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Das Ruhrgebiet – zum Erfolg verdammt KULTURHAUPTSTADT Wie Kreativdirektor Dieter Gorny das Revier zu Europas Bühne macht POLITIK Warum die Parteien für einen Wahlsieg unbedingt das Ruhrgebiet gewinnen müssen TOURISMUS Über die schönsten Ecken und grünsten Flecken an Ruhr und Emscher NRW 15. JUNI 2009 SPEZIAL

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Das Ruhrgebiet –zum Erfolg verdammt

KULTURHAUPTSTADTWie Kreativdirektor

Dieter Gorny das Revier zu

Europas Bühne macht

POLITIKWarum die Parteien für einen

Wahlsieg unbedingt das

Ruhrgebiet gewinnen müssen

TOURISMUSÜber die schönsten Ecken

und grünsten Flecken an

Ruhr und Emscher

NRW1 5 . J U N I 2 0 0 9 S P E Z I A L

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3FOCUS 25/2009

FOCUS-SPEZIAL „NRW“

4 Wahlen: Warum das Ruhrgebiet

für die Parteien beim Kampf

um Rathäuser, Kanzleramt und

Staatskanzlei so wichtig ist

12 Interview: Andreas Pinkwart über

Hilfen für Opel und die Stärke der FDP

14 Innovation: Wo Stahl und Opel

sterben, zieht High Tech ein

18 Brennpunkt Jobs: Der Strukturwandel

hat das Beschäftigungsgefüge

im Ruhrgebiet massiv verändert

20 Interview: Wie Kreativdirektor

Dieter Gorny die Kulturhauptstadt

Ruhr 2010 zum Erfolg führen will

24 Report: Morde, Drogenhandel,

Prostitution, Schutzgelderpressungen,

Waffenhandel und Schwarzarbeit –

türkische, italienische und russische

Mafi a breiten sich im Revier aus

28 Medienkrise: Wie der Zeitungsriese

WAZ einen Spar-Journalismus erfi ndet

und Modell für Deutschland wird

31 Theater: Mit welchen Mitteln

die Schauspielhäuser in Essen

und Bochum um den Titel „Bestes

Theater im Revier“ kämpfen

32 Tourismus: Campen an der Lippe,

Radeln entlang der Emscher – Urlaub

im Revier wird immer beliebter

36 Museen: Warum Varus nicht nur

am Teutoburger Wald, sondern auch

in Haltern seine Spuren hinterließ

38 Forschung: Wie lebt und arbeitet man

im Jahr 2020 – in Duisburger Modell-

häusern wird die Zukunft ausprobiert

42 Gastronomie: Raimund Ostendorp hat

es geschafft, mit seinem Bochumer

Grill berühmt zu werden – Oliver

Pocher und Norbert Lammert essen

bei ihm Currywurst mit Pommes

4 ARBEITERFÜHRERMinisterpräsident Jürgen Rüttgers kämpft

um jeden Arbeitsplatz, ob bei Opel oder

Arcandor. Kann er die Versprechen halten?

20 IDEENGEBER Dieter Gorny

erfand den Sender

Viva, verkaufte

ihn an MTV und

lockt nun die Welt

in Europas Kultur-

hauptstadt Ruhr

28 BLATTMACHERWie der Düsseldorfer Ulrich Reitz den

Essener Zeitungsriesen WAZ auf modernen

Journalismus trimmt und dabei noch spart

24 LASZIVDie Straße am

Bahnhof oder

hinterm Stahlwerk

– in Duisburg,

Dortmund und

Essen breiten

sich Prostitution

und Mafi a aus

32 LUSTIGGastronomie, Kunst und Ambiente

machen Lust auf Tourismus auf

grünen Pfaden, wie hier in Duisburg

42 LECKEROhne Currywurst-Pommes kein Revier.

Einer kann es besonders gut: Koch

Raimund Ostendorp in Wattenscheid

I N H A L T

Herausgeber: Helmut Markwort

Chefredakteure: Helmut Markwort und Uli Baur

Stellvertretender Chefredakteur: Stephan Paetow

Titel: Karin von Zakarias

Gestaltung: Eric Schütz (Atelierleitung)

Chef vom Dienst: Sonja Wiggermann

Konzeption & Redaktion: Karl-Heinz Steinkühler

Mitarbeiter dieser Ausgabe: Matthias Kietzmann, Jochen Schuster, Thomas van Zütphen

Grafik: Roger Neukirch

Info-Grafik: Andreas Fischer

Bildredaktion: Edith Eberl

Bildtechnik: Harry Neumann (Ltg.)

FOCUS Magazin Verlag GmbH, Arabellastraße 23, 81925 München, Postfach 81 03 07, 81903 München, Telefon 0 89/92 50-0, Fax 0 89/92 50 - 20 26

Bildbearbeitung: Reinhard Erler (Ltg.)

Schlussredaktion/Dokumentation: Dr. Martin Seidl, Petra Kerkermeier (stellv.)

Produktion/Herstellung: Helmut Janisch, Peter Kiacek

Redaktionstechnik: Ingo Bettendorf, Ulf Rönnau

FOCUS-Spezial „NRW“ erscheint in der FOCUS Magazin Verlag GmbH. Verantwortlich für den redaktionellen Inhalt: Helmut Markwort. Die Redaktion übernimmt keine Haftung für unverlangt eingesandte Manuskripte, Fotos und Illustrationen. Nachdruck ist nur mit schriftlicher Genehmigung des Verlags gestattet. Dieses gilt auch für die Aufnahme in elektronische Datenbanken und Vervielfältigungen auf CD-ROM. Sofern Sie Artikel aus dem FOCUS-Spezial in Ihren internen elektronischen Pressespiegel übernehmen

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Anzeigenverkauf für FOCUS-Spezial „NRW“: Michael Mergenthal, Telefon 0 89/92 50-20 76. Fax: 0 89/92 50-24 94, [email protected]

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Geschäftsführer: Helmut Markwort, Frank-Michael Müller

Druck: Burda GmbH, Hauptstraße 130, 77652 Offenburg, Telefon: 07 81/84 01; printed in Germany

Verleger: Dr. Hubert Burda

TITEL: Foto: dpa INHALT: Fotos: H. Bayer/FOCUS-Magazin, adolph press, dpa, Courtesy: RTG/R. Lueger, I. Höpping/WAZ, U. Weber

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NORDRHEIN-WESTFALEN

W A H L E N Banger Blick nach BochumAuch in den Werkshallen im Ruhrgebiet entscheidet sich binnen elf Monaten, wer in Rathäusern, im Kanzleramt und in der Staatskanzlei regiert

5FOCUS 25/2008 Fotos: H. Bayer/FOCUS-Magazin, dpa

D uisburg, fahren wir nach Duis-burg“, schlägt Oliver Wittke vor,

um die wahlkämpfende CDU im Ruhr-gebiet zu besichtigen. Nicht nach Gel-senkirchen, wo der freche Christdemo-krat vor 14 Jahren seine Karriere als Berufspolitiker startete: 1995 Land-tagsabgeordneter, vier Jahre später Oberbürgermeister und 2005 Minister für Bauen und Verkehr in Jürgen Rütt-gers’ erstem Düsseldorfer Kabinett.

Auf der Landesbühne ist Oliver Wittke vor wenigen Monaten gestrau-chelt – über seinen leichtfertigen Um-gang mit der Ministerwürde und zu forscher Amtsführung. Doch in der Ver-senkung ist der 42-Jährige nicht ver-schwunden. Im Gegenteil. Der CDU-Vi-ze folgte Bundestagspräsident Norbert Lammert als Chef der mächtigen Ruhr-gebiets-CDU und bastelt im Landtag am nächsten Karriereschritt: Er will Vor-sitzender der CDU-Fraktion werden.

Vorausgesetzt, Wittke überlebt eine erneute Affäre, die den gestürzten Bauminister als gierigen Doppelver-diener brandmarkt. Trotz aller Nega-tiv-Schlagzeilen scheut Wittke nicht die Öffentlichkeit. Gerade jetzt zeigt er im roten Ruhrgebiet schwarze Flagge.

Jürgen Rüttgers, der Regierungschef, hat größere Sorgen. Er kämpft um Ar-beitsplätze. Opel, Arcandor, mögliche

ENGAGIERTMinisterpräsident Jürgen Rüttgers

kämpft mit großem Risiko – und

150 Millionen Euro Landesgeld

– an der Seite von Betriebsratschef

Rainer Einenkel (r.) für den Erhalt

des Opel-Werks in Bochum

Konzernpleiten bedrohen seine poli-tische Zukunft. In elf Monaten wählt NRW einen neuen Landtag, und noch nie seit 1988 sah es um die industri-elle Kernregion des Landes so düster aus. Rüttgers kämpft um das Revier – und um sein Amt. Der „Arbeiterführer“ sucht den Schulterschluss mit den Leu-ten in den Werkshallen wie in der Be-triebsversammlung bei Opel. Ein ext-rem wichtiger Ort: Kippt Bochum, kippt auch er, fürchten CDU-Strategen.

Nach dem Absturz bei der Europawahl (minus 6,9 Prozent) verkroch sich Rütt-gers am Wahlabend und war nicht zu sprechen. Das Ruhrgebiet wählt nicht schwarz. So bleibt Wittke nur, mit ver-stärkter Basisarbeit auf Überraschungs-erfolge seiner Kandidaten bei Kommu-nalwahl (30. August), Bundestagswahl (27. September) und Landtagswahl (vo-raussichtlich 9. Mai 2010) zu setzen.

So wie vor fünf Jahren in Duisburg. Da zog überraschend Christdemokrat Adolf Sauerland ins historische Rathaus am Burgplatz ein. Dabei galt der wu-selige Vollbart wie all seine CDU-Vor-gänger als belächelter Außenseiter im klassischen Malocherquartier zwischen Innenhafen und Stahlwerken. Nach fünf Jahren geht der Amtsinhaber wie ein Parteiloser durch die Stadt. Sauer-land forciert zunächst das „Moder-

REVIERSCHLACHT Mehr als 3,5 Millionen Wahlberechtigte auf engstem Raum – die

Parteien konzentrieren sich in ihrem Wahlkampf auf das Ruhrgebiet. Wer zwischen

Stahlwerken und Opel-Bändern Potenziale dazugewinnt, hat beste Siegchancen

6 FOCUS 25/2008

NORDRHEIN-WESTFALEN

nisierungsprojekt Duisburg“, um Par-teipolitik kümmert er sich später.

Genauso trat Wittke vor fünf Jahren in Gelsenkirchen auf. Doch er schei-terte an Frank Baranowski, dem neuenStar der Ruhr-SPD. Will Wittke deshalb vielleicht an diesem Morgen nicht zu-rück an den Ort der Niederlage? Kei-neswegs. „In Duisburg erlebt man das Ruhrgebiet in seiner ganzen Vielfalt und Schönheit, man sieht aber auch Probleme“, argumentiert das Revier-kind. Der CDU-Chef ist siegesgewiss: „Sauerland verteidigt das Rathaus.“

Der Versuch, „jemanden abzuwäh-len, bringt die höchste Mobilisierung“, sagt Karl-Rudolf Korte, der Politikwis-senschaftler. Also müsste der CDU-Rat-hauschef eigentlich die SPD in Schwung bringen. Genau danach sieht es aus.

Hannelore Kraft, die SPD-Landesche-fi n und Gegenspielerin von Minister-präsident Rüttgers, freut sich im von Behinderten betriebenen Café „Der Kleine Prinz“ in der Duisburger Alt-stadt über 120 Besucher. Rede, Talk-show, Fragen – so präsentiert sich die 48-Jährige dem Wahlvolk. Allerdings versammeln sich nur wenige poten-zielle Wechselwähler in dem kleinen Veranstaltungssaal. Nahezu 90 Prozent der Zuhörer sind Genossen. Der Rest kommt von den Konkurrenzparteien, Linke, Grüne, Schwarze. Sie wollen be-obachten, wie sich die Hoffnungsträge-rin der SPD schlägt.

Die Mülheimerin trägt ihre Themen gelassen vor. Sie beschreibt, wie wich-tig „das Miteinander in der Gesell-schaft“ ist, kommt zur Krise und geißelt die angebliche „Gier à la Ackermann“. Ein „sozialverträglicher Staat“ sei wich-tiger als „Privat vor Staat“, wie es CDU und FDP vor vier Jahren in ihren Koa-litionsvertrag geschrieben hätten. Dass Jürgen Rüttgers erst vor wenigen Wo-chen auf seinem CDU-Parteitag mit die-sem zentralen Politikansatz gebrochen hat, stört Kraft nicht. Für die SPD-Spit-zenfrau hat die „marktradikale Aussa-ge“ weiterhin Bestand.

An diesem Abend wirkt Hannelore Kraft ruhig und entspannt. Sie belastet ihre Stimme nicht bis zum Anschlag wie sonst, wenn sie engagiert ist und ihre Argumente den politischen Kon-trahenten entgegenschreit. Vielleicht kann sie auch gelassener in die nächs-ten Wahlen gehen, obwohl die Um-fragen der SPD nicht gerade rosige Er-folgsaussichten prognostizieren. Das

Reizthema Rot-Rot-Grün beginnt an Rhein und Ruhr einzuschlafen. Wegen der Schwäche der Linken, die bei der Europawahl in NRW keine fünf Prozent erzielten. Erwartet wurde das nicht, zu-mal in Duisburg, wo ThyssenKrupp in zwei Hochöfen das Feuer ausgebla-sen hat, Tausende Leiharbeiter gehen mussten und Zehntausende kurzar-beiten. Doch die Krise schaufelt den Neo-Kommunisten keine Sympathi-santen zu, keine Wähler und keine Mit-glieder. Wissenschaftler Korte vermutet, die Menschen hätten die Lust auf Expe-rimente verloren und wollten Sicherheit wählen. Gerade jetzt habe „der Glaube an die Politik und das Vertrauen in die Regierenden“ zugenommen.

Bei den Genossen in Duisburg ist Links-Links kein Thema. Sie dürfen Fragen auf Kärtchen schreiben, die HanneloreKraft dann nach Vorlage beantwortet. Ein interessantes System: Auf der einenSeite nimmt man so Ungeübten die Aufregung, vor Publikum zu sprechen, andererseits kann die rote Wahlkampf-regie auch unliebsame Redebeiträge einfach ausblenden.

Störmanöver wären dem in der Düs-seldorfer Wasserstraße residierenden CDU-General Henrik Wüst durchaus zu-zutrauen, fürchtet man bei der SPD. So könnte er etwa Kraft-Veranstaltungen

mit jungen Gefolgsleuten besetzen, die seine „Kraftilanti“-Kampagne vor Ort unters Wahlvolk transportierten. Der CDU-Wahlkampfplaner hat sich in sei-ne Idee verbissen, die Oppositionschefi n mit dem Namen der in Hessen geschei-terten roten Frontfrau Andrea Ypsilanti zu reizen. Auf der Duisburger SPD-Ver-sammlung geht es um wichtige Themen: Rente, Schule und Kindergärten.

Später sagt Hannelore Kraft, sie wolle versuchen, die Gewerkschafter von den Linken zurückzuholen. „Die kommen ja von uns.“ Eine späte Einsicht, denn im Revier fühlten sich viele Altgenos-sen vom damaligen Kanzler Gerhard Schröder mit seiner Agenda-Politik aus der SPD vertrieben. Krafts Vorhaben könnte gelingen. Politikforscher Korte stützt sie, er sieht „keinen großen Zu-lauf mehr bei den Linken“.

Hannelore Kraft erweckt gar den Ein-druck, sie sei eher an einer Ampelkoali-tion interessiert („auch mit der FDP gibt es Gemeinsamkeiten“) als an einem Dreierbündnis mit Linken und Grü-nen. So kann sie zumindest den Zwist zwischen Liberalen und Rüttgers-CDU schüren. Und es gibt einen weiteren Grund: Ohne Grüne und Gelbe könnte die Genossin keine Regierung bilden. Nach vier Jahren als Oppositionsfüh-rerin hat sie die SPD in ihrem früheren

KÄMPFERISCH Kaum verändert, engagiert und überzeugt steigt die ehemalige

Düsseldorfer Umweltministerin Bärbel Höhn in den grünen Wahlkampfring.

Am Duisburger Lebensretterbrunnen attackiert sie Jürgen Rüttgers: „Nichts kann er“

7FOCUS 25/2008

33,2%

11,6%

9,8%

6,2%

31,3%

Ergebnisse der Europawahl 2009 imVerwaltungsbezirk Ruhrgebiet

49,9%

7,1%

6,4%

7,0%

26,5%

Ergebnis der Bundestagswahl 2005 imVerwaltungsbezirk Ruhrgebiet

3,0%

47,0%

5,5%

4,4%

36,0%

Ergebnis der Landtagswahl 2005 imVerwaltungsbezirk Ruhrgebiet

7,0%

39,5%

9,6%

4,7%

36,8%

Ergebnis der Kommunalwahlen 2004 imVerwaltungsbezirk Ruhrgebiet

9,3%

Fotos: H. Bayer/FOCUS-Magazin (2)

Quelle: Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik NRW

Stammland auf 25 Prozent stabilisiert und bei der Europawahl das historisch schlechteste Ergebnis eingefahren.

