründen, und entfernt sichdabei immer weiter vom Leben. Man wird erst dann der vollenWirklichkeit gerecht, wenn man sich die Beweglichkeit aneig-net, die Dinge von unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachtenzu können. Die Beobachtung der Tatsachen führt dann dazu,dass diese Wirklichkeit von dreifach ineinanderwirkendenGrundkräften konstituiert wird.

Goethes „Weltanschauung“ ist wirklichkeitsnah. Deswegenfinden wir auch in seinen wissenschaftlichen Reflexionen immer

Johann Wolfgang von Goethegemalt im 70. Lebensjahr vonJ.K. Stieler

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wieder Gedanken, in denen ein Drittes den Dualismus überwin-det. So spricht er auch als Wissenschaftler dem Verstand nichtdie Herrschaft über die Sinne zu, sondern sucht die Mitte zwi-schen beiden in der „anschauenden Urteilskraft“. Eine Wissen-schaft, die von den Erscheinungen abstrahiert, läuft immer Ge-fahr, sich in der Vorstellung eine vermeintliche Wirklichkeit zukonstruieren, die ihren Abstraktionen entspricht: Modelle, diedann den Phänomenen hinterlegt werden als das „Eigentliche“.Deshalb warnt Goethe: „Man suche nur nichts hinter den Phä-nomenen; sie selbst sind die Lehre.“ „Wahrheit“ ist für ihn des-halb auch weder subjektiv noch eine vom Menschen abstrahier-bare „objektive“ Formel, sondern lebendige Erfahrung, einDrittes, das sich aus der Begegnung mit der Welt ergibt: „Kenneich mein Verhältnis zu mir selbst und zur Außenwelt, so heißich’s Wahrheit.“

Intellectus spiritualisDer Philosoph Ernst Cassirer schreibt in seiner „Philosophie

der symbolischen Formen“: „Das Problem der Einheit, die aussich heraustritt, die zu einem ‚Anderen und Zweiten‘ wird, umsich schließlich in einer dritten Natur wieder mit sich zusammenzu schließen – dieses Problem gehört zu dem eigentlichen geisti-gen Gesamtbesitz der Menschheit.“ Schon in den vorchristlichenKulturen sah man in der Dreiheit die Entfaltung und Offenba-

rung des Göttlichen in der Welt. So war der grundlegendeMythos in der ägyptischen Hochkultur die Dreiheit von Isis,Osiris und dem Horusknaben, der Sonnenlauf wurde als einedreifache Offenbarung des in der Nacht verborgenen Osirisals Morgensonne (Horus), Mittagssonne (Re) und Abendson-ne (Atum) erlebt. Daraus wird in Griechenland die berühmteSphinx-Frage: Was geht morgens auf vier, mittags auf zwei,abends auf drei Beinen? Antwort auf diese dreigestaltigeFrage: der Mensch!

Erst durch die Christus-Tat aber wird der Dualismus zwi-schen dem Göttlich-Geistigen und dem Irdisch-Menschlichenin seiner ganzen Tiefe überwunden – in einem „neuen Bund“,in dem der Mensch durch die Vermittlung des Gottessohneszum Vater zurückkehrt. Im „Gleichnis vom verlorenen Sohn“stellt uns das Lukas-Evangelium diesen Vorgang der Heim-kehr als Quintessenz der geschichtlichen Entwicklung desMenschen dar: der Sohn, der den väterlichen Hof verlassenhat, kehrt aus eigenem Entschluss zum Vater zurück und wirdvon diesem nicht nur in Liebe aufgenommen, sondern sogarhöher geschätzt als die Daheimgebliebenen. Die neue Einheitnach der Entzweiung hat eine höhere Qualität – es ist eine

Rembrandt: Heimkehr desverlorenen Sohnes, 1662Ausschnitt

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Welt der Brüderlichkeit, die auf der Freiheit aus geistiger Ein-sicht, aus Erkenntnis, aus Welterfahrung beruht. –

