Das Online-Magazin der Universität Bern · 2020-02-07 · Deutsche würden denken, wenn die...
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Was Essen über eine Gesellschaft verrät
«Warum ist das Natürlichste – Essen! – sozial und kulturell kompliziert?»: Dieser Frage
widmete sich die deutsche Soziologin Eva Barlösius zum Auftakt der Ringvorlesung des
Collegium generale, die sich um Essen und Ernährung dreht.
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Von Brigit Bucher
Die einzig richtige Art sich zu ernähren, existiert nicht: Mit
dieser Feststellung beginnt Eva Barlösius ihr Referat am 24.
Februar an der Uni Bern. Was für wen als richtig oder falsch
gilt, ist eine soziale und kulturelle Frage. Barlösius macht
dem Publikum deutlich, dass Menschen sich zwar ernähren
müssen, dass aber wenig davon, wie sie es tun, natürlich
vorbestimmt ist. Auch was essbar ist und was nicht, ist
vorwiegend kulturell bestimmt: «Eigentlich könnten wir von
Natur aus ja alles mögliche essen.» Kultur wird also wirksam,
wenn es um die religiöse Deutung von Lebensmitteln geht,
ob sie moralisch und ethisch als gut oder schlecht beurteilt
werden, als exotisch oder genussvoll. Lebensmittel sind
aufgeladen mit Bedeutung und werden bewertet. Essen
wird von Barlösius gar als Geburtsstätte der Moral
bezeichnet. Sie sagt: «Es gibt keine neutralen Sachaussagen
zum Essen. Wenn ich sage, Obst und Gemüse enthalten viele
Vitamine, sage ich eigentlich, Sie sollten Obst und Gemüse
essen.»
Die deutsche Soziologin Prof. Dr. Eva Barlösius ist eine renommierte Expertin auf demGebiet der Soziologie des Essens und der Ernährungsforschung. © Universität Bern
Auch ob Lebensmittel wohltuend, stärkend, heilsam oder tröstend verstanden werden,
hängt von der Kultur ab. Lacher aus dem Publikum erntet Barlösius für die Aussage, viele
Deutsche würden denken, wenn die Schweizer Trost bräuchten, nähmen sie Ovomaltine
zu sich, während die Deutschen sich mit Leibniz Keksen trösten. Auch assoziieren wir
gewisse Speisen eher mit Frauen, andere mit Männern: «Ich nehme den Salat mit Pute»
und «Ich nehme die Sülze mit Bratkartoffeln» – in unsere Vorstellung ist sogleich klar, was
die Frau und was der Mann bestellt hat.
Gemeinsam zu Tisch
Auch die Zubereitung und die Gestaltung von Mahlzeiten sind kulturell und sozial
bestimmt. Zur Herausbildung von National- und Regionalküchen erklärt Barlösius:
«Nationalküchen entsprechen immer den Vorstellungen des richtigen Kochens der
sozialen Schicht, die den Prozess zur Bildung eines Nationalstaates durchgesetzt hat.» In
Frankreich zum Beispiel war dies die Pariser Aristokratie: deren Küche ist die französische
Nationalküche. Deutschland dagegen wurde erst spät zum Nationalstaat. Deswegen gebe
es in Deutschland keine Nationalküche und nur Regionalküchen.
In den meisten Kulturen wird Essen als soziale Situation gestaltet. Barlösius thematisiert
die Bedeutung von gemeinsamen Mahlzeiten und Tischgemeinschaften. Nicht zum Essen
eingeladen zu werden oder einer Einladung zum Essen nicht Folge zu leisten, gehen Hand
in Hand mit sozialer Ausgrenzung. Barlösius kommt auch auf die Anthropologie des
Essens zu sprechen: Beim Essen werden zentrale soziale und kulturelles Institutionen
entwickelt, Prozesse und Strukturen durchgesetzt. So wird allmählich klar, warum das mit
dem Essen – dem Natürlichsten – eben doch eine komplizierte Sache ist. Barlösius
schildert, wie im Essen alle sozialen Verhältnisse angelegt sind. Immer wieder merkt man
ihre Leidenschaft fürs Thema an. Aus gutem Grund, wie sie sagt: «Erstellen Sie eine
Soziologie des Essens, und Sie haben die Gesellschaft verstanden.»
Dicksein als gesellschaftliche Erfahrung
Im zweiten Teil ihres Referats berichtet Barlösius über ihre Studie und dem darauf
basierenden Buch zu übergewichtigen Jugendlichen. Ganz bewusst rückt Barlösius darin
die Perspektive der Jugendlichen, ihre Erfahrungen und Aussagen ins Zentrum. Barlösius
hat sich unter anderem mit den folgenden Fragen beschäftigt: Wie bezeichnen und
unterscheiden sich dickere Jugendliche? Was wissen sie über gesunde Ernährung und wie
positionieren sie sich dazu? Was berichten Jugendliche über Familienmahlzeiten? Wie
präsentieren sie sich? Welche Zukunftswünsche haben die Jugendlichen?
Prof. Dr. Barlösius referierte im voll besetzten Auditorium maximum. © Universität Bern
Barlösius hat bewusst die Terminologie der Jugendlichen übernommen: sie selber
bezeichnen sich als «dicker» und «dickere Jugendliche», sie nutzen also komparative
Begriffe. Beschimpft werden sie oft als Fettsäcke. Für die Dünneren fallen ihnen kaum
Schimpfworte ein, nur in einem Interview fiel die Bezeichnung «die coolen dünnen Alles-
Checker».
