Das Selbst in Zahlen · Quantified Self habe ihn sofort fasziniert, erzählt Schumacher. Seit...

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pharma marketing journal Nr. 04 vom 15.08.2012 Seite 014 pharma marketing journal Nr. 04 vom 15.08.2012 Seite 014 TITELSTORY -> Selbstvermessung TITELSTORY -> Selbstvermessung Das Selbst in Zahlen Das Selbst in Zahlen Ihr Credo: Erkenne dich selbst. Ihr Ziel: durch Selbstvermessung eine höhere Lebensqualität erlangen. Die Mitglieder der Quantified-Self-Bewegung messen mittels Handy-Apps und Gadgets, wie hoch ihr Blutdruck ist, ihr Gewicht oder wie gut sie schlafen. Im Internet und auf Treffen tauschen sie sich aus. Sind die Self-Tracker die neuen mündigen Patienten? mündigen Patienten? Autorin: Yvonne Willibald Florian Schumacher wiegt sich jeden Morgen, manchmal auch nur jeden zweiten. Nichts Besonderes? Doch! Denn seine Waage zeigt sein Gewicht und seine Körperfettwerte nicht nur an, sie lädt die Daten auch automatisch per WLAN in Schumachers Webprofil auf der Herstellerseite: "Da sehe ich dann in einer Kurve die Entwicklung meines Gewichts. Wenn ich denke, 'Oh, jetzt sollt ich aber mal was tun', kann ich gegensteuern", erklärt er. "Zum Beispiel um die Weihnachtszeit." Florian Schumacher ist Self-Tracker. Er betreibt die deutsche Website des Quantified-Self-Netzwerks und organisiert die Gruppentreffen, die sogenannten Meetups, in München. Der Geburtsort des Trends ist Amerika. 2007 riefen die Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly die Plattform Quantifiedself.com ins Leben, 2008 fand das erste Meetup in der San Francisco Bay Area statt. "The Quantified Self" bedeutet so viel wie das vermessene oder bezifferte Selbst. Und genau darum geht es den Gründern: "self knowledge through numbers", Selbsterkenntnis durch Zahlen. Im Zentrum steht der Austausch der Selbstvermesser untereinander: "Wir sehen uns nicht als Bewegung an, sondern als Netzwerk", so Schumacher. Die Meetups stellen den Kern dieses Netzwerks dar: In 50 Städten weltweit finden regelmäßig Treffen statt, auf denen die Self-Tracker ihre Erfahrungen mit Apps und Gadgets zur Selbstvermessung austauschen. Doch nicht nur Self-Tracker nehmen an den Treffen teil, auch Start-ups und etablierte Unternehmen suchen die Meetups auf. Sie präsentieren dort neue Tools zum Self-Tracking und tauschen sich mit den Anwendern aus. Schumacher muss es wissen, denn er ist selbst über seinen Beruf auf Quantified Self gestoßen - er ist Produktmanager. 2010 begann er, an einem Konzept für ein Self-Tracking-Tool zu arbeiten, um ein Start-up zu gründen. Er fing an, Konkurrenzprodukte zu testen, und stieß dabei schnell auch auf das Quantified-Self-Netzwerk. "Um eine gewisse Sichtbarkeit aufzubauen, habe ich dann angefangen, Produkte zum Self-Tracking zu testen und darüber zu bloggen", sagt er. Heute ist er eine der wichtigsten Personen des Netzwerks in Deutschland und © GBI-Genios Deutsche Wirtschaftsdatenbank GmbH - www.genios.de 1

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Das Selbst in ZahlenDas Selbst in Zahlen

Ihr Credo: Erkenne dich selbst. Ihr Ziel: durch Selbstvermessung einehöhere Lebensqualität erlangen. Die Mitglieder derQuantified-Self-Bewegung messen mittels Handy-Apps und Gadgets, wiehoch ihr Blutdruck ist, ihr Gewicht oder wie gut sie schlafen. Im Internetund auf Treffen tauschen sie sich aus. Sind die Self-Tracker die neuenmündigen Patienten?mündigen Patienten?