Viele große Geister des christlichen Mittelalters widmetenihr ganzes Streben dem Ringen um ein Verständnis der Dreiei-nigkeit von Vater, Sohn und Geist. Es war gerade die Auseinan-dersetzung um ein Verständnis dieser Idee, woran sich die Tren-nung in Ost- und Westkirche entzündete. In Ermangelung gesi-cherter Evidenz wurde das Verhältnis von Vater und Sohn zumGeist schon im 4. Jahrhundert in unterschiedliche Dogmen ge-fasst und damit eine getrennte Entwicklung in West und Osteingeleitet, die dann im Mittelalter in das große Schisma, dieKirchenspaltung mündete. Ein sehr eigenständiger Denker, derim 12. Jahrhundert in die Auseinandersetzungen um die Trinitätverwickelt wurde, war der italienische Zisterzienserabt aus Ka-labrien Joachim da Fiore (ca. 1130-1202). Ausgehend von derIdee der göttlichen Dreifaltigkeit entwickelte er eine Dreizeiten-lehre, die eine nachhaltige Wirkung auf die abendländischeGeistesgeschichte haben sollte.

Nach Joachim verläuft die Menschheitsgeschichte in dreigroßen Entwicklungsschritten. Der erste, das Zeitalter oder dasReich des Vaters, das vom Anbeginn der Welt bis zur Mensch-werdung Christi dauert, steht noch im Zeichen der Knechtschaftdes Menschen; das Zeitalter des Sohnes wird durch Christus unddas Neue Testament begründet, es steht im Zeichen der freiwil-ligen Dienstbarkeit der Söhne, des Glaubens und der Gnade; dasdritte Zeitalter schließlich, das Reich des Geistes, sah Joachim inder unmittelbaren Zukunft. Es ist gekennzeichnet durchFreiheit, Brüderlichkeit und Liebe. Hier wird sich dieIntelligenz des Menschen in einen „intellectus spiritua-lis“ verwandeln, das heißt, das Denken wird zugleichWahrnehmung des Geistes sein. Diese wird auch dendann erscheinenden geistigen Führer, den „novus dux“,erkennen. Joachim stellt somit zwar den Christusimpulsin die Mitte der Weltentwicklung, er holt aber auch denHeiligen Geist aus dem spekulativen Jenseits in dieSphäre einer absehbaren historischen Zukunft und ver-bindet ihn mit konkreten geistigen Fähigkeiten desMenschen – was ihn für kirchliche Dogmatiker an denRand der Ketzerei brachte.

Dazu muss man wissen, dass mit dem Verblassender Trinitätsidee auch das Selbstverständnis der geisti-gen Wesenheit des Menschen verdämmerte. In denersten Jahrhunderten des Christentums war, wie auch imAltertum, die trichotomische Ganzheit des MenschenGrundlage seines Selbstverständnisses, wie wir es auchin den Paulusbriefen lesen können: „Euer ungeteiltes

Michael mit dem Schild derTrinitätMittelalterliches Stundenbuch

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Sein, euer Geist, eure Seele und euer Leib, möge ungetrübt beider Geistesankunft Jesu Christi, unseres Herrn, bewahrt blei-ben.“ (1.Thess. 5,23) Im Laufe der Zeit entstanden aber immermehr Zweifel an der Eigenständigkeit des menschlichen Geistes,so dass im 9. Jahrhundert mit dem 8. Ökumenischen Konzil vonKonstantinopel der Geist als eigenes Wesensglied dogmatischabgelehnt und als Eigenschaft der Seele definiert wurde. Damitbegann man nicht nur dem Menschen die geistige Autonomie inDenken und Handeln abzusprechen, man leitete auch einen Leib-Seele-Dualismus ein, der im 19. Jahrhundert von der materialis-tischen Naturwissenschaft konsequenterweise zugunsten derHerrschaft des Leibes entschieden wurde. Daraus resultiert dannnicht nur der Biologismus der Rassenideologien, auch heute istes zum populärwissenschaftlichen Gemeinplatz geworden, geis-tige und seelische Vorgänge aus körperlichen „Ursachen“ zuerklären.

