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Neue Zürcher Zeitung Sonntag, 30. Juli 1950 Das WOCHEN ENDE Sonntagausgabe Nr. 1587 Blatt 3 Wochenende 32 Begegnung mit Helen Keller Ihren siebzigsten Geburtstag beging Helen Keller in Paris. «Nach fünfzig Jahren die ersten richtigen Ferien», meinte sie, kam indessen kaum zur Ruhe, denn Unzählige holten Hat und Ermutigung bei ihr. Von den Reportern, welche sich diese Berühmtheit nicht entgehen lassen wollten, gaiiz zu schweigen. Ihr alle kennt das Gefühl, das uns in Gegenwart von Behinderten jeder Art erfaßt. Wir freuen uns unserer heilen Sinne nur halb und geben uns ziem- lich linkisch Mühe, nicht im Vollbesitz unserer Kräfte zu erscheinen. Bei Helen Keller ist solches Entgegenkommen, solche Rücksichtnahme nicht not- wendig. Sofort stellt 6ich das Gefühl der Fülle und des Reichtums ein. Diese blinde, taube und stumme Frau verfügt über die «spendende Tugend», die Nietzsche an den großen Frauen lobt, und über einen immensen seelischen Komfort, aus dem der «ge- sunde» und «normale» Gegenüber Stärkung schöpft. Das Gespräch geht über Miss Polly Thomson, die Gefährtin und Sekretärin seit 36 Jahren. Sie «buch- stabiert» die Frage in die unendlich feinfühlende Hand von Helen Keller und empfängt gleich die Antwort, die spontan, eigenwillig und klug zugleich ist. Su schnell folgen sich Rede und Gegenrede, daß wir uns nicht auf das sogenannte Notwendige be- schränken müssen. Der Luxus des Plauderns, die Leberflüssigkeiten des Herzens haben ihren Raum. Man fühlt, daß die Innenräume Helen Kellers hell erleuchtet sind, voll Lcberraschungen und Inten- sität. Paris ist das große Erlebnis der blinden Amerika- nerin. «-Jetzt rieche ich wieder die Düfte, die ich vor fünf Jahren noch vermißt habe: frisches Brot, Wein, kräftigen Tabak, Ich entdecke das Beben der Straßen, das Leben der Parks, spüre das Universum der Bäume und Pflanzen. Heute morgen war ich auf dem Blumenmarkt. Wunderbar!» Unser Spaziergang führt in den «Jardin du Lu- xembourg». Helen Keller betastet die Gitterstäbe, läßt sich von ihrem eigentlichen Pariser Führer, dem Maler Jo Davidson, in die Geheimnisse dieser Stadt ihrem Frankreich-Aufenthalt in Florenz ihre blicken- den Hände über die Statuen Michelangelos gleiten lassen. Dazwischen die Fragen zur Politik und zur Lite- ratur. Ihre treffenden Antworten, ihr Glaube an das Gute im Menschen, ihre Ablehnung einer gewissen modischen Auffassung, welche die Fäulnis des Men- schen sozusagen als fundamental betrachtet. Zuwei- len «hört» sie sich die Fragen und Antworten auch auf den Lippen Miss Thomsons ab, deren Schwin- gungen und Hebungen sie mit den Fingern regi- striert. Nur seiten kann sich Helen Keller ein solches (.astspiel der Meditation und Poesie leisten. Gerne hätte sie einmal ganz ausgespannt, «um zu fischen an einem stillen Urt», wie sie sagt, um dann das Ver- gnügen des Fischens zu beschreiben. Indes, ihr Leben gilt der Hingabc und Fürsorge für die andern Minden, Tauben und Stummen, die weniger glücklich, weniger bemittelt und von kleinerer Seelenstärke sind als sie. In ihrem Heim in Westport, im Staate Connecticut, prüft sie vom frühen Morgen bis zum spaten Abend die Gesuche der Bedrängten, vom Unglück Betroffe- nen, schreibt Artikel und Aufrufe, tröstet und rüttelt die Besitzenden und Gesunden auf. Allein für die Blinden bat sie zehn Millionen Schweizerfranken gesammelt. Wenn irgendwo die Not zu groß ist, hält sie es nicht mehr aus in ihrem friedlichen Heim. Sie geht an Ort und Stelle; etwa nach Japan, wo sie vor Jahren mit Erfolg versuchte, die klägliche Haltung der Regierung gegenüber den Blinden zu ändern. Wie wir so durch die Straßen von Paris schreiten, fangen wir an, Helen Keller um den Schatz ihrer Utlen Ktllers sensible Hände gleiten über die Binde eines Ahorns im ?Jardin du Luxembourg". Sichtbarkeiten su beneiden. Paul