Autorin: Yvonne Willibald Florian Schumacher wiegt sich jeden Morgen, manchmal auch nur jeden zweiten.Nichts Besonderes? Doch! Denn seine Waage zeigt sein Gewicht und seineKörperfettwerte nicht nur an, sie lädt die Daten auch automatisch per WLAN inSchumachers Webprofil auf der Herstellerseite: "Da sehe ich dann in einer Kurvedie Entwicklung meines Gewichts. Wenn ich denke, 'Oh, jetzt sollt ich aber mal was tun', kann ich gegensteuern", erklärt er. "Zum Beispiel um dieWeihnachtszeit." Florian Schumacher ist Self-Tracker. Er betreibt diedeutsche Website des Quantified-Self-Netzwerks und organisiert dieGruppentreffen, die sogenannten Meetups, in München.Der Geburtsort des Trends ist Amerika. 2007 riefen die Journalisten Gary Wolfund Kevin Kelly die Plattform Quantifiedself.com ins Leben, 2008 fand das ersteMeetup in der San Francisco Bay Area statt. "The Quantified Self" bedeutet soviel wie das vermessene oder bezifferte Selbst. Und genau darum geht es denGründern: "self knowledge through numbers", Selbsterkenntnis durch Zahlen. ImZentrum steht der Austausch der Selbstvermesser untereinander: "Wir sehen unsnicht als Bewegung an, sondern als Netzwerk", so Schumacher.Die Meetups stellen den Kern dieses Netzwerks dar: In 50 Städten weltweitfinden regelmäßig Treffen statt, auf denen die Self-Tracker ihre Erfahrungen mit Apps und Gadgets zur Selbstvermessung austauschen. Doch nicht nurSelf-Tracker nehmen an den Treffen teil, auch Start-ups und etablierteUnternehmen suchen die Meetups auf. Sie präsentieren dort neue Tools zumSelf-Tracking und tauschen sich mit den Anwendern aus.Schumacher muss es wissen, denn er ist selbst über seinen Beruf auf Quantified Self gestoßen - er ist Produktmanager. 2010 begann er, an einem Konzept für ein Self-Tracking-Tool zu arbeiten, um ein Start-up zu gründen. Er fing an,Konkurrenzprodukte zu testen, und stieß dabei schnell auch auf dasQuantified-Self-Netzwerk. "Um eine gewisse Sichtbarkeit aufzubauen, habe ichdann angefangen, Produkte zum Self-Tracking zu testen und darüber zu bloggen",sagt er. Heute ist er eine der wichtigsten Personen des Netzwerks in Deutschland und