Innerhalb der SPD werden elf Mo-nate vor der Landtagswahl jedoch im-mer mehr Stimmen laut, die an ihr als Spitzenkandidatin zweifeln. In Berli-ner Parteikreisen fürchtet man, dass die Mülheimerin Franz Münteferings Ziel nicht realisieren kann: Der Parteichef will NRW unbedingt zurückerobern. Der bisher aufgestellte rote Zeitplan spricht nicht für die SPD-Chefi n. Erst im Januar 2010, nach Kommunal- und Bundestagswahl, entscheiden die So-zialdemokraten über ihre Top-Position. Was aber wird, wenn die SPD in Berlin nicht mehr am Kabinettstisch sitzt und prominente rote Köpfe für den Spitzen-job in Düsseldorf frei wären?

„Alle Wahlen entscheiden sich im Ruhrgebiet“, sagt Revierfrau Kraft. Duisburg, Essen, Bochum, Dortmund, Gelsenkirchen, Oberhausen, Reckling-hausen, Hamm oder Herne und Bottrop – die großen Reviermetropolen werden zum zentralen Kampfgebiet der Wahl-schlacht um Bürgermeister, Kanzler und Ministerpräsident. Im Ruhrgebiet hat Gerhard Schröder 1998 und 2002 gezeigt, wie man Massen begeistern kann. Doch ein Schröder tritt diesmal nicht an. Trotzdem wird sein Intimus

SELBSTBEWUSST Souverän und nicht mehr so getrieben wie vor einigen Monaten

wirkt SPD-Chefi n Hannelore Kraft bei Wahlkampf-Auftritten (hier in Duisburg).

Die Diskussion um eine Zusammenarbeit von NRW-SPD und Linken spielt keine Rolle

ABSTURZ So schlecht waren die Sozialde-

mokraten noch nie, weder im Revier noch

landesweit, die FDP ist der große Sieger

ABSTAND Bei der Bundestagswahl

mobilisierte die SPD ihre Stammwähler,

trotzdem verlor Kanzler Schröder die Wahl

KONTER Gewonnen, aber doch verloren:

47 Prozent reichten der SPD nicht, um den

Machtwechsel in Düsseldorf zu verhindern

BEHAUPTET Die Kommunalwahl bestätigte

die neue Stärke der CDU, sie gewann

überraschend das Rathaus in Duisburg

ENTSCHEIDUNG IM REVIER

Das Ruhrgebiet ist traditionell ein rotes Land, schon 2004 kam die CDU der SPD sehr nahe.

Frank-Walter Steinmeier bei der Bun-destagswahl mit kräftiger Stimme ver-suchen, es ihm hier gleichzutun.

Das SPD-Wahlkampfkonzept wird in der Opel-Krise sichtbar: Mit dem wort-gewaltigen Einsatz von Kandidat und Parteichef will man nicht nur Jobs an den Bändern in Bochum retten, sondern auch noch 50 000 Arbeitsplätze beim maroden Essener Kaufhauskonzern Ar-candor (KarstadtQuelle). Die Strategie brachte im Revier keine zusätzlichen Stimmen, bundesweit führte sie gar zum Debakel (20,8 Prozent).

Profi tieren können die Grünen. Bärbel Höhn nimmt sich wie die SPD den „Ar-beiterführer“ vor. „Jürgen Rüttgers tut so, als könne er alles regeln, wenn er mal über den großen Teich nach Detroit fl iegt“, schimpft die Ex-Umweltministe-rin über ihren Widersacher. „Nichts kann er“, empört sich die Oberhausenerin, die im Bundestag als stellvertretende Frak-tionsvorsitzende gegen Kapitalisten und Umweltfrevler das Wort erhebt. „Rütt-gers hat den Mund zu voll genommen, nun werden die meisten Opel-Arbeits-plätze im Revier abgebaut.“

Duisburg, Königstraße, am Lebens-retterbrunnen, 16 Uhr am Nachmittag. Oliver Keymes, der Landtagsabgeord-nete aus Neuss, hält mit dem grünen Wahlkampfmobil direkt im Banken-

8 FOCUS 25/2008

NORDRHEIN-WESTFALEN

Fotos: R. Sondermann/FOCUS-Magazin, dpa

viertel zwischer Deutscher und Dresd-ner. Morgens war Keymes mit der Ber-liner Fraktionsvorsitzenden Renate Künast in Aachen, nun stoppt er im Re-vier. Bärbel Höhn steht auf einem etwa einen Meter hohen Podest, acht Me-ter vom Publikum entfernt. Die Zuhörer sitzen auf Bierbänken und bekommen kostenlos Mineralwasser aus grünen Flaschen serviert. Es ist heiß, 27,5 Grad zeigt das Thermometer.

Ein neues Konzept: Keymes fragt, Höhnantwortet, anstatt über 45 Minuten eine Standardrede zu halten. Die Grü-nen wollen Nähe zu den Menschen, die sich immer mehr von der Politik ver-nachlässigt fühlen, sich entfernen und nicht wählen gehen. Doch es dauert eine Stunde, ehe die Ur-Grüne zu ih-ren etwa 80 Gästen hinabsteigt.

Bärbel Höhn hat ihre politische Hei-mat in der Region, kandidiert nur weni-ge Kilometer entfernt für den Bundes-tag und will die Grünen in Berlin wie in Düsseldorf wieder als Regierungs-partei platzieren. Wenn es mit der SPD allein nicht reicht, ist sie auch offen für ein Dreierbündnis mit den Liberalen. „Warum keine Ampel?“

Einer Frau im Rollstuhl erklärt die Al-ternative, warum „Rhein-Ruhr als Ener-gieproduktionszentrum Nr. 1 in Europa auch die Spitzenposition bei den erneu-erbaren Energien“ erreichen müsse. Als eine Zwölfjährige wissen will, warum so viele Jugendliche auf der Straße herum-hängen, tut Bärbel Höhn, als verstünde sie die Frage nicht. In Duisburg, wo die Jugendarbeitslosigkeit extrem hoch ist, wo soziale Dienste das gesellschaftliche Gleichgewicht ausbalancieren, stellt sich die in Pluderhosen und gestreiftem Floh-markt-Blazer angereiste Grüne ahnungs-los. Sie lässt das junge Mädchen ohne aufklärende Antwort stehen.

Die grüne Wahlkämpferin formuliert lieber große Worte. Der bayerische Mi-nisterpräsident Horst Seehofer (CSU) sei „ein Anscheinerwecker“, sagt sie, und beklagt dessen sich wendende Rol-le in der Genmais-Diskussion. Wenn sie für gleichen Lohn für Frauen und Männer eintritt, muss der Pokalsieg der Duisburger Fußballerinnen helfen: „Die haben es den Männern vorgemacht“, frohlockt die grüne Revierdame. Wenn es nach Höhn ginge, dürften die am Bundesliga-Aufstieg gescheiterten Ki-cker des großen MSV Duisburg kei-nen Cent mehr bekommen. „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“, fordert sie.

JUNG & ERFOLGREICH FDP-General

Christian Lindner will nun in den

Bundestag, seine Begleitung Silvana

Koch-Mehrin führt die FDP in Europa

„Wird in Berlin Schwarz-Gelb gewählt, bekommt Rüttgers 2010 in Düsseldorf kein Bein an die Erde“

Karl-Rudolf Korte

Politikwissenschaftler

Zwischen Frauen und Männern liegen Hunderttausende, Euro wohl gemerkt. Vieles, was Bärbel Höhn sagt, meint sie richtig ernst. Die Fußballgehälter nutzt sie, um auch mal etwas Leichtigkeit in der Fußgängerzone zu platzieren.

SPD und Grüne machen mobil. Karl-Rudolf Korte beschreibt, warum ein guter Wahlkampf im Ruhrgebiet für den späteren Erfolg am Wahlabend ent-scheidend sein kann. „Hier habe ich als Partei mit kleinen Maßnahmen viel mehr Kontakte als anderswo.“ Ein ge-lungener Umschwung im Revier könne eine ganze Partei mitreißen.

Der 50-Jährige weiß, wovon er spricht – er lehrt in Duisburg. Vor einigen Jah-ren hätte er einen Lehrstuhl an der re-nommierten Bonner Universität über-nehmen können. Doch nun sitzt er mit seinen Studenten auf dem Campus der Gemeinschaftsuniversität Duisburg-Es-sen. Durch seine Medienauftritte und eine ständige Präsenz als Analytiker bei Wahlsendungen von ZDF oder WDR wirbt er für den Standort. Korte forscht in einer Region, die für die Parteien wich-tiger als andere Landstriche in der Repub-lik ist. Nirgendwo in Deutschland leben auf so engem Raum so viele Menschen wie zwischen Hamm und Duisburg: 5,3 Millionen Bürger, das sind mehr als 3,5 Millionen Wahlberechtigte.

Traditionell „ist die Karte rot im Re-vier“, sagt Korte. Dennoch registriert er „Zuwächse bei der Union“. Es gehe um Kompetenz und Erfahrung. Die „öko-nomische Kompetenz liegt trotz Stein-brück aktuell bei der Union“, analysiert der Wahlforscher. „Der Finanzminister wird nicht als SPD-Mann wahrgenom-men.“ Die SPD müsse ein „Krisenge-winner-Image versprühen“, sonst habe sie keinen Erfolg.

CDU-Mann Jürgen Rüttgers dagegen könne „der Gewinner werden, selbst wenn sich die Krise verstärkt“, sagt Korte.„Die Leute wählen Zukunftskompetenz und keine Leistungsbilanz.“ Allerdings hat der renommierte Politikforscher aus dem Revier auch schlechte Nachrich-ten für den Ministerpräsidenten: „Wird im September in Berlin Schwarz-Gelb gewählt, kriegt Rüttgers ein halbes Jahr später in Düsseldorf kein Bein an die Erde. Das Pendel schlägt zurück.“ Wenn es so käme, würden Angela Merkel (CDU) und Guido Westerwelle (FDP) die schwarz-gelben Düsseldorfer Koalitionäre Rüttgers (CDU) und And-reas Pinkwart (FDP) nach Hause

10 FOCUS 25/2008Foto: H. Bayer/FOCUS-Magazin

BRAUTSCHAU Seit mehr als 20 Jahren engagiert sich der jetzige CDU-Chef im Ruhr-

gebiet, Oliver Wittke (r.), für die Integration der türkischstämmigen Bevölkerung.

Zusammen mit Nachwuchspolitiker Deniz Güner ist er in Duisburg-Marxloh unterwegs

schicken – nach fünf Jahren. Eine mu-tige These Kortes, der bei einer Fort-führung der großen Koalition in Berlin allerdings eine „Verzwergung der Par-teien“ fürchtet: Die Mitte der Gesell-schaft würde sich abwenden.

Das Gegenteil, nämlich Zuwendung, spürt die FDP im Ruhrgebiet. Gene-ralsekretär Christian Lindner, der seit neun Jahren im Landtag sitzt und in den Bundestag einziehen will, malt den gelben Aufschwung in grellen Farben. Angestachelt vom Europa-Erfolg (plus 4,8 auf 12,3 Prozent) mit der blonden Wahlplakat-Ikone Silvana Koch-Mehrin sieht er seine Partei im Revier bei der Kommunalwahl „fl ächendeckend eher bei zehn als bei fünf Prozent“. Ein ehr-geiziges Ziel, das Lindner aus Ergeb-nissen wie in Dortmund (9,9 Prozent) am vergangenen Sonntag formuliert. Vor fünf Jahren scheiterten die Libe-ralen an Ruhr und Emscher. Lediglich in Mülheim und Recklinghausen nah-men sie die 5-Prozent-Marke.

In Essen, Bochum, Gelsenkirchen, Mülheim und Herne treten am 30. Au-gust eigene FDP-Oberbürgermeister-kandidaten an. Im Kreisverband Herne, berichtet Lindner stolz, habe sich „im vergangenen Jahr die Zahl der Mit-glieder verdoppelt – auf 55.“ Zum Ver-gleich: Die SPD zählt dort 2300 Genos-

sen, zwar 50 weniger als 2008, aber auch 67 Neueintritte. Trotz der mageren 3,3 Prozent bei der letzten Kommunal-wahl kürt die FDP Herne zur liberalen Hochburg. Landeschef Andreas Pink-wart wählt Herne jedes Jahr als Bühne beim politischen Aschermittwoch.

„Wir vernachlässigen das Revier nicht“, beteuert Lindner, den sein Entdecker Jür-gen Möllemann einst wegen seiner Jun-genhaftigkeit unter dem Kosenamen „Bambi“ in Düsseldorf einführte. Der eins-tige Newcomer ist einer der wichtigsten Wortführer der Landes-FDP geworden. So attackiert er offen den Koalitionschef: „Der Fall Opel zeigt deutlich die Diskre-panz der Wirtschaftspolitik zwischen FDP und dem sozialkatholischen Ministerprä-sidenten.“ Die staatliche Stützung des Automobilwerks in Bochum hätte die FDP gern verhindert. Nun knirscht es heftig in der Koalition, und Lindner wirft dem CDU-Regierungschef vor, sich „von zentralen Werteinheiten unseres Koa-litionsvertrags entfernt“ zu haben. Im Gegenzug hat Rüttgers bei den Band-arbeitern möglicherweise neue Freunde gewonnen, auch wenn Opel Bochum einen langsamen Tod sterben könnte.

Mit der FDP sei neues Leben ins Re-vier eingekehrt, sagt Lindner. Schließ-lich sei durch die FDP der Gesund-heitscampus nach Bochum vergeben

worden. Die neue Fachhochschule für Gesundheitsberufe mit 1000 praxis-nahen Studienplätzen ist eines der in-novativen Projekte, mit denen Wissen-schaftsminister Pinkwart punktet.

Korte sieht „das Ruhrgebiet der Zeit voraus“. Auch deshalb würden die Par-teien das industrielle Kernland fi xieren. Sowohl Generationskonfl ikte als auch das Leben mit Migranten erfahre man hier auf engstem Raum. „Die Integ-rationskultur ist die erste Wahrneh-mung“, sagt Korte, „das ist das Leitthe-ma.“ Nirgendwo habe er „eine solche Gegensätzlichkeit“ beobachtet. „Die Verwahrlosung im Norden und eine pa-radiesische Idylle im Süden.“

Oliver Wittke trinkt seinen Kaffee an diesem Morgen im Norden, im Duis-burger Innenhafen. Dort ist es aber schön. Deutschlands teuerster zeit-genössischer Maler, Gerhard Richter, stellt gerade seine grandiosen Bilder in der Küppersmühle aus. Gegenü-ber hat der japanische Elektronik-riese Hitachi neu gebaut und beschäf-tigt 1000 Menschen. Eine holländische Jacht macht in der Marina fest. Idylle und Aufschwung in Duisburg.

Auch für Wittke persönlich. Denn Walter Hellmich, Baulöwe und MSV-Präsident, stellte den Ex-Bauminis-ter als Geschäftsführer mit einem ge-schätzten Jahressalär von 200 000 Euro ein. Hinzu kommen noch monatliche Abgeordnetendiäten von knapp 10 000 Euro. Er könne „200 Prozent“ geben, Mandat und Job vereinen, hält er sei-nen Kritikern, vor allem aus der SPD, entgegen. Doch über seinen Satz, er wolle nicht länger Hausmann sein, „ko-chen, waschen und Rasen mähen“, em-pören sich auch Parteifreunde.

Wittke denkt nicht daran, seine Ämter aufzugeben, schon gar nicht den ein-fl ussreichen CDU-Vorsitz im Ruhrge-biet. „Mit 70 000 Mitgliedern sind wir der stärkste CDU-Bezirk in Deutsch-land.“ Duisburg, Gelsenkirchen, Essen – Wittke wirkt auf seiner Tour, als könne er Basisarbeit besser als Ministerbüro.

Im Duisburger Stadtteil Marxloh be-grüßt er einen Parteifreund, den 30-jäh-rigen Deniz Güner, mit Wangenkuss. „Das war mal die Bronx des Reviers“, sagt Oberbürgermeister Sauerland. Heute gilt das türkische Viertel rund um die Weseler Straße als Beispiel für gelungene Integrationspolitik. ■

KARL-HEINZ STEINKÜHLER

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12 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

Fotos: R. Sondermann/FOCUS-Magazin

I N T E R V I E W

„Drift in die Staatswirtschaft stoppen“ Nordrhein-Westfalens Wissenschafts- und Innovationsminister Andreas Pinkwart (FDP)

warnt vor weiteren Milliardenhilfen für angeschlagene Großkonzerne

FOCUS: Herr Pinkwart, sind Sie Mi-nisterpräsident Jürgen Rüttgers dank-bar oder gram, dass er sich in der Aus-einandersetzung um die Rettung von Opel auf die Seite der staatlichen Wohl-täter geschlagen hat?

Pinkwart: Ich bin dankbar, dass wir in der Koalition nach intensiven Verhand-lungen eine auch im Sinne der Steu-erzahler verantwortliche Entscheidung treffen konnten.

FOCUS: Wie beurteilen Sie nun die Aussichten für Opel in Bochum?

Pinkwart: Das Konzept ist in erheb-lichem Umfang risikobehaftet, aber es bietet auch eine Chance. Jetzt liegt es am Management und auch an der Be-legschaft, diese zu nutzen.

FOCUS: Dennoch wird ernsthaft be-fürchtet, das Werk Bochum könne mit nur einem Massenprodukt – dem Zafi -ra – nicht überleben.

Pinkwart: Ich habe die Sorge, dass die große Koalition in dieser Frage nur eine Brücke sucht, um über die nächste Wahl zu kommen, und nicht etwa, um Opel an ein sicheres Ufer zu führen. Es klingt nicht gut, wenn Magna die not-wendigen ersten 300 Millionen Euro an Krediten nicht bereitstellen will.

