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Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte 1 David Ricardo: Pessimistischer Liberalismus A. Einleitende Bemerkungen I. Vom Optimismus von Adam Smith zum Pessimismus von Ricardo 1. Wieso war Adam Smith ein Optimist? Das System von Adam Smith ist eine Kombination der 'Theorie der moralischen Gefühle' und des 'Reichtums der Nationen'. Im ersteren Werk steht das 'soziale Mitgefühl' im Vordergrund, im zweiten das 'Eigeninteresse'. Die sozial angemessene oder natürliche Kombination der beiden stellt 'propriety' (Angemessenheit, Schicklichkeit) dar. Wenn alle Individuen gemäss den Regeln der 'propriety' handeln, dann ergibt sich ein soziales Optimum: Eine unsichtbare Hand bewirkt, dass das Verfolgen von Eigeninteresse nicht nur die Situation jedes einzelnen verbessert, sondern über den Tausch (Märkte) auch eine gesellschaftliche Besserstellung erreicht wird: Der Reichtum eines Landes ist maximal, ebenso die Wachstumsrate, mit der der Reichtum zunimmt. Dieses soziale Optimum impliziert ein ethisch-ökonomisches Gleichgewicht und stellt gleichzeitig ein System der natürlichen Freiheit dar, das den einzelnen Individuen maximale Freiheitsräume bietet. Das System der natürlichen Freiheit von Adam Smith kann als eine Reaktion gegen Absolutismus und Merkantilismus aufgefasst werden, vor allem gegen das Bestehen vererbbarer Privilegien für Adelige, hohe Geistlichkeit und eines Teils der Grossbürger: Landbesitz und damit verbundene Einkünfte, Handels- und Manufakturprivilegien, Steuereinziehung, richterliche Ämter. Auch die Zünfte sind mit Privilegien verbunden. Merkantilismus: - Handels- und Manufakturmonopole, Zölle, Streben nach Exportüberschuss > vermehrte wirtschaftliche Aktivität (Beschaffung von finanziellen Mitteln für den absoluten Staat). Mit seinem System der natürlichen Freiheit (und damit dem Ende der staatl. Bevormundung) versprach sich Adam Smith eine Zunahme der Freiheitsräume für alle Individuen und eine kontinuierliche materielle Besserstellung. Die mit der Veröffentlichung des 'Reichtums der Nationen' einsetzende industrielle Revolution verstärkte den Optimismus von Adam Smith.

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Prof. Heinrich Bortis, Lehrstuhl für Wirtschaftstheorie und Wirtschaftsgeschichte

1

David Ricardo: Pessimistischer Liberalismus

A. Einleitende Bemerkungen

I. Vom Optimismus von Adam Smith zum Pessimismus von Ricardo

1. Wieso war Adam Smith ein Optimist?

Das System von Adam Smith ist eine Kombination der 'Theorie der moralischen Gefühle' und

des 'Reichtums der Nationen'. Im ersteren Werk steht das 'soziale Mitgefühl' im Vordergrund, im

zweiten das 'Eigeninteresse'. Die sozial angemessene oder natürliche Kombination der beiden

stellt 'propriety' (Angemessenheit, Schicklichkeit) dar. Wenn alle Individuen gemäss den Regeln

der 'propriety' handeln, dann ergibt sich ein soziales Optimum: Eine unsichtbare Hand bewirkt,

dass das Verfolgen von Eigeninteresse nicht nur die Situation jedes einzelnen verbessert, sondern

über den Tausch (Märkte) auch eine gesellschaftliche Besserstellung erreicht wird: Der

Reichtum eines Landes ist maximal, ebenso die Wachstumsrate, mit der der Reichtum zunimmt.

Dieses soziale Optimum impliziert ein ethisch-ökonomisches Gleichgewicht und stellt

gleichzeitig ein System der natürlichen Freiheit dar, das den einzelnen Individuen maximale

Freiheitsräume bietet.

Das System der natürlichen Freiheit von Adam Smith kann als eine Reaktion gegen

Absolutismus und Merkantilismus aufgefasst werden, vor allem gegen das Bestehen vererbbarer

Privilegien für Adelige, hohe Geistlichkeit und eines Teils der Grossbürger:

Landbesitz und damit verbundene Einkünfte, Handels- und

Manufakturprivilegien, Steuereinziehung, richterliche Ämter.