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hat sich zum Ziel gesetzt, Quantified Self bekannter zu machen. Dennhierzulande steckt die Bewegung noch in den Kinderschuhen. 2011 gründete sichzunächst die Berliner Gruppe, seit Anfang 2012 besteht die deutscheInternet-Community, ebenso lange informiert Florian Schumacher in seinem Blogigrowdigital.com über Quantified Self. Doch das Netzwerk wächst: In sechsStädten finden mittlerweile regelmäßig Meetups statt.Quantified Self habe ihn sofort fasziniert, erzählt Schumacher. Seit einiger Zeit misst er seinen Schlaf: Er trägt nachts ein Stirnband, das mithilfe vonElektroden die Hirnaktivität erfasst und Gesamtschlafdauer sowie Länge derverschiedenen Schlafphasen misst - von der Traum- bis zur Tiefschlafphase."Ich mache das hauptsächlich, um mich zu motivieren. Ich möchte mehr schlafen, also baue ich mir eine Art Feedback-Schleife auf, damit ich darauf achte,früher ins Bett zu gehen." Seine Freunde im Netzwerk können sehen, wie viele Schritte er am Tag gegangen ist und wie viele Stunden er geschlafen hat. Loben sie seine Erfolge, treibeihn das an. Ein Wettbewerb entsteht, um die eigene Gesundheit zu fördern. Er sehe diesbezüglich einen großen Trend, sagt Schumacher - immerhin seien bereits Marken wie Apple und Nike auf den Zug aufgesprungen. Tatsächlich boomt derMarkt für Gesundheits-Apps: Der Bundesverband Informationswirtschaft,Telekommunikation und neue Medien e.V. (Bitkom) zählte im Jahr 2011 für dieBereiche Gesundheit und Fitness 15 000 solcher Handyanwendungen - Tendenzsteigend. Prof. Dr. Roland Trill, Leiter des Fachbereichs"Krankenhausmanagement und eHealth" der Fachhochschule Flensburg, bestätigt denTrend. Die Self-Tracker sieht er als Vorreiter einer allgemeinen Entwicklung:"Telemedizin und E-Health bieten den Bürgern eine Chance, sich umfassend überihre eigene Gesundheit zu informieren. Das haben eben erst mal ein paar'Freaks', im positiven Sinne, für sich entdeckt", erläutert er.Das Bild des Patienten, der mit dem iPhone beim Arzt sitzt und ihm seine Werte zeigt, ist dabei längst keine Fiktion mehr. Das sogenannte Telemonitoringermöglicht etwa Patienten mit chronischer Herzinsuffizienz, ihre Herzfrequenzselbst zu kontrollieren. Das sei für die Patienten sehr wertvoll, so Trill:"Sie lernen so mehr über ihre Krankheit und lernen, besser mit ihr umzugehen."Unter anderem verbessere sich dadurch die Therapietreue.Auch die Qualität der ärztlichen Diagnostik lässt sich durch diese Art derArzt-Patienten-Kommunikation verbessern: "Je mehr ein Patient in dieEntscheidungen bezüglich seiner Gesundheit einbezogen ist, umso besser ist dasErgebnis. Ärzte sollten sich dem öffnen", erklärt der Experte. Patientenkönnen mit digitalen Tools über einen längeren Zeitraum regelmäßig Messwertesammeln. Können Ärzte auf diese Werte zurückgreifen, bringt das unterUmständen Erkenntnisse, die im Rahmen einer Untersuchung nicht zutage gekommenwären. Das Handy ersetzt dann nicht etwa den Arztbesuch, sondern unterstütztden Arzt bei der Diagnosestellung. "Shared Decision-Making" und"Patient-Empowerment" nennen sich diese Trends einer stärkerenPatienten-Beteiligung.Für Pharmaunternehmen ist der Trend eine Chance, den Dialog mit den Patientenzu verbessern. Häufig sind diese gegenüber Arzneimittelherstellern skeptischeingestellt: So ergab die Gesundheitsstudie 2011 des Marktforschungsinstituts"Produkt + Markt", dass nur 18 Prozent der Deutschen die pharmazeutischeIndustrie für vertrauenswürdig halten. Das Bedürfnis nach neutralenGesundheitsinformationen haben die meisten Arzneimittelhersteller bereitserkannt: Sie bieten entsprechende Websites zu verschiedenen Krankheitsbildernund den unterschiedlichen Therapiemöglichkeiten. Im Austausch mitSelf-Trackern und Tool-Herstellern könnten Pharmaunternehmen einiges über die