Rothenhäusler Mark Twain hat einmal in einem seiner zur Ueberspitzung und zur Groteske neigenden Urteile, behauptet, daß die beiden größten Wunder des 19. Jahrhunderts Napoleon ,und ? , Helen Keller ?eien. Es muß in der Tat den auf seine runden fünf, Aufnahmen Werner Bischof ILtlen Keller ist eint teilnehmend e Zeitgenossin, welche das unrecht und die Kot unserer Tage mtc Leidenschaft zur Kenntnis nimmt wnd gerne helfend einspringt. Be&türzt liest sie hier eine Gedenktafel an den Mauern eines Pariser Gebäudes. einführen. Sie geht den krustigen Unebenheiten der Ahornrinde nach, atmet den Duft der uralten Bäume ein. Sie fühlt die Nähe cines schreienden Kindes, will es «schen*, so wie nur sie sehen kann und darf: sie will es betasten und erahnen. Sie frohlockt bei der innern Vision dieser lebens- freudigen Stadt, deren Esprit und Unbändigkeit sie als große Leserin und gute Zuhörerin voll genießt. Ihre Züge verdüstern sich nach dem Abtasten der steinernen Gedenktafel, welche der Opfer der Nazis gedenkt. Mit einer Lebhaftigkeit, welche intime Vertraut- heit ankündet, tastet sie sich hernach den Kapitälen der «Notre Dame* empor. Sie hat die Skulpturen der Kathedrale von Chartres «gesehen» und will nach Sinne pochenden «gesunden» oder «normalen» Men- schen in höchstes Erstaunen versetzen, zu erfahren, wie ein mit Blindheit geschlagenes und taubstum- mes Menschenkind nicht nur an allen Anliegen der Zrit regen Anteil nimmt und sich auf die unge- zwungenste Weise der Welt mitzuteilen weiß, son- dern daß es ihm darüber hinaus auch noch gelingt, die ganze wesentliche Wissenserfahrung des Jahr- hunderts in sieh aufzunehmen, 6ic sich in einer souveränen Weise zu assimilieren und darüber jenes «Ewig-Weibliche".- nicht gering zu schätzen und zu ver- nachlässigen, dem es Helen Keller zu danken bat, daß eic nie den Sinn für Proportionen \erlieit. Helen Keller wurde am 27. Juni 1880 in der klei- nen Stadt Tuscumbia in Nord-Alabama geboren. Nach ihren Aufzeichnungen, «Die Geschichte meines Lebens», stammt die Familie ihre6 Vaters von Kaspar Keller ab, einem geborenen Schweizer, der sich in Maryland niedergelassen hatte; der Zufall will es, daß- einer ihrer «chweizerischen Vorfahren der erste Lehrer - für Taubstumme in Zürich gewesen ist Helens Mütter war eine intelligente und gütige Frau, weiche das traurige Los des in den dreifachen Kerker der Blindheit, der Taub- heit und der Stummheit geworfenen Kindes nach Möglichkeit zu lindern suchte; der Vater war ein großer Jäger, der sein Ge- wehr und seine Hunde liebte und die kleine Helen vom Weinstock zum Rosen- stock führte, um d?e reif- sten Trauben und die duf- tendsten Rosen in ihre Händchen zu legen. Nur noch ganz nebel- haft erinnert sich das Mäd- chen in der tiefen Nacht seines Ausgestoßenseins ? nach seinem eigenen Zeug- nis ? an einen kurzen Frühling voll jubelnder Vogellieder, an einen Som- mer, reich an Früchten und Blumen, an einen rot - golden verglühenden Herbst. Im Februar des fol- genden Jahres naht die Krankheit, welche ihr für innier Auge und Ohr ver- siegelt und sie in den Dämmerzustand eines Neu- geborenen zurückwirft. Un- verhofft, wie sie gekommen war, weicht die Umarmung des Fiebers, doch Helen Keller wird zeitlebens nicht wieder das Geschenk ge- sunder Augen und wacher Ohren zuteil. In ihrer Ab- geschiedenheit sind es die Düfte der Blumen, ist es ihr armer Tastsinn, sind es die Vibrationen der Luft und die Strahlungen, die von jeder Kreatur aus- gehen, welche ihr Wegwei- ser im Dunkel sind. Noch ist sie die kleine Wilde, in der ein ungebärdiger und herber Lebenswille mit dem Gefühl der tiefsten Er- niedrigung streiten; in der Zeichen- und Gebärden- sprache, die sich die kleine Helen erworben hat, be- deutet ein Fortstoßen «Geh!», ein Heranziehen cKomml»| die Bewegung des Brotschneidens «Gib mir zu essen!», diejenige des Auffangens eines