Das Sehen Neu Lernen

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1 „Das Sehen neu lernen“ Peter Greenaways Ausstellung „Stairs. The Location“ Abgegeben von Marie Hoppe Universität Wien Institut für Theater-, Film-, und Medienwissenschaften 170254 SE Forschungsseminar zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft - Öffentlicher Raum als theatraler Raum Ao. Univ. Prof. Dr. Brigitte Marschall WS 07/08 Salzburg, am 29.06. 2008

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Seminararbeit über Peter Greenaway

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„Das Sehen neu lernen“

Peter Greenaways Ausstellung „Stairs. The Location“

Abgegeben von

Marie Hoppe

Universität Wien

Institut für Theater-, Film-, und Medienwissenschaften

170254 SE Forschungsseminar zur Theater-, Film- und Medienwissenschaft -

Öffentlicher Raum als theatraler Raum

Ao. Univ. Prof. Dr. Brigitte Marschall

WS 07/08

Salzburg, am 29.06. 2008

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung..................................................................................S.3

2. Leben.........................................................................................S.4

3. Schaffen....................................................................................S.5

3.1. Ästhetik/ System.............................................................S.5

3.2. Organising Principles/ Private Systems......................S.6

4. Stairs.........................................................................................S.8

4.1. Das Projekt......................................................................S.8

4.2. „Stairs. The Location“....................................................S.9

4.3. Der Auftrag: „Das Sehen neu lernen“.........................S.10

5. Resümee...................................................................................S.11

6. Werkverzeichnis.......................................................................S.13

7. Literaturverzeichnis................................................................S.14

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1. Einleitung

Im Rahmen des Forschungsseminars „Öffentlicher Raum als theatraler Raum“ habe

ich mich mit einigen Arbeiten des britischen Multimedienkünstlers Peter Greenaway

auseinandergesetzt. Peter Greenaway wird vorrangig als Filmemacher/Regisseur

gehandelt, verwirklicht sich aber auch in anderen Medien, wie etwa in der Malerei,

als Ausstellungeninszenator, in der Architektur, usw.. Im Mittelpunkt meiner Arbeit

stehen also nicht die Filme Peter Greenaways, sondern seine Ausstellung „Stairs.

The Location“ in Genf. Ich habe mir die Frage gestellt, warum Peter Greenaway,

welcher sehr dem Film verhaftet ist, mit einer Ausstellung in die Öffentlichkeit geht.

Ich denke, dass Peter Greenaway mit seiner Kunst den Status anstrebt eine

„Sehschule für den träge gewordenen Zuschauer“ zu schaffen und den öffentlichen

Raum als Bildungsanstalt für ein „neues Sehen“ nutzt. Peter Greenaway hat eine

eigene Ästhetik entwickelt, gerade zu ein System, welches sich selbst zum Thema

hat und sich in sich selbst immer wieder wiederholt und zitiert.

Die Literatur von und über den Künstler ist zahlreich, wie sein Oeuvre überhaupt.

Ebenso wie die Filmarbeiten Greenaways den Großteil seines Schaffens ausmachen

ist es bei der Literatur, 90% der wissenschaftlichen Arbeiten beschäftigen sich mit

diesen. Nach Kim Keum-Dong gibt es sechs Hauptanalysethemen nach welchen die

Arbeiten kategorisiert werden können: „Symbol und Allegorie“, Rezeptionsästhetik“,

„Vergleich mit anderen Künsten“, „Selbstreflexion des Films“, „Filmstruktur“ und

„Intermedialität“.1 Sie selbst wiederum beschäftigt sich mit der Selbstreflexivität des

Films im Film. Diese Fokussierung auf das filmerische Schaffen Greenaways hat zur

Folge, dass die Literatur über die anderen Bereiche seines Gesamtwerkes eher

dürftig ausfallen. Hierbei hat mir sehr Stefan Graupner mit seiner Dissertation

„Vernetzungsmöglichkeiten ästhetischer Ausdrucksformen im künstlerischen

Arbeitsprozess als ein Modell ästhetischer Bildung. Peter Greenaway – Rebecca

Horn – Robert Wilson“ von 1995 geholfen und mich beeinflusst. Auch Yvonne

Spielmanns Buch „Intermedialität“, welches Greenaways Arbeitsweise in Bezug auf

ihre medialen Verknüpfungen untersucht hat viele Informationen zu dieser Arbeit

beigetragen, ebenso wie Detlef Kremers „Vom Überleben der Bilder“. Leider hatte ich

selbst keinen Zugang zu den Ausstellungskatalogen, was das Ergebnis sicherlich

mindert. Dennoch denke ich lässt das zusammengetragene Material die

1 Vgl. Keum-Dong, Kim: Formale Struktur, Narrativität und Wahrnehmung des Zuschauers:Studie zu Peter Greenaways Filme: The Draughtman’s Contract, A Zed & Two Noughts undThe Belly of an Architect. Diss. – JG-Univ., Mainz, 2003 S.6

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Besonderheiten, Motivationen und Arbeitsweisen Peter Greenaways, zumindest

Ansatzweise, deutlich werden.