Dessen ungeachtet hat die trinitarische GeschichtsauffassungJoachims viele spirituelle Denker inspiriert, sowohl innerhalbder Kirche, wo sie die franziskanische Erneuerungsbewegungbeeinflusste, als auch in der Geschichtsphilosophie der Neuzeit,wie Beispielsweise bei Lessing in seiner „Erziehung des Men-

Eine interessante Kuriosität am Rande – Radio Vatikan brachte am 27.3.2009 folgenden Bericht:

Im Apostolischen Palast des Vatikans hält der Kapuzinerpater Raniero Cantalamessa in diesen Tagenimmer wieder Fastenpredigten für die Römische Kurie. An diesem Freitag redete er im Beisein desPapstes über den Heiligen Geist und die Bedeutung des Gewissens. Dabei widersprach er vehementesoterischen Theorien, die von einer neuen „Ära des Geistes“ sprechen, in die wir jetzt eingetretenwären. Theorien, die sich u.a. auf den mittelalterlichen Denker Joachim von Fiore berufen.„Die Tatsache, dass der neue Präsident der USA im Wahlkampf dreimal Joachim von Fiore erwähnthat, hat das Interesse an der Lehre dieses mittelalterlichen Mönches wieder geweckt. Aber nur wenigevon denen, die sich – vor allem im Internet – über ihn auslassen, wissen oder beachten, was dieserAutor genau gesagt hat. Jede Idee der kirchlichen oder weltlichen Erneuerung wird kurzerhand unterseinen Namen gepackt – sogar die Idee eines neuen Frühlings für die Kirche, von der Johannes XXIII.sprach.“Eines sei sicher, so Pater Cantalamessa: Die Theorie einer Weltzeit des Heiligen Geistes, die da u.a.durch das „World Wide Web“ geistert, sei „falsch und häretisch“, weil sie das Dogma von der göttli-chen Dreifaltigkeit verzerre. Der Papst-Prediger … betonte, wie wichtig das vom Heiligen Geisterleuchtete Gewissen ist, wie wichtig aber auch das Korrektiv durch das kirchliche Lehramt. „…Wenn man alles auf das persönliche, private Hören des Geistes reduziert, dann öffnet man denWeg für Spaltungen, weil dann jeder glaubt, recht zu haben. Das Multiplizieren der Konfessionen undSekten zeigt uns, dass nicht in allen derselbe Geist der Wahrheit sein kann, sonst läge er oft im Wi-derspruch mit sich selbst. Das ist, wie man weiß, die Gefahr, der die protestantische Welt am meistenausgesetzt ist – schließlich hat sie das „innere Zeugnis“ des Heiligen Geistes zum einzigen Wahr-heitskriterium gemacht, gegen jedes äußere, kirchliche Zeugnis, solange es nicht die Bibel ist... Häu-fig führt diese Tendenz dazu, dass schließlich das Wort Geist den Großbuchstaben verliert und ein-fach mit dem menschlichen Geist in eins gesetzt wird – das ist das, was im Rationalismus passiertist.“

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schengeschlechts“ oder in der Philosophie des deutschen Idea-lismus. Auch Rudolf Steiner hat die an der christlichen Trinitäts-auffassung orientierte Geschichtsbetrachtung für geistig frucht-barer angesehen als die nichtssagende Einteilung in Altertum,Mittelalter und Neuzeit, und seine Ausblicke auf die Entwick-lung des Menschengeistes sind den Voraussagen Joachims in-nerlich verwandt: „Indem der Christus der Menschheit den Hei-ligen Geist sandte, hat er sie befähigt dazu, aus dem Intellektu-ellen heraus selber sich aufzuschwingen zum Begreifen desGeistigen… Auch im Evangelium ist klar angedeutet für denje-nigen, der nur sehen will, der nur lesen will, dass es selber eineOffenbarung ist, dass der Mensch durch den ihm innewohnendenGeist, wenn er sich nur hinneigt zu dem Christus, das Übersinn-liche begreifen kann.“ (Das Geheimnis der Trinität, GA 214,Vortrag vom 30. Juli 1922).