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Mirjam Hochstrasser
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Bedürfnisse der zukünftigen Patientengeneration lernen: "Wir sind nichtvoreingenommen gegenüber Pharmaunternehmen.Wir sind neutral eingestellt", erklärt etwa Florian Schumacher. "Wirprobieren selbst aus, ob und in welcher Dosierung uns ein Medikament hilft.Wir testen aber auch, ob alternative Methoden besser sind, zum Beispiel Yoga."Self-Tracker möchten sich also von den Aussagen von Ärzten, Krankenkassen undPharmaindustrie lösen. Orientieren sich Arzneimittelhersteller an dieserEntwicklung, könnten sie das Vertrauen der neuen Generation "mündiger Patient"gewinnen.Den Trend zum Self-Tracking könnten Unternehmen etwa nutzen, indem sie offenmit Herstellern solcher Tools kooperieren und den AnwendernKommunikationsplattformen anbieten. Tauschen sich Arzneimittelhersteller mitden Startups aus, können sie auf ihre Produktpalette zugeschnitteneSelf-Tracking-Tools anbieten. Allerdings sollten sie sich überlegen, welcheZielgruppe sie ansprechen möchten: Sind das vor allem Patienten, sollten dieentsprechenden Tools zertifizierte Medizinprodukte sein. Dann könnten sichetwa Diabetes-Patienten auf einer Website über die Krankheit informieren, sichmit anderen Betroffenen austauschen und ihre mit der App oder dem Gadgetermittelten Werte dort verwalten. Diese Form der im Internet aktiven Patienten nennt sich E-Patient.E-Patienten suchen im Internet Informationen über ihre Krankheit und tauschensich auf Portalen wie PatientsLikeMe.com über das Leben mit der Erkrankung undüber Therapiemöglichkeiten, ihre Wirkungen und Nebenwirkungen aus. Die Grenzen zum Self-Tracking sind fließend. Manche Self-Tracker beobachten nur ihreGesundheitswerte, um fit zu bleiben. Andere sind zugleich E-Patienten.Sensible Daten, so Schumacher, sollten aber nicht einfach so im Netz stehen, woKrankenkassen und Arbeitgeber darauf zugreifen könnten: "Es ist ein riesigerUnterschied, ob ich mit meinen Freunden auf Twitter meine Lauferfolge teile oder ob ich meine Krankenakte online stelle." Im Prinzip müsse jeder selbstentscheiden, was er mit vollem Namen online stelle: "Ich finde, da ist jeder für sich selbst verantwortlich."In diesem Punkt ist sich Schumacher mit dem Bundesbeauftragten für denDatenschutz und die Informationsfreiheit, Peter Schaar, einig: "Datenschützersind keine Gouvernanten. Informationelle Selbstbestimmung bedeutet vielmehr,dass der Einzelne die Datenhoheit besitzt und bestimmt, was er über sichpreisgibt und was mit seinen Daten passiert", so Schaar. Self-Trackernempfiehlt er, sich die Plattformen genau anzusehen, bevor sie ihre Dateneinstellen.Das Problem: Bei vielen der Plattformen, so etwa bei PatientsLikeMe.com, sinddie Daten stets öffentlich einsehbar. Das Gleiche gilt für Daytum.com, diebekannteste Plattform für Self-Tracker: In der Basis-Version sind sämtlicheDaten öffentlich - bestimmte Daten schützen kann nur, wer vier Dollar im Monatbezahlt. Peter Schaar rät daher zu besonderer Vorsicht: "Wer nicht vollständig sicher ist, dass es sich um einen wirklich seriösen Anbieter handelt, der denDatenschutz ernst nimmt, sollte lieber die Finger von solchen Diensten lassen."In jedem Fall sollten Self-Tracker sich Datenschutzerklärung undNutzungsbedingungen sorgfältig durchlesen - insbesondere, wenn die Anbieteraußerhalb der Europäischen Union sitzen. Denn dort gelten oftmals wenigerstrenge Datenschutzbestimmungen.Weiteres Vertrauen schaffen könnten in diesem Zusammenhang Pharmaunternehmen,indem sie die Daten ihrer User angemessen schützen. Diese dürfen nur mitZustimmung der Nutzer verarbeitet werden, was stets anonymisiert geschehensollte. Zudem muss es den Anwendern in jedem Fall problemlos möglich sein,