gro- ßen Balles «groß», ein Stückchen des Daumens, zwi- schen den Mittel- und den Ringfinger gelegt, «klein». Der entscheidende Tag in Helen Kellers ganzem Leben ist die Ankunft ihrer Lehrerin, Anne Mans- field Sullivan, drei Monate vor ihrem siebten Ge- burtstag. Durch geheimnisvolle Zeichen ihrer Mut- ter und Ungewisse Ahnungen ihres eigenen Innern verständigt, harrt 6ic vor der Haustür des ungewöhn- lichen Ereignisses. Sie vernimmt Schritte, sie wird von einer Unbekannten emporgehoben und in die Arme geschlossen. Die Lehrerin gibt ihr eine Puppe und buchstabiert ihr in die Hand «d-o-1-1», ein Fin- gerspiel, welches die Kleine sofort gefangen nimmt, obwohl sie seinen Sinn erst viel später erfassen wird. Das erste Wort ? und das erste Fenster auf die Welt ?, der erste Strahl der Bildung für die Ent- erbte, ist der Begriff «Wasser» gewesen, jenes kalte und köstliche Etwas, das am Brunnen belebend durch ihre Hände gleitet und für welches sie selbst in den schwersten Stunden ihres Lebens eine Art von Urlaut erfunden hatte; aber das schönste und schlichteste Wort der Welt ? Liebe ? bereitet Helen großes Kopfzerbrechen. «Ist Liebe der Duft der Blumen?» erkundigt sich das Mädchen. «Nein», erwidert die Lehrerin. Helen deutet in der Richtung der Sonne. «Ist dies die Liebe?» «Nein>;, antwortet die Lehrerin, und das Kind ist enttäuscht, weil es seiner Meinung nach nichts Schöneres geben kann als dieses Licht. Wenig später reiht sie Perlen auf einen Faden, und Fräulein Sullivan unterweist sie geduldig. «Denke nach!» ermuntert sie die Lehrerin, und plötzlich erhellen sich die Züge des Mädchens wie von einem inneren Licht, weil es erkennt, daß es Begriffe für Vorgänge gibt, die sich im Innern des Menschen abspielen. «Was ist die Liebe?» denkt Helen, und die Lehrerin sagt: «Du kannst die Wol- ken nicht berühren, doch du fühlst den Regen, und du weißt, wie froh die durstige Erde ist, wenn er an einem heißen Tag auf sie herniederströnit. Auch die Liebe kannst du nicht greifen und fassen, und doch empfindest du das Entzücken, das sie über alles ausgießt. Ohne Liebe würdest du weder glück- lich sein noch zu spielen verlangen.» Helen Keller wird nach diesem Erlebnis von einem wahren Erkenntnistauniel besessen, vom Ur- drang des schöpferischen Menschen, 6ie lernt Wör- ter, Vorstellungen und Begriffe, so wie andere die Länder der Erde bereisen; drei Monate nach Er- lernung des ersten Wortes kennt sie schon deren dreihundert und eine große Zahl \on Redensarten. Sie besteht nicht nur die Matura, sie bezieht nicht nur die Universität, lernt Latein, Griechisch, Natur- geschichte, Mathematik, sie hält nicht nur mit den andern Schritt und vermag sie in vielen Dingen zu überflügeln, Helen Keller hat 6ich ? den gewal- tigsten Schwierigkeiten zum Trotz ? ihren eigenen und durchaus persönlichen Stil erschaffen, eine allen Geheimnissen und Wundern der Natur zugeneigte Sprache, die sie zu einer Schwester Bettina von Ar- nims machen. Herrlich sind jene Stellen in ihrer «Geschichte meines Lebens», in denen 6ie vom Händedruck der Menschen erzählt, in dem für sie alles eingeschlossen ist, ihr Angesicht und die Be- wegungen ihrer Körper, ? oder vom Erlebnis des Niagarafalles, das 6ie ? die Hand an die Fenster- scheiben des benachbarten Hotels gelegt ? mit dem Seismographen ihrer Nenen nachempfindet und dabei an ein lebendes Wesen denkt, «das einem furchtbaren Geschick entgegeneilt». Bei diesen und ähnlichen Erlebnissen, wie etwa beim Aufnehmen Bachscher Musik durch die Schwingungen der Luft, hat man wirklich das Gefühl, daß es für den beseel- tcn Menschen (und sei er, mit den äußeren Augen betrachtet, noch so carm» und «enterbt») keine Gren- zen geben könne, und das Ist vielleicht der edelste Gewinn der Begegnung mit dfin Menschen und mit dem natürlichen Wunder Helen Keller. Arnold Tesemlin Neue Zürcher Zeitung vom 30.07.1950

