Das Spannungsverhältnis von Heimat und Exil

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Yvonne Chaddé Modul 2/3 Professor Michel Cullin Hochschule Merseburg (FH), Angewandte Kultur- und Medienwissenschaften Berlin, 20. August 2008 1 (Un)heimliche Heimat Das Spannungsverhältnis von H e i m a t und E x i l / nach einem Aufsatz von Claudia Öhlschläger 1 Beschädigung für Jean Améry ich reiß mich zusammen am beschädigten Leben teilzunehmen und Mitgefühl zu entwickeln für jene die gefoltert wurden da ich nicht decken kann was ihren Körpern an Entgrenzung widerfuhr muss ich lesend lernen und schreibend teilen ich muss die Monster zerschlagen deren Steingehäuse Natur einfordert und im Minutentakt Opfer kauen während ich mich an der Heimat ängstige Heimat ist ein emotional geprägter Begriff, der im Laufe der Geschichte zahlreiche Bedeutungen angereichert hat. Avanciert er bis zum zweiten Weltkrieg zu einem normativen Identitätsfaktor, der in sich positive Eigenschaften vereinigt oder wie es Alexander von der Borch Nitzling treffend formuliert: „eine imaginäre Sphäre der Unschuld auf einen realen geografischen Ort projiziert“ (Borch Nitzling 2007: 32), schließt eine Zerstörung dieser geografischen Orte im zweiten Weltkrieg auf die menschlichen Schicksale und Faktoren, die eine Identifikation mit jenen Werten, die letztendlich zu Rassenpolitik und Shoa führten, in Frage stellen. Das Konzept Heimat als eindeutig positives Identitätskonstrukt 2 stößt an seine Grenzen, wo es die (geschichtliche) Veränderung der Wirklichkeit nur unzureichend erfassen und erklären vermag. 1 Claudia Öhlschläger: „Unheimliche Heimat“. Literarische Positionen und Reflexionen. Zur Psychologie des Exils, in: Ruth Werfel (Hrsg.): Gehetzt. Südfrankreich 1940. Deutsche Literaten im Exil, Zürich 2007, S. 169 – 190 2 „Allen positiven Werten war Heimat inhärent. Heimat wurde gerade zum Symbol für das Gute, Reine, Richtige.“ (Bastian 1995: 216)

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nach einem Aufsatz von Claudia Öhlschläger zum psychologischen Verhältnis von Heimat und Exil.Diskursive Beleuchtung des Heimat-Begriffs.

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(Un)heimliche Heimat

Das Spannungsverhältnis von Heimat und Exi l/

nach einem Aufsatz von Claudia Öhlschläger1

B e s c h ä d i g u n g für Jean Améry

ich reiß mich zusammen

am beschädigten Leben teilzunehmen und Mitgefühl zu entwickeln für jene die gefoltert wurden

da ich nicht decken kann was ihren Körpern an Entgrenzung

widerfuhr muss ich lesend lernen und schreibend teilen

ich muss die Monster zerschlagen deren Steingehäuse Natur einfordert

und im Minutentakt Opfer kauen

während ich mich an der Heimat

ängstige

Heimat ist ein emotional geprägter Begriff, der im Laufe der Geschichte zahlreiche Bedeutungen

angereichert hat. Avanciert er bis zum zweiten Weltkrieg zu einem normativen Identitätsfaktor,

der in sich positive Eigenschaften vereinigt oder wie es Alexander von der Borch Nitzling

treffend formuliert: „eine imaginäre Sphäre der Unschuld auf einen realen geografischen Ort projiziert“

(Borch Nitzling 2007: 32), schließt eine Zerstörung dieser geografischen Orte im zweiten Weltkrieg

auf die menschlichen Schicksale und Faktoren, die eine Identifikation mit jenen Werten,

die letztendlich zu Rassenpolitik und Shoa führten, in Frage stellen. Das Konzept Heimat als

eindeutig positives Identitätskonstrukt2 stößt an seine Grenzen, wo es die (geschichtliche)

Veränderung der Wirklichkeit nur unzureichend erfassen und erklären vermag.