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ihren Account zu löschen. Prinzipiell haben die Arzneimittelhersteller dieSelf-Tracker auf ihrer Seite, wenn sie Patientendaten nutzen, um ihreMedikamente und Dosierungen zu verbessern: "Ich wüsste nicht, was daran schlecht sein sollte", meint Florian Schumacher. Nur: Die Daten müssen anonymisiertbleiben. Dann stört es den Self-Tracker auch nicht, dass der Hersteller seines Schlafstirnbands seine Werte weiterverkauft - dem hat er in denNutzungsbedingungen zugestimmt. <-Kasten:Beziehungspflege 2.0 - was ist erlaubt?

· Das Heilmittelwerbegesetz (HWG) gilt für digitale Plattformen ebenso wie für alle anderenWerbeformen. Das müssen Pharmaunternehmen auch beachten, wenn sie den Trend zurSelbstvermessung für sich nutzen wollen.

· Wenn Pharmaunternehmen über Krankheitsbilder und Behandlungsmöglichkeiteninformieren, ohne bestimmte Produkte oder Therapien besonders hervorzuheben, sind sie aufder sicheren Seite.

· Quantified Self lebt vom Austausch der Selbstvermesser untereinander. Dabei können sichDaten ansammeln, die für die Arzneimittelforschung interessant sind. MöchtenPharmaunternehmen diese anonymisiert nutzen, müssen die Nutzer dem in denNutzungsbedingungen und der Datenschutzerklärung bewusst zustimmen.

· Ähnliches gilt für personalisierte Werbung: Auch hier müssen die User entscheiden können,worüber sie gerne informiert werden möchten - etwa indem sie sich bewusst per Klick in einKästchen für einen Newsletter zum Thema Diabetes anmelden.

· Transparenz ist das A und O einer gelungenen Kommunikation, auch im Web. Wissen diePatienten, wozu genau Pharmaunternehmen ihre Daten nutzen möchten, sind sie auch eherbereit, diese zur Verfügung zu stellen.Bildunterschrift:Das Selbst in Zahlen

Willibald, Yvonne

Quelle:Quelle: pharma marketing journal Nr. 04 vom 15.08.2012 Seite 014pharma marketing journal Nr. 04 vom 15.08.2012 Seite 014ISSN:ISSN: 0721-56650721-5665Dokumentnummer:Dokumentnummer: PMJ081215008PMJ081215008

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Florian Schumacher wiegt sich jeden Morgen, manchmal auch nur jeden zweiten. Nichts Besonderes? Doch! Denn seine Waage zeigt sein Gewicht und seine Körperfettwerte nicht nur an, sie lädt die Daten auch automatisch per WLAN in Schumachers Webprofil auf der Herstellerseite: „Da sehe ich dann in einer Kurve die Entwicklung meines Gewichts. Wenn ich denke, ‚Oh, jetzt sollt ich aber mal was tun‘, kann ich gegen-steuern“, erklärt er. „Zum Beispiel um die Weihnachtszeit.“ Florian Schumacher ist Self-Tracker. Er betreibt die deutsche Website des Quantified-Self-Netzwerks und organisiert die Gruppentreffen, die sogenannten Meetups, in München.

Der Geburtsort des Trends ist Amerika. !""# riefen die Journalisten Gary Wolf und Kevin Kelly die Plattform Quanti-fiedself.com ins Leben, !""$ fand das erste Meetup in der San Francisco Bay Area statt. „The Quantified Self“ bedeu-tet so viel wie das vermessene oder be-zifferte Selbst. Und genau darum geht es den Gründern: „self knowledge through