Ich möchte mit einem kurzen Überblick über Greenaways künstlerische Laufbahn

beginnen, um die Vorraussetzungen für sein Schaffen und insbesondere seines

speziellen Systems der „organising principles“ zu skizzieren, welche ich

anschließend umreißen werde.

Am Beispiel der Ausstellung „Stairs“ möchte ich dann im Hauptteil meiner Arbeit

diese genauer auf ihre Implikationen hin untersuchen und versuchen aufzuzeigen,

wie Greenaway den öffentlichen Raum als Bildungsanstalt für seine Idee eines

„Neuen Sehen“ nutzt.

2. Leben

Peter Greenaway wurde 1942 in Newport, Wales, UK geboren. Ab 1962 absolvierte

er ein 4-jähriges Studium der Malerei an der Walthamstow School of Art2, welches er

mit einem „National Diploma in Design“ (NDD) abschloss. Die Ausbildung war sehr

klassisch gehalten und orientierte sich an den traditionellen Maximen der Anatomie

und der Perspektive. Greenaway spezialisierte sich in seinem künstlerischen

Schaffen auf Staffelei- und Wandgemälde. Allerdings lehnte er die grundsätzlichen,

traditionellen Konzepte der Kunstschule ab3. In seinen eigenen Arbeit wird

Greenaway zu dieser Zeit durch den modernen, amerikanischen Künstler R. B. Kitaj

angespornt von den Studienvorstellungen weg eine eigene Form der künstlerischen

Darstellung zu finden. Die collagehaften Bilder Kitajs inspirierten Greenaway zu

seinen eigenen ersten experimentellen Werken. Greenaway selbst sagte über seinen

Besuch der Ausstellung Kitajs: „I suddenly saw this body of work that legitimised all I

had hopes of one day doing. Kitaj legitimised text; he legitimised arcane and elitist

information; he drew and painted as many as ten different ways on the same canvas;

he threw ideas around like confetti, ideas that were both pure painterliness and direct

Warburg quotation.“4 Collagen wurden von diesem Zeitpunkt an eine häufig

angewendete Kunstform Greenaways.

Diese Arbeitsweise ermöglichte ihm Dinge zu strukturieren. Zu Greenaways Ästhetik,

die sich ab diesem Zeitpunkt fortwährend entwickelt, gehe ich in Punkt 3 näher ein.

2 Hier weichen die Meinungen der Wissenschaftler voneinander ab, Bei Paul Melia dauerteGreenaways Studium nur von 1962 – 1964, bei Vilcsek dauerte es eben vier Jahre3 Vgl. Peter Greenaway; Melia, Paul; Woods Allan: Artworks 63-98 S. 74 Peter Greenaway zit. Nach Melia, Paul: Peter Greenaway. Artworks 63-98 S. 8

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5

Schon während seines Studiums arbeitete er als Cutter für das „Central Office of

Information“ und nach seinem Abschluss beschloss er sich intensiver dem Film zu

widmen. Beeinflusst durch Godard, Bergmann, Resnais und die Strömung des

strukturalistischen Experimentalfilms begann er eigene Kurzfilme zu drehen,

hauptsächlich experimentell - dokumentarische, durch seine Arbeit am Schneidetisch

inspiriert. Eine Bewerbung am Royal College of Art film school wurde abgelehnt, was

ihn allerdings nicht davon abhielt sich weiterhin mit Film auseinander zu setzen. Sein

Schaffen blieb einige Zeit unentdeckt, bis er 1980 auf einem Rotterdamer Filmfest

seinen dreistündigen fiktiven Dokumentarfilm „The Falls“ präsentierte, welcher ihm

erstmals Anerkennung einbrachte und seine Karriere als Filmemacher einläutete.