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Neue Zürcher Zeitung

Sonntag,30. Juli 1950

Das

WOCHENENDE

Sonntagausgabe Nr. 1587 Blatt 3

Wochenende 32

Begegnung mit Helen Keller

Ihren siebzigsten Geburtstag beging Helen Kellerin Paris. «Nach fünfzig Jahren die ersten

richtigen

Ferien», meinte sie, kam indessen kaum zur Ruhe,

dennUnzählige holten Hat und Ermutigung bei ihr.

Von den Reportern, welche sich diese Berühmtheitnicht entgehen

lassen wollten, gaiiz zuschweigen.

Ihr alle kennt das Gefühl, das uns inGegenwart

von Behinderten jeder Art erfaßt. Wir freuen unsunserer heilen Sinne nur halb und geben

uns ziem-lich linkisch Mühe, nicht im Vollbesitz unsererKräfte zu erscheinen. Bei Helen Keller ist solchesEntgegenkommen, solche Rücksichtnahme nicht not-wendig. Sofort stellt 6ich das Gefühl der Fülle unddes Reichtums ein. Diese blinde, taube und stummeFrau verfügt über die «spendende Tugend», dieNietzsche an den

großen Frauen lobt, und über einenimmensen seelischen Komfort, aus dem der «ge-

sunde» und «normale»Gegenüber Stärkung schöpft.

DasGespräch geht über Miss Polly Thomson, die

Gefährtin und Sekretärin seit 36 Jahren. Sie «buch-stabiert» die Frage in die unendlich feinfühlendeHand von Helen Keller und empfängt gleich dieAntwort, die spontan, eigenwillig und klug zugleich

ist. Su schnell folgen sich Rede und Gegenrede, daß

wir uns nicht auf das sogenannte Notwendigebe-

schränken müssen. Der Luxus des Plauderns, dieLeberflüssigkeiten

des Herzens haben ihren Raum.Man fühlt, daß die Innenräume Helen Kellers hellerleuchtet sind, voll Lcberraschungen und Inten-sität.