Allerdings geriet die Dreizeitenlehre im Verlauf des 19.Jahrhunderts unter den Einfluss völkisch-rassistischer Ideolo-gien. Autoren wie Moeller van den Bruck („Das Dritte Reich“)beraubten die Vision eines zukünftigen Zeitalters jeder geistigenSubstanz und lieferten so der Blut- und Boden-Ideologie derNationalsozialisten eine pseudospirituelle Überhöhung.Was dann als „Drittes Reich“ Wirklichkeit wurde, warder denkbar größte Gegensatz zu dem, was Joachim daFiore mit diesem Begriff und dem „intellectus spiritua-lis“ verbunden hatte: eine trancehaft benebelte Massehuldigte in primitiver Ergebenheit einem „Duce“ („Füh-rer“), der sich gerade durch seine Ablehnung jeder Spi-ritualität und die Betonung des bloß Biologisch-Materiellen hervortat.

Individualität und GemeinschaftUngeachtet solchen „historischen Schattenwurfs“

kann man das Hauptmotiv der neuzeitlichen europäi-schen Geschichte in der Entwicklung des Individuumszur freien Selbstbestimmung und der damit verbundenengesellschaftlichen Emanzipation sehen. Dem histori-schen Betrachter fällt dabei auf, dass bei vielen Tatsa-chen, die für diese Entwicklung besonders symptoma-tisch erscheinen, die Dreiheit eine maßgebliche Rollespielt. Nehmen wir als Beispiel aus der Kunst der Re-naissance, was für das erwachende Selbstbewusstseinvon größter Bedeutung war, das Erleben der Raumper-spektive. Es tritt uns geradezu urbildhaft in einem Fres-ko Masaccios entgegen, das heute als erstes exakt per-spektivisch gemaltes Bild angesehen wird: dem Trini-

Masaccio: TrinitätsfreskoFlorenz, Santa Maria NovellaÜber dem Skelett steht: Ichwar, was Du bist; was ich bin,wirst Du sein.

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tätsfresko. Die ganze Bildkomposition besteht aus ineinanderge-schobenen Dreiecken, wobei die göttliche Welt, das christlicheHeilsgeschehen und die irdische Welt kunstvoll miteinanderverflochten werden – mit Christus als Vermittler. Und betrachtenwir die drei großen Malerpersönlichkeiten Leonardo, Raffaellound Michelangelo: sie haben in ihrem so unterschiedlichen unddoch gemeinsamen Schaffen einen schier unauslotbaren Beitragzur Gestaltung eines neuen Menschenbildes in der Renaissancegeleistet. Denken wir an die gesellschaftlichen Ideen der „Auf-klärung“! Die Losung der Französischen Revolution gegen diefürstliche Alleinherrschaft bildet eine Trias, die uns bis heute alshohes Ideal vorschwebt: „Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit“.Und die Gewaltenteilung sehen wir heute als Grundstrukturjeder Demokratie an: Legislative, Judikative, Exekutive.

Bei genauerer Beobachtung kann man die Erfahrung machen,wie ein einzelnes Element oder eine Person einer solchen Drei-heit erst im Verhältnis zu den andern beiden das eigentlicheWesen, seine unverwechselbare Eigenart deutlich offenbart.Schauen wir uns beispielsweise die Entwicklung der europäi-schen Völker an: in der sukzessiven Vormachtstellung der west-europäischen Nationalstaaten Spanien, Frankreich und Englandentfalten sich unterschiedliche und sich gegenseitig ergänzendeNationalcharaktere, die uns erst im Kontrast deutlich bewusstwerden. Noch fruchtbarer ist eine Gegenüberstellung von West-,Mittel- und Osteuropa. Eine solche Differenzierung kann unsnicht nur für den Charakter eines „Teiles“ die Augen öffnen, siekann uns auch, einmal vollzogen, in der Zusammenschau ver-deutlichen, was das Ganze sein könnte, wenn es nicht von einemTeil dominiert würde, sondern wenn alle drei Wesensgliedergleichberechtigt zur Geltung kämen, hier: ein wirklich „gesamt-europäisches Haus“. –

