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  • n Als im Herbst 2015 Hunderttausende Migrant_innen die sdliche Grenze Ungarns erreichten, warnte die ungarische Regierung ihre Bevlkerung mit einer Medienkam-pagne bereits seit Monaten vor den tckischen Folgen von Einwanderung. Eines der Elemente dieser bis heute andauernden Kommunikationskampagne ist die juristi-sche Anfechtung der Flchtlingsquote am Europischen Gerichtshof. Bis zur nchs-ten Wahl verfolgt Viktor Orbn jedoch ein noch wichtigeres Ziel: Er beabsichtigt, den Anschein eines dauerhaften Kampfes. Jede Minute, in der der Premierminister in den Medien ber Migrant_innen spricht, festigt seine Macht.

    Budapest 2017TAMS BOROS

    Q&A: Europische Debatten zum Thema Migration

    Was sind die Grnde fr die Reaktion der ungarischen Regierung?

    Das Urteil zur EU-Flchtlingsquote:

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    TAMS BOROS | DAS URTEIL ZUR EU-FLCHTLINGSQUOTE

    Wie sehen die Hintergrnde der Entschei-dung aus?

    Eine der Reaktionen des EU-Ministerrats auf die Flchtlingskrise war der am 22. September 2015 gefasst Beschluss 2015/1601. Demnach sollten Italien und Griechenland durch die Umverteilung von Asylsuchende in andere EU-Mitgliedstaaten entlastet werden. Auch Ungarn musste ber das Ersuchen befinden und 1294 Asylsuchende auf-nehmen. Der bei der EU-Sitzung anwesende Re-prsentant der ungarischen Regierung stimmte gegen die Entscheidung. Im Anschluss erklrten Ungarn und die Slowakei, dass sie die Entschei-dung am Europischen Gerichtshof (EuGH) an-fechten wrden. Um das Verfahren einzuleiten verabschiedete der Ungarische Brgerbund (Fi-desz) in der Nationalversammlung ein Gesetz, dessen Begrndung lautete: die obligatorische Umsiedlungsquote [muss abgelehnt werden], weil sie unsinnig und gefhrlich ist und die Krimi-nalitt erhht, Terrorismus verbreitet und unsere Kultur gefhrdet. Als legale Basis fr die Ableh-nung wurde das Subsidiarittsprinzip angege-ben, wonach einzelne Mitgliedsstaaten das Recht haben darber zu entscheiden, wen sie aufneh-men und mit wem sie zusammenleben wollen. Somit focht Ungarn nicht den Inhalt der Ent-scheidung an, sondern hinterfragte vielmehr die gerichtliche Entscheidungshoheit des Rates bei solchen Angelegenheiten. Am 6. September 2017 entschied der EuGH jedoch, die ungarisch-slo-wakische Klage zurckzuweisen. In der Begrn-dung verwies der Gerichtshof auf Artikel 73 Para-graf (3) des Vertrags ber die Arbeitsweise der Europischen Union (AEUV). Dieser Artikel stelle eine ausreichende rechtliche Grundlage fr die Quotenregelung dar, da die Krisensituation in Griechenland und Italien temporre Manahmen erforderlich mache.

    Die Orbn-Regierung versuchte das Inkrafttreten der Quotenregelung nicht nur mit einer Klage, sondern mit fnf gesonderten juristischen Ma-nahmen zu verhindern

    1) Das oben genannte Gesetz. In der rechtlichen Hierarchie ist die parlamentarische Gesetzgebung jedoch nachrangig gegenber der EU-Entschei-

    dung. Daher kann dieses Gesetz die Quote nicht auer Kraft setzen.

    2) Die Anfechtung der Entscheidung am EuGH. Die Klage wurde abgewiesen. Zwar hat Premier Orbn die Entscheidung letztendlich anerkannt, doch auch verkndet, dass Ungarn dennoch keine Quoten-Flchtlinge aufnehmen werde.

    3) Das im Oktober 2016 abgehaltene Referendum, in dem ungarische Brger_innen die folgende Fra-ge beantworten sollten: Mchten Sie, dass die Europische Union die Macht hat zu bestimmen, dass nicht-ungarische Brger_innen obligatorisch nach Ungarn umgesiedelt werden, ohne dass die Nationalversammlung ihr Einverstndnis erteilt? Whrend die Opposition zu einem Boykott aufrief, stimmten 98% der Whler_innen insgesamt 3.4 Millionen Menschen mit Nein und untersttz-ten somit den Standpunkt der Regierung. Die Volksabstimmung war jedoch ungltig, da weniger als 50% der Wahlberechtigten teilnahmen.