Paris ist dasgroße Erlebnis der blinden Amerika-

nerin. «-Jetzt rieche ich wieder die Düfte, die ichvor fünf Jahren noch vermißt habe: frisches Brot,Wein, kräftigen Tabak, Ich entdecke das Beben derStraßen, das Leben der Parks, spüre das Universumder Bäume und Pflanzen. Heute morgen war ich aufdem Blumenmarkt. Wunderbar!»

UnserSpaziergang führt in den «Jardin du Lu-

xembourg». Helen Keller betastet die Gitterstäbe,

läßt sich von ihrem eigentlichen Pariser Führer, demMaler Jo Davidson, in die Geheimnisse dieser Stadt

ihrem Frankreich-Aufenthalt in Florenz ihre blicken-den Hände über die Statuen

Michelangelos gleiten

lassen.

Dazwischen die Fragenzur Politik und zur Lite-

ratur. Ihre treffenden Antworten, ihr Glaube an das

Gute im Menschen, ihre Ablehnung einer gewissen

modischen Auffassung,welche die Fäulnis des Men-

schen sozusagen als fundamental betrachtet. Zuwei-len «hört» sie sich die

Fragen und Antworten auchauf den Lippen Miss Thomsons ab, deren Schwin-gungen und Hebungen

sie mit denFingern regi-

striert.Nur seiten kann sich Helen Keller ein solches

(.astspiel der Meditation und Poesie leisten. Gernehätte sie einmal ganz ausgespannt, «um zu fischenan einem stillen Urt», wie sie sagt, um dann das Ver-gnügen

des Fischens zu beschreiben. Indes, ihr Lebengilt der Hingabc und Fürsorge für die andern Minden,

Tauben und Stummen, die weniger glücklich, weniger

bemittelt und von kleinerer Seelenstärke sind als sie.

In ihrem Heim in Westport, im Staate Connecticut,prüft sie vom frühen Morgen bis zum spaten Abenddie Gesuche der Bedrängten, vom

UnglückBetroffe-

nen, schreibt Artikel und Aufrufe, tröstet und rütteltdie Besitzenden und Gesunden auf. Allein für dieBlinden bat sie zehn Millionen Schweizerfrankengesammelt.

Wennirgendwo die Not zu

groß ist, hältsie es nicht mehr aus in ihrem friedlichen Heim. Siegeht

an Ort und Stelle; etwa nach Japan, wo sie vorJahren mit Erfolg versuchte, die klägliche Haltung

der Regierung gegenüberden Blinden zu ändern.

Wie wir so durch die Straßen von Paris schreiten,fangen wir an, Helen Keller um den Schatz ihrer

Utlen Ktllers sensible Hände gleiten über die Binde eines Ahorns im ?Jardin du Luxembourg".

Sichtbarkeiten su beneiden. Paul Rothenhäusler

Mark Twain hat einmal in einem seiner zurUeberspitzung und zur Groteske neigenden Urteile,behauptet, daß die beiden

größten Wunder des19. Jahrhunderts Napoleon

,und ?, Helen Keller

?eien. Es muß in der Tat den auf seine runden fünf,

Aufnahmen Werner Bischof

ILtlen Keller ist eint teilnehmende Zeitgenossin, welche das unrecht und die Kot unserer Tage mtc Leidenschaft zur Kenntnisnimmt wnd gerne helfend

einspringt. Be&türzt liest sie hier eine Gedenktafel an den Mauern eines Pariser Gebäudes.

einführen. Siegeht

denkrustigen Unebenheiten der

Ahornrinde nach, atmet den Duft der uralten Bäumeein. Sie fühlt die Nähe cines schreienden Kindes,

will es «schen*, so wie nur sie sehen kann und darf:sie will es betasten und erahnen.

Sie frohlockt bei der innern Vision dieser lebens-freudigen Stadt, deren Esprit und

Unbändigkeitsie

alsgroße Leserin und gute Zuhörerin voll genießt.

Ihre Züge verdüstern sich nach dem Abtasten der

steinernen Gedenktafel, welche der Opfer der Nazisgedenkt.