FOCUS: Haben wir Sie richtig verstan-den? Sie glauben also, die Opel-Ret-tung war reiner Wahlkampfzauber?

FREUNDLICH, ABER HART

ı Vom Professor zum ParteichefNach Möllemanns Sturz galt Andreas

Pinkwart als Notlösung, dann führte

er die FDP in die Koalition mit der CDU.

ı Schwergewicht in der FDPAls Vize von Bundeschef Guido Wester-

welle spielt der 48-Jährige bei den Libe-

ralen auf Bundesebene eine starke Rolle.

13FOCUS 25/2009

Pinkwart: Die noch etwas größeren Parteien glauben auf die Finanzkrisemit einer Art allgemeiner Beschäfti-gungsgarantie für Großunternehmen reagieren zu müssen. Ich glaube, das ist die falsche Antwort. Denn es darf nicht zu einer Diskriminierung kom-men nach dem Prinzip: Zu großen Un-ternehmen kommt die Bundeskanzle-rin, zu kleinen der Insolvenzverwalter. In NRW stammen 75 Prozent der Ar-beitsplätze aus kleinen und mittleren Unternehmen.

FOCUS: Die milliardenschweren Ein-griffe des Staates gehen Ihnen als Marktwirtschafter gegen den Strich?

Pinkwart: Die FDP vertritt eine kla-re Linie: Wenn es ein tragfähiges Sa-nierungskonzept gibt und ein hinrei-chendes privates Engagement, ist nach unserem strengen Bürgschaftsrecht staatliche Unterstützung von Unterneh-men möglich. Nur: Wenn die Politik vor den Werktoren bereits Versprechen ab-gibt, bevor die Voraussetzungen über-haupt geprüft sind, dann erweckt das den Eindruck, eine politische Wertung ersetze die sachliche Prüfung. Das sollten wir vermeiden.

FOCUS: Wie verträgt sich Ihre Kritik an den größeren Parteien mit Ihrem Koalitionpartner, der CDU, in Düssel-dorf?

Pinkwart: Differenzen sind ganz nor-mal. Unsere Aufgabe ist es, den Part-ner auf marktwirtschaftlichen Kurs zu bringen. Und die Insolvenz eines be-drohten Unternehmens ist eben für die Beschäftigten oft die beste Lösung in ei-ner schwierigen Situation – das zeigen Fälle wie BenQ und Babcock.

FOCUS: Ist es nicht eine Illusion, im schlimmsten Fall für 5000 Opelaner in Bochum kurzfristig Ersatzarbeitsplätze zu schaffen?

Pinkwart: Im vorliegenden Konzept sollen 1800 Stellen gestrichen wer-den. Auch für diese Menschen wird eine neue Perspektive gesucht wer-den müssen. In der Metropole Ruhr ent stehen fortwährend neue Beschäf-tigungsmöglichkeiten. Beispiel: Boeh-ringer Ingelheim investiert in eine neue medizintechnische Produktionsstätte in Dortmund und plant schon die dritteErweiterung. Nehmen Sie Nokia: Nach der Werkschließung haben die quali-fi zierten Arbeitnehmer eine neue An-stellung im Entwicklungszentrum von Blackberry-Hersteller RIM gefunden.

FOCUS: RIM kann die einfachen

große staatliche Zurückhaltung wün-schen. Warum sollen wir nicht über Al-ternativen zu Staatshilfen nachdenken, wenn sogar Bundeswirtschaftsminister zu Guttenberg eine Insolvenz für be-denkenswert hielt? So haben wir im-merhin Nachbesserungen erreicht.

FOCUS: Wie lange wollen Sie diese kla-re, aber umstrittene Haltung in einem Wahljahr durchhalten und dem Druck vongroßen Belegschaften widerstehen?

Pinkwart: Ich habe nicht den Ein-druck, dass in Deutschland die Opel-Lösung bejubelt wird. Die Menschen hoffen, dass da keine Fässer ohne Bo-den entstehen. Wir dürfen nicht – wie in der Steinkohle – Milliarden in dunk-le Schächte geben, und dann fehlt das Geld für helle Köpfe. Als Innovations-minister weiß ich, dass wir bei unserer Aufholjagd in der Metropole Ruhr ei-nen langen Atem brauchen.

FOCUS: Solche Projekte wären doch auch mit anderen Partnern umsetzbar – sind mit Blick auf die Landtagswahl für die FDP andere Koalitionen denk-bar als Schwarz-Gelb?

Pinkwart: Das Land braucht stabileVerhältnisse, die sind in einer Zweier-koalition eher gegeben als in einem Dreierbündnis. Und trotz der schwie-rigen Gespräche über Opel: Mit der Union ist uns in den vergangenen vier Jahren viel gelungen.

FOCUS: Aber mit Sozialdemokraten wie etwa Finanzminister Peer Stein-brück gibt es doch manche Gemein-samkeit?

Pinkwart: Er hat mit einem Feder-strich die Abwrackprämie von 1,5 auf fünf Milliarden Euro nach oben ge-schraubt und subventioniert jetzt den Agrardiesel – sieht sich aber nicht in der Lage, einen ebenso teuren Hochschul-pakt im Bund zu fi nanzieren. Das ist das falsche Signal an junge Menschen, an die doppelten Abiturjahrgänge, die wir demnächst haben und an junge Wis-senschaftler, die wir in Deutschland halten wollen. Die würden dann dop-pelt bestraft: Erst schlechte Studien-bedingungen, und später sind sie die Generation, die die Schulden von heu-te abtragen muss.

FOCUS: Sie stellen sich gegen viele populäre Staatshilfen – wie wollen Sie so bei den Wählern punkten?

Pinkwart: Wir sprechen Menschen an, die wissen, dass Wohlstand hart er-arbeitet werden muss, bevor man ihn verteilen kann. Dass Arbeitsplätze sich im Wettbewerb behaupten müs-sen. Dass es nötig ist, viele Fragen ohne ideologische Festlegungen zu entschei-den, wie beispielsweise in der Energie-politik. Und dass man neuen Techno-logien gegenüber offen bleiben muss, zum Beispiel, um dem Klimawandel zu begegnen. ■

INTERVIEW: MATTHIAS KIETZMANN/KARL-HEINZ STEINKÜHLER

Beschäftigten vom Band aber nicht gebrauchen . . .

Pinkwart: Es ist ja nicht eines, es sind 20 oder 30 Unternehmen, die die-se ausgeschiedenen Beschäftigten auf-nehmen. Allein in Bochum sind 25 000 Menschen in 100 Unternehmen der Ge-sundheitsbranche tätig. Dort sind ihre Arbeitsplätze womöglich sicherer als in einem großen Unternehmen.

FOCUS: Opel, Arcandor, Schaeffl er, Porsche, überall soll der Staat helfen . . .

Pinkwart: Wir haben ein klares Bürg-schaftsverfahren. Das darf nicht dem politischen Opportunismus überlassen bleiben. Es kann nicht sein, dass wir in eine Staatswirtschaft abdriften.

FOCUS: Reden Sie so auch mit dem Ministerpräsidenten?

Pinkwart: Wir haben in der Koalition erklärt, dass wir uns im Fall Opel eine

„Ich habe große Sorge, dass die große

Koalition nur eine Brücke sucht, um über die

nächste Wahl zu kommen“

14 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

Fotos: Courtesy: RIM/A. Böttcher (2), imago

D as Ende kann ein neuer Anfang sein“, sagt Bernhard Krausse,

Entwicklungsleiter beim kanadischen Mobilcomputer-Hersteller Research in Motion (RIM). 13 Jahre lang hat der 43-jährige Ingenieur für Nokia in Bo-chum neue Multimedia-Geräte entwi-ckelt – zuletzt als Chef über 500 Per-sonen und mit einem Budget von 100 Millionen Dollar jährlich. Krausse hat auch an dem legendären Alleskönner N95 mitgewirkt.

Die abrupte Schließung der Handy-Fabrik in Bochum mobilisierte Zehn-tausende im Ruhrgebiet und sandte Schockwellen durch die ganze Repub-lik. Krausse nutzte die Krise vor einem Jahr für seinen ganz persönlichen Neu-start – und leitet jetzt das Entwicklungs-zentrum von Blackberry-Erfi nder RIM. Insgesamt 180 Ingenieure und Techni-ker tüfteln an neuen Geräten im be-rühmten Brombeer-Look. Der erste „Berry“ aus Bochum wird im Herbst auf den europäischen Markt kommen, an einem zweiten Gerät wird unter strikter Geheimhaltung gebastelt. „Mich fas-ziniert, wie schnell wir bei RIM neue Ideen umsetzen können“, schwärmt Krausse vom neuen Arbeitgeber.

Jahrzehnte galt das Ruhrgebiet als Herzkammer der deutschen Wirtschaft. Doch mit der Schließung von Schacht-anlagen, Kokereien und Stahlwerken veränderte die Region ihr Gesicht. Rau-chende Schlote und rußverschmierte Arbeitermienen, die nach Kriegsende die Wohlstands- und Wiederaufbauhoff-nungen der Massen widerspiegelten, wandelten sich zu Bildern der Krise. Seit den 60er-Jahren will die Indus-trieregion mit aller Macht auf anderen Feldern punkten – und strebt danach, das Gehirn der Republik zu sein: Fünf Universitäten, neun Fachhochschulen sowie eine Kunsthochschule sollen da-für die Basis bilden. Zudem forschen zwischen Duisburg und Dortmund drei Max-Planck- und vier Fraunhofer Insti-

tute, die führend sind in den Bereichen bioanorganische Chemie, molekulare Physiologie und mikroelektronische Schaltungen.

Für den Aufbruch ins Wissenszeitalter fehlt es nicht an hochfl iegenden Plänen und klangvollen Visionen: So wollen die öffentliche Hand und Unterneh-men ihre jährlichen Ausgaben für For-schung und Entwicklung (F+E) bis 2015 auf drei Milliarden Euro verdoppeln. Anstrengungen, die auch bitter nötig sind. Revier-Unternehmen investieren ein Drittel weniger in Innovationen wie Betriebe im NRW-Durchschnitt, hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirt-schaftsforschung ermittelt.

Eine engere Verzahnung von For-schung und Industrie fördert Nord-rhein-Westfalens Innovationsminister Andreas Pinkwart (FDP): „Gerade im Ruhrgebiet gibt es einen Mentalitäts-wandel – dort besinnt man sich auf ei-gene Stärken, anstatt die Schwächen zu betonen.“ Den Wandel und neues Denken in Unternehmensetagen be-legten Millioneninvestitionen in High-Tech-Schmieden und Spitzenforschung, sagt er. Pinkwart zeigt sich beeindruckt, dass die Städte Neuansiedlungen im Wettbewerb mit anderen Standorten und Regionen gewännen, die als schi-cker und innovativer gelten.

Manchmal helfen auch nur gute Be-ziehungen und außergewöhnliche Maß-nahmen, um Erfolg zu haben. „RIM nach Bochum zu lotsen hat mich genau einen Flug nach London gekostet“, erinnert sich NRW-Wirtschaftsministerin ChristaThoben (CDU) an den Coup mit dem kanadischen Vorreiter im Segment der Smartphones. Dort traf sie sich dann mit dem Unternehmensgründer, Hauptak-tionär und Blackberry-Erfi nder Mike Lazaridis.

Der griechische Auswanderer, der auf seinem Weg nach Kanada einige Mo-nate in Deutschland verbracht hat und in dessen neuer Heimat traditionell das

Oktoberfest gefeiert wird, war leicht zu überzeugen von dem Standort Ruhr-gebiet. Ob letztlich Thobens Vermitt-lung für ein Gespräch von Ingenieur zu Physikerin, von Lazaridis mit Kanzle-rin Angela Merkel, den Ausschlag gab, will keiner der Beteiligten bestätigen. Thoben, die zu Merkels SMS-Netzwerk gehört, organisierte den Termin.

Um wie geplant im Jahr 2030 auf Au-genhöhe mit Metropolen wie Shanghai oder New York zu konkurrieren, muss das Revier noch mehr Unternehmen aus den neuen Leitbranchen ködern.

I N N O V A T I O N

Zum Wandel entschlossenDer Abstieg des Ruhrgebiets wird seit Jahrzehnten prognostiziert, doch die Unternehmen steuern um — im Herbst kommt der erste Blackberry aus Bochum

„Wir wollen die besten Studenten der Ruhr-Uni-versität jedes Jahr in unser Unternehmen lotsen“

Bernhard Krausse

RIM-Entwicklungschef in Bochum

15FOCUS 25/2009

STAHLSTANDORTNoch rauchen in

Duisburg bei Thyssen-

Krupp die Schlote

ENTWICKLUNGSLABOR

Der kanadische

Blackberry-Hersteller

RIM forscht in Bochum

16 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

Fotos: ddp (2), Courtesy: Boehringer Ingelheim

Die Entscheidung von RIM für Bochum zeigt, dass die Region dabei schon ein Stück vorangekommen ist. Denn die Ansiedlung des High-Tech-Unterneh-mens aus dem Städtchen Waterloo in der Provinz Ontario kam nur für die Öffentlichkeit überraschend.

Krausse hingegen sieht den Smart-phone-Hersteller am Standort Bochum ideal platziert. „NRW hat die höchste Dichte an Telekommunikationsunter-nehmen in Deutschland“, erläutert der Tüftler. Außerdem hätte eine erste Be-werbungsveranstaltung im März 2008 einen weit größeren Ansturm quali-fi zierter Bewerber ausgelöst als ein RIM-Recruitment in Frankfurt. Auch zu Hause ist die High-Tech-Schmiede ein universitäres Umfeld gewohnt: In Waterloo ist das Unternehmen mitten im Uni-Viertel angesiedelt – und der forschungsbegeisterte Gründer Mike Lazaridis hat einen dreistelligen Milli-onenbetrag an zwei Institute gestiftet.

Auch in Bochum fördert RIM die For-

schung – und unterstützt zwölf ange-hende Elektrotechniker und Mechani-ker jährlich mit Studienstipendien. „So wollen wir die besten eines Jahrgangs in unser Unternehmen lotsen“, erläu-tert Krausse. Auf sie wartet viel Arbeit, denn neben neuen Geräten arbeiten die Forscher am Mobilfunkstandard der nächsten Generation – Kenner spre-chen von LTE (Long Term Evolution).Durch diese superschnelle Datenüber-tragungstechnik der vierten Generation sollen die Kunden ab 2012/13 mit ihrem Handy Videos und Musik so schnell herunterladen können wie heute mit den stärksten Festnetz-PCs.

Thoben weiß, welches Signal von der Ansiedlung der Kommunikationsexper-ten ausgehen kann. Am vergangenen Mittwoch betonte sie auf einem Indus-triekongress der Landesregierung in Düsseldorf noch einmal ausdrücklich, dass die Kanadier den Schritt nach Bo-chum auch „mit der Nähe von hochleis-tungsfähigen Universitäten“ begründet hätten. Und gutes Fachpersonal wird gebraucht, denn RIM erhöht schrittwei-se seinen Personalbestand von aktuell 180 auf 200 zum Jahresende. „In eini-gen Jahren ist eine Aufstockung auf 500 Mitarbeiter möglich“, rechnet Ent-wicklungschef Krausse vor.

Wissenschaftsminister Pinkwart fühlt sich durch die Entwicklung an der Ruhr bestätigt. „Die junge Universität Bo-chum hat es in der Exzellenzinitiative

mit den Schlachtschiffen Aachen, Mün-chen und Berlin aufgenommen – und ist auf dem Weg zur Elite-Uni“, prophezeit er der Ruhr-Hochule eine fantastische Zukunft. Zudem sei Elmar Weiler zum Rektor des Jahres gekürt worden. Bo-chum habe außerdem beim Zentrum für Werkstoffsimulation ICAMS das Rennen gemacht. Nun investierten Salzgitter, ThyssenKrupp, Bosch und Bayer dort zwölf Millionen Euro. „Das ist ein Bei-spiel dafür, was privat fi nanzierte For-schung in der Praxis bedeuten kann“, erinnert der Liberale gern an funda-mentale Ansätze seiner FDP-Politik.

Dass die Stahlkonzerne in Forschung, neue Technologien und Geschäftsfelder mit Zukunft investieren, geht in der Kri-se fast unter. Dabei baut gerade der Ruhrkonzern ThyssenKrupp durch För-derung junger Wissenschaftler in sei-nem IdeenPark, der 2004 in Gelsen-kirchen eröffnet wurde, am Image als Technologiekonzern. Zwar verdiente die traditionelle Hütte vor allem im boo-menden Stahlmarkt ihr Geld, vergaß dabei aber nie, neue Geschäftsfelder zu erkunden. Das neue ThyssenKrupp-Quartier in Essen soll als äußeres Zei-chen für die Zeit stehen. Im nächsten

AUTOWERK Noch ist offen, ob auch der Nachfolger des Astra im Werk Bochum gebaut wird

ERFOLGSGESCHICHTE

In und um Dortmund

herum haben sich in

den vergangenen Jahren

zahlreiche Firmen mit

ihren Forschungseinrich-

tungen zur Mikrosystem-

technologie angesiedelt

(im Bild: Befüllung eines

Montageautomaten bei

Boehringer Ingelheim)

FOCUS 25/2009

Das Ruhrgebiet ist mehr...Sommer ziehen 2500 Mitarbeiter in die

neue Konzernzentrale mit angeschlos-sener Akademie, in der die Führungs-kräfte des nahezu 200 000 Menschen beschäftigenden Konzerns mit Unter-stützung der Ruhr-Universitäten fort-gebildet werden sollen.