Dicksein wird von Barlösius als gesellschaftliche Erfahrung beschrieben, als Erfahrung, die
die Jugendlichen im sozialen Austausch machen. Ausgegrenzt werden sie. In unserer
Kultur wird der Körper und das Gewicht als Ausweis dafür bewertet, wie und was man
isst. Damit geht ein Stigmatisierungsprozesse einher: Mit einem dickeren Körper werden
geringe Selbstverantwortlichkeit und geringe Leistungsbereitschaft assoziiert. Dickere
Jugendliche werden als eigene «Klasse» behandelt, der Leistungsbereitschaft und
Leistungsvermögen abgesprochen wird. Die Jugendlichen selbst jedoch präsentieren sich
als aktiv, leistungswillig und leistungsstark. Angepasst und korrekt wollen sie sein, Teil der
gesellschaftlichen Wirklichkeit. Sie möchten einfach dazugehören, nicht mehr
ausgegrenzt werden; ausgefallene Wünsche haben sie keine. Die dickeren Jugendlichen
begreifen ihr Dicksein als Ursache für ihre Ausgrenzung. Wenn sie nur abnehmen würden,
hätten sie bessere Zukunftschancen.
Die Jugendlichen wissen ganz genau, was gesunde Ernährung ist, wie Barlösius weiter
ausführt. Ihr Wissen geben sie in der legitimierten Expertensprache wieder: «Ihr eigenes,
wirkliches Essverhalten können sie kaum beschreiben. Das Ernährungswissen ist immer mit
Wertung gekoppelt, und es findet auch hier eine Moralisierung des Essens statt.» Mit
«richtigem Essen» verbinden die Jugendlichen eine warme Familienmahlzeit, zu der sich
alle an einem Tisch einfinden und wo den Jugendlichen besonders die Gespräche beim
Essen wichtig sind, weil sich darin für sie die Gemeinschaftlichkeit der Familien äussert. In
der Realität wird genau das aber nur selten praktiziert.
Im Anschluss an die Veranstaltung unterhielt sich Eva Barlösius angeregt mit einigenBesucherinnen und Besuchern. Im Bild rechts von ihr Sara Bloch, WissenschaftlicheMitarbeiterin und Geschäftsführerin des Collegium generale. © Universität Bern
Gefragt, welche Präventionsmassnahmen sie empfehlen würde, holt Barlösius aus. Studien
hätten gezeigt, dass dickere Jugendliche vor allem aus sozial benachteiligten Familien
stammen. In Deutschland werde aber nicht mehr über Armut und ihre Folgen gesprochen
wie etwa auseinanderbrechende Familienstrukturen. Wolle man das Problem angehen,
müsse man sich aber eben auch damit auseinandersetzen.
Der Abend mit Eva Barlösius erwies sich als spannender Auftakt der Vorlesungsreihe «In
aller Munde: Essen und Ernährung», die das Collegium generale während dem
Frühjahrssemester anbietet. Weitere Forschende aus dem In- und Ausland werden über
eine Vielfalt von Themen referieren: vom Welternährungssystem und der
Körperwahrnehmung über die Sportlerernährung und den Vegetarismus bis zur
molekularen Küche und der Nutrigenetik. Die Veranstaltungen finden jeweils am
Mittwoch, 18.15 bis 19.45 Uhr, im Hauptgebäude der Universität, Hochschulstrasse 4, 3012
Bern, Auditorium maximum, Raum 110, statt.
Mehr Informationen zur Ringvorlesung (./../../../../../../../universitaet/universitaet_fuer_alle
/collegium_generale/vorlesungsreihen/index_ger.html)
ZUR PERSON
Eva Barlösius ist seit 2007 Professorin furMakrosoziologie / Sozialstrukturanalyse an der LeibnizUniversität Hannover. Zu ihren Forschungsschwerpunktenzählen Soziologie des Essens, Ungleichheitssoziologie,Wissenschaftssoziologie sowie Soziologie ländlicherRäume.
Auswahl von Publikationen von Eva Barlösius
Dicksein. Wenn der Körper das Verhältnis zur Gesellschaftbestimmt. Frankfurt/M.: Campus 2014
Pierre Bourdieu – eine Einführung. 2. Auflage.Frankfurt/M.: Campus 2011.
Soziologie des Essens. Eine sozial- undkulturwissenschaftliche Einführung in die Ernährungsforschung. 2., völlig überarbeiteteund erweiterte Auflage. Weinheim: Juventa 2011
Kämpfe um soziale Ungleichheit. Grundfragen und Perspektiven. Wiesbaden: VS Verlagfür Sozialwissenschaften 2004
Zur Webseite von Prof. Dr. Barlösius an der Leibniz Universität Hannover (http://www.ish.uni-
hannover.de/barloesius0.html)
DAS COLLEGIUM GENERALE
Das Collegium generale fördert den fächerübergreifenden Dialog und die Vernetzunginnerhalb der Universität durch Veranstaltungen für Lehrende, Nachwuchsforschende undStudierende aller Fakultäten. Die Veranstaltungen stehen auch einem breiteren Publikumoffen, der Eintritt ist frei.
Mehr Informationen (./../../../../../../../universitaet/universitaet_fuer_alle/collegium_generale
/das_collegium_generale/index_ger.html)
ZUR AUTORIN
Brigit Bucher arbeitet als Stv. Leiterin Corporate Communication an der Universität Bernund ist Redaktorin bei «uniaktuell».
26.02.2016