numbers“, Selbsterkenntnis durch Zah-len. Im Zentrum steht der Austausch der Selbstvermesser untereinander: „Wir se-hen uns nicht als Bewegung an, sondern als Netzwerk“, so Schumacher.Die Meetups stellen den Kern dieses Netzwerks dar: In %" Städten weltweit finden regelmäßig Treffen statt, auf denen die Self-Tracker ihre Erfahrungen mit Apps und Gadgets zur Selbstver-messung austauschen. Doch nicht nur Self-Tracker nehmen an den Treffen teil, auch Start-ups und etablierte Un-ternehmen suchen die Meetups auf. Sie präsentieren dort neue Tools zum Self-Tracking und tauschen sich mit den Anwendern aus. Schumacher muss es wissen, denn er ist selbst über seinen Beruf auf Quantified Self gestoßen – er ist Produktmanager. !"&" begann er, an einem Konzept für ein Self-Tracking-Tool zu arbeiten, um ein Start-up zu gründen. Er fing an, Konkur-renzprodukte zu testen, und stieß dabei schnell auch auf das Quantified-Self-Netzwerk. „Um eine gewisse Sichtbarkeit aufzubauen, habe ich dann angefangen,

Produkte zum Self-Tracking zu testen und darüber zu bloggen“, sagt er. Heute ist er eine der wichtigsten Per-sonen des Netzwerks in Deutschland und hat sich zum Ziel gesetzt, Quanti-fied Self bekannter zu machen. Denn hierzulande steckt die Bewegung noch in den Kinderschuhen. !"&& gründete sich zunächst die Berliner Gruppe, seit Anfang !"&! besteht die deutsche Internet-Community, ebenso lange in-formiert Florian Schumacher in seinem Blog igrowdigital.com über Quantified Self. Doch das Netzwerk wächst: In sechs Städten finden mittlerweile regelmäßig Meetups statt.Quantified Self habe ihn sofort faszi-niert, erzählt Schumacher. Seit einiger Zeit misst er seinen Schlaf: Er trägt nachts ein Stirnband, das mithilfe von Elektroden die Hirnaktivität erfasst und Gesamtschlafdauer sowie Länge der verschiedenen Schlafphasen misst – von der Traum- bis zur Tiefschlafphase. „Ich mache das hauptsächlich, um mich zu

Ihr Credo: Erkenne dich selbst. Ihr Ziel: durch Selbst-vermessung eine höhere Lebensqualität erlangen. Die Mitglieder der Quantified-Self-Bewegung mes-sen mittels Handy-Apps und Gadgets, wie hoch ihr Blutdruck ist, ihr Gewicht oder wie gut sie schlafen. Im Internet und auf Treffen tauschen sie sich aus. Sind die Self-Tracker die neuen mündigen Patienten?

Das Selbst in Zahlen Autorin: Yvonne Willibald

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motivieren. Ich möchte mehr schlafen, also baue ich mir eine Art Feedback-Schleife auf, damit ich darauf achte, früher ins Bett zu gehen.“Seine Freunde im Netzwerk können sehen, wie viele Schritte er am Tag gegangen ist und wie viele Stunden er geschlafen hat. Loben sie seine Erfol-ge, treibe ihn das an. Ein Wettbewerb entsteht, um die eigene Gesundheit zu fördern. Er sehe diesbezüglich einen großen Trend, sagt Schumacher – im-merhin seien bereits Marken wie Apple und Nike auf den Zug aufgesprungen. Tatsächlich boomt der Markt für Ge-sundheits-Apps: Der Bundesverband Informationswirtschaft, Telekommu-nikation und neue Medien e.V. (Bitkom) zählte im Jahr !"&& für die Bereiche Gesundheit und Fitness &% """ solcher Handyanwendungen – Tendenz steigend. Prof. Dr. Roland Trill, Leiter des Fachbe-reichs „Krankenhausmanagement und eHealth“ der Fachhochschule Flensburg,