Zukunftsmusik, denn an der Ruhr bangen in diesen Monaten Tausende Stahlarbeiter um ihre Arbeitsplätze.ThyssenKrupp ist wie die gesamte Bran-che von einem weltweiten Produktions-rückgang getroffen. In Deutschland werden 2009 voraussichtlich nur noch 32 Millionen Tonnen Rohstahl erzeugt, so wenig wie vor 50 Jahren. Tausende Stellen wurden in Duisburg schon ab-gebaut, Zehntausende Mitarbeiter ar-beiten kurz.

Erst nach Streiks und heißen Diskus-sionen stimmten die starken Gewerk-schaften einem notwendigen Kon-zernumbau zu. IG-Metall-Chef Oliver Burkhard setzte die ganze Macht der Montan-Mitbestimmung ein und drohte: „Wenn sich die Konzernspitze nicht bewegt, kommt zur Wirtschafts-krise noch eine Vertrauenskrise hinzu. Dann sehe ich schwere Zeiten für den Konzern anbrechen.“ Doch was will er machen, wenn in der Duisburger Hütte sowie an den Bändern von Opel in Bo-chum die Arbeitsplätze wegbrechen?

Die Zukunft siedelt in Dortmund. Denn die Stadt ist nicht nur für ihren Spit-zenfußball bekannt, sondern auch als Standort für die Mikro- und Nanotech-nologie. Die Metropole an der B 1 gilt als einer der drei wichtigsten europä-ischen Plätze für Mikrosystemtechnik (MST). In Nähe der Universtität haben sich 40 Unternehmen mit mehr als 2200 Mitarbeitern niedergelassen.

Was Dortmund bei MST gelungen ist, möchte Bottrop auf dem Gebiet der alternativen Antriebe erreichen. Der Schwerpunkt liegt auf der Brennstoff-zellen- und Wasserstofftechnologie. Gerade gründete man eine „InitiativeWasserstoff“. „Das sind alles neue Pfl änzchen im andauernden Struktur-wandel, die gepfl egt und zum Wachsen gebracht werden müssen“, sagt Hans Blotevogel, Fachgebietsleiter Raumpla-nung an der TU Dortmund. „Der vor Jahrzehnten eingeleitete Prozess ist ein Bohren dicker Bretter.“

Dazu gehören vor allem Projekte, die die 53 Städte und Kreise stärker mit-einander verknüpfen. So will der Initia-tivkreis Ruhrgebiet das Revier etwa zur Modellregion für Forschung und Pro-duktion von Elektroautos machen. „Was hindert uns daran, diese Technologien hier zu testen und schließlich auch zu vermarkten?“, fragt E.on-Chef und Ini-tiativkreis-Moderator Wulf Bernotat. Die Ausgangsbasis ist nicht schlecht: Mit dem Essener Mischkonzern Evonik gibt es schon ein Ruhrgebiets-Unternehmen, das zu den führenden Anbietern neu-artiger Stromspeicher zählt.

Die Essener entwickeln zusammen mit der Daimler AG Lithium-Ionen-Batte-rien. Die Technologie, in die Evonik bis-her rund 80 Millionen Euro investiert hat, gilt als weltweit führend beim The-ma „Fahren mit Strom“. Die Stuttgarter Autobauer sind deshalb mit 49,9 Pro-zent bei der Evonik-Tochter Li-Tec ein-gestiegen. 100 Menschen werkeln bei der Firma bereits am Antrieb der Zu-kunft. Bis zum Jahr 2011 soll die Li-Tec-Produktionsfl äche auf rund 20 000 Qua-dratmeter verdoppelt werden. Die Zahl der Arbeitsplätze dürfte langfristig auf über 1000 ansteigen. Das Revier profi -tiert davon allerdings nicht: Die Evonik-Tochter sitzt in der sächsischen Klein-stadt Kamenz. ■

MATTHIAS KIETZMANN/JOCHEN SCHUSTER/KARL-HEINZ STEINKÜHLER

„Eine Insolvenz von Opel ist abgewendet. Wir können nach vorne schauen, es geht weiter in Bochum“

Oliver Burkhard

Bezirksleiter der IG Metall in NRW

18 FOCUS 25/2009

BRENNPUNKT

Entwicklung der Arbeitslosenquoteim Ruhrgebiet

1977 1755982 2007 1488025

Verteilung der Beschäftigten in den verschiedenen Sektoren

57,5

42,0 70,2

0,5 0,7

29,1

17,2

15,1

14,8

14,8

13,9

13,8

13,2

12,9

12,0

11,5

10,2

Städte mit der höchsten Arbeitslosenquote im Ruhrgebiet

Laut Statistik ist das Gesundheits-, Veterinär- und Sozial-

wesen mit mehr als 205 000 Arbeitsplätzen mittlerweile die

beschäftigungsstärkste Branche im Ruhrgebiet

Quelle: RVR

Quelle: RVR

RWE-TURM

Kein Revier-

konzern setzt

mehr um als

der Versorger

WANDEL IN DER BESCHÄFTIGUNGSSTRUKTUR

Kein Wort ist mit der wirt-schaftlichen Entwick-

lung des Ruhrgebiets so eng verbunden wie „Struktur-wandel“. Mehr als einhun-dert Jahre wurde die Ge-gend durch Kohleförderung und Stahl verarbeitende In-dustrie geprägt. In den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts begann der Niedergang der Montanindustrie, der mit Subventionen wie dem Koh-lepfennig zwar abgebremst, aber nicht aufgehalten wer-den konnte.

Der Begriff beschreibt die Verschiebungen vom produ-zierenden Gewerbe hin zum Tertiär-/Dienstleistungssek-tor. So arbeiteten 1977 noch mehr als eine Million Men-schen in Bergbau, Bauwe-sen und Industrie. 30 Jahre später waren es nur noch gut 400 000. Bis 2007 stieg dem-gegenüber die Anzahl der Beschäftigten im Dienstleis-tungsbereich um mehr als 300 000. Heute stellt das Ge-sundheitswesen die meisten Jobs im Ruhrgebiet, gefolgt

von Dienstleistern und Ein-zelhandel. Kohle und Stahl spielen eine untergeordnete Rolle: Es existieren nur noch vier Bergwerke und drei Ko-kereien. Dieser Niedergang konnte im Hinblick auf die Zahl der Jobs nicht kompen-siert werden: Mit einer Quo-te von 11,7 Prozent liegt die Arbeitslosigkeit im Ruhrge-biet nach wie vor deutlich höher als im übrigen West-deutschland. ■

JOCHEN SCHUSTER

Seit den 60er-Jahren

des vergangenen

Jahrhunderts hat sich

die Wirtschaft im größten Ballungsraum

Deutschlands sehr stark verändert

JOBS

VIELE MENSCHEN OHNE ARBEIT

Einst dominierte der sekundäre Sektor mit

der Montanindustrie (Kohle, Stahl). Davon

ist im Lauf der Jahre aber nicht mehr

viel übrig geblieben.

Die Arbeitslosenquote ist zuletzt zurück-gegangen, im Vergleich zu anderen Gegenden liegt sie aber weiter hoch

19FOCUS 25/2009

205844

173499

122160

91612

86588

75764

50867

Die beschäftigungsstärksten Branchen im Ruhrgebiet

50389

50318

43726

42,5

41,9

27,9

22,8

21,8*

19,7

19,4

16,5

14,4

14,1

Die zehn umsatzstärksten Unternehmenim Ruhrgebiet

21549

20754

18747

18456

18112

Kreise und Städte mit dem höchsten verfügbarenEinkommen im Ruhrgebiet

Fotos: Courtesy: ThyssenKrupp, imago, H. Mueller/laif, action press

Über Jahrzehnte beherrschten die Kumpel das Bild des

Reviers. Mittlerweile gibt es dort nur noch vier Bergwerke.

Diese Zechen geben 21 000 Menschen Arbeit

Erst auf dem fünften

Platz der Job-Charts

des Reviers liegt mit

dem Baugewerbe

ein Bereich aus dem

einst dominierenden

sekundären Sektor

Zwei Energie-Unter-

nehmen führen die

Liste der größten Ruhr-

gebiets-Konzerne an

Das vom Pariser Architekturbüro Chaix & Morel et

Associés mit JSWD Architekten aus Köln entworfene

Quartier bildet das Herzstück des Projekts

Der „reichste“ Kreis im Ruhrgebiet zählt knapp

340 000 Menschen und liegt mitten zwischen Bochum,

Essen, Wuppertal, Hagen und Dortmund

Quelle: RVR

BRANCHEN, KONZERNE, EINKOMMEN

Unter dem Begriff „Ruhrgebiet“ werden elf kreisfreie Städte sowie vier Kreise in Nordrhein-Westfalen zusammengefasst.

UMZUG INS REVIER

ı Mit gut 230 Hektarist der sogenannte Krupp-Gürtel fast dreimal so groß

wie die Essener City. Im Zentrum soll die neue Zentrale

des Konzerns stehen, wo gut 2000 Menschen arbeiten

werden. Die Grundsteinlegung war im Herbst 2008.

ı Weitere wichtige Teiledes Projekts sind der Berthold-Beitz-Boulevard, der den

Gürtel in West- und Osthälfte teilt, sowie ein 22 Hektar

großer Park, der parallel zum neuen Boulevard verlaufen

soll. Hier entstehen nicht nur Liegewiesen und Grillplätze,

sondern auch ein See.

Der Industriekonzern ThyssenKrupp verlegt zurzeit seine Konzernzentrale von Düsseldorf nach Essen. Zwischen der City und Altendorf entsteht ein komplett neuer Stadtteil.

20 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

I N T E R V I E W

Fotos: H. Bayer/FOCUS-Magazin (2), Mauritius

FOCUS: Herr Gorny, „Ordnung ist das halbe Chaos“ heißen Ihre Erin-nerungen über den Aufbau des Mu-siksenders Viva. Gilt das auch für die Organisation der europäischen Kultur-hauptstadt 2010 in und um Essen?

Gorny: Ja und nein. Ja, weil es sich in beiden Fällen um eine sehr prozess-orientierte, entwicklungsstarke Unter-nehmung handelt. Nein, weil es bei Viva um den Aufbau eines jungen Wirt-schaftsunternehmens ging. Bei der Kul-turhauptstadt ist es hingegen die Schaf-fung einer öffentlichen Organisation.

FOCUS: Wie verbringt der künstle-rische Direktor der Ruhr 2010 GmbH seinen Arbeitstag? Sponsoren umgar-nen? Künstler verpfl ichten? Veranstal-tungen planen?

Gorny: Wir beschäftigen uns mit den Leuten, die Kultur produzieren, aber keine öffentlichen Subventionen be-kommen. Das können Musiker, Künst-ler, Designer, aber auch Werber sein. Diese Menschen prägen bereits nach-haltig das Bild des Ruhrgebiets, stehen aber nicht so im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung. Deshalb ist es für uns sehr wichtig, aufmerksam zu machen, zu vernetzen und Kommunikation an-zuregen. Wir fragen: Was sollen wir tun, damit ihr besser arbeiten könnt? Wie bekommt ihr mehr Publikum? Unser Wirken darf ja nicht nur auf 2010 ge-richtet sein, sondern muss nachhaltige Erfolge bringen.

FOCUS: Das Ruhrgebiet soll nach Ihren Worten bis zum Jahr 2010 kul-turelle und künstlerische Erlebnisse bieten können, die mit New York vergleichbar sind. Wie weit sind Sie mit diesem ehrgeizigen Vorhaben voran-gekommen?

Gorny: Wenn Sie sich die kulturelle Landschaft ansehen mit ihren Mu-seen, Festivals, Konzerthäusern, dann kann man sicherlich feststellen, dass wir schon bei Beginn der Debatte sehr REVIER-MENSCH Gorny, hier in der Zeche Zollverein, lebt seit 40 Jahren im Ruhrgebiet

DER KREATIVE

ı Bekannt wurde der 55-Jährige durch den Auf-

bau des TV-Senders Viva und

der Musikmesse Popkomm.

ı Als künstlerischer Direktorder Kulturhauptstadt 2010

ist er für die Kreativwirtschaft

zuständig.

„Ein Modell für Europa“ Was die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 für die Region und die dort lebenden Menschen bedeutet,

erklärt Dieter Gorny, einer der künstlerischen Direktoren des Mammutprojekts

21FOCUS 25/2009

weit waren. Da gibt es bereits eine Landschaft, die einmalig in Europa, aber auch international durchaus kon-kurrenzfähig ist. Das Spannende im Ruhrgebiet ist doch, dass es unfertig und in Bewegung ist. Wie sagen die Engländer so schön: under construc-tion. Auf dieser Basis wollen wir zum Beispiel mit unserem Projekt „Krea-tivquartiere“ nicht nur Orte schaffen, an denen Menschen arbeiten können, sondern die Orte miteinander in einem urbanen Dialog verbinden.

FOCUS: Ist das Nebeneinander vie-ler Städte ein Nachteil? Es herrscht ja häufi g ein sehr ausgeprägtes Kirch-turmdenken. Jede Stadt scheint zum Beispiel ein eigenes Konzerthaus zu benötigen.

Gorny: Ich gestehe ein, dass ich es als beunruhigend empfi nde, wenn refl exar-tig das alte stationäre Denken mal wie-der durchbricht. Ich denke aber, dass gerade die, die wir ansprechen, also die junge kreative Szene, längst über die Grenze ihrer Stadt hinaus denkt. Es ist doch ein Vorteil dieser Region, dass man sagen kann, es gibt nicht ein Zentrum, es ist nicht zentral. Es ist da-durch aber eben auch nicht so kommu-nal wie Hamburg oder Berlin. Ich kann hier die Chance der kurzen Wege nut-zen und bin in 15 oder 20 Kilometern an verschiedensten Orten. Das bringt doch eine unvergleichliche Vielfalt.

FOCUS: Was bedeutet das Mammut-projekt für die Region?

Gorny: Der drittgrößte Ballungsraum Europas schickt sich an, eine Metro-pole zu werden. Und da wollen wir mit Kunst, Kultur, Kreativität kräftig mithelfen. Bei dem Bau der Metropo-le haben wir im Jahr 2010 Richtfest, das feiern wir auch. Aber gleichzeitig fällt dann auch der Startschuss für die weitere Entwicklung. Das Ruhrgebiet kann stolz auf seine industrielle Ge-schichte sein, aber wenn es lebendig bleiben will, braucht es neue Impulse.

FOCUS: Welche langfristigen Effekte können das sein?

Gorny: Das müssen natürlich nicht nur kulturelle, sondern auch ökonomische sein. Wir brauchen neue Arbeitsplätze, um die Rückgänge etwa in der Mon-tanindustrie zu kompensieren. Wir wer-den nicht gewinnen können, wenn wir uns nicht darum kümmern. Das Ruhr-gebiet hatte in den vergangenen 14 bis 18 Monaten zwar ein Wirtschafts-wachstum von sieben Prozent. In den

Branchen der Kreativwirtschaft lag es aber doppelt so hoch. Wir müssen die Pfl anzen, die es schon gibt, hegen und pfl egen und zu voller Blüte bringen.

FOCUS: Sie sprechen immer wieder von dieser „Kreativwirtschaft“. Was verstehen Sie genau darunter?

Gorny: Das sind verschiedene Bran-chen, die eins verbindet: Bei allem, was man als Produkt verkauft, stand am Anfang eine Idee. Daraus entstand ein Song, ein Film, eine Zeitschrift. Zu Wirt-schaft wird es dann, wenn jemand sagt: Will ich haben, dafür gebe ich Geld aus. Am Ende ist die Verwertung der Idee der ökonomische Prozess.

FOCUS: Sie wohnen mittlerweile seit 40 Jahren im Ruhrgebiet. Wie hat sich das Revier in dieser langen Zeit verändert?

Gorny: Die Region ist natürlich viel grüner geworden. Dazu hat beigetra-gen, dass die jahrzehntelang dominie-renden Industrien Kohle und Stahl an vielen Stellen verschwunden sind. Das Ruhrgebiet hat in den vergangenen fünf bis sechs Jahren einen Sprung nach vorne gemacht. Ein Ausgangspunkt war sicherlich die erste Ruhr-Trienna-le. Plötzlich haben wir – wie selbstver-ständlich – Avantgarde an den unge-wöhnlichsten Orten: Man kann heute im Oberhausener Centro einkaufen gehen und ein paar Meter weiter im Gasometer die tollsten Video-Installa-tionen bestaunen.

FOCUS: Und wie haben sich die Men-schen verändert?

Gorny: Nicht viel. Sie sind immer noch herzlich, direkt, geerdet. Gerade die jüngeren genießen es, mal eben nach Hamburg, Amsterdam oder Paris zu fahren. Aber dann auch wieder hierher zurückzukehren.

FOCUS: Wenn die Deutschen an die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 zu-rückdenken, fällt den meisten das „Sommermärchen“ ein. Welche Erin-nerungen sollen die Menschen später mal an die europäische Kulturhaupt-stadt 2010 haben?