Mit einerLebhaftigkeit, welche intime Vertraut-

heit ankündet, tastet sie sich hernach den Kapitälen

der «Notre Dame* empor. Sie hat die Skulpturen

der Kathedrale von Chartres «gesehen» und will nach

Sinne pochenden «gesunden» oder «normalen» Men-schen in höchstes Erstaunen versetzen, zu erfahren,

wie ein mit Blindheit geschlagenes und taubstum-mes Menschenkind nicht nur an allen Anliegen der

Zrit regen Anteil nimmt und sich auf die unge-zwungenste Weise der Welt mitzuteilen weiß, son-

dern daß es ihm darüber hinaus auch nochgelingt,

die ganze wesentlicheWissenserfahrung

des Jahr-hunderts in sieh aufzunehmen, 6ic sich in einersouveränen Weise zu assimilieren und darüber jenes«Ewig-Weibliche".- nicht gering

zu schätzen und zu ver-nachlässigen, dem es Helen Keller zu danken bat,

daß eic nie den Sinn für Proportionen \erlieit.Helen Keller wurde am 27. Juni 1880 in der klei-

nen Stadt Tuscumbia in Nord-Alabama geboren.

Nach ihren Aufzeichnungen,«Die Geschichte meines

Lebens», stammt die Familie ihre6 Vaters von Kaspar

Keller ab, einem geborenen Schweizer, der sich inMaryland niedergelassen hatte; der Zufall will es,daß- einer ihrer «chweizerischen Vorfahren der ersteLehrer - für Taubstumme in Zürich gewesen istHelens Mütter war eine intelligente

und gütige Frau,

weiche dastraurige Los des

in den dreifachen Kerkerder Blindheit, der Taub-heit und der Stummheitgeworfenen

Kindes nachMöglichkeitzu lindern

suchte; der Vater war eingroßer Jäger, der sein Ge-wehr und seine Hundeliebte und die kleine Helenvom Weinstock zum Rosen-stock führte, um d?e reif-sten Trauben und die duf-tendsten Rosen in ihreHändchen zu

legen.

Nur noch ganz nebel-haft erinnert sich das Mäd-chen in der tiefen Nachtseines

Ausgestoßenseins ?nach seinem eigenen Zeug-

nis ? an einen kurzenFrühling voll jubelnderVogellieder,

an einen Som-mer, reich an Früchtenund Blumen, an einenrot -

golden verglühenden

Herbst. Im Februar des fol-genden

Jahres naht dieKrankheit, welche ihr fürinnier Auge und Ohr ver-siegelt und sie in denDämmerzustand eines Neu-geborenen zurückwirft. Un-verhofft, wie sie

gekommen

war, weicht die Umarmung

des Fiebers, doch HelenKeller wird zeitlebens nichtwieder das Geschenk ge-

sunder Augen und wacherOhren zuteil. In ihrer Ab-geschiedenheit sind es dieDüfte der Blumen, ist es

ihr armer Tastsinn, sind es

die Vibrationen der Luftund die Strahlungen, dievon jeder Kreatur aus-gehen, welche ihr Wegwei-

ser im Dunkel sind. Nochist sie die kleine Wilde, in der ein

ungebärdiger undherber Lebenswille mit dem Gefühl der tiefsten Er-niedrigung streiten; in der Zeichen- und Gebärden-sprache, die sich die kleine Helen erworben hat, be-

deutet ein Fortstoßen «Geh!», ein HeranziehencKomml»| die Bewegung

des Brotschneidens «Gibmir zu essen!», diejenige

desAuffangens eines gro-

ßen Balles «groß», ein Stückchen des Daumens, zwi-schen den Mittel- und den Ringfinger gelegt, «klein».