bestätigt den Trend. Die Self-Tracker sieht er als Vorreiter einer allgemeinen Entwicklung: „Telemedizin und E-Health bieten den Bürgern eine Chance, sich umfassend über ihre eigene Gesundheit zu informieren. Das haben eben erst mal ein paar ‚Freaks‘, im positiven Sinne, für sich entdeckt“, erläutert er.Das Bild des Patienten, der mit dem iPhone beim Arzt sitzt und ihm seine Werte zeigt, ist dabei längst keine Fik-tion mehr. Das sogenannte Telemoni-toring ermöglicht etwa Patienten mit chronischer Herzinsuff izienz, ihre Herzfrequenz selbst zu kontrollieren. Das sei für die Patienten sehr wertvoll, so Trill: „Sie lernen so mehr über ihre Krankheit und lernen, besser mit ihr umzugehen.“ Unter anderem verbessere sich dadurch die Therapietreue.Auch die Qualität der ärztlichen Di-agnostik lässt sich durch diese Art der Arzt-Patienten-Kommunikation verbessern: „Je mehr ein Patient in die Entscheidungen bezüglich seiner Ge-

sundheit einbezogen ist, umso besser ist das Ergebnis. Ärzte sollten sich dem öffnen“, erklärt der Experte. Patien-ten können mit digitalen Tools über einen längeren Zeitraum regelmäßig Messwerte sammeln. Können Ärzte auf diese Werte zurückgreifen, bringt das unter Umständen Erkenntnisse, die im Rahmen einer Untersuchung nicht zutage gekommen wären. Das Handy ersetzt dann nicht etwa den Arztbesuch, sondern unterstützt den Arzt bei der Diagnosestellung. „Shared Decision-Making“ und „Patient-Empowerment“ nennen sich diese Trends einer stärke-ren Patienten-Beteiligung.

Für Pharmaunternehmen ist der Trend eine Chance, den Dialog mit den Pa-tienten zu verbessern. Häufig sind diese gegenüber Arzneimittelherstel-lern skeptisch eingestellt: So ergab die Gesundheitsstudie !"&& des Marktfor-schungsinstituts „Produkt + Markt“, dass nur &$ Prozent der Deutschen die pharmazeutische Industrie für ver-trauenswürdig halten. Das Bedürfnis nach neutralen Gesundheitsinforma-tionen haben die meisten Arzneimit-telhersteller bereits erkannt: Sie bieten entsprechende Websites zu verschiede-nen Krankheitsbildern und den unter-schiedlichen Therapiemöglichkeiten.Im Austausch mit Self-Trackern und Tool-Herstellern könnten Pharmaun-ternehmen einiges über die Bedürfnisse der zukünftigen Patientengeneration lernen: „Wir sind nicht voreingenom-men gegenüber Pharmaunternehmen. Wir sind neutral eingestellt“, erklärt etwa Florian Schumacher. „Wir pro-bieren selbst aus, ob und in welcher Dosierung uns ein Medikament hilft. Wir testen aber auch, ob alternative Methoden besser sind, zum Beispiel Yoga.“ Self-Tracker möchten sich also von den Aussagen von Ärzten, Kran-

↘ Beziehungspflege 2.0 – was ist erlaubt?

Self-Tracker Florian Schumacher,

»Wir sind nicht voreingenommen gegenüber Pharmaunternehmen. Wir sind neutral eingestellt.«

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kenkassen und Pharmaindustrie lösen. Orientieren sich Arzneimittelhersteller an dieser Entwicklung, könnten sie das Vertrauen der neuen Generation „mündiger Patient“ gewinnen.Den Trend zum Self-Tracking könn-ten Unternehmen etwa nutzen, in-dem sie offen mit Herstellern solcher Tools kooperieren und den Anwendern Kommunikationsplattformen anbieten. Tauschen sich Arzneimittelhersteller mit den Start ups aus, können sie auf ihre Produktpalette zugeschnittene Self-Tracking-Tools anbieten. Aller-dings sollten sie sich überlegen, welche Zielgruppe sie ansprechen möchten: Sind das vor allem Patienten, sollten die entsprechenden Tools zertifizierte Medizinprodukte sein. Dann könnten sich etwa Diabetes-Patienten auf ei-ner Website über die Krankheit infor-mieren, sich mit anderen Betroffenen austauschen und ihre mit der App oder dem Gadget ermittelten Werte dort verwalten. Diese Form der im Internet aktiven Patienten nennt sich E-Patient.