Gorny: An eine Metropole mit un-geheuer spannender Kunst an unge-wöhnlichen Orten. An eine Metropole, die vor Begeisterung über ihre kultu-relle Vielfalt betrunken macht. An eine Metropole mit einer neuartigen ökono-misch-kulturellen Power. Und vor allem: an ein Modell für Europa. ■

INTERVIEW: JOCHEN SCHUSTER

PRESTIGE-PROJEKT

Der denkmalgeschützte Turm

der ehemaligen Union-Brauerei

in Dortmund wird zurzeit

zu einem Zentrum für Kunst,

Kultur und Wirtschaft umgebaut

„Das Spannende im Ruhrgebiet ist doch, dass es unfertig und in Bewegung ist“

Dieter Gorny

Direktor Ruhr 2010 GmbH

Als Kind kickte Halil Altintop gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Hamit auf den Straßen seines Geburtsortes Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen. Heute spielt der tür-kischstämmige Stürmer bei dem Gelsenkirchener Bundes-ligaverein FC Schalke 04 und ist Mitglied der türkischen

Nationalelf. So wie Halils deutsch-türkische Erfolgsge-schichte gibt es viele in Nordrhein-Westfalen. Rund 850.000 Bürger mit türkischem Migrationshintergrund leben hier, über 280 türkische Unternehmen haben hier ihren Sitz und täglich entstehen neue Verbindungen.

Ausführliche Informationen zum Standort Nordrhein-Westfalen fi nden Sie unter www.welovethenew.com

Als Kind kickte Halil Altintop gemeinsam mit seinem Zwillingsbruder Hamit auf den Straßen seines Geburtsortes Gelsenkirchen in Nordrhein-Westfalen. Heute spielt der tür-kischstämmige Stürmer bei dem Gelsenkirchener Bundes-ligaverein FC Schalke 04 und ist Mitglied der türkischen

Nationalelf. So wie Halils deutsch-türkische Erfolgsge-schichte gibt es viele in Nordrhein-Westfalen. Rund 850.000 Bürger mit türkischem Migrationshintergrund leben hier, über 280 türkische Unternehmen haben hier ihren Sitz und täglich entstehen neue Verbindungen.

Ausführliche Informationen zum Standort Nordrhein-Westfalen fi nden Sie unter www.welovethenew.com

24 FOCUS 25/2009

67

Entwicklung der Organisierten Kriminalität inNordrhein-Westfalen

Anzahl der Verfahren:

69

3570

Anzahl der Straftaten:

4708

443,1

Ermittelte Schadenshöhe

53,3

NORDRHEIN-WESTFALEN

Fotos: dpa, AFP, AP

M A F I A

In aller Stille Die Organisierte Kriminalität tarnt sich geschickt. Fälle wie die Morde von Duisburg bleiben die Ausnahme

D as Qualitätsmerkmal der Organi-sierten Kriminalität – aus Sicht der

Täter – steht für Thomas Jungbluth fest: „Gute OK ist die, die man nicht sehen kann.“ Daher ist der Abteilungsleiter OK beim Landeskriminalamt Nord-rhein-Westfalen auch „persönlich sehr zuversichtlich: So etwas wie in Duisburg wird – nicht nur hierzulande – die Aus-nahme bleiben“. In der Ruhrmetrople waren Mitte August 2007 sechs junge Italiener beim Verlassen eines Restau-rants von Landsleuten erschossen wor-den – kaltblütig und ohne Chance zur Gegenwehr. Das nachfolgende euro-paweite Mediengetöse über die Schie-ßerei, Höhepunkt einer Fehde verfein-deter kalabrischer Clans, brachte vor allem der italienischen Mafi a monate-lange mediale Aufmerksamkeit.

Eine Frage der Güterabwägung. Die In-kaufnahme der verhassten Öffentlich-keit durch Hintermänner und Täter er-klären Fachleute wie Jungbluth „mit archaischen Motiven, wie etwa dem Schutz der Ehre oder eines Verhaltens-kodex, dessen Einhaltung für kriminel-le Organisationen überlebenswichtig ist“. Beispiel: Verschwiegenheit.

Offenbar jahrzehntelang hatten ita-lienischen Ermittlern zufolge etwa 40 im Bergdorf San Luca ansässige Fa-milien der Ndrangheta – des kalab-rischen Arms der italienischen Ma-fi a – weitgehend unbehelligt von der Öffentlichkeit die Fäden ihrer inter-nationalen Geschäfte ziehen können: Rauschgifthandel, Schutzgelderpres-sungen, Entführungen, Raubüberfälle und Geld wäsche. So konnten Ndran-gheta-Familien aus San Luca bis heute wesentliche Bereiche des europäischen Kokainmarkts in aller Stille unter ihre Kont rolle bringen.

Dass keine 24 Stunden nach den Schüssen von Duisburg Journalisten-pulks in Kompaniestärke über das Hei-matdorf von Killern und Opfern her-fi elen, muss den Auftraggebern der

sechsfachen Hinrichtung wie ein alb-traumhafter Kollateralschaden erschie-nen sein. Weitgehend unaufgeregter geschah da schon die Festnahme der beiden mutmaßlichen Täter Giuseppe Nirta im November 2008 und GiovanniStrangio im März dieses Jahres in Amsterdam.

Die Verhaftungen sind auch ein Er-folg der nordrhein-westfälischen Fahn-dungsbehörden, die vor allem in den Bereichen Rauschgift- und Menschen-handel immer häufi ger grenzüber-schreitend mit internationalen Kolle-gen kooperieren.

NRW-Innenminister Ingo Wolf (FDP) setzt 600 seiner 8000 Kriminalbeamten zur Bekämpfung Organisierter Krimi-nalität ein. Für LKA-Mann Jungbluth ein Indiz dafür, „dass die Politik in Düs-seldorf die Sicherheitsinteressen der Bürger ernst nimmt“. So habe NRW, al-len Sparzwängen zum Trotz, an seinem hohen Personalstamm zur OK-Bekämp-fung in den Städten und Regionen an Rhein und Ruhr festgehalten.

In 69 Verfahren konnten die Beam-ten im Jahr 2007 (die letzten aktuellen Zahlen) insgesamt 4700 Straftaten auf-klären und dabei 772 mutmaßliche Täter ermitteln. Den geschätzten Ge-winnen aus Kfz-Verschiebungen, Pros-titution oder Rauschgiftgeschäften von 65 Millionen Euro stehen dabei verur-sachte Schäden in Höhe von 53 Milli-onen Euro – etwa bei Steuerhinterzie-hung, Schwarzarbeit, aber auch Raub und Diebstahl gegenüber.

Bescheidene Beute. „OK ist nicht automatisch das, was hohe Gewinne bringt“, so Jungbluth. Doch Ausnah-men bestätigen die Regel. So werden der an verschiedenen Tatorten in rosa-farbenen Hemden aufgefallenen inter-nationalen Räuberbande Pink Panthers weit über 100 Überfälle auf Edeljuwe-liere in der ganzen Welt zugeordnet. Da-bei sollen die Täter Preziosen im Wert von mehr als 100 Millionen Euro erbeu-

ı Große Differenzen Im Jahr 2006 schlug allein ein OK-Verfahren

aus der Wirtschaftskriminalität mit

350 Millionen Euro Schaden zu Buche.

ı In relativ wenigen Ermittlungsverfahren konnten die NRW-Polizeibehörden zuletzt

eine steigende Zahl von Straftaten organi-

sier ter Verbrecherbanden aufklären.

BILANZ

Quelle: LKA/NRW

25FOCUS 25/2009

tet haben. Zwar konnte die französische Polizei Mitte vergangenen Monats zwei Mitglieder der Bande in Paris verhaften. Sie sollen in jüngster Zeit Schmuckläden in Monaco, Frankreich, der Schweiz und Nordrhein-Westfalen überfallen haben. Doch die internationale Fahndungsbe-hörde Interpol schätzt, dass mindestens 200 Landsleute, überwiegend aus dem früheren Jugoslawien, den Pink Pan-thers angehören.

Internationale Klientel. Die Kund-schaft der nordrhein-westfälischen OK-Ermittler wird immer vielfältiger. Nur noch 255 beziehungsweise 33 Prozent der ermittelten Tatverdächtigen haben einen deutschen Pass. Davon kommt noch einmal ein Viertel aus Staaten der ehemaligen Sowjetunion. Ob Rot-lichtmilieu oder Junkieszene, Waffen-handel oder Schutzgelderpressung – „russischsprachige OK besitzt einen herausragenden Stellenwert“, stellt der Lagebericht 2007 des Düsseldor-fer LKA fest.

Italienische Gruppierungen ste-cken traditionell oft hinter organisier-ter Schwarzarbeit und Steuerhinterzie-hung, türkische Banden verlegen sich überwiegend auf Drogenhandel und Betrügereien. Russische OK ist nicht durch bestimmte Deliktfelder gekenn-zeichnet, sondern – so ein Ermittler – „fast ausnahmslos durch die Brutalität der Vorgehensweise ihrer Täter“.

Als gefährlichste und rücksichts-loseste Gruppe der Russen-Mafi a gel-ten derzeit die „Diebe im Gesetz“. Dienstag dieser Woche werden sie-ben ihrer Mitglieder wieder im Land-gericht Köln zusammenkommen, vor dessen 9. Großen Strafkammer ihnen Staatsanwalt Jens Martin Scherf eine Liste schwerer Vorwürfe macht: Bil-dung einer kriminellen Vereinigung, Raub, Schutzgelderpressung, schwere Verstöße gegen das Kriegswaffenkon-trollgesetz, Körperverletzung, Zigaret-tenschmugggel und Falschgeldhan-

TÖDLICHE RACHEDie Ermordung von sechs

Italienern, im August 2007

in Duisburg, war nach

Erkenntnissen der Polizei der

Höhepunkt einer jahrelangen

Fehde zwischen verfeindeten

kalabrischen Mafi afamilien

AUFGESTÖBERT 20 Monate lang jagten deutsche, italienische und niederländische

Polizisten Giovanni Strangio, den mutmaßlichen Haupttäter der Morde von Duisburg.

Im März wurde er in Amsterdam gefasst

26 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

Fotos: imago, Ag. Focus, M. Sasse/laif

del im Wert von mehreren Millionen Euro. Über das mutmaßlich grausamste Kriminellensyndikat Europas urteilt der Kriminologe Christian Pfeiffer: „Ver-glichen mit diesen Russen sind tür-kische Mafi osi fröhliche Machos.“

Zu dem Prozess, der als größtes An-ti-Mafi a-Verfahren der nordrhein-west-fälischen Rechtsgeschichte gilt, werden der Tschetschene Artsvik A. und sei-ne sechs Komplizen (darunter zwei mit deutschem Pass) per Polizeihubschrau-ber im Kölner Landgericht eingefl ogen – wie schon seit Wochen an vielen der insgesamt 66 Verhandlungstage. Alter-nativ begleiten mit Maschinenpistolen bewaffnete Spezialeinsatzkräfte (SEK) der NRW-Polizei die Russen. Sie fahren dann meist in gepanzerten Limousinen mit Blaulicht aus unterschiedlichen – und regelmäßig wechselnden – Haftan-stalten des Landes in die Domstadt.

Schleier des Schweigens. Seit den Gründerjahren der „Diebe“ in den Zeiten der Stalin’schen Gulags machen eine eiserne Disziplin, straffe Hierar-chie, blinder Gehorsam und strengste Verschwiegenheit die Gruppe nahe-zu unangreifbar. Doch erstmals glau-ben die NRW-Ermittler, den Kordon des Schweigens aufl ösen zu können. Mit einem Zeugenschutzprogramm brach-ten die Beamten einen der Angeklag-

ten dazu, gegen seine Mitbeschuldig-ten auszusagen. Jahrelang hatten sich die Behörden mit eingeschleusten V-Männern und der Überwachung von fast 100 Telefonanschlüssen an das In-nenleben der Gang herangerobbt. Im Januar 2008, bei einer Razzia in meh-reren Städten des Rheinlands und im Ruhrgebiet, wurden insgesamt zehn Bandenmitglieder gefasst.

Maßnahmen und Methoden. Doch auch die aufwendigsten Fahndungs-aktionen, mit denen die NRW-Beamten der Organisierten Kriminalität immer mal wieder einen Schlag versetzen, werden konterkariert, wenn zugleich die Städte an Rhein und Ruhr zum Einfallstor für völlig neue Delikte wer-den – oder bekannten Verbrechens-mustern zu unnötiger Konjunktur ver-helfen.

So warnt der Bundesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), Rainer Wendt, eindringlich: „Das Konjunkturpaket II der Bundes-regierung wird zum Zahltag der itali-enischen Mafi a.“ Deren Spezialgebiet ist laut Wendt unter anderem „die Er-schleichung öffentlicher Aufträge mit dem Ziel, Vorleistungen der Kommu-nen zu kassieren, ohne anschließend die eigene Leistung auch zu erbrin-gen“. Scharf kritisiert der Duisburger,

„dass die Grenze für freihändige Ver-gaben von Aufträgen ohne Ausschrei-bung auf 100 000 Euro heraufgesetzt wurde – mit dem blauäugigen Ziel, die Berliner Milliarden schnell in Umlauf zu bringen“.

Nach DPolG-Schätzungen könnten bis zu 20 Prozent der 2,84 Milliarden Euro, die das Konjunkturpaket des Bundes für NRW vorsieht, durch un-geprüfte Auftragsvergaben an unbe-kannte Firmen in Kanäle der itali-enischen Mafi a fl ießen. „An Weser, Rhein und Ruhr erst einmal versickert“, so Wendt, „taucht der Zaster irgend-wann auch wieder auf – aber an Tiber, Adda und Po – und keiner der Krimi-nellen hat eine aufgeplatzte Lippe.“

Dringend rät der Gewerkschafts-führer und erfahrene Polizist daher NRW-Innenminister Ingo Wolf (FDP), die „Einrichtung eines Mafi a-TÜV nicht voreilig auszublenden. Bei unbe-kannten Firmen, die öffentliche Auf-träge haben wollen, sollten wir erst im Polizeicomputer schauen, wer wirklich dahintersteckt“. Dazu benötige man aber „vernetzte Gewerbeämter, aktu-elle Dateien und Beamte, die die Ge-schäftstätigkeit von Scheinfi rmen vor Ort kontrollieren“. ■

THOMAS VAN ZÜTPHEN

FALSCHE SCHAM Von Menschenhändlern

zur Prostitution gezwungen, trauen sich nur

wenige Opfer, vor der Polizei auszusagen

MIESES GESCHÄFT Meistens organisieren

Ostblock-Banden die Belieferung der rund

100 000 Junkies im Ruhrgebiet mit Drogen

„Das Konjunkturpaket der Bundesregierung wird zum Zahltag der italienischen Mafi a“

Rainer Wendt, Bundesvorsitzender Deutsche Polizeigewerkschaft

28 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

Fotos: I. Höpping/WAZ

M E D I E N Die Kneipe an der WandWie WAZ-Chefredakteur Ulrich Reitz die Redaktionen des größten deutschen Regionalzeitungsverlags für die Zukunft fi t macht und das Revier erlebt

A ls der schwäbische BäckerjungeJürgen Klinsmann mit seinem VfB

aus Stuttgart auf dem Bökelberg in Mönchengladbach kickte, hatte der niederrheinische Lokalreporter Ulrich Reitz seine Heimatstadt schon längst verlassen. Der junge Journalist pub-lizierte zu der Zeit in Bonn für die Hauptstadtzeitung „Die Welt“. 1990, als Klinsmann in Rom mit Deutschland Fußball-Weltmeister wurde, interviewte Reitz Bundeskanzler Helmut Kohl. Da waren beide schon ganz oben.

Fast 20 Jahre später ist der ewige Sieger Klinsmann mit seinem „Projekt Bayern“ gescheitert und nach nur zehn Monaten vom Trainersessel gestürzt. Uli Reitz da-gegen sitzt seit vier Jahren fest im Chef-redakteurssattel. Der eine, 44 Jahre und beschäftigungslos, tröstet sich nun beim täglichen Jogging um den Chiemsee mit hohen Monatszahlungen; der andere, 48 Jahre alt, läuft auch – am Rhein in Düsseldorf-Kaiserswerth. Anschließend

muss er sich jedoch seine Gage hart er-arbeiten: beim größten deutschen Regi-onalzeitungsverlag WAZ, wo Reitz das „Projekt Content Desk“ gestartet hat. Statt in der Hauptstadt an der Seite der Kanzlerin eigene Wichtigkeit zu demons-trieren, sortiert er nun hinter dem Bahn-damm in Essen die mediale Landschaft im Ruhrgebiet. Dortmund, Bochum, Duis-burg heißen die Stationen. Und genau hier ist es im Moment besonders schwer, Jobs zu fi nden und Zeitungen zu verkau-fen. Opel, ThyssenKrupp, Arcandor und die WAZ selbst waren erste Krisenopfer. Noch weiß keiner, welches Unternehmen als nächstes nicht mehr alle Mitarbeiter bezahlen kann.

30 Millionen Euro soll der Essener Verlagsgigant in den vergangenen Monaten ausgegeben haben, um 300 von 900 Redaktionsstellen mit sanftem Druck und dicken Schecks loszuwer-den. Abfi ndung, Altersteilzeit, Aus-lagerung in andere Gesellschaften –

das ganze Register unternehmerischer Umschichtungen wurde gezogen. 30 Mil-lionen Euro pro Jahr muss der ersteJournalist bei den Regionalblättern ein-sparen. Eine Vorgabe der Verleger, die um ihre Rendite bangen.