Zugleich lässt sich in der Geschichte aber auch beobachten,wie jegliche Spaltung, Entzweiung, wenn sie nicht durch einedritte Kraft zu einer höheren Ganzheit verbunden wird, sozialzerstörerisch wirkt und das Individuum entmündigt. Das „divideet impera“, „teile und herrsche“, wurde seit jeher dazu benutzt,Gemeinschaften zu schwächen und Menschen zu unterdrücken.Es gib kein probateres Mittel eine menschliche Gemeinschaft zuzerstören, als einen „Zankapfel“ unter sie zu werfen – so benanntnach dem Streitobjekt, mit dem die Göttin der Zwietracht denTrojanischen Krieg auslöste. Das kann ein Gegenstand sein, einePerson, eine Idee oder Überzeugung, an der sich „die Geisterscheiden“. Unser politisches System, das sich eng an die ameri-kanische Zwei-Parteien-Demokratie anlehnt und seine Antriebs-kraft aus der kapitalistischen Wettbewerbswirtschaft erhält,erscheint noch vielen als der Weisheit letzter Schluss. Langsam

Empfehlenswert!

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sickert aber die Erkenntnis durch, dass einer Gesellschaft, diedurchdrungen ist vom Konkurrenzgeist, die konstruktiven Kräftefür eine wirkliche Menschengemeinschaft fehlen – auch wennsie diesen „Spaltpilz“ geschickt institutionalisiert hat, bleibt diegesellschaftliche Polarisierung Sprungbrett zur Macht wenigerEinzelner. Letztlich enden Spaltungsprozesse, in denen keinehöhere Synthese, kein gemeinsamer Geist gefunden wird, immermit der Herrschaft eines Teils und der Unterwerfung des andern.Das eklatanteste Beispiel hierfür ist die Ost-West-Spaltung, diesich nach den beiden Weltkriegen als „Kalter Krieg“ manifes-tierte und die Menschheit zum ersten Mal in ihrer Geschichte anden Rand der Selbstvernichtung brachte.

Der dreigliedrige MenschDas Jahr 1917 wird auch als „Epochenjahr“ bezeichnet, weil

sich in den Ereignissen – Russische Revolution und Kriegsein-tritt der USA – jene Ost-West-Spaltung ankündigte, die dasganze folgende Jahrhundert weitgehend prägte. Zugleich schiensich damit auch das Ende einer mitteleuropäischen Eigenstän-digkeit abzuzeichnen, zumindest was die äußeren Verhältnissebetrifft. In diesem epochalen Jahr veröffentlichte Rudolf Steinereine Schrift mit dem Titel „Von Seelenrätseln“, in der er „dieErgebnisse einer dreißig Jahre währenden geisteswissenschaftli-chen Forschung“ skizzierte. In dem Aufsatz „Die physischenund geistigen Abhängigkeiten der Menschen-Wesenheit“ be-schreibt er die lebendig ineinanderwirkende Dreigliedrigkeit dermenschlichen Wesenheit in leiblicher, seelischer und geistigerHinsicht. Der funktional ineinanderwirkenden Dreiheit von Ner-ven-Sinnes-Organisation, rhythmischer und Stoffwechsel-Gliedmaßen-Organisaton entspricht auf seelischer Ebene dasIneinanderwirken von Denken, Fühlen und Wollen, die zugleichaber auch zu den höheren geistigen Fähigkeiten des Menschen inBeziehung stehen, die Steiner als „Imagination“, „Inspiration“und „Intuition“ bezeichnet. Der Definition des „Menschen“ alsExemplar eines Gattungswesens, wie sie sich im vorangegange-nen Jahrhundert herausgebildet hat, wird hier die lebensvolle,der Beobachtung und Selbstbeobachtung zugängliche Organisa-tion des Menschen entgegengestellt, in der sich der Geist alskonkrete Wirklichkeit ergreift.