1Claudia Öhlschläger: „Unheimliche Heimat“. Literarische Positionen und Reflexionen. Zur Psychologie des Exils, in: Ruth Werfel (Hrsg.): Gehetzt. Südfrankreich 1940. Deutsche Literaten im Exil, Zürich 2007, S. 169 – 190 2 „Allen positiven Werten war Heimat inhärent. Heimat wurde gerade zum Symbol für das Gute, Reine, Richtige.“ (Bastian 1995: 216)

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Doch die positive Konnotation von Heimat als raum-zeitliche Bindung von Menschen ist nicht

abwegig. Nach dem kulturökologischen Raumorientierungsmodell von Ina-Maria Greverus wird

der ‚eigene’ Raum durch Aneignung kulturspezifisch umgrenzt, um Identität, Sicherheit und

Aktion zu gewährleisten. Die Orientierung im Raum dient der Befriedigung der

Lebensbedürfnisse und richtet sich (1) nach den Grundbedürfnissen, (2) nach der strategisch-

politischen Möglichkeit im Raum Einfluss zu nehmen, hat mit (3) Zugehörigkeit eine

soziokulturelle Komponente und bedarf einer (3) symbolischen sozusagen ästhetischen Ordnung,

um sich mittels eines Leitsystems sicher zu fühlen (Borch Nitzling 2007).

Ein Konzept von Heimat dient demnach der symbolischen Selbstvergewisserung.

„Aus Zugehörigkeit wurde Zuschreibung, aus Sicherheit Angst, aus Aktion Reaktion.“

(Borch Nitzling 2007: 35)

Heimat aus der Perspektive des Heimatverlustes kommt dann zum Tragen, wenn eine

Verlusterfahrung, das Infragestellen einer „scheinbar unhinterfragbare[n] Einheit von Person und Umwelt“

(Gebhard 2007: 14) die Bedeutung von Heimat prägt, sogar initiiert, wie Claudia Öhlschläger am

Beispiel der aus Österreich ins Exil getriebenen meist jüdischen Schriftsteller nach der Besetzung

Österreichs durch die Nationalsozialisten zeigt. Durch die Arbeit des Schriftstellers ist Zeugnis

gegeben, wie das Trauma des Verlustes be- und verarbeitet wird. Beispielgebend ist die

Auseinandersetzung mit der Frage nach der Heimat eines beschädigten Lebens bei Jean Améry3

wie W.G. Sebald4 in seiner Essaysammlung (Un)heimliche Heimat über den Lebensweg von

Exilschriftstellern nachspürt.

„Programmatisch versteht Sebald (…) Heimat als ein sentimentalistisches Konzept, welches aus einer

Verlusterfahrung heraus entstanden ist und die Identifikation mit einem unwiderbringlich verlorenen Raum auf

imaginäre Weise in einer kompensatorischen Geste herzustellen sucht.“ (Fuchs 2004: 115)

Das Heimat-Bild ist das mitgenommene der Erinnerung, das, sofern es nicht negativ besetzt oder

zerstört wurde, in die Utopie einer unschuldigen Vergangenheit mündet. Ist die Heimat

sehnsuchtsvoll besetzt als Erfahrung, die noch nichts von dem späteren Trauma weiß,

3 Jean Améry wurde am 31. Oktober 1912 als Hans Mayer in Wien geboren. Der assimilierte Jude flüchtete 1938 nach Belgien und schloss sich dem Widerstand an. Er wurde schwer von der Gestapo gefoltert und in verschiedenen Internierungs- und Konzentrationslagern interniert. Nach 1945 lebte er in Brüssel und war als Kulturjournalist tätig. Er beging 1978 in Salzburg Selbstmord. 4 W.G. Sebald wurde am 1944 im Allgäu geboren und lehrte seit 1970 bis zu seinem Unfalltod 2001 an der Universität Manchester Deutsche Sprache.

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ist jede Bedeutung an dieser Schuldlosigkeit gemessen. Gleichzeitig wird sich diese Utopie als

reale Erinnerung versagt, weil das Überlebthaben das eigene Todesurteil immer mit sich trägt.

Das Leben vor dem Exil wird als schuldig durch seine Verurteilung erfahren. Identitätsbildende

Aspekte wie Sprache verbinden zwar mit dem „Heimatland“, musealisieren aber zunehmend

(Bastian 1995).