Während in Essen und Dortmund Stel-len gestrichen und Gehaltszulagen ge-kürzt werden, streiten die verfeindeten WAZ-Eigentümerfamilien Holthoff und Grotkamp erbittert um die Verwendung von 409 Millionen Euro aus dem Ver-kauf eines RTL-Anteilpakets – wie am vergangenen Montag vor dem Ober-landesgericht Hamm. Die Prozesskosten sind hoch, ein Ende ist nicht absehbar. Man wird sich wohl erst einem Urteil des Karlsruher Bundesgerichtshofs beugen. Für solche Mätzchen reicht das Geld.

Ulrich Reitz lässt diese Ränke zurück im orange-braunen 70er-Jahre-Ambi-ente des verwinkelten WAZ-Verlags. Er ist mit seiner neuen Redaktion auf die andere Straßenseite gezogen, in eine

OVALER TISCH Er heißt Desk, soll die Kommunikation fördern und strahlt bisweilen enorme Stille aus. Chefredakteur Ulrich

29FOCUS 25/2009

helle Büroetage, die wabenförmig Ar-beitsplätze wie bei der AOK nach den Buchstaben A bis Z sortiert. In einer sol-chen gedämpften Atmosphäre wird der sparsame Journalismus erfunden.

Reitz-Vize Wilhelm Klümper, den der Chef gern „meinen Finanzminister“ nennt, fühlt sich richtig wohl zwischen Nadelfi lz und schallschluckender De-ckenverkleidung. „An nur einem Wo-chenende habe ich die Möbel ausge-sucht. Das ist doch klasse“, lobt er sich. Klümper verzieht das Gesicht zum kalt-verschmitzten Lächeln, wirft noch kurz ein, dass er kein Ur-WAZ-Mann sei, und blickt triumphierend über die tief auf der Nase hängende Brille. Innenarchi-tekten dürfte das Ergebnis des Kosten-killers kaum gefallen. Können hier Kre-ativität, Spontaneität und Exklusivität entstehen, wie sie Reitz wünscht? Die Redakteure murren nicht und starren auf ihren Bildschirm. Vermutlich sind sie froh, dabei sein zu können. Lust zum Kommunizieren ist nicht erkennbar.

Dafür fl immern am Nachrichtendesk auf Flatscreens halb fertige Seiten über die Köpfe der schweigenden Nachden-ker. Die Fernsehbildschirme darun-ter bleiben schwarz. Offenbar haben die Blattmacher keinen Sinn für CNN, Phoenix, n-tv oder N24. „Die sollten eigentlich laufen“, entschuldigt Reitz

diese Nachlässigkeit. Vielleicht wür-de die Dauerbeschallung mit Nachrich-ten auch stören. Es wirkt, als lebten die WAZ-Journalisten manchmal in ihrer ei-genen abgeschotteten Welt und würden sich ihre Geschichten basteln und das Geschehen draußen ignorieren.

Nun liefert also eine Redaktion Inhalte für drei Blätter – die Gelddruckmaschi-ne WAZ sowie die defi zitären Schwes-tern NRZ und „Westfälische Rundschau“.Leidet nun die mediale Vielfalt unter einer Einheitsschreibe? Das befürchtet Hannelore Kraft, SPD-Vorsitzende in Nordrhein-Westfalen. Die Mülheime-rin klagt über die Uniformität der jetzt preiswerter gefertigten Druckwerke aus dem Essener Verlagshaus. Bisher habe sie morgens NRZ und WAZ gelesen. „Nun brauche ich nur noch eine Zei-tung, zwei Drittel sind identisch.“

Der Erfi nder des Modells wiegelt ab: „Ich habe bisher nur drei Beschwer-den erhalten.“ Und er spreizt die Fin-ger seiner rechten Hand – „drei“. Reitz denkt positiv. „Wir haben das Chefre-dakteursprinzip, jeder kann sein eige-nes Blatt machen“, sagt er. Der Vorteil sei gigantisch, vor allem die kleineren Titel, also NRZ und WR, könnten nun den Anteil der Autorenstücke steigern. 85 Prozent eigene Beiträge hat er in den drei Blättern mit einer Gesamtauf-

Reitz (l.) und Desk-Chef Lutz Heuken (r.) steuern von hier aus 83 Redakteure für – zunächst – drei Blätter aus dem Essener WAZ-Konzern

DREI TITEL, EIN INHALT Die WAZ-

Gruppe spart Kosten und variiert oft

nur noch das Layout ihrer Blätter

30 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

lage von gut 700 000 Exemplaren ent-deckt. Vor dem Umschwung, als alle ihr eigenes Blatt machten, schrieben die Haus-Redakteure nur jeden zwei-ten Artikel selbst.

Der Ehrgeiz, besser zu sein als andere,

auch als die Mitbewerber aus dem ei-genen Haus, treibt den Chef-Blattma-cher an. Obwohl er für 80 Prozent des Hauptteils von NRZ und WR zuständig ist, will Reitz mit der WAZ jeden Tag die Schrumpfredaktionen dieser Traditions-blätter abhängen. Durch eine besonde-re Handschrift bei der Themensetzung und durch die Optik. NRZ und WR dür-fen zwei Regionalseiten selbst gestal-ten; in den Lokalteilen fi ndet man noch andere Nachrichten und Meinungen. „Wir können uns die unterschiedlichen Titel leisten“, sagt Reitz. Noch. Sollte das amerikanische Zeitungssterben mit der üblichen fünfjährigen Verzögerung Deutschland erreichen, wird das WAZ-Reich das Reitz’sche Redaktionsmodell wohl auch auf andere Konzernmedien ausweiten – in Braunschweig, Hagen oder Erfurt.

Der rheinische Konservative, Germa-nist und Politologe ist verliebt ins Ge-lingen, wie Bundesfi nanzminister Peer Steinbrück (SPD) es ausdrücken wür-de. Bei Reitz heißt es: „Wir wollen je-den Tag besser werden.“ Ein Satz wie von Klinsmann. Der hatte sogar einen Kleinbus voller Fitmacher nach Mün-chen mitgebracht und ließ die Profi s im Angesicht goldener Buddhas ihren Job machen. Reitz reichen drei Gefolgs-leute, fürs gute Klima sorgt ein Tisch-kicker. Irgendwie ist Fußball immer da-bei beim Blattmachen im Revier von Schalke und Dortmund.

Die ersten Wochen im neuen Zeitungs-

revier wirken wie Klinsis Versuchslabor bei Bayern München. Der Anspruch ist hoch, die Umsetzung schwächelt. „Ich bin ein Nachrichtenjunkie“, sagt der Chef. Nachts um halb zwei rufe er sich noch einmal per iPhone die letzten News ab. „Magazinig“ will der ehe-malige FOCUS-Kollege Reitz außerdem sein, also richtige Geschichten schrei-ben lassen. Zum Start des gemeinsamen Projekts hatte er sich Bundeskanzlerin Angela Merkel als Interviewpartnerin reserviert. Das Gespräch mit der CDU-Chefi n breite er gleich in zwei Ausga-ben aus. „Das sollte Zeichen setzen.“

Das Besondere, „die Relevanz“, ist Reitz’ Thema bei der WAZ. Warum er den famosen Beitrag „Kandidat in der

Klemme“ über den Abschwung des SPD-Kanzlerkandidaten Frank-Walter Steinmeier auf Seite 6 der WAZ ver-steckt, wird eine Seite vorher sichtbar. Da platziert der Chef ein Interview mit dem CDU-Europapolitiker Elmar Brok, das „sensationell“ sei. „Solche Fragen“, sagt Reitz, „hat man noch nie gestellt. Das ist die neue Schule.“ Einer der drei Autoren heißt Ulrich Reitz.

Exklusivität muss sein. So berichtet die WAZ, dass die amerikanische Sekte Scientology sich in NRW-Unternehmen breitmacht. Am gleichen Tag teilt die NRZ ihren Lesern an prominenter Stel-le mit, der taumelnde Arcandor-Kon-zern könne wohl keine Staatsmillionen erwarten. Eine Revier-Geschichte von Relevanz. NRZ und WAZ erscheinen in Essen, dort, wo die Karstadt-Mutter ihre Zentrale hat.

Das größte Ruhrgebietsblatt setzt an-dere Themen. Mal geht es um Airbags im Auto, dann um gefälschte Medika-mente oder um Nachwuchssorgen bei der Polizei. Die NRZ zeigt sich dagegen vielfach so, wie Reitz mit seinem Blatt sein will: „Nah am Menschen.“

Seine Bindung an die Region hat Reitz an die Wand seines Büros gehängt, ein Foto von Jakob Studnar. Eine Kneipen-szene aus Essen. Mit dauerwellenge-fönter Wirtin, schnauzbärtigem Gast und einem wuscheligen Vierbeiner. „Mein absolutes Lieblingsbild“, jubi-liert er. Der Rotweintrinker hat die scha-len Pilsgläser auf der Theke ausgeblen-det. Denn in Kneipen, wo der Journalist dem Volk auf Maul schauen könnte, ist Reitz nicht unterwegs. Lange muss er nachdenken, bevor er erklärt, wie viel Revier in Ulrich Reitz steckt? Dann glaubt er, die geniale Antwort gefun-den zu haben: „Mein Ruhrgebiet ist meine Redaktion.“

Revier pur könnte er etwa auf Schal-ke erleben. Doch Reitz spielt Tennis, in Düsseldorf. Beim Fußball in Gelsenkir-chen jubeln derweil seine Leser ManuelNeuer zu, der erstmals das National-trikot überstreifte. Dieses Ereignis wür-digt die WAZ am Tag danach in einem Nebensatz im Sportteil. Auf der Titel-seite gestikuliert indes der Kölner Trai-ner Christoph Daum. Darüber reden die Menschen abends in der Kneipe beim Bier. Kritik, die Reitz nicht erreicht, weil er nicht da ist. Auch Klinsmann lebte in seiner eigenen Welt. ■

KARL-HEINZ STEINKÜHLER

ENTSPANNUNG Nach dem

Blattmachen wird gekickert

„Ich habe große Lust, jeden Morgen in die Redaktion zu kommen; ich habe eine unglaublich gute Truppe“

Ulrich Reitz

WAZ-Chefredakteur (auf dem Bild

unten links – zusammen mit dem

Chef vom Dienst Thomas Kloß)

MEDIENRIESE IM REVIER

ı Zwischen Duisburg/Dortmund WAZ, NRZ und WR sind die Markt-

führer in ihren Regionen und drucken

jeden Tag von ihren Blättern mehr als

700 000 Exemplare.

ı Sonderfall WestfalenpostIm Sauerland vertraut der WAZ-Kon-

zern dem alten Modell Heimatzeitung.

31FOCUS 25/2009 Fotos: I. Höpping/WAZ (2), F1Online, dpa, Look

AUFSTEIGER Unter Intendant Anselm Weber

brachte es das Essener Schauspiel (Bild:

Grillo-Theater) zu überregionaler Bedeutung

UMZUG Intendant Weber, 45,

wechselt zur Spielzeit 2010/

2011 von Essen nach Bochum

TRADITION Das Bochumer Schauspiel-

haus ist mit gut 800 Plätzen doppelt

so groß wie das Grillo-Theater in Essen

K U L T U R

Essen vs. BochumMit dem Intendanten-Wechsel geht das Duell der beiden besten Theater im Revier 2010 in eine neue Runde

P resseerklärungen von Unterneh-men oder Organisationen beste-

hen meist aus vielen Sätzen, die nichts anderes machen, als Werbung in eige-ner Sache zu betreiben. Mit kraftvollen Worten werden Leistungen und Erfolge gefeiert, die Zukunft in rosigen Farben geschildert. In Erinnerungen bleiben deshalb vor allem die Verlautbarungen, die nicht diesem altbekannten Muster folgen. Zu diesen gehört sicherlich jene von Elmar Goerden, 46, aus dem Mai 2008. Vor gut einem Jahr verkünde-te der Intendant des Bochumer Schau-spielhauses den Rücktritt für das Jahr 2010, weil „meine Arbeit augenschein-lich der Reputation der Theaterstadt Bochum schadet“.

In den drei Spielzeiten zuvor hatte das Haus unter der Leitung von Goer-den zusehends an Reputation verlo-ren. Es fehlte an großen Aufführungen und wichtigen neuen Stücken, mit de-nen seine direkten Vorgänger (Lean-

der Haußmann, Matthias Hartmann) immer wieder sowohl bei Kritik als auch beim Publikum punkten konnten. Besonders ärgerlich: Andere Häuser – allen voran das nur knapp 20 Kilome-ter entfernte Schauspiel Essen – zogen an den Bochumern vorbei.

Doch im kommenden Jahr werden die Karten neu gemischt. Die beiden wichtigsten Theater im Ruhrgebiet be-kommen neue Intendanten. In Essen übernimmt Christian Tombeil das Ru-der – ein Mann, der selbst Insidern kaum bekannt ist. In Bochum hat Kul-turdezernent Michael Townsend hin-gegen Anselm Weber verpfl ichtet, den Mann, der Essen in den vergangenen Jahren zu überregionaler Anerkennung verholfen hat.

Vor allem im Haupthaus, dem Grillo-Theater, begeisterte Weber mit al-ten Klassikern in der Version junger Regisseure. Dem Applaus der Zuschau-er folgte das Lob der professionellen

Besucher: 2006 kürten die Kritiker das Schauspiel Essen erstmals zum „Bes-ten Theater in NRW“. Der langjährige Champion Bochum war überraschend geschlagen. Viel war daraufhin in den Ruhrgebiets-Medien von einem Sieg à la „David gegen Goliath“ zu lesen. 2007 verteidigte das Ensemble den Titel, im vergangenen Jahr wurde man hinter Köln Zweiter.

Dass Tombeil diesen Platz halten kann, bezweifeln viele. „Essen saust mit Vollgas in die zweite Liga“, titelte beispielsweise die Tageszeitung „Die Welt“ anlässlich seiner Berufung Ende April. Und dies bezog die Zeitung gar nicht mal so sehr auf die Kompetenz des 43-Jährigen, sondern viel mehr auf die leeren Kassen in der Kultur-hauptstadt Ruhr 2010. Davon ist das Schauspiel besonders stark betroffen. Mehrere hunderttausend Euro werden für die künstlerische Arbeit fehlen, protestierte Noch-Intendant Weber vor Kurzem. „Auf dem bisherigen Niveau kann die Arbeit nicht fortgeführt wer-den“, glaubt der Bald-Bochumer.

Im Zweikampf der Nachbarhäuser beginnt somit 2010 eine neue Runde. Und vieles spricht für einen erneuten Führungswechsel. ■

JOCHEN SCHUSTER

32 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

1

Fotos: blickwinkel, Courtesy: RTG/R. Lueger (2)

INS BILD GESETZT Leuchtinstallationen

verwandeln den Landschaftspark Duisburg-

Nord in ein nächtliches Wahrzeichen

T O U R I S M U S

Mit Porsche im JammertalDas „Revier“ – rund um Zechen, Schlote, Fördertürme und Stahlgießereien – hat sein Potenzial längst noch nicht ausgeschöpft

33FOCUS 25/2009

521

6 4

3

22

Bochum

Essen

Duisburg

Hamm

Dortmund

32

C arola Deinhart-Auferoth vom Ho-tel „An der Persil-Uhr“ im west-

fälischen Lünen weiß aus Erfahrung, dass „im Sommer bei uns eher Flau-te ist“. Dabei bietet ihr Haus – pitto-resk gelegen unweit des Flusses Lippe – „günstig und mit Charakter, maßge-schneiderte Zimmer für verschiedene Portemonnaies“. Zugegeben: Die ak-tuelle Werbebotschaft der 38-Zimmer-Herberge klingt nach den Laufl ern-schritten einer Branche – wie aus jener Zeit, als die „Tourismuswirtschaft“ noch „Fremdenverkehrsgewerbe“ hieß. Da-bei ist der Versuch eines neuen Mar-ketings mit dem Charme der 50er-Jah-re in gewisser Weise auch heute noch richtungsweisend. Gastronomie und Hotels, Ausfl ugsziele und Sehenswür-digkeiten haben es vielerorts im Ruhr-gebiet auch ein halbes Jahrhundert später noch nicht geschafft, sich von der goldenen Vergangenheit zu lö-sen: von der Ära des Wirtschaftswun-ders, das von dieser Region angetrie-ben wurde wie von keiner anderen in ganz Deutschland.

Der Weg ist das Ziel. Die neuen Rou-tenplaner des Fremdenverkehrs zwi-schen Lippe und Rhein, Emscher und Ruhr sitzen in Oberhausen und Düs-seldorf. So sieht Walter Jakobs, Touris-musbeauftragter im NRW-Wirtschafts-ministerium, „im Ruhrgebiet noch erhebliches touristisches Potenzial, das wir erschließen können“.