Etwa zwei Jahre später, im August 1919, hielt Rudolf Steinerfür die Lehrerschaft der neu entstehenden ersten Waldorfschuleeine Reihe pädagogischer Vorträge zur „Allgemeinen Men-schenkunde als Grundlage der Pädagogik“. Wer sich mit diesenVorträgen beschäftigt wird schnell bemerken, dass sie in äußerstkomplexer Weise und unter vielfältigsten Gesichtspunkten drei-

Im „Epochenjahr“ 1917erstmals erschienen

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gliedrig aufgebaut sind, wobei Wesen und Entwicklung desjungen Menschen in ihrer dreifachen Offenbarung dargestelltwerden – leiblich, seelisch und geistig. Die Fruchtbarkeit einessolchen Ansatzes wird jeder erfahren, der seine eigenen Beo-bachtungen zu verstehen und seine Erfahrungen zu vertiefensucht. Wer auf den jungen Menschen pädagogisch sinnvoll wir-ken will, muss ihn in seiner dreigestaltigen Ganzheit und Eigen-art ernst nehmen und darf ihn nicht zum intellektuellen Wissens-empfänger degradieren, das heißt einer ausschließlichen Ver-standesherrschaft unterwerfen.

Individualität und geistige FührungRichten wir nun unser Augenmerk auf das Zeitliche in der

Erziehung, die Entwicklung des jungen Menschen von der Ge-burt bis zu jenem Moment, wo er seine Geschicke und seineErziehung selbst in die Hand nimmt, so können wir auch hiereine Dreigestalt erkennen, deren einzelne Phasen jeweils durchkurze Umbruchszeiten markiert werden, die sich symptomatischin Zahnwechsel und Geschlechtsreife äußern. Betrachten wirjede der drei Phasen unter dem pädagogischen Gesichtspunkt,auf welche Weise der junge Mensch hier jeweils lernt und sichmit der Welt verbindet, so fällt im ersten Drittel die Nachah-mung ins Auge. Sie ist dadurch charakterisiert, dass im Handeln,in den Willensäußerungen eine unmittelbare Hingabe an dieWelt erfolgt – aus dem Urvertrauen, dass die Welt nachahmens-wert ist: die Welt ist gut. Dieses Vertrauen hat das Kind aus derVergangenheit, dem Vorgeburtlichen mitgebracht. „Der Menschist gewissermaßen vor dem Zahnwechsel ganz auf das Vergan-gene noch eingestellt. Von jener Hingabe, die man in der geisti-gen Welt entwickelt, ist der Mensch noch erfüllt. Daher gibt ersich auch in seine Umgebung hin, indem er die Menschen nach-ahmt.“ 2

Anders im zweiten Drittel der Entwicklung. Das Kind lerntjetzt mehr dadurch, dass es die Welterscheinungen in sein Füh-len aufnimmt. Es ist nicht mehr die ursprüngliche Willenseinheitmit der Welt, aber auch noch nicht die selbstbewusste gedankli-che Distanz, sondern die unmittelbare Beziehung durch dasErleben und Empfinden der Gegenwart von Wort und Bild,wodurch das Kind sich bildet. „Und darauf muss beim Unter-richten und Erziehen fortwährend Rücksicht genommen werden,dass eigentlich der Volksschüler fortwährend in der Gegenwartleben will. Wie lebt man denn in der Gegenwart? In der Gegen-wart lebt man, wenn man in einer nicht animalischen, sondernmenschlichen Weise die Welt um sich her genießt. Tatsächlich,das Kind als Volksschüler will auch im Unterricht die Welt

2 Dieses und folgende Zitate aus:Rudolf Steiner, AllgemeineMenschenkunde als Gundlageder Pädagogik

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genießen. Wir sollen daher nicht versäumen, so zu unterrichten,dass nicht im animalischen, aber im höheren menschlichen Sinne(Hervorheb. H.M.) der Unterricht wirklich für das Kind eine ArtGenießen ist, und nicht etwa, was ihm Antipathie und Ekel her-vorruft … Von dieser unbewussten Voraussetzung geht eigent-lich das Kind von seinem Zahnwechsel bis zur Geschlechtsreifeaus, dass es die Welt schön finden dürfe. Dieser unbewusstenAnnahme des Kindes, dass die Welt schön ist, dass also auch derUnterricht schön sein müsse, dem kommt man wahrhaftig nichtentgegen, wenn man die oftmals so banalen, rein vom Nützlich-keitsstandpunkte aus zugerichteten Regeln für den Anschau-ungsunterricht beobachtet, sondern wenn man selbst versucht,einzutauchen in künstlerisches Erleben, damit der Unterrichtgerade in dieser Zeit durchkunstet werde.“