    4) Die sogenannte Siebte Verfassungsnderung, mit der Fidesz das Grundgesetz (die Verfassung Ungarns) um eine Bestimmung ergnzen wollte, die besagt, dass auslndische Vlker nicht nach Ungarn umgesiedelt werden knnen. Allerdings war Fidesz nicht in der Lage, die notwendige Zweidrittelmehrheit im Parlament zu erlangen.

    5) Der ungarische Kommissar fr Grundrechte wandte sich an das Verfassungsgericht um her-auszufinden, ob die EU-Quote in Anbetracht des im Grundgesetz verankerten Verbots der Kollekti-vausweisung verfassungswidrig sei. Die Or-bn-Regierung hofft, dass wenn das Gericht eine Verfassungswidrigkeit feststellt, sie dieses Urteil nutzen kann, um eine Umsiedlung von Geflchte-ten nach Ungarn zu verbieten.

    Warum braucht die Orbn-Regierung den Streit um die Quote?

    In Bezug auf Stimmenzuwachs und wachsende Untersttzung war die flchtlingsfeindliche Politik der Orbn-Regierung eine der erfolgreichsten po-litischen Innovationen der letzten Jahre. Dank der

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    ffentlichkeitskampagne der Regierung glauben 66% aller Ungarn, dass geflchtete Menschen die grte Gefahr fr das Land darstellen und das obwohl derzeit hchstens ein paar Dutzend Men-schen tglich an der ungarischen Grenze ankom-men. Ein hnlicher Whleranteil wrde Geflchte-ten die Einreise vollstndig verbieten. Ungarn findet sich somit an der Spitze der Lnder wieder, die gegen Migrant_innen agieren. Orbn selbst konnte dank seiner Anti-Migrant_innen-Stim-mung seine Popularitt sowohl zuhause als auch in Europa erhhen.Es ist jedoch wichtig, zwischen seiner Ideologie, seiner Politik und seinen Aussagen in Bezug auf Migrant_innen zu unterscheiden. Ideologisch ge-sehen argumentiert der ungarische Premierminis-ter, dass zentraleuropische Staaten kulturell ho-mogen seien, da sie keine Kolonien besaen und whrend der kommunistischen Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg von der Bildung multikultureller Gesellschaften ausgeschlossen waren. Seiner Meinung nach schafft diese Homogenitt einen verhltnismigen Vorteil: Sie hat einen staats-bildenden Charakter und frdert zudem Zusam-menhalt und Sicherheit. Laut Orbn mchte Un-garn kein Einwanderungsland werden und hat kein Interesse daran, seine kulturelle Homogeni-tt aufzugeben. Der Premierminister vertritt die Position, dass die groen demographischen Pro-bleme des Landes durch hhere Geburtenraten und nicht durch Einwanderung gelst werden mssen. Seiner These nach, stellen Migrant_in-nen eine Gefahr fr ganz Europa dar, da sie die Islamisierung und die Verbreitung des Terroris-mus auf dem ganzen Kontinent herbeifhren wrden. Diese Argumentation sttzt sich auf das oben genannte Souvernittsprinzip, welches be-sagt, dass Nationalstaaten in Migrationsfragen nur einvernehmliche Entscheidungen treffen dr-fen. Als souverner Staat msse sich Ungarn so-mit gegen supranationale EU-Bestrebungen hin-sichtlich dieser Problematik wehren.

    Die migrationspolitische Position der Orbn-Re-gierung lautet, dass die Flchtlingskrise primr durch Grenzschutz an den EU-Grenzen gelst werden kann. Dies war der Grund weswegen ein Zaun an der sdlichen Grenze Ungarns errichtet und Milliarden Forint fr den Grenzschutz ausge-

    geben wurden. Hierfr forderte Orbn erst krzlich weitere EU-Gelder. Eines der Regierungsargu-mente gegen die Quote lautet, dass es sinnlos sei, die Verteilung von Migrant_innen zu diskutieren, solange die EU nicht in der Lage ist die Einreise-zahlen zu verringern. Dies wiederum knne durch Grenzkontrollen erreicht werden. Die ungarische Regierung hat oft behauptet, dass es unmglich sei, Geflchtete von illegalen Migrant_innen zu un-terscheiden. Somit sei die einzig korrekte Lsung, dass die Menschen in ihrer Heimat (in Afrika oder dem Mittleren Osten) bleiben. Damit beschrnkt sich die Position der ungarischen Regierung in Be-zug auf Migration auf Sicherheits- und Verteidi-gungsdimensionen. Humanitre oder menschen-rechtliche Aspekte bleiben auen vor.