Identität speist sich aus zwei Faktoren, einem sozialen und einem personalen. Fragt der personale

Aspekt nach dem eigenen Wesen ‚Wer bin ich?’, so erörtert der soziale die Zugehörigkeit

‚Zu wem gehöre ich?’ (Borch Nitzling 2007: 32). Wird Heimat als soziale, emotionale und

räumliche Bindung verstanden (Bastian 1995), so erschüttert eine Umschreibung der

identitätsbildenden sozialen Werte im Falle einer bewussten Ausgrenzung das Verständnis seiner

Selbst und auch das Verständnis von Heimat.

„Nicht der geordnete und lesbare lokale Raum wird hier als Heimat gedacht, sondern die Nachkriegsruine, die die

Durchlässigkeit der Grenze von innen und außen symbolisiert.“ (Fuchs 2004: 111)

Trägt das herkömmliche Konzept von Heimat eine Vorstellung von stabiler Identität mit sich

und dient quasi gegen den zersetzenden Einfluss äußerer Faktoren des gesellschaftlichen Wandels

auf die Persönlichkeit, bietet Sebalds ambivalente Vorstellung von Heimat Raum für eine

Erfahrung, die ein Ergebnis ideologischer Lebensentwürfe bezeichnet, wie die

Instrumentalisierung des Heimatbegriffes für die Politik der Ausrottung im Fall der

Nationalsozialisten zeigt.

Anne Fuchs macht darauf aufmerksam, dass der Fremde, wie Simmel belegt, konstitutiver Teil

der Gruppe ist, damit diese sich abgrenzend zum Außen im Raum als solche mittels ideeller und

symbolischer Fixpunkte definieren kann.

Differenz ist somit ein Bestandteil von Identität.

Erst, wenn diese Differenz verleugnet und die Alterität ausgegrenzt wird, muss das starre

ideologische Konzept gegen die Wirklichkeit verteidigt werden und kann als Konsequenz die

„Bereinigung“ der Realität zu Gunsten der Ideologie nach sich ziehen.

Nimmt man die Verwandtschaft von Heimat und heimlich wörtlich, so erhellt sich auch dort das

Andere im Eigenen:

„Das Fremde ist so gesehen ein konstitutiver Teil des Vertrauten.“

(Öhlschläger 2007: 175)

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Die Heimat wird dann unheimlich, wenn das verdrängte Vertraute, das, was geheim wurde, in

einer Gestalt zurückkehrt, die Unbehagen auslöst, also unheimlich wird. Es wird erkannt,

aber ängstigt, weil sich nicht bewusst damit identifiziert werden will.

Das Identitätskonstrukt als Vereinbarung zwischen Individuum und Kollektiv (Nation, Region,

Staat, Religion …) ist innerhalb eines passiven Heimatdiskurses nur stabil unter Ausschluss von

Diskontinuitäten und Heterogenitäten. Alle Brüche und störende Faktoren repräsentieren das

Fremde oder verkörpern symbolisch den Fremden (Öhlschläger 2007).

Das Exil ist ein Prozess der Entfremdung. So wird nicht nur die Heimat den Exilanten

unheimlich, die Exilanten werden auch einem statischen territorialen und kompensatorischen

Heimatbegriff unheimlich, weil das Heilsversprechen des Heimatbegriffes beim Exilanten

versagt.

Das Grundthema des bürgerlichen Heimatbegriffes ist die Entfremdung. Die semantische

Erweiterung des Heimatbegriffes als „affektive Besetzung des Raumes“ (Bastian 2004: 113) erfolgt im

Rahmen des Modernisierungsprozesses im Zuge der Urbanisierung und Industrialisierung und

wird geistesgeschichtlich durch das Programm der Aufklärung begleitet. Heimat hat ursprünglich

im 16. Jahrhundert eine rechtliche Dimension bezogen auf einen konkreten Ort und Sachverhalt.