3. Schaffen5

Peter Greenaway hat seit 1980, also in über 25 Jahren, mittlerweile 14 Filme

gedreht. Angefangen mit „Der Kontakt des Zeichners“ 1982, Greenaways erstem

Spielfilm bis hin zu „Nightwatching“ 2007, einen Film über Rembrandts Bild „Die

Nachtwache“. Auch im Ausstellungsbereich lässt sich eine ganze Reihe nennen.

Peter Greenaway beschränkt sich also nicht auf den Film, sondern versucht seine

Kunst/ Ästhetik auch in anderen Medien zu verwirklichen. Sein Schaffen, kann als

Gesamtkunstwerk, im doppelten Sinne betrachtet werden. Einerseits sind die

jeweiligen Arbeiten für sich immer ein Gesamtkunstwerk, durchkomponiert bis ins

kleinste Detail, andererseits verbinden und verweisen die unterschiedlichen Arbeiten

aufeinander.

3.1. Ästhetik / System

Peter Greenaways Oeuvre lässt sich auf kein Medium eingrenzen. Zwar ist der Film

seine selbst ernannte Hauptausdrucksform, allerdings beweist er sich immer wieder

auch in anderen Darstellungsarten, wie eben der Malerei, bei Ausstellungen oder als

Professor an der European Graduate School in Saas-Fee, Schweiz. Greenaway

betrachtet die Medien auch nicht getrennt voneinander sondern verbindet die

Ausdrucksformen von Film, Malerei, Ausstellung und Text zu einem ästhetischen

Ganzen, in welchem sie sich gegenseitig thematisieren und zitieren, und arbeitet mit

Mischformen. Dabei verweist er auf seine eigenen Arbeiten ebenso wie auf

5 Da Peter Greneways Schaffen so umfangreich ist, gehe ich hier nur kurz ein und am Endeder Arbeit befindet sich ein Werkverzeichnis

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6

traditionelle Werke der, hauptsächlich europäischen, Kunstgeschichte. „Die

unterschiedlichen Zitierweisen selbst – seien es unmittelbare Übernahmen oder

Anwendungen, Nachinszenierungen, Allusionen, Verfremdungen oder ironische

Abweichungen – umfassen kunstgeschichtliche Traditionen, naturwissenschaftliche

Klassifikationen, Spiel- und Gesellschaftsregeln.“6 Besondere Affinität hegt er hierbei

dem Barock und der Renaissance, sowohl in künstlerischer wie in

naturwissenschaftlicher Sicht.

Inhaltlich kreisen seine Arbeiten immer um dieselben Themen, wie etwa Kunst, Sex,

Religion, Leben und Tod. Diese Themenstellungen verarbeitet Greenaway dann in

den unterschiedlichen Medien so dass ein ästhetischer Gesamtzusammenhang

entsteht, welcher aber immer durch die Strukturmerkmale der Kinematographie

beeinflusst ist. Eines der am intensivsten von Greenaway behandelten Themen ist

die Selbstreflexion und -thematisierung des Film und seiner Strukturmerkmale an

sich. Diese stellt er immer wieder exponiert dar und lotet somit die medialen

Differenzen aus. Mit dieser Selbstreflexion stellt Greenaway immer wieder die Frage

nach der Bildlichkeit und den Möglichkeiten der Medien neu. Greenaways Meinung

nach befinden sich die Medien in einem Umbruch, welcher die Notwendigkeit des

Erlernens eines „Neuen Sehens“ einfordert. Greenaway setzt sich explizit für ein Kino

des Sehens, der Bilder und gegen ein Kino des Textes, der Geschichte. Einer der

bekanntesten Aussprüche Greenaways lässt sich programmatisch für diese Ansicht

lesen: „Im Kino müssen wir uns erst einmal von der Tyrannei befreien, und es sind

deren vier: die Tyrannei des Textes, die Tyrannei des Schauspielers, die Tyrannei

des Bildausschnittes um, am wichtigsten, die Tyrannei der Kamera. Der Film muß

sich von der Kamera trennen, um sich aus der Sklaverei zu befreien. Denn da bin ich

mir ganz sicher: Die Kamera steht dem Film im Weg.“7 Greenaways Filme sind nicht

weiter ausschließlich am Erzählen einer Geschichte interessiert, sondern an der

bildlichen Darstellung von Geschehnissen. Für diese Darstellung hat Greenaway ein

spezifisches Strukturmerkmal entwickelt. Jedem Werk Greenaways liegt ein

Ordnungsprinzip zugrunde, welches sich meist aus naturwissenschaftlichen

Klassifikationssystemen herleitet.