Der entscheidendeTag

in Helen Kellers ganzem

Leben ist die Ankunft ihrer Lehrerin, Anne Mans-field Sullivan, drei Monate vor ihrem siebten Ge-burtstag. Durch geheimnisvolle Zeichen ihrer Mut-ter und Ungewisse Ahnungen ihres eigenen Innernverständigt, harrt 6ic vor der Haustür des

ungewöhn-

lichen Ereignisses.Sie vernimmt Schritte, sie wird

von einer Unbekannten emporgehoben und in dieArme geschlossen. Die Lehrerin gibt ihr eine Puppe

und buchstabiert ihr in die Hand «d-o-1-1», ein Fin-gerspiel, welches die Kleine sofort gefangen nimmt,obwohl sie seinen Sinn erst viel später erfassen wird.Das erste Wort ? und das erste Fenster auf dieWelt ?, der erste Strahl der Bildung für die Ent-erbte, ist der Begriff

«Wasser» gewesen, jenes kalteund köstliche Etwas, das am Brunnen belebenddurch ihre Hände

gleitet und für welches sie selbstin den schwersten Stunden ihres Lebens eine Art vonUrlaut erfunden hatte; aber das schönste undschlichteste Wort der Welt ? Liebe ? bereitetHelen großes Kopfzerbrechen. «Ist Liebe der Duftder Blumen?» erkundigt sich das Mädchen. «Nein»,

erwidert die Lehrerin. Helen deutet in der Richtung

der Sonne. «Ist dies die Liebe?» «Nein>;, antwortetdie Lehrerin, und das Kind ist enttäuscht, weil es

seiner Meinung nach nichts Schöneres geben kannals dieses Licht.

Wenig später reiht sie Perlen auf einen Faden,

und Fräulein Sullivan unterweist siegeduldig.

«Denke nach!» ermuntert sie die Lehrerin, undplötzlich erhellen sich die Züge

des Mädchens wievon einem inneren Licht, weil es erkennt, daß esBegriffe für Vorgänge gibt, die sich im Innern desMenschen abspielen. «Was ist die Liebe?» denktHelen, und die Lehrerin sagt: «Du kannst die Wol-ken nicht berühren, doch du fühlst den

Regen, unddu weißt, wie froh die durstige Erde ist, wenn eran einem heißen Tag auf sie herniederströnit. Auchdie Liebe kannst du nicht greifen und fassen, unddoch empfindest du das Entzücken, das sie überalles ausgießt. Ohne Liebe würdest du weder glück-

lich sein noch zu spielen verlangen.»

Helen Keller wird nach diesem Erlebnis voneinem wahren Erkenntnistauniel besessen, vom Ur-drang

des schöpferischen Menschen, 6ie lernt Wör-ter, Vorstellungen und Begriffe,

so wie andere dieLänder der Erde bereisen; drei Monate nach Er-lernung

des ersten Wortes kennt sie schon derendreihundert und eine große Zahl \on Redensarten.Sie besteht nicht nur die Matura, sie bezieht nichtnur die Universität, lernt Latein, Griechisch, Natur-geschichte, Mathematik, sie hält nicht nur mit denandern Schritt und vermag sie in vielen Dingen

zuüberflügeln, Helen Keller hat 6ich ? den gewal-

tigsten Schwierigkeitenzum Trotz ? ihren eigenen

und durchaus persönlichen Stil erschaffen, eine allenGeheimnissen und Wundern der Natur zugeneigteSprache, die sie zu einer Schwester Bettina von Ar-nims machen. Herrlich sind jene Stellen in ihrer«Geschichte meines Lebens», in denen 6ie vomHändedruck der Menschen erzählt, in dem für siealles eingeschlossen ist, ihr Angesicht

und die Be-wegungen ihrer Körper, ? oder vom Erlebnis desNiagarafalles,

das 6ie ? die Hand an die Fenster-scheiben des benachbarten Hotels gelegt ? mit demSeismographen ihrer Nenen nachempfindet unddabei an ein lebendes Wesen denkt, «das einemfurchtbaren Geschick entgegeneilt». Bei diesen undähnlichen Erlebnissen, wie etwa beim AufnehmenBachscher Musik durch die Schwingungen der Luft,hat man wirklich das Gefühl, daß es für den beseel-tcn Menschen (und

sei er, mit den äußeren Augenbetrachtet, noch so carm» und «enterbt») keine Gren-zen

geben könne, und das Ist vielleicht der edelsteGewinn der Begegnung

mit dfin Menschen und mitdem natürlichen Wunder Helen Keller.

Arnold Tesemlin

Neue Zürcher Zeitung vom 30.07.1950