Das ständisch gebundene „Heimatrecht“ stellt im 16. Jahrhundert die Grundlage für ein

Wohnrecht, Altenpflege und Ruhestätte dar, welche durch Geburt, Heirat und Aufnahme in die

Gemeinde gesichert und praktisch durch Vererbung des Hofes durchgeführt wird. Im

Armutsfalle bedeutet der Verweis aus der Gemeinde die ‚Heimatlosigkeit’ - auch hier trägt der

Begriff schon seinen Anonym mit sich. Im 19. Jahrhundert wird das „Heimatrecht“ weitesgehend

durch ein „Recht auf Freizügigkeit“ ersetzt (Fuchs 2004: 111). Neben seiner juristischen und

alltagssprachlichen Funktion findet Heimat Verwendung in der Biologie als

Herkunftsbestimmung von Lebewesen und im religiösen Sinne die „himmlische Heimat“ als

Heimstätte/ Heimatrecht für jedermann. Die schützende Aufgabe der Heimat ist etymologisch

bei Alexander von der Borch Nitzling nachgezeichnet: (neutral) hâm (Hemd/ Decken),

(neutral) hêm (Heim) und (neutral) haim (Himmel) verweisen darauf (Nitzling 2007: 57).

Indem die göttliche Ordnung mit Auflösen der Ständegesellschaft zur Disposition gesellt wird,

kann Heimat, inzwischen mit einem weiblichen Geschlecht versehen, die ideologische Freistelle

besetzen und dient der emotionalen Rückversicherung, das eigene Leben sei vor dem

‚Werteverfall’ sicher. Eine der Wirklichkeit entgegengesetzte Welt wird mit Heimat entworfen,

diese Welt ist überschaubar, einfach und idyllisch und (ent-)steht synonym für das/ auf dem

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Lande. Heimat avanciert als Spiegelbild zivilisatorischer Leistungen zu einer normativen

Kategorie, die konkrete Erwartungen an die Lebenserwartung und Lebensführung stellt

(Bastian 2004). Heimat kompensiert jene Entfremdung, die durch die Beherrschung der Natur

erfahren wird. Die im Aufklärungsdiskurs erklärte Vernunftbegabung des Menschen verortet

jenen nicht in einer Mittler- oder Zwischenstellung untereinander und der ihn umgebenden

Phänomene, sondern definiert ihn plötzlich als Subjekt gegenüber der Objektwelt (Nitzling

2007). Diese Gewahrwerdung seiner Stellung ist der Punkt „an dem die Natur endgültig aufhörte,

die natürliche Heimat des Menschen zu sein“ (Sebald in Fuchs 2004: 117)

„Heimat konnte nun alles das beschreiben, was die Erfahrung einer Aufhebung von Entfremdung ermöglichte.“

(Nitzing 2007: 60)

Anstelle der ernsthaften Reflexion über die Mündigkeit eines aufgeklärten Bewusstseins tritt der

Mythos eines vorbewussten und ursprünglichen natürlichen Seins, das territorial verankert sei.

Nationale und rassische Ideen als auch ideologische Heilserwartungen knüpfen sich über die

Heimat an ein konkretes Erleben von Ortsgebundenheit (Joisten 2003).

Durch die Zuschreibung passiver Kategorien wie Herkunft und Geschlecht wird Heimat im

Laufe dieser emotionalen Aneignung statisch und lässt sich für (bürgerliche) Ideologien nutzbar

machen, um eine durch jene Kategorien definierte Gruppe von Menschen in die nationale oder

ethnische Gemeinschaft zu integrieren. Der Weg zur Ausgrenzung der Juden ist nicht weit: zum

einen durch die Verlagerung einer ‚reinen’ Schicksalsgemeinschaft in ahistorische (vorjüdische)

Zeit und zum anderen durch die Propagierung eines jüdischen Internationalismus fern der

Scholle (vergleiche Borch Nitzing). Mit den Nürnberger Gesetzen und seinen Pendants wird den

Juden das Recht auf Heimat abgesprochen und sie werden kollektiv als Gemeinschaft mit

bestimmten Eigenschaften verortet.

Die folkloristische Eigenschaft von Heimat ist also trügerisch:

„Überall herrscht die größte Kälte, in den Verhältnissen zwischen den Menschen sowohl als in der in ihrem

Bewusstsein auf einmal als >das andere< aufgegangene Natur.“ (Sebald 1995: 12)

Die Konstruktion eines Identitätdiskurses, der das Fremde mit allen unerwünschten

Eigenschaften versieht, um das Gefühl der Entfremdung von der identitätsstiftenden Natur und

seiner topografischen Verfasstheit zu kompensieren, übersieht, dass die Zueignung eines

‚natürlichen’ Raumes durch Anpassung schon ein Akt der Entfremdung ist (Fuchs 2004: 110),

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da der Mensch als „exzentrisches Wesen, dem der harmonische Einbezug in die harmonische Umwelt verwehrt

ist“ (Konersmann 2003:74) die Einheit mit der Natur konstruieren muss.