6 Spielmann, Yvonne: Intermedialität. S. 107 Peter Greenaway im Gespräch mit Hannah Hurzig: Richtiges Kino kommt erst noch. S.33

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3.2. Organising Principles/ Private Systems

Peter Greenaway ist der Ansicht, dass jeder Mensch ein eigenes System hat um die

Welt zu ordnen und für sich rationaler und begreifbarer zu machen. Diese „private

systems“ sind Ordnungsprinzipien, welche von Mensch zu Mensch unterschiedlich

sind und sich aus ihrer Biographie und/oder ihrem kulturellen Hintergrund (Herkunft,

Religion, Schule, Arbeitsumfeld) entwickeln und sich somit aus einem „Netzwerk

unserer Erkenntnis“8 bilden, welches sich verschiedenster materialer wie

methodischer Zugriffe auf die Wirklichkeit bedient. Das einzig letztendlich

verbindende Element in all dieser Ordnungsprinzipen ist der Tod. Eine Anekdote aus

Greenaways Leben dient ihm und mehreren Autoren9 als Erklärungsmöglichkeit für

das „System Greenaway“. Sein Vater war Ornithologe und hinterließ nach seinem

Tod eine Menge an Aufzeichnungen, die Peter Greenaway zu seinem

experimentellen Film „A Walk through H“ inspirierten. Diesen interpretiert er selbst als

eine Form der Verarbeitung der „Lebensordnungsstrukturen“ welche von einem

Menschen nach seinem Tod bleiben.

Peter Greenaway verwendet in seinen Werken material-immanente organising

principles10, die er in unterschiedlichen Zusammenhängen zeigt. Einen großen Anteil

spielt hierbei sicherlich eine grundsätzliche Hinterfragung und Skepsis gegenüber

den „private systems“, da diese sehr subjektiv bestimmen, was Wahrheit und

Wirklichkeit ist. Besonders im Film kommt dies zum tragen: “24 Bilder in der Sekunde

können 24 mal die Wahrheit sagen, müssen es aber nicht. Numerische Systeme,

alphabetische Sequenzen, Farbcodierungen usw. bis hin zur Zentralperspektive sind

mögliche Hilfsmittel zur Strukturierung und Erkenntnis unserer Wirklichkeit ‚but then

we must constantly remember that these are only constructs for a certain time.’“.11

Greenaways am häufigsten gewählte Strukturprinzipe umfassen Nummern, das

Alphabet, Farben und Musik.

Diese Systeme, die er verwendet finden sich sowohl an der Oberfläche des

Kunstwerkes als auch in seiner Struktur selbst. Programmatisch für Greenaway sind

etwa Ausstellungen welche genau 100 Objekte umfassen und 100 Tage andauern,

sowohl „100 Objects to represent the World“ 1992 in Wien, als auch „Stairs“, auf

welche ich aber erst später genauer eingehen werde.

8 Graupner, Stefan S. 1159 u.a. Vilcsek und Melia10 Graupner, Stefan S.11811 Graupner, Stefan S.119

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Auch technisch vermischt er die unterschiedlichen Medien miteinander. Ein

Verfahren, welches er erstmals in seinem Film „Prospero’s Books“ anwendet ist die

paintbox. Diese Nachbearbeitungsmöglichkeit des Filmmaterials entspricht genau

Greenaways Anspruch an die Vernetzung der unterschiedlichen Medien: „ Im Grunde

ist es ein TV-Bildschirm. Und dazu haben sie einen lichtempfindlichen Stift, und jede

Linie, jedes Zeichen, das Sie damit machen, erscheint auf dem Bildschirm, zum

Beispiel ein Blitz. (...) Ich kann diesen Stift benutzen wie einen Pinsel, oder wie eine

Feder oder wie einen Bleistift, je nachdem wie ich das Programm einstelle. (...) Diese

Art der Manipulation ist den Möglichkeiten vergleichbar, die ein Maler mit seiner

Leinwand hat. Es geht sogar noch darüber hinaus. Und das ist das aufregende an

der Technik: das, was mich als Maler ganz besonders fasziniert, dass man den

physischen Kontakt zu seinem Material zurückgewinnt.“12

Auch die Ausstellung „Stairs“ ist im Prinzip eine Vermischung verschiedener Medien,

der Ausstellung, der Architektur und letztendlich des Films.

4. Stairs

4.1. Das Projekt

Die Ausstellung „Stairs“ im Sommer 1994 in Genf war Peter Greenaways erste

Inszenierung im/des öffentlichen Raums. Unter dem Zusatztitel „The Location“ war

sie als erste Station einer Ausstellungsreihe zum Thema Film und Sehen gedacht.