Auch die Zünfte sind mit Privilegien verbunden.

Merkantilismus: - Handels- und Manufakturmonopole, Zölle, Streben nach Exportüberschuss >

vermehrte wirtschaftliche Aktivität (Beschaffung von finanziellen Mitteln für den absoluten

Staat).

Mit seinem System der

natürlichen Freiheit (und damit dem Ende der staatl. Bevormundung)

versprach sich Adam Smith eine Zunahme der Freiheitsräume für alle Individuen und eine

kontinuierliche materielle Besserstellung.

Die mit der Veröffentlichung des 'Reichtums der Nationen' einsetzende industrielle Revolution

verstärkte den Optimismus von Adam Smith.

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2. Der Pessimismus von Ricardo

ergab sich aus den ersten negativen Auswirkungen der industriellen Revolution

(Arbeitsbedingungen, inkl. Arbeitszeit; Druck auf die Löhne; Kinder- und Frauenarbeit).

Der Hauptgrund für Ricardos Pessimismus war das unweigerliche langfristige Zustandekommen

des stationären Zustandes, gekennzeichnet durch

− Versiegen des technischen Fortschrittes (keine technischen Neuerungen mehr)

− auch die Profite werden gleich Null sein > deshalb kein Wachstum und keine Verbesserung

der materiellen Lage durch Kapitalakkumulation,

− sehr ungleiche Einkommensverteilung: hohe Renten und niedriger - ev. minimaler -

natürlicher Lohnsatz.

Ricardo hatte sich damit abgefunden, dass langfristig Massenarmut ein natürliches Phänomen

sei. Armut ist die Voraussetzung für das Bestehen wohlhabender Bevölkerungsschichten, die

Staats- und Kulturträger sind. (Diese letzteren sind die eigentlichen Bürger, die Arbeiter -

Lohnarbeiter - nehmen die Funktion der aristotelischen Sklaven ein.)

II. Leben und Werk Ricardos

David Ricardo wurde am 19. April 1772 in London geboren. Seine Familie war eine jüdische

Kaufmannsfamilie (der Vater war aus Holland eingewandert; die Familie Ricardo war

wahrscheinlich ursprünglich portugiesisch - um 1490 erfolgte die Vertreibung der Juden von der

iberischen Halbinsel).

Ricardos Vater war Börsenmakler und galt als einer der reichsten Männer Londons (und damit

Englands und Europas).

David Ricardo erhielt eine kaufmännische Ausbildung und trat bereits mit 14 Jahren ins

Erwerbsleben ein, als Börsenmakler.

Mit der Zeit wuchs der Gegensatz zwischen dem konservativ gesinnten Vater und dem liberalen

und fortschrittlichen Sohn.

Die endgültige Trennung von Vater und Sohn erfolgte 1793: D.R. tritt zum Christentum über und

heiratet eine christliche Engländerin. Der Vater enterbt ihn, und damit ist D.R. mit 21 Jahren

mittellos.

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Einige Freunde gewähren ihm jedoch Darlehen. Mit diesen erwirbt sich David Ricardo innerhalb

weniger Jahre durch geschickte Börsenoperation ein immens grosses Vermögen (kleine Margen,

grosse Volumen).

Man sagte, dass er mit 25 Jahren reicher war als sein Vater.

David Ricardo nutzte seine wirtschaftliche Unabhängigkeit, um sich von 'übermässiger

Erwerbstätigkeit' zurückzuziehen. Im Jahre 1797, im Alter von 25 Jahren, trat er eine Art von

'Teilruhestand' ein.

Ab 1798 wendet er sich den Naturwissenschaften zu (Mathematik, Physik, Mineralogie).

1799 - 27jährig - wird er mit dem Hauptwerk von Adam Smith - dem 'Reichtum der Nationen'

(1776) - bekannt. Dieses Buch beeindruckte Ricardo so sehr, dass er sich von nun an nur noch

mit Fragen der ökonomischen Theorie beschäftigte. Sukzessive wurde der Autodidakt Ricardo

zum grössten reinen Theoretiker in der Geschichte der ökonomischen Theorie (neben ihm stehen

Léon Walras, Piero Sraffa und Luigi Pasinetti).

Während 10 Jahren (1799-1809) hat Ricardo nur gelesen und kritische Aufzeichnungen gemacht.