Heimat ist der Versuch, Differenz abzuschaffen (Sebald 1995: 14). Diese Differenz gräbt sich als

leibliche Erfahrung ein, wenn ein Mensch aus der Heimat verstoßen wird und mündet in einen

Prozess der inneren und äußeren Entfremdung: Nicht nur reflektiert der ‚Heimatlose’ in der

Fremde seine Außenseiterposition, auch verlässt er das sichere Zentrum seiner Selbstgewissheit.

Im Exilfall und gerade wie bei Jean Améry verbunden mit Folter und Inhaftierung, wird das

positiv besetzte Heimat-Ich einer Prüfung unterzogen, in der es seine Existenzberechtigung und

seine Existenz verliert. Er wird aus der Identitätsgemeinschaft, die Heimat bezeichnet, definitiv

ausgeschlossen. Der Bedeutungszusammenhang Heimat wird gewaltsam genommen oder

umkodiert. Durch ihren Verlust zeichnet sich die Bedeutung einer stabilen Identität klar ab.

Das Heimat-Ich hat keine Berechtigung mehr und wird abgestoßen – mit ihm das damit

verbundene Leben. Die eigene Vergangenheit wird demontiert, verurteilt, gehasst und

verinnerlicht damit jene Zuschreibungen, die die Rechtfertigungsgrundlage für den Verstoß

bilden.

Schuld und Feindbild werden damit zu einem problematischen Teil der Persönlichkeit:

die Unsicherheit der Fremde des Exils kann nicht durch die Stabilität einer intakten

Persönlichkeit aufgefangen werden, sondern wird durch den inneren Konflikt, wie mit dem

schuldvollen, verstoßenen und als vergangen stilisierten Heimat-Ich umgegangen werden soll,

verstärkt. Dieser Konflikt führt zu einer Abspaltung und Verdoppelung des Ich.

(Öhlschläger 2007)

Die Zerstörung der Person, die schon mit der verordneten Namensänderung unter den

Nationalsozialisten beginnt, setzt sich durch den Verlust der Souveränität im Exilfall fort

(vergleiche Raumanpassungsmodell), mündet in die leibliche Dimension der Folter

(da die Todesgefahr das Weltvertrauen ein für alle Mal erschüttert, vergleiche Öhlschläger) und

schließt mit der psychologischen Arbeit an der Vernichtung der Vergangenheit.

Die Entfremdung als „allgegenwärtige Fremde“ (Fuchs 2004: 128) wird total.

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verwendete Literatur:

And re a Ba s t i a n : Der Heimat-Begriff, Tübingen 1995

A l exande r von de r Bo r ch N i t z l i ng : (Un)heimliche Heimat. Deutsche Juden nach 1945.

Zwischen Abkehr und Rückkehr, Oldenburg 2007

Anne Fuch s : Die Schmerzensspuren der Geschichte. Zur Poetik der Erinnerung in W. G.

Sebalds Prosa. Köln/ Weimar/ Wien 2004

Gunthe r Gebha rd , O l i v e r Ge i s l e r , S t e f f en S ch rö t e r (H r sg . ) : Heimat. Konturen

und Konjunkturen eines umstrittenen Konzepts, Bielefeld 2007

Ka r en Jo i s t e n : Philosophie der Heimat. Heimat der Philosophie, Berlin 2003

Ra l f Kone r smann : Kulturphilosophie zur Einführung, Hamburg 2003

C l aud i a Öh l sch l ä ge r : „Unheimliche Heimat“. Literarische Positionen und Reflexionen. Zur

Psychologie des Exils, in: Ruth Werfel (Hrsg.): Gehetzt. Südfrankreich 1940. Deutsche

Literaten im Exil, Zürich 2007, S. 169 – 190

C l aud i a Öh l sch l ä ge r : Beschädigtes Leben. Erzählte Risse, Freiburg/ Berlin/ Wien 2006

W.G. Seba ld : Unheimliche Heimat, Frankfurt am Main 1995