E-Patienten suchen im Internet In-formationen über ihre Krankheit und tauschen sich auf Portalen wie Pati-entsLikeMe.com über das Leben mit der Erkrankung und über Therapie-möglichkeiten, ihre Wirkungen und Nebenwirkungen aus. Die Grenzen zum Self-Tracking sind f ließend. Man-che Self-Tracker beobachten nur ihre Gesundheitswerte, um fit zu bleiben. Andere sind zugleich E-Patienten. Sen-sible Daten, so Schumacher, sollten aber nicht einfach so im Netz stehen, wo

Krankenkassen und Arbeitgeber darauf zugreifen könnten: „Es ist ein riesiger Unterschied, ob ich mit meinen Freun-den auf Twitter meine Lauferfolge teile oder ob ich meine Krankenakte online stelle.“ Im Prinzip müsse jeder selbst entscheiden, was er mit vollem Namen online stelle: „Ich finde, da ist jeder für sich selbst verantwortlich.“In diesem Punkt ist sich Schumacher mit dem Bundesbeauftragten für den Datenschutz und die Informations-freiheit, Peter Schaar, einig: „Daten-schützer sind keine Gouvernanten. Informationelle Selbstbestimmung bedeutet vielmehr, dass der Einzelne die Datenhoheit besitzt und bestimmt, was er über sich preisgibt und was mit seinen Daten passiert“, so Schaar. Self-Trackern empfiehlt er, sich die Plattformen genau anzusehen, bevor sie ihre Daten einstellen.Das Problem: Bei vielen der Platt-formen, so etwa bei PatientsLikeMe.com, sind die Daten stets öffentlich einsehbar. Das Gleiche gilt für Daytum.com, die bekannteste Plattform für Self-Tracker: In der Basis-Version sind sämtliche Daten öffentlich – bestimm-te Daten schützen kann nur, wer vier Dollar im Monat bezahlt. Peter Schaar rät daher zu besonderer Vorsicht: „Wer nicht vollständig sicher ist, dass es sich um einen wirklich seriösen Anbieter handelt, der den Datenschutz ernst nimmt, sollte lieber die Finger von solchen Diensten lassen.“ In jedem Fall sollten Self-Tracker sich Datenschutz-erklärung und Nutzungsbedingungen sorgfältig durchlesen – insbesondere,

wenn die Anbieter außerhalb der Eu-ropäischen Union sitzen. Denn dort gelten oftmals weniger strenge Daten-schutzbestimmungen.Weiteres Vertrauen schaffen könnten in diesem Zusammenhang Pharmaunter-nehmen, indem sie die Daten ihrer User angemessen schützen. Diese dürfen nur mit Zustimmung der Nutzer ver-arbeitet werden, was stets anonymisiert geschehen sollte. Zudem muss es den Anwendern in jedem Fall problemlos möglich sein, ihren Account zu löschen. Prinzipiell haben die Arzneimittelher-steller die Self-Tracker auf ihrer Seite, wenn sie Patientendaten nutzen, um ihre Medikamente und Dosierungen zu verbessern: „Ich wüsste nicht, was dar-an schlecht sein sollte“, meint Florian Schumacher. Nur: Die Daten müssen anonymisiert bleiben. Dann stört es den Self-Tracker auch nicht, dass der Hersteller seines Schlafstirnbands seine Werte weiterverkauft – dem hat er in den Nutzungsbedingungen zugestimmt. '

Obsessive Datensammler:

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