Das Stairs- Projekt sollte ursprünglich 10 Einzelausstellungen in 10 verschiedenen

Städten umfassen, denen als Hauptthema jeweils ein grundlegender

kinematographischer Begriff zugrunde liegt. Ursprünglich hatte Greenaway Mitte der

80er Jahre einen Film mit dem Titel „Stairs“ geplant, welcher allerdings aufgrund

seiner „cinematic megalomania“13 nicht durchführbar war. Als einzigen Schauplatz

wollte er eine riesige Barocktreppe in Rom nutzen auf der sich alle einschneidenden

menschlichen Erlebnisse abspielen, von einer Geburt über eine Hochzeit, bis hin

zum Tod. „ Auf seiner Treppe finden dem Drehbuch entsprechend u.a. eine Hochzeit,

eine Beerdigung, ein Kampf, eine Flut und eine Feuersbrunst statt, das ganze

mögliche Erlebnisspektrum eines Lebens, ein gewaltiges Szenario mit immensem

12 Peter Greenaway, zit. Nach Graupner, Stefan S.134f13 Kremer, Detlef S. 58

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Aufwand an Schauspielern und Requisiten.“14 Für diese Opulenz an Geschehnissen

plante Greenaway den Film gleichzeitig auf drei Leinwänden 24 Stunden abspielen

zu lassen. Da dies aber finanziell nicht realisierbar war änderte er sein Konzept und

aus einer Treppe wurde eine Ausstellung von hundert Treppen, auf denen sich

unzählige Geschichten abspielen, nicht gespielte sondern reale und ein Film „The

Belly of an Architct“ (1988). Diese beiden Arbeiten Greenaways sind thematisch

aneinander geknüpft, während der Film inhaltlich die Strukturierung und Installation

einer Ausstellung behandelt, setzt sich die Ausstellung mit den Strukturmerkmalen

des Films auseinander. „Location“ bedeutet nicht nur Örtlichkeit, sondern in der

Filmsprache auch Drehort. Die folgenden Ausstellungen sollten ebenso jeweils ein

Schlagwort der Filmanalyse zum Grundprinzip erheben: „Er selbst nennt sie „subject

– areas“: Location, Audience, The Frame, Acting, Properties, Light, Text, Time, Scale

Illusion.“15 Meines Wissens nach ist allerdings nach „ Stairs. The Location“ nur noch

1995 „Stairs. Projection“ realisiert worden.

4. 2. „Stairs. The Location“

Ganz in greenawayscher Manier liegt der Ausstellung ein Zahlenprinzip zugrunde.

Für hundert Tage und hundert Nächte (23. April bis 31. Juli 1994) hat Greenaway die

Stadt Genf um hundert weiße Holztreppen bereichert. Mit den Architectes et

Urbanistes Associés Lorenzo Lotti entwickelt er einen Treppentypus, welcher

aufgrund eines Baukastenprinzips an den verschiedenen Schauplätzen variiert

werden konnte. Diese 3-4 Meter hohen Treppen konnten von dem Publikum betreten

werden „Oben am Aussichtspunkt war in die Wand etwa in Augenhöhe eine Runde

Scheibe mit Guckloch eingelassen. Auf der Scheibe stand sowohl die Plannummer

als auch eine kleine historische Erläuterung dessen was man sehen konnte.“16 Durch

dieses Guckloch konnte ein Bildausschnitt betrachte werden, der ungefähr dem

entspricht, was man durch den Sucher einer Kamera sehen kann. Die Position der

Treppen war auf historische Gebäude, Statuen oder ebenfalls wieder Treppen

gerichtet. Da die Treppen in ganz Genf verteilt lagen und unmöglich an einem Tag

besucht werden konnten, bot Greenaway in seinem Ausstellungskatalog17

14 Graupner, Stefan S. 17015 Kremer, Detlef S. 5416 Graupner, Stefan S. 17417 Greenaway entwickelte einen zweiteiligen Projektkatakog. Im ersten Teil stellt er selbstBezüge zu seinem Werk her, der Zweite Teil umfasst eine Dokumentation der Ausstellung

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Rundgänge an, wie etwa einen Wasser – Rundgang, einen Biographischen