Erst 1809 trat er mit einer Aufsehen erregenden Schrift an die Öffentlichkeit: "The high price of

bullion, a proof of the depreciation of bank notes".

Ricardo vertritt hier eine Geldtheorie, die man heute als monetaristisch bezeichnen würde: Mehr

Banknoten führen zu höheren Preisen; das Volumen der wirtschaftlichen Aktivität ist gegeben.

1809 - 37j. - wird Ricardo zum Parlamentsabgeordneten gewählt. Er übte im Parlament einen

sehr starken Einfluss zu wirtschaftlichen Sachfragen aus: Seine unvergleichlichen theoretischen

Fähigkeiten erlaubten es ihm, die Probleme klar und einfach zu formulieren. So hat er das

Terrain vorbereitet für die Abschaffung der Getreidezölle im Jahre 1846.

1815 folgt eine weitere grundlegende Schrift:

"An essay on the influence of a low price of corn on the profits on stock".

Hier legt er sein Weizenmodell der Verteilungstheorie dar. Auf diese einfachste Version der

Verteilungstheorie werden wir ausführlich zu sprechen kommen.

1817 veröffentlichts Ricardo sein Hauptwerk: "On the Principles of Political Economy and

Taxation" (3. Auf 1823).

Dieses Werk machte Ricardo zum eigentlichen Begründer der theoretischen Nationalökonomie.

Vor allem die klassische Theorie des Wertes und der Verteilung, aber auch die

Außenhandelstheorie sind hier in einmalig klarer Art und Weise dargestellt. Die 'Principles' sind

aus einer Kritik des 'Reichtums der Nationen' herausgewachsen. Ricardo schuf damit das erste

widerspruchsfreie System der Politischen Ökonomie.

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(Ricardo hätte es nicht gewagt, ein Buch zu schreiben. James Mill, der Vater von John Stuart

Mill, hat ihn deshalb regelrecht gezwungen, die 'Principles' zu schreiben, indem er ihm

'Hausaufgaben' in der Form von Themen gab und diese sprachlich überarbeitete. Daraus sind die

31 Kapitel der 'Princples' entstanden. Damit hat Ricardo nicht eigentlich ein Buch, sondern eine

Sammlung von Essays geschrieben.)

Seine Theorie stellt den Brennpunkt in der Entwicklung der ökonomischen Theorie dar, wenn

man den klassisch-keynesianischen Standpunkt einnimmt. Vom neoklassischen Standpunkt aus

ist der Brennpunkt Walras (Schumpeter).

Wegen der tiefgreifenden Meinungsverschiedenheiten zwischen politischen Ökonomen der

klassisch-keynesianischen Tradition und neoklassischen Ökonomen ist auch Ricardo stark

umstritten. Z.B. sagt Joseph Schumpeter: 'Ricardo hat die Theorie der Preisbestimmung durch

Angebot und Nachfrage nie verstanden. Er ist deshalb als Theoretiker nicht wirklich ernst zu

nehmen.'

Heute erleben wir jedoch eine eigentliche Ricardo-Renaissance. Damit sind verbunden Sraffa,

Pasinetti, die Post-Keynesianer und die politischen Ökonomen der klassisch-keynesianischen

Schule.

III. Der wirtschaftsgeschichtliche Hintergrund (siehe Wirtschaftsgeschichte)

1. Die industrielle Revolution: der Aufstieg England zur alles dominierenden

Wirtschaftsmacht.

2. Die Lage der Arbeiterschaft, die nach 1815 und bis etwa 1848 besonders schlimm war.

IV. Der geistige Rahmen

Der geistige Führer der englischen Liberalen zu Beginn des 19. Jh. war Jeremy Bentham.

Bentham und Ricardo waren beide Mitglieder der "Philosophical Radicals" (Philos. Radikalen;

so genannt, weil einige ihrer Gedanken revolutionär waren: z.B. abnehmender Grenznutzen

könnte Gleichheit der Einkommen implizieren).

Mit der von dieser Schule vertretenen Sozialphilosophie des Utilitarismus waren auch bestimmte

politische Implikationen verbunden (diese beiden Punkte kurz streifen).

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1. Der Utilitarismus

Kann auf eine einfache Formel gebracht werden: Das grösste Glück der grössten Zahl.

U = u(y