    Schlielich ist auch die Medienstrategie der Or-bn-Regierung eine eigene Diskussion wert, da sie in der Debatte um die Flchtlings-Quote und das Thema Migration im Allgemeinen mit ngsten argumentiert. In Regierungsmitteilungen werden Migrant_innen und Geflchtete stets als gesichts-lose Masse dargestellt, die europische und unga-rische Brger_innen bedroht. Mord, Raub, Ver-gewaltigung, Terrorismus: In den pro-Fidesz Medien, die den Groteil der ungarischen Presse-landschaft ausmachen, werden Migrant_innen fast ausschlielich mit diesen Begriffen assoziiert. Operation Angst wurde mit einer Plakatkampag-ne abgerundet, die durch mehrere Millionen Euro ffentlicher Gelder finanziert wurde. Zusammen-genommen bewirkten all diese Elemente, dass ungarische Brger_innen, die niemals selber eine Begegnung mit Geflchteten, Migrant_innen oder Menschen mit einer anderen Hautfarbe oder aus einer anderen Kultur hatten, diesen nun mit ins-tinktiver Zurckweisung und Angst gegenber-standen. Ein sinnvoller Dialog war daher im Land nicht mehr mglich. Dies war ganz im Interesse der Fidesz-Partei. Solange ein einziges Thema die politische Agenda dominiert, in dem sich 65-70% der Bevlkerung mit Viktor Orbn einig sind, kann die Regierungspartei in Wahlen nicht besiegt wer-den.

    Neben ihrer Anti-Migrations-Rhetorik ben Regie-rung und insbesondere regierungsnahe Medien laute Kritik an Brssel. Es ist nahezu unmglich,

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    eine positive uerung zur EU von Fidesz-Politi-kern zu finden, selbst wenn das Thema nichts mit der Flchtlingskrise zu tun hat. Diese EU-feindli-che Einstellung hat mglicherweise die Glaubwr-digkeit von EU-Institutionen bei Fidesz-Whler_innen (aber nicht unbedingt in anderen Gesellschaftsschichten) untergraben. Orbn-An-hnger_innen sind somit schnell damit, die Unab-hngigkeit des EuGH zu hinterfragen und ihn fr eine feindliche, politisch motivierte Einrichtung zu halten.

    Was geschieht nach der Quoten-Entscheidung?

    Der richtige Kampf hat gerade erst begonnen stellten Kabinettsmitglieder bei Pressemitteilun-gen nach dem Entscheid ber die Quotenregelung klar. Ein Zeichen dafr, dass Fidesz in seiner Rhe-torik weiterhin gegen die Quote, Migration und EU-Institutionen Stimmung machen wird. Mehre-re Minister erklrten, dass die Entscheidung des Europischen Gerichtshofes keine Auswirkungen haben werde. Damit verweisen sie auf eine juris-tische Auslegung, nach der Ungarn trotz der recht-migen Entscheidung des EuGH niemanden auf-nehmen wird.

    Die oben angefhrten Zitate heben hervor, dass die Orbn-Regierung ihren Widerstand sowohl in den Medien als auch vor Gericht weiterzufhren gedenkt.

    Auf juristischer Ebene wre eine Option, dass das Verfassungsgericht die Quote fr verfassungs-widrig erklrt. Eine andere Mglichkeit wre ein langwieriges Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn. Letzteres Szenario wrde jedoch in aller Wahrscheinlichkeit dazu fhren, dass Ungarn zwar hohe Strafen bezahlen msste, aber dennoch den zugewiesenen Personen den Zutritt zum Land verwehren wrde. Die Regierung hat ihren Kampf gegen die Quote zu einem derart groen Teil ihrer Identitt gemacht, dass sie sogar eine finanziell irrationale Lsung akzeptieren wrde, um diese aufrecht zu halten. Diese Haltung bildet auch die Mglichkeit einer Vershnung zwischen den Streitparteien: Ungarn knnte sich, finanziell oder anderweitig, ber seine Verhltnisse hinaus an der

    Bewltigung der Migrationsthematik in anderen Bereichen beteiligen, ohne dass die Quote im Land angewendet werden wrde.