Immerhin: „Gemessen an den Ar-beitsplatzeffekten“, so Jakobs, „leben schon heute 50 000 Menschen zwischen Duisburg und Dortmund direkt oder

SONNENSEITEN Marinamarkt und vielfältige

Gastronomieangebote locken Einheimische wie

Besucher in den neuen Duisburger Innenhafen

LIPPETAL

Campingplatz Uentrop

ESSENBaldeneysee

LÜNEN

Hotel „An der Persil-Uhr“WALTROP HafenDUISBURG

Landschaftspark

DUISBURG Innenhafen

GRÜNANLAGEN DES REVIERS

SELTENE GELEGENHEIT Zeltstellplätze am Ufer der

Lippe, auf dem Campingplatz an der Autobahn A 2 mit

Blick aufs Kohlekraftwerk, sind auf Jahre ausgebucht

34 FOCUS 25/2009Fotos: H. Bayer/FOCUS-Magazin (2), Courtesy: RTG/R. Lueger

4 5

6

ÜBERIRDISCH Mit neuer Energie baggert die alte Bergbau-

region, wie hier am Baldeneysee, um Gästegenerationen,

die mit dem Begriff „unter Tage“ nichts anfangen können

MONACO IM RUHRGEBIET Zahlreiche Jachtclubs entlang

der vier – jeweils Hunderte Kilometer langen – Kanäle

der Region machen ihre Marinas, wie hier in Waltrop, zu

einem Mekka für Motorbootreisende

NEUORIENTIERUNG Das Hotel „An der Persil-Uhr“ im west-

fälischen Lünen hofft durch cleveres Marketing nicht nur

Touristen, sondern auch Geschäftsreisende anzusprechen

35FOCUS 25/2009

indirekt vom Tourismus – mehr als in der Stahlindustrie tätig sind.“

Das Deutsche Wirtschaftswissen-schaftliche Institut für Fremdenver-kehr (DWIF) der Universität München taxierte die Wirtschaftseffekte des Tou-rismus allein für die Stadt Dortmund für das Jahr 2007 auf 1,3 Milliarden Euro.

Breite Palette. Das Angebot der gut 35 000 Gästebetten im Revier ist weit gefächert. 28 Euro kostet das Einzel-zimmer im Kolpinghaus Bochum – ohne Frühstück, WC im Zimmer und Dusche auf dem Flur. Bis zu 200 Euro kann die Bleibe im Maritim Gelsenkirchen ko-sten – allerdings mit üppigem Büfett in den Morgenstunden.

Doch die jahrelang gestiegenen Über-nachtungszahlen der Region – 2008 wa-ren es rund sechs Millionen – klettern derzeit nicht weiter. „Unsere Gäste-zahlen sind ein Konjunkturbarometer, denn vor allem im Geschäftsreisever-kehr sind wir abhängig von der wirt-schaftlichen Grundstimmung“, erklärt Axel Biermann, Chef der Ruhr Touris-mus GmbH. So ließen Anfang des Jah-res Reservierungen aus Großbritannien und den USA, die von der Wirtschafts-krise besonders betroffen sind, spür-bar nach.

„Wie Messen für Geschäftsreisen-de“, so Biermann, „sind auch für Tou-risten fast immer Events der Anlass, ins Ruhrgebiet zu kommen.“ Betrach-tet der Manager in seinem Büro am CentrO Oberhausen die Peripherie der Branche, spürt er schon mal „leichte Neidanfl üge: Wettbewerber wie die Sächsische Schweiz oder der Baye-rische Wald wuchern vor allem mit ih-rer Natur – mit gottgegebenen Pfun-den quasi. Wir müssen, um zu punkten, ackern.“

Doch die Anstrengung, rund um die meist stillgelegten Zechen, Förder-türme und Gießereien den alten Ruhm mit neuem Glanz zu beleuchten, lohnt sich. Zwar hat das Ruhrgebiet „mit sei-ner Industriekultur ein Alleinstellungs-merkmal“ (Biermann). Aber hier und da hat ein zusätzliches Elixier den un-vermeidlichen Strukturwandel so man-chen Stadtviertels abgefedert.

Allein das Musical „Starlight Ex-press“ lockte in gut 20 Jahren mehr als 13 Millionen Besucher nach Bochum und avancierte zum touristischen Mag-neten der „Stadt aus Stahl“. Ähnliches gilt für hochkarätige Ausstellungen im Oberhausener Industriedenkmal Gaso-

meter (Astronomieausstellung „Stern-stunden“ noch bis Januar 2010), die dreijährige Festivalreihe Ruhrtriennale – und erst recht für das Großereignis in Essen, das „Kulturhauptstadt Europas 2010“ in der „Metropole Ruhr“ wird.

Einer Studie der Unternehmensbe-ratung Arthur D. Little zufolge kön-nen die Investitionen der Region, des Bundes und der Sponsoren von gut 300 Millionen Euro zu Mehreinnahmen in fünffacher Höhe führen. Doch mehr als um die Einmalerlöse eines kurzfristigen Tourismusbooms geht es dem Ruhr-gebiet um langlebige Imageeffekte.

Auf der diesjährigen Tourismusmes-se ITB in Berlin präsentierte sich das

Ruhrgebiet als Partnerregion und wur-de dank seiner überraschenden Vielfalt an Angeboten zum „Glücksgriff“ der Veranstaltung, jubelte die FAZ. „Doch das Prestigeproblem der Region hält sich seit Jahrzehnten hartnäckig“, bi-lanzierte einer der Besucher auf dem Messestand – und konnte es auch kon-kret benennen: „Schlote, Schächte und Schimansky – mit jeder Menge Fußball, Bier und Tauben auf dem Dach.“

Die Tourismusmanager des Ruhrge-biets träumen zwar davon, auf vor-dersten Seiten der Reiseteile zu er-scheinen. Doch die Konkurrenz scheint einfach zu groß. Einer der Gründe: Zu lange traten Ruhr-Kommunen als Ein-zelkämpfer gegen Regionen an, die das Versprechen garantierter Erholung schon im Namen zu führen scheinen: Namen wie Travemünde, Tegernsee und Traben-Trarbach klingen einfach anders als Castrop-Rauxel, Oer-Erken-schwick und Wanne-Eickel. Daran ver-mag bislang auch das dichteste Rad-

wander-Wegenetz Deutschlands nichts zu ändern. Ebenso wenig wie die Klet-terparks, exzellente Reit-, Golf- und Wassersportmöglichkeiten oder die Ma-rinas der zahlreichen Jachtclubs ent-lang des Rhein-Herne-Kanals. Daher planen die Tourismus-Profi s nun eine Bündelung der Kräfte für das gemein-same Ziel Ruhrgebiet-Marketing. Axel Biermann: „Erstmals hat die Ruhr Tou-rismus GmbH jetzt langfristige Koope-rationen mit großen Reiseveranstaltern geschlossen, die die Metropole Ruhr zukünftig als Ganzes präsentieren.“

Zur neuen Schlacht ums Image ruft auch die nordrhein-westfälische Lan-desregierung auf. Sie bringt in diesen Wochen einen zweiten – mit 50 Milli-onen Euro geförderten – „Ideenwett-bewerb Tourismus“ auf den Weg. Die „Inszenierung des Ruhrtal-Radweges“ etwa ist ein Beispiel des letztjährigen Wettbewerbs „für Infrastrukturprojekte, Marketingideen und innovative Touris-mus-Produkte“, die Wirtschaftsministe-rin Christa Thoben (CDU) „mit Blick auf neue Wertschöpfungs- und Beschäf-tigungschancen im Fremdenverkehr für herausragend wichtig hält“. Dies gel-te besonders, betont die umtriebige Mi-nisterin, „in Zeiten schrumpfender Rei-sebudgets“.

Kohle hin oder her. Dass sich im Ruhr-gebiet die „Leistungserbringer des Gastgewerbes“ mit Hindernissen zu arrangieren wissen, zeigt ein Beispiel im schönen Landkreis Recklinghausen. Am Rande eines kleinen, längst trocken gelegten Flüsschens mit Namen Jam-mer residiert eine Herberge, die seit Generationen „Jammertal“ heißt. Den im Hinblick auf Urlaubsverheißungen eher suboptimal gewählten Namen gleicht das Management des 5-Sterne-Hauses mit einer Attraktion aus, die vergleichbare Herbergen unter klang-volleren Adressen nicht bieten können. Für Gäste, die mindestens fünf Tage bleiben, steht ein Porsche Cabrio bereit – um dem „Jammertal“ für eine Spritz-tour entfl iehen zu können.

Charmante kleine Fluchthelfer hat auch Carola Deinhart-Auferoth in Lü-nen zu bieten. An der Bar ihres Ho-tels fl ießt – einmalig in Deutschland – frisch gezapftes „Persil-Uhr“-Pils. Sol-che Ideen machen deutlich: Reisende soll man aufhalten – im Ruhrgebiet al-lemal. ■

THOMAS VAN ZÜTPHEN

„Im Ruhrgebiet liegt noch erhebliches touristisches Potenzial, das wir erschließen können“

Walter Jakobs

NRW-Wir tschaftsministerium

36 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

Fotos: Courtesy: red dot (2), Museo Salvatore Ferragamo Florenz, LKA NRW, Deutsches Sport&Olympia Museum Köln, Münzkabinett/Staatliche Museen zu Berlin/L.-J.Lübke

M U S E E N Die Wahrheit über VarusSpektakuläre Ausstellungen werfen neue Blicke auf historische Wurzeln und die aktuelle Kreativität einer alten Kulturlandschaft

R ot gemauerte, würfelförmige Bau-körper bilden links und rechts ein

Spalier – in der Mitte führt ein Ziegel-weg auf eine im Bauhausstil errichte-te Halle zu. Im Inneren des von roten Stahlstreben eingerahmten Gebäudes aus den dreißiger Jahren hängt eine Autokarosserie aus Aluminium von der Decke – umgeben von fünf stillgelegten rostigen Kesseln. Im früheren Kessel-haus der Zeche Zollverein in Essen pral-len die untergegangene Industriekul-tur des Reviers und modernes Design kontrastreich aufeinander. Anspruchs-voll gestaltete Haushaltsgeräte, Möbel

und Fahrzeuge stehen zwischen ros-tigen Rohren, die ein halbes Jahrhun-dert lang heißen Dampf in das Berg-werk bliesen. Die vierstöckige Halle, die Stararchitekt Lord Norman Foster 1997 neu gestaltete, bildet eine spekta-kuläre Kulisse für zeitgenössische Pro-duktformen, erläutert der Leiter des red dot design museum, Peter Zec.

„Früher haben hier nur drei Mann pro Schicht gearbeitet, heute kommen 140 000 Besucher jährlich in diese Räu-me“, sagt der Manager und Hochschul-lehrer für Wirtschaftskommunikation. „Nach dem Ende der Zeche sind hier

zwar die Schornsteine erloschen – da-für hält die Kreativität Einzug.“

Und der Kommerz dazu. Der grund-legende Wandel der Region zeigt sich auch hier: Anders als der hochsubventi-onierte Steinkohlenabbau rechnet sich das Museum. Grund ist der begehrte rote Punkt, den eine Jury jährlich für hervorragendes Design verleiht und für den die Preisträger zahlen. Rund zwölf Prozent der mehr als 11 000 Ein-reichungen erhalten das farbige Güte-siegel. Darunter fi nden sich edle Dunst-abzugshauben, Weinkühlschränke und Wellness-Badewannen ebenso wie eine

BAUHAUS-STIL Die 30er-Jahre-Architektur lockt 140 000 Besucher jährlich HÄNGEPARTIE Leichte Alukarosse baumelt in der Schürhalle

Das 1997 von Lord Norman Foster umgebaute

frühere Kesselhaus der stillgelegten Zeche

Zollverein in Essen beherbergt heute das

red dot design museum

KLASSISCH-MODERNE KULISSE

37FOCUS 25/2009

PHANTOMBILD So soll

Feldherr Varus ausge-

sehen haben, glauben

Kriminalexperten

HOCHMODERN Plateau-

schuh des Italieners

Salvatore Ferragamo aus

den 30er-Jahren

KLINSMANNS STOLLEN Diese Fußballschuhe trug

der Ex-Nationalstürmer

zur WM 1998

15 000 Legionäre fi elen in der Varus-

Schlacht, 9 n. Chr., an die Ausstellungen

in Haltern („Imperium“), Detmold („My-

thos“), Kalkriese („Konfl ikt“) erinnern

Etwa 400 archäologisch interessante,

kreative und historische Schuhpaare

können Besucher in Herne sehen und

teils auch anprobieren

URBILD

Dieser Varus-Kopf ziert

eine Münze aus Achulla

im heutigen Tunesien

ROMS GERMANEN-GAU BERÜHMTES SCHUHWERK

schlichte Baby-Bauchtrage. Der Haupt-preis 2009, der red dot: design team of the year geht am 29. Juni an den Tup-perware-Konzern, der mit Frischhalte-boxen aus Kunststoff ein Milliarden-Dollar-Imperium errichtet hat. „Die se funktionalen Produkte zeigen, dass gutes Design kein Privileg und damit nicht automatisch teuer sein muss“, sagt Zec. Vom 30. Juni an sind die Preis-träger des Jahrgangs zu sehen.

Weiter in die Vergangenheit zurück blicken die Historiker in diesen Mona-ten. Vor 2000 Jahren ereignete sich öst-lich des Rheins eine legendäre militä-rische Auseinandersetzung, die einst als nationale Geburtsstunde der Deutschen gefeiert wurde: Die Varus-Schlacht zwi-schen Germanen und Römern. „Wo ge-

scheiterter Feldherr in die Geschichts-bücher eingegangen. Zu Unrecht, ur-teilt der Museumsleiter – und hat seiner Zeit und seinem Leben eine Ausstel-lung gewidmet („Imperium“ bis 11. Ok- tober in der Seestadthalle).

Erotische Öllampen. Überraschender-weise klammert die Schau die Schlacht aus. Diese steht im Mittelpunkt der Ausstellung „Konfl ikt“ im niedersäch-sischen Kalkriese (bis 25. Oktober). In Haltern dominiert römische Kultur. Rund 300 Marmorstatuen, Architek-tur- und Freskenfragmente, Alltags-gegenstände, Münzen und Waffen hat das Team zusammengetragen – darun-ter Öllampen mit erotischen Motiven, gläserne Trinkbecher, Pfeilspitzen und eiserne Zeltheringe der Soldaten. Die

stieg er bis zum Konsul auf, bekleidete prestigeträchtige Statthalterposten in den Provinzen Afrika und Syrien. Dort unterstanden ihm vier Legionen, die er zur Zeit von Christi Geburt für blutige Strafaktionen gegen Aufständische in Judäa einsetzte. Grausiges Zeugnis für die Massenkreuzigung von 2000 Ju-den legt ein durchnageltes Fersenbein ab. „Aus Sicht der Zeitgenossen galt so eine Aktion als ganz normale Politik“, erläutert der Museumschef.

Der Kaiserhof förderte Varus auch durch eine Eheverbindung mit einer Großnichte des Augustus. „Er führte ein bewegtes Leben, war weit gereist und politisch bestens vernetzt“, sagt Aßkamp. „Wer nur die Niederlage ge-gen Arminius im Blick hat, verpasst all

nau dieses antike Massensterben sich ereignete, ist nicht bekannt“, sagt Ru-dolf Aßkamp, Leiter des LWL Römer-museums in Haltern am See. Gut er-forscht sind fünf römische Militärlager entlang der Lippe in der Regierungs-zeit des Kaisers Augustus. Die größ-te rechtsrheinische Befestigung stand in Haltern und bot Platz für die etwa 5000 Mann starke 19. Legion. Sie un-terstand dem Spitzenpolitiker Publius Quinctilius „Varus“, dessen Spitzname „der Krummbeinige“ bedeutet, so der Archäologe. Dieser Aristokrat aus dem engsten Umfeld des Kaisers ist als ge-

Leihgaben vor allem aus Rom und dem Vatikan sowie aus Frankreich, Spanien und Israel geben Einblicke in das Le-ben zur Zeit des Augustus. Zu den raren Zeugnissen der Epoche zählen drei von insgesamt 16 überlieferten Münzen, die das Profi l des Varus zeigen. „Das Lan-deskriminalamt hat daraus ein Phan-tombild erstellt“, erläutert Aßkamp. „Auch auf diese Weise wollen wir uns seiner Person nähern.“

Grundmuster der Ausstellung bildet die senatorische Karriere des Varus, der als junger Mann den Kaiser auf einer Reise nach Persien begleitete. Später

die Einblicke in die römische Gesell-schaft, die sein Leben gewährt.“

Historische Alltagskultur zeigt auch die Ausstellung „Schuhtick“ im Muse-um für Archäologie in Herne. Dort sind noch bis 7. Juli Exponate aus allen Epo-chen zu sehen: von einer 5000 Jahre al-ten Lindenbastsandale vom Bodensee über spätrömische Lederriemenschuhe bis hin zu den roten Kardinalsschu-hen von Clemens August Graf Galen und den Wimbledon-Siegertretern von Boris Becker aus dem Jahr 1986. ■

MATTHIAS KIETZMANN

38 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

F O R S C H U N G

Zukunft wohnt in DuisburgIm inHaus-Zentrum vernetzten Fraunhofer-Institute neue Techniken für das Wohnen und Arbeiten von morgen

Intelligente MatratzeSensoren in den Schlafunterlagen

senden ständig Vitaldaten der

Bewohner an eine Plattform, die

bei Auffälligkeiten im Datenverlauf

schnelle Hilfe veranlasst.

Concierge-PortalKlingelt es an der Haustür, erscheint das Bild der

Hausvideoanlage auf dem TV-Bildschirm – egal, ob

dieser schon eingeschaltet war oder nicht. Für die

Bequemlichkeit der Bewohner funktionieren Fernseher

und Computer als Wechselsprechanlage und Türöffner.

EnergiemanagementDie Plattform prüft,

ob Geräte im Stand-by-

Modus laufen müssen –

und startet die Wasch-

maschine abhängig vom

aktuellen Strompreis.