Rundgang und einen Historisch und Pädagogischen Rundgang. Abgesehen von der

inhaltlichen Aussage, stehen die Treppen auch künstlerisch gesehen in einem

Zusammenhang. „Ihre stereotype, auf Wiedererkennung ausgelegte Form signalisiert

jeweils ein neues optisches Ereignis, setzt zugleich aber auch mit jedem Exemplar

das serielle Zeichen eines Ausstellungskonzeptes.“18 Sie haben somit einen

eigenständigen skulpturalen als auch einen funktionalen Charakter. Diese

Treppenstruktur zieht sich durch das ganze Ausstellungskonzept, so auch in der

eigens komponierte Musik Patrick Mimrams: The staircases of the exhibition have

one, two, four, six, eight, or twelve Stepps. The different movements of the music for

The Stairs consist of sequence of recurring permutations of musical motifs, using, in

turn, scales of one, two, four, six, eight and twelve notes. These are variously

arranged and linked to one another by analogies between the transpositions and

transformations they undergo.“19

Das Treppenmotiv ist das konstituierende Moment in dieser Ausstellung.

4. 3. Der Auftrag: „Das Sehen neu lernen“

Peter Greenaway setzt in seiner Ausstellung seine von mir oben genannten

Ansichten und Arbeitweisen um. Auf der einen Seite ein durch Zahlen, 100 und die

Anzahl der Stufen, und auf der anderen Seite durch eine stereotypen Form

durchgegliedertes und zusammengehaltenes Konzept verweist auf den Missstand

der filmischen Möglichkeiten und bezieht den Zuschauer aktiv in die Gestaltung mit

ein. Greenaway setzt sich in erster Linie mit kinematographischen Eigenschaften des

Kinos auseinander, isoliert sie und untersucht die Einzelteile und ihre Funktionsweise

in einem anderen Medium. Dadurch drückt er seine Unzufriedenheit mit der

Beschränktheit eines einzelnen Mediums aus. Seine Kritik dem narrativen Film

gegenüber kommt hier besonders zu Tage. Greenaway ist der Ansicht, dass Film

zweidimensional und vorgefertigt sei und das ist die Mitschuld der Kamera. Diese

bestimmt sowohl den Bildausschnitt als auch die Dauer der Darstellung. Als Lösung

bietet er während seiner Ausstellung die „location“, also den realen Drehort, an. Mit

seinen Treppenplattformen bietet er dem Publikum eine Art Co-Regie an, da der

selbst mit Photographien und Kurzbeschreibungen jeder einzelner Treppe (Vgl. Graupner,Stefan ab S. 159)18 Graupner, Stefan S. 17519 Patrick Mimram Zit. Nach Graupner, Stefan S. 175

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Besucher selbst mit entscheiden kann. Sowohl die Dauer als auch der Blickwinkel,

also die Kameraeinstellung, liegt ganz im Auge des Betrachters. Der Standort der

Treppe gibt lediglich die Position vor, welcher Ausschnitt betrachtet werden kann, die

Einstellung wird durch das Ersteigen der Stufenhöhen von jedem selbst gewählt. Der

Besucher hat die Möglichkeit sich den realen Drehort vor „der Kamera“ anzusehen

und somit das Material genauer zu begreifen. Die Geschichten die zu sehen sind,

normale Alltagserlebnisse, können von den Besuchern selbst zu einem imaginären

Film verknüpft werden.

Von mehreren Besuchern wurde die Ausstellung kritisiert, da sie befanden durch den

Sucher gebe es nichts zu sehen. Genau auf diesen Missstand möchte Greenaway

aber aufmerksam machen. Die Ausstellung soll eine „Seh-Übung“ darstellen für den

auf Geschichten heischenden Zuseher. Peter Greenaway ist der Meinung, dass zwar

jeder Mensch Lesen und Schreiben lernt, zudem er Sehen muss, Sehen lernt er aber

nicht. „Wer liest und schreibt, tut dies reflektiert, ansonsten bleibt das Gelesene und

Geschriebene unverständlich. Und wer sieht? Lesen und schreiben muss man

lernen. Und das Sehen?“20 Um Dinge zu verstehen, etwa ein Buch, muss man sich

oft wiederholt damit beschäftigen. So soll es auch im Kino sein. Ein Kino der

Bildlichkeit/ der Darstellung, dass sich nicht über eine Geschichte und ein einmaliges

Rezipieren erschließt, sondern sich erst durch mehrmalige Betrachtung und

Auseinandersetzung aufbaut. Ebenso bei der Ausstellung „Stairs. The Location“. Erst

eine Auseinandersetzung mit und eine wiederholte Inanspruchnahme der „Drehorte“

eröffneten dem Besucher einen Zugang zu dem Kunstwerk in seinen verschiedenen

Facetten, wer sich nicht damit beschäftigte dem ging der inhaltliche wie künstlerische

Zusammenhang verloren und die Ausstellung muss ihnen recht willkürlich erschienen

sein.