    Ein Radiointerview mit Premierminister Orbn, das direkt im Anschluss an das EuGH-Urteil aus-gestrahlt wurde, weist letztendlich auf die Fortfh-rung des Rechtsstreits zwischen Ungarn und der EU hin. In dem Interview gab der Premierminister zwar zu, dass Ungarn das Gerichtsurteil akzeptie-ren werde, aber er sagte auch, dass das Land kei-ne_n Quoten-Migrant_in aufnehmen werde. So paradox es auch klingt, stellt dies doch eine reelle Option fr Orbn dar: Er akzeptiert, dass die EU in dieser Sache rechtmig gehandelt hat, aber ver-weigert die Ausfhrung der EU-Ministerratsent-scheidung. Dies htte natrlich ein Vertragsverlet-zungsverfahren gegen Ungarn zur Folge, aber in jedem Fall htte Orbn weitere zwei oder drei Jah-re gewonnen. Und es wre mglich, dass es 2019-2020 keine_n Migrant_in mehr gbe, die durch die Quote umverteilt werden mssten...

    Bis zur nchsten Wahl hat Orbn jedoch ein wich-tigeres Ziel als die Verhinderung der Quote: Er be-absichtigt, den Anschein eines Kampfes aufrecht-zuerhalten. Jede Minute, in der der Premier in den Medien ber Migrant_innen spricht, festigt seine Macht. Jede Minute, in der er vorgibt sein Land vor der EU zu beschtzen, vor Angela Merkels Will-kommenskultur, vor George Soros Migrations-plan, erhht Fidesz Popularitt und nimmt der Opposition Raum. Folglich wird Viktor Orbns Ziel nicht die zeitnahe Lsung der Quoten-Frage sein, sondern der ffentlichkeitswirksame Streit mit echten und imaginren Feinden mindestens bis zur Wahl im April 2018.

  • Die in dieser Publikation zum Ausdruck gebrachten Ansichten sind nicht notwendigerweise die der Friedrich-Ebert-Stiftung.

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    Friedrich-Ebert-Stiftung Regionalprojekt Flucht, Migration, Integration in EuropaHerausgeber: Regionalprojekt Flucht, Migration, Integration in Europa

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    www.fesbp.hu/migrationVerantwortlich: Timo Rinke

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    ber den Autor:

    Tams Boros ist politischer Analyst und Co-Direktor von Policy Solutions.

    Der Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung in UngarnDie Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) ist den Grundwerten der sozialen Demokratie verpflichtet: Freiheit, Gerechtigkeit, Soli-daritt, Frieden und Zusammenarbeit sind unsere Ideale. Als Dienstleister der sozialen Demokratie wollen wir zu mehr Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und sozialer Gerechtigkeit in Staat und Gesellschaft sowie zur gegenseitigen Verstndigung in einem gemeinsamen Europa, beitragen. Diese Prinzipien spiegeln sich in unserem Partnerspektrum aus Politik, Gewerk-schaften, Medien und Gesellschaft wieder..

    Regionalprojekt Flucht, Migration, Integration in Europa Das Regionalprojekt der Friedrich-Ebert-Stiftung zu Flucht, Migration, Integration in Europa setzt sich fr die Strkung einer gemeinsamen Europischen Migrations- und Asylpolitik ein. Im Mittelpunkt stehen Fachkonferenzen, Politikanalysen und wissenschaftliche Beitrge die ein besseres Verstndnis fr nationale, regionale und europaweite - Migrationsdiskur-se schaffen sollen. Hieraus leiten sich auch konkrete Hand-lungsempfehlungen fr Entscheidungstrger ab. Im Bereich Integrationspolitik identifiziert das Projekt Integrationserfah-rungen von Migranten und Geflchteten mit dem Ziel Best Practice Beispiele transnational zu vernetzen. Das Projekt luft seit Mrz 2017, der Projektstandort ist Budapest.