VitaluhrÄhnlich wie eine Pulsuhr messen

Armbänder mit Sensoren die Vitaldaten

der Bewohner – etwa beim Sauna-

besuch – und senden sie einem Kontroll-

server. Das Ziel: Kranke und und ältere

Menschen sollen länger unabhängig in

den eigenen vier Wänden leben können.

Wenn etwas besonders sperrig und nach Bürokratie klingt, steht es bei

Bürgern schnell im Verdacht, von der EU zu kommen – und sie belästigen zu wollen. Das geht Viktor Grinewitschus grundsätzlich auch so, doch bei der Energieeffi zienzrichtlinie 2006/32/EGmacht der Duisburger gern eine Aus-nahme: „Das ist eine Steilvorlage der Europäischen Union für 40 Millio-nen private Haushalte in Deutschland, auf leichte Weise viel Geld zu spa-ren.“ Der promovierte Elektrotechni-ker fi rmiert als Head of Innovation im europaweit einmaligen Laborprojekt inHaus. Auf dem Campus der Univer-sität Duisburg testen neun Institute der Fraunhofer-Gesellschaft mit 80 In-dustriepartnern intelligente, vernetzte Techniken, um in zwei Musterhäu-sern neue Konzepte für das Leben und Arbeiten der Zukunft zu entwickeln.

Eine Stoßrichtung der Forscher ist „die Entwicklung von Verfahren zur Senkung des verhaltensabhängigen Energieverbrauchs“. Keine Sorge – der Fachmann für Mikroelektronik kann sich auch deutlich ausdrücken. „Im Klartext“, so Grinewitschus, „geht es darum, Häuser robust zu machen ge-gen den Blödsinn, den Menschen in der Regel nun mal tun.“ Dazu gehört zum Beispiel, Strom fressende Haus- und Bürogeräte im Stand-by-Modus laufen-zulassen, statt sie abzuschalten. Oder Räume zu beleuchten, obwohl sie

39FOCUS 25/2009

Recreation-CenterSchnelle Farb- und Akustikwechsel verändern Raumumgebungen,

um das Wohlbefi nden und die Effi zienz von Büroarbeitern zu steigern.

Hotels speichern die Wunschdaten für ihre Stammgäste. In Raum-

und Arbeitskonzepten werden die Effekte von audiovisuellen Reizen,

Sauerstoffduschen und Klimainseln auf kreative Köpfe getestet.

Multimediale ProjektionsfensterFenster oder Spiegel – etwa in

Hotelzimmern – lassen sich wahlwei-

se transparent einstellen oder eintrü-

ben und werden zur Projektionsfl äche

für Computerscreens, ein virtuelles

Golfspiel oder für 3-D-Hologramme

aus Telekonferenzen.

Ambient Assisted LivingDie Nutzung der unsichtbar in Wände und Böden einge-

fügten RFID-Chips ist vielfältig: Sie steuern über Druck-

und Feuchtigkeitssensoren das Raumklima, kommunizie-

ren mit der Geothermikanlage im Keller, reagieren aber

auch auf Bewegung – im Notfall auch auf Stürze – eines

Bewohners und alarmieren Rettungsdienste. Sie können

auch als Orientierungsmarken für Roboter dienen.

Shared Desk/virtueller KonferenzraumIm Büro der Zukunft erkennen Schreibtische, wer an ih-

nen Platz nimmt, stellen Licht, Tischhöhe und Bildschirm-

neigung des PC automatisch ein. Der Vorteil: Mitarbeiter

verlieren keine Zeit, wenn sie an wechselnden Plätzen

arbeiten. Mail-Anhänge, Bilder und Dateien werden vom

Blackberry auf moderne Plasmabildschirme geleitet.

Intelligente HausgeräteWaschmaschinen und andere Haushaltsgeräte haben Sprachfunk-

tionen, die besonders sehbehinderten Menschen den Gebrauch

vereinfachen. Bei Bedarf werden die Geräte über Netze vom Herstel-

ler ferngewartet. Ein Herd schaltet sich aus, wenn die Speisen

gar sind, und Medizinschränke erinnern Bewohner mit einer Memory-

Funktion daran, wann sie ihre Medikamente nehmen müssen.

Grafi k: T-Systems

PRAXISLABOR

Das Fraunhofer-Institut

testet Wohn- und Arbeits-

bedingungen der Zukunft

40 FOCUS 25/2009 Im FinanzVerbund der Volksbanken Raiffeisenbanken

Coppenrath & Wiese steht schon lange für allerbeste Tiefkühlbackwaren und ist Markt-führer in Deutschland und Europa. Auch inden USA ist der Tiefkühlspezialist inzwischenbestens vertreten. Die WGZ BANK begleitetdas Familienunternehmen seit mehr als 25 Jahren mit feinabgestimmten Bankpro-dukten, zum Beispiel mit Investitionskrediten

und flexiblem Devisenmanagement. „Wachstum braucht leistungsstarke Bank-partner“, weiß Andreas Pache, Sprecher der Geschäftsführung der Conditorei Coppenrath & Wiese und betont: „Wir schätzen besonders den sehr zuverlässi-gen und partnerschaftlichen Charakter dieser langjährigen Bankverbindung.“

Die WGZ BANK ist als Zentralbank der Volksbanken und Raiffeisenbanken seit vielen Jahrzehnten leistungsstarke Mittel-standsbank. Sprechen Sie mit uns! Oder mitder Volksbank/Raiffeisenbank in Ihrer Nähe.

Wir freuen uns auf Ihren Anruf 0211/778-2112

Andreas Pache, Sprecher der Geschäftsführung

NORDRHEIN-WESTFALEN

Foto: R. Levc/Topas Fotostudio

ausreichend hell sind. Oder: kostenloser Sonnenwärme die kalte Schulter zeigen und sie ungenutzt gegen Abend wie-der – aus Böden und Wänden – abzie-hen lassen. Dumm ist es in den Augen der Forscher auch, den Kessel Buntes nachmittags um drei Uhr durch die Waschmaschine zu jagen, statt um drei Uhr morgens. Hintergrund: Die Strom-preise der Anbieters können mehrmals am Tag wechseln – mit dem Ergebnis, dass beispielsweise Geschirrspüler mit-ten in der Nacht billigeren Strom ver-brauchen als tagsüber.

Licht aus, Fenster auf, Heizung runter.

„Wir entwickeln Assistenzsysteme, die die Bau-, Betriebs- und Energiekos-ten von Immobilien senken. So kön-nen entsprechende Steuerungsfunkti-onen an das Gebäude abgegeben und Menschen von diesen Aufgaben befreit werden“, beschreibt Grinewitschus das größte Projektfeld des Innovations-zentrums.

Dass die EU mit einer Frist zur Um-setzung bis 2010 nahezu ganz Euro-pa auf Energiediät setzt, kommt den Verbrauchern offenbar sehr entgegen. Nach einer Forsa-Studie, die der Mess-dienstleisters ista in Auftrag gegeben hat, kennen zwar drei von vier Deut-schen ihre Heizkosten nicht. Zugleich wünschen sich die meisten Bürger aber eine regelmäßigere Information da rüber, wie viel Energie ihre Häuser verbrauchen.

In überraschend unbürokratischer Diktion schreibt die EU ihren Mitglieds-staaten vor, bei Stromanbietern und -versorgern sicherzustellen, dass die „vorgenommene Abrechnung den tat-sächlichen Energieverbrauch auf klare und verständliche Weise wiedergibt“. Und das Beste ist laut Grinewitschus, „dass die Abrechnungen so häufi g durchgeführt werden müssen, dass die Kunden in der Lage sind, ihren Ener-gieverbrauch zu steuern“.

Unter diesen Voraussetzungen er-mittelt die Deutsche Energie-Agentur (dena) ein Einsparpotenzial von 75 Pro-zent nur bei Strom und hat die Schau-plätze mit dem größten Potenzial für den schlanken Energie-Auftritt längst ausgespäht. Es sind die Büros von Un-ternehmen und Behörden, bei denen die Chancen, an den Energiekosten zu sparen, noch nicht annähernd ausge-schöpft sind.

Doch im Wohnkomplex inHaus1 und in der Gewerbeimmobile inHaus2 geht

es um mehr als Lösungen für das Ener-giemanagement für Haus- und Ge-bäudetechnik. Mit 27 Millionen Euro fördern die EU, der Bund, das Land NRW und die Industriepartner das For-schungsprojekt im Ruhrgebiet auch deshalb, um herauszufi nden, wie Ge-bäude und Einrichtungen den Wün-schen und Bedürfnissen ihrer Nutzer angepasst werden können.

Ob alt oder krank, jung und mobil, ob am Arbeitsplatz oder zu Hause – die Lösungen, an denen Industriepartner wie der Baukonzern Hochtief, der IT-Dienstleister T-Systems oder die Ho-telgruppe Lindner, aber auch ein Pfl e-geheimbetreiber, ein Saunabauer oder ein Spezialist für Lichtwellenleiter zu-sammenarbeiten, sollen in den Anwen-dungsbereichen Offi ce, Health & Care sowie Hotel die Lebens- und Arbeits-bedingungen verbessern.

Die Vielfalt der Partner, die Duis-burg zu einem Wohnort der Zukunft

und zur ersten Adresse für die Ent-wicklung kleiner elektronischer Helfer macht, hat einen Grund. „Nirgendwo auf dem Kontinent wird das Potenzial so vieler wissenschaftlicher Institute und Unternehmen so gebündelt wie hier“, beschreibt Klaus Scherer, Gesamtlei-ter des inHaus-Zentrums die „Vorzüge europaweit einzigartiger Arbeitsbedin-gungen für alle Beteiligten“.

Gemeinsames Ziel. Die neuen Tech-niken und Produkte sollen Marktchan-cen für Unternehmen austesten, zu-gleich aber potenziellen Käufern und Anwendern handfesten Nutzen brin-gen. So arbeiten die inHaus-Forscher mit Hotelzimmerfenstern, die sich in Pro-jektionsfl ächen für Videokonferenzen verwandeln und mit Haushaltsgerä-ten, die bei Bedarf nicht von Monteu-ren, sondern vom Hersteller ferngewar-tet werden. Ferner gibt es Büros, deren Schreibtische erkennen, welcher Mitar-beiter an ihnen Platz nimmt.

Mit von der Partie ist auch die Trans-pondertechnologie Radio Frequency Identifi cation (RFID), die das Raum-klima steuert, beim Sturz – etwa eines älteren Bewohners – gegebenenfalls schnelle Hilfe initiiert oder Robotern als Orientierungsmarke dient. In Duis burg ist alles eine Frage von Daten, Netzen und Rechenprozessen.

Das Fundament ist Informations- und Kommunikationstechnik (ICT). So wur-den RFID-Chips bereits im selbstver-dichtenden Beton der beiden inHäu-ser verarbeitet, deren Transponder mit Temperatur- und Feuchtigkeitssen-soren die Aushärtung der Baustoffe kontrollieren. Um ICT handelt es sich auch, wenn die Innovationswerkstatt des Ruhrgebiets untersucht, wie schnel-le Farb- und Akustikwechsel Raumum-gebungen so verändern, dass sich Büro-arbeiter und Hotelgäste wohler fühlen. So entwickelt eins der Labors als eine Art Recreation-Center neue Raumkon-zepte, in denen die Effekte audiovi-sueller und Geruchsreize auf die Kre-ativ- und Entspannungsprozesse von Büroarbeitern untersucht werden.

Chill-out und Output unter einem Dach? Für den inHaus-Chef Klaus Scherer „ist das genau die Richtung, die Leben und Arbeiten auf unserem Weg von der Industrie- zur Wissensgesellschaft der Zukunft nehmen werden“. Und Duis-burg ist schon da. ■

THOMAS VAN ZÜTPHEN

„Es geht darum, Häuser robust zu machen gegen den Blödsinn, den Menschen nun mal tun“

Viktor Grinewitschus

Fraunhofer-Institut IMS

Im FinanzVerbund der Volksbanken Raiffeisenbanken

INITIATIVE MITTELSTAND

Coppenrath & Wiese steht schon lange für allerbeste Tiefkühlbackwaren und ist Markt-führer in Deutschland und Europa. Auch inden USA ist der Tiefkühlspezialist inzwischenbestens vertreten. Die WGZ BANK begleitetdas Familienunternehmen seit mehr als 25 Jahren mit feinabgestimmten Bankpro-dukten, zum Beispiel mit Investitionskrediten

und flexiblem Devisenmanagement. „Wachstum braucht leistungsstarke Bank-partner“, weiß Andreas Pache, Sprecher der Geschäftsführung der Conditorei Coppenrath & Wiese und betont: „Wir schätzen besonders den sehr zuverlässi-gen und partnerschaftlichen Charakter dieser langjährigen Bankverbindung.“

Die WGZ BANK ist als Zentralbank der Volksbanken und Raiffeisenbanken seit vielen Jahrzehnten leistungsstarke Mittel-standsbank. Sprechen Sie mit uns! Oder mitder Volksbank/Raiffeisenbank in Ihrer Nähe.

Wir freuen uns auf Ihren Anruf 0211/778-2112

„Auf unsere Qualität können Sie setzen. Und ich setze auf die WGZ BANK.“

Andreas Pache, Sprecher der Geschäftsführung

42 FOCUS 25/2009

NORDRHEIN-WESTFALEN

Foto: U. Weber

G A S T R O N O M I E

Drei Sterne am GrillDer prämierte Koch Raimund Ostendorp brät nun in Bochum-Wattenscheid Currywurst und panierte Schnitzel

N orbert Lammert, der Bundestags-präsident, war schon da. Komiker

Oliver Pocher auch. So wie Tausende andere Menschen pilgerten sie nach Wattenscheid – aus Dortmund und Düs-seldorf, Berlin und München. Nur um eines zu tun: Currywurst zu essen, mit Pommes frites und einem Klecks Ma-yonnaise, garniert mit einem Zweig Blattpetersilie. Der Klassiker also im Ruhrgebiet. Doch warum ausgerechnet hier? Currywurst-Pommes gibt’s doch an jeder Straßenecke im Revier.

Also auf nach Bochum, 50 Kilometer fahren, um die angeblich einzig wahre

Currywurst zu kosten. Dabei brät man doch im szenigen Düsseldorfer Medien-hafen das gerötete Fleischgedärm äu-ßerst lecker und garniert es mit Soßen nach Rezepten eines gewissen Mon-sieur Robert. Die meisten Gäste reisen von weither zum Wurst-Treff an den Rhein – auch aus dem Ruhrgebiet. We-gen Robert und wegen des Kults. Denn Revier-Wurst gibt es jeden Tag.

„Profi -Grill“ steht mit schwarzer Schrift auf grau-weißem Milchglas über dem Eingang dieser Frittenbude an der tris-ten Bochumer Straße auf Höhe des Hauses 96. „Immer lecker . . .“ soll es

auch noch sein. So wie eigentlich an fast jeder Haltestelle im Herzen des Pütt, wo das in Darm gepresste, zermalmte Schweinefl eisch schwarz-braun gebra-ten und anschließend in roter Sauce er-tränkt wird. Diese Spezialität nennt sich dann Currywurst und gilt als Schwarz-brot des Reviers.

Nun also Bochum, wo diese Wurst richtig berühmt ist. Schließlich hat Herbert Grönemeyer die Krummgebo-gene seiner Heimatstadt hymnisch be-sungen: „Gehse inne Stadt, wat macht dich da satt? Ne Currywurst.“ Der Barde meinte freilich die „Echte von Dönning-haus“, dem Premium-Fleischer – oder Schlachter, wie man hier sagt.

Schreckt es da nicht, wenn Bochums neuer Kult-Bräter ein Düsseldorf-Import und prämierter Koch ist? Wohl nicht. Einst verwöhnte Raimund Ostendorp Manager im vornehmen Kaiserswerth als Demi-Chef beim 3-Sterne-Star Jean-Claude Bourgeuil im „Schiffchen“ mit feinen Filets. Nun beglückt er eine wachsende Fan-Gemeinde mit ein-facher Malocher-Küche.

Der 41-Jährige reduziert seine Koch-

künste, jetzt rührt er scharfe Tomaten-soßen und mischt Salate. Die Schnit-zel werden in der Pfanne gebraten, die handgeformten Frikadellen gelten als einmalig. Und nirgendwo sind die Pommes so knusprig wie in der Watten-scheider Würstchenbude um die Ecke.

Grillmeister Ostendorp lehnt sich zu-rück, er verdient gut. Bis auf die Stra-ße stehen die Hungrigen jeden Mittag Schlange. Er selbst genießt die Pro-minenz und den Zulauf – hinter der Theke schaffen derweil fl inke junge Frauen mit osteuropäischem Zungen-schlag. Fehlt nur noch, dass der Chef seine Frittenbude gelegentlich vom üb-lichen Revier-Schmier befreit, der sich auf Wände und Möbel gelegt hat. Dann wäre der Kultimbiss sogar chic. ■

KARL-HEINZ STEINKÜHLER

EINMAL CHEF SEIN

ı Geschäftsidee PommesbudeMit dem Glanz des Edelrestaurants zog

Raimund Ostendorp den „Profi -Grill“ auf.

ı Currywurst-Pommes statt feiner FiletsAuch in Bochum schätzt man gute Köche,

vor allem, wenn sie Currywurst können

SPEZIALITÄT Raimund Ostendorp brät die panierten Schnitzel noch in der Pfanne

wdr

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