Erst in der dritten Entwicklungsphase bildet sich im nun freiwerdenden Denkerleben ein Begriff von Wahrheit. Dieser istallerdings zugleich Selbstbewusstsein in dem oben genanntenGoetheschen Sinne: „Kenne ich mein Verhältnis zu mir selbstund zur Außenwelt, so heiß ich’s Wahrheit.“ Für den Lehrerheißt dies, er muss den jungen Menschen an der Erkenntnissuchebeteiligen, aber auch ihm die Welt so vermitteln, dass Erkennt-nisinteresse entstehen kann. Das kann er am besten, wenn erselbst wirklicher Wahrheitssucher ist. Soweit hier Autorität imSpiel ist, ist sie nicht mehr selbstverständlich, sondern entstehtaus der freien Anerkennung des Jugendlichen, der am LehrerAuthentizität und Wahrhaftigkeit erlebt. Nicht dass er schonalles beurteilen können muss, was er vom Lehrer hört – ein häu-figes Missverständnis, denn das wird er ja erst lernen –, aber erwird Vertrauen in die Fruchtbarkeit seines Bemühens entwi-ckeln. Zukunft tut sich also auf, wie überhaupt durch die Fähig-keit der vorausblickenden Vernunft Zukunftsimpulse in dieSeele des Jugendlichen eintreten können.

Hat man einmal ein Verständnis für die jeweilige Besonder-heit einer Entwicklungsphase gewonnen, so wird auch der Blickfrei für eine neue Gesamtanschauung der kindlichen und ju-gendlichen Entwicklung. Ist es doch immer dieselbe Individua-lität, die sich in den aufeinanderfolgenden Entwicklungsphasendarlebt. Und so können auch die durch die jeweilige Phase ge-wonnenen Lebensfrüchte dem individuellen Menschen in seinerleiblichen, seelischen und geistigen Wesenheit, wie auch inseinen Seelenfähigkeiten des Wollens, Fühlens und Denkens zurVerfügung stehen. Ignoriert man den jeweils spezifischen Cha-rakter der Entwicklungsphasen, so wird man sie auch nicht in eingesundes, gleichgewichtiges Verhältnis zueinander bringenkönnen. Für den individuellen Menschen werden sich darausschwerwiegende Lebensprobleme ergeben müssen. Denn in dem

Rudolf Steiner als Abiturient

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harmonischen Zusammenklang der autonomen Teile seiner drei-gliedrigen Wesenheit erlebt das Ich die Fülle seiner Existenz.Wenn diese einzelnen Elemente hingegen in Widerstreit geratenoder eines beginnt die Alleinherrschaft zu übernehmen, gerät derMensch aus dem Gleichgewicht.

Somit ist eine der wichtigsten Aufgaben der Pädagogik dieHarmonisierung der trichotomischen Wesenheit des Menschen,wobei selbstverständlich ist, dass der Blick sich über die ge-samte Entwicklungszeit des jungen Menschen erstrecken muss.Damit ist auch auf eine kollegiale Zusammenarbeit verwiesen,die nur in einem freien Erziehungswesen möglich ist. Die Erzie-hungsziele müssen im Zusammenwirken aller in den Entwick-lungsphasen des Jugendlichen verantwortlichen Menschen ge-funden werden. Nur so kann in Zukunft gewährleistet sein, dassder erwachsene Mensch selbst die geistige Führung in sich er-greifen lernt.

Heinz Mosmann (L)

Andrej Rubljow: HeiligeDreifaltigkeit, um 1400,Tretjakow-Galerie, Moskau