5. Resümee

Nach meiner eingehenderen Beschäftigung mit dem Künstler Peter Greenaway und

seinem Gesamtwerk bin ich eher gespalten in meiner Ansicht sowohl über die

Person als auch ihr Schaffen. Grundsätzlich finde ich Greenaways Arbeiten äußerst

interessant und habe die Beschäftigung mit der Thematik als sehr spannend

empfunden. Allein die Filme Greenaways bieten einen Nährboden an

20 Graupner, Stefan S. 156

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Interpretationsmöglichkeiten, können aber auch rein formal/bildlich genossen werden

(was auch schon wissenschaftlich erarbeitet worden ist). Ich finde allerdings, dass

Peter Greenaway mehr schafft als vieldeutige, umstrittene Filme. Mit seinem

Gesamtkunstwerk (einschließlich seiner Selbstinszenierung) positioniert er sich in

einem Kunstdiskurs und bringt seine Ansichten deutlich zum Ausdruck. Jedes seiner

Kunstwerke kann als Kritik an den eingeschränkten Möglichkeiten der visuellen

Medien betrachtet werden. Als Lösung schlägt er seine Sicht vor, seine Art des

Sehens, seine Ordnungsprinzipien, sein „System Greenaway“. Ich habe mir also in

meiner Auseinandersetzung oftmals die Frage gestellt, ob Peter Greenaway

anmaßend seine „Sicht der Dinge“ als Maxime des richtigen Sehens dem Zuschauer

vorstellt und ihn anweist es ihm gleich zu tun (also knapp auf den Punkt gebracht:

Das einzig richtige Seh – System von Peter Greenaway), oder ob er mit seinen Seh-

Übungen den interessierten Betrachter nur animieren möchte über einen gewohnten

Horizont zu schauen und ihm für diesen Versuch seine Wege vorschlägt, also als

EIN Seh-System. Ich kann diese Frage leider immer noch nicht gänzlich

beantworten, tendiere aber leider eher in die Richtung Peter Greenaways Schaffen

als Art „Anleitung zum von ihm bestimmten richtigen „neuen Sehen“ zu interpretieren.

Trotz einiger Selbstaussagen Greenaways, dass es seine Absicht sei dem Publikum,

unpädagogisch, neue Sichtweisen zu eröffnen: „ I hate even the suggestion of being

didactic or polemical or having a message. I think the best place for messages is

probably on television and not in cinema. I also think if you really have a moral

position to proselytize, you would be better as a poltician or maybe as a primary

Scool teacher.“21, kann ich nicht umhin ihn, aufgrund dieses durchkomponierten

Werkkorpus mit seinen doch immer recht deutlichen Kritikpunkten und

Lösungsansätzen, als Grundschullehrer der Bildlichkeit zu betrachten, der seinen

Schülern etwas zu subjektiv die Welt erklärt. Dennoch empfinde ich Peter

Greenaways Arbeit als formal sehr schön und inhaltlich regt es sicherlich nicht nur

mich zu einer Reflexion über Kunst und Film, Leben und Tod und seine eigenen

„private systems“ an, womit doch zumindest eines der Ziel erreicht wäre.

21 Peter Greenaway Zit. Nach Graupner, Stefan S.160

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Werkverzeichnis (eine Auswahl)

Filme22

1982: The Draughtsman's Contract1986: A Zed and Two Noughts1987: The Belly of an Architect1988: Drowning by Numbers1989: The Cook, the Thief, His Wife and Her Love1991: Prospero's Books1992: The Baby of Mâcon1996: The Pillow Book;1997: The Bridge1999: The Death of a Composer: Rosa, a Horse Drama;

8 1/2 Women2001: The Man in the Bath2003: The Tulse Luper Suitcases, Part 1: The Moab Story;

The Tulse Luper Suitcases, Part 3: From Sark to the Finish2004: Visions of Europe (Beitrag "European Showerbath");

The Tulse Luper Suitcases, Part 2: Vaux to the Sea2006: Nighwatching

Ausstellungen bis 199623

1991: The Physical Self; Rotterdam, Holland1992: 100 Objects to Represent the World; Wien, Österreich1992: Les Bruit des Nuages (Flying out of this world); Paris, Frankreich1993: Watching Water; Venedig, Italien1993: Some Organising principles; Swansea; UK1993: The Audience of Macon; Cardiff, UK1994: The Stairs, Geneva, The Location; Genf, Schweiz1995: The Stairs, Munich, Projection; München, Deutschland1996: In The Dark – Spellbound: ART&FILM; London; UK1996: Cosmology at the Piazza del Popolo. A history of the Piazza from Nero to

Fellini using light and sound; Rome, Italy

22 entnommen :http://www.whoswho.de/templ/te_bio.php?PID=2340&RID=3&PHPSESSID=00960d5b393e470f2e0a847eeb86d2d5 zugegriffen am 29.06.200823 entnommen: http://www.magnet.gr/greenaway/exhibitions.htm zugegriffen am 29.06.2008Leider ist die Seite mit den aktuellen Links zu Peter Greenaways Werkverzeichnis (unterhttp://petergreenaway.co.uk/) nicht mehr gültig, aus diesem Grund habe ich hier nun eineWissenslücke, da es keine adäquate Recherche Möglichkeit gibt

Page 14: Das Sehen Neu Lernen

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Literaturverzeichnis:

• Beuthan, Ralf: Das Undarstellbare: Film und Philosophie. Metaphysik und

Moderne. Verlag Königshausen & Neumann; Würzburg, 2006 S.169 – 199

• Böhn, Andreas: Intermediale Form- und Stilzitate in Photographie und Film bei

Godard, Greenaway und Cindy Sherman. In: Formzitate, Gattungsparodien,

ironische Formverwendung: Gattungsformen jenseits von Gattungsgrenzen.

Andreas Böhn (Hg.); Röhrig Universitätsverlag; St. Ingbert, 1999. S.175 - 198

• Graupner, Stefan: Vernetzungsmöglichkeiten ästhetischer Ausdrucksformen

im künstlerischen Arbeitsprozess als ein Modell ästhetischer Bildung. Peter

Greenaway – Rebecca Horn – Robert Wilson. Diss. – JM – Univ.,Würzburg;

1995.

• Greenaway, Peter; Melia, Paul; Woods, Alan:: Artworks 63-98.Manchester

Univ. Press; 1998.

• Keum-Dong, Kim: Formale Struktur, Narrativität und Wahrnehmung des

Zuschauers: Studie zu Peter Greenaways Filme: The Draughtman’s Contract,

A Zed & Two Noughts und The Belly of an Architect. Diss. – JG-Univ., Mainz,

2003. (http://ubm.opus.hbz-nrw.de/volltexte/2003/444/ zugegriffen am

28.10.2007)

• Foucault, Michel: Andere Räume, In: Brack, Karlheinz, u.a. (Hrsg.): Aisthesis,

Berlin

2002, S. 34 – 46

• Lefèvbre, Henri: Die Revolution der Städte / La Révolution urbaine (Aus dem

Franzö. von Ulrike Roechl), Frankfurt am Main 1990.

• Kremer, Detlef: Peter Greenaways Filme: vom Überleben der Bilder und

Bücher. Verlag Metzler; Stuttgart, Weimar, 1995.

• Lüdeke, Jean: Die Schönheit des Schrecklichen: Peter Greenaway und seine

Filme. Gustav Lübbe Verlag; Bergisch Gladbach, 1995.

• Pascoe, David: Peter Greenaway: Museums and Moving Images. Reaktion

Books Ltd, London, 1997.

• Petersen, Christer: Jenseits der Ordnung: das Spielfilmwerk Peter

Greenaways; Strukturen und Kontexte. Verlag Ludwig,Kiel,2001.

• Steinmetz, Leon; Greenaway, Peter: The world of Peter Greenaway. Journey

Editions, Boston, 1995.

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Interviews:

• Peter Greenaway im Gespräch mit Hannah Hurtzig: Richtiges Kino kommt erst

noch. In: Wie kommt das Neue in die Welt?. Heinrich v. Pierer; Bolko v.

Oetinger. S.35

• Peter Greenaway Interviews. Edited by Vernon Gras and Marguerite Gras.

University press of Mississippi, 2000.

Internetquellen:

• http://petergreenaway.co.uk

• http://www.petergreenaway.net

• http://www.kunstaspekte.de/index.php?k=2980&action=webpages

Bildnachweis:

• http://images.google.com/imgres?imgurl=http://cri.ch/stairs/img0004.jpg&imgre

furl=http://cri.ch/stairs/&h=343&w=515&sz=18&hl=de&start=2&um=1&tbnid=D

HhyunPsGR0VMM:&tbnh=87&tbnw=131&prev=/images%3Fq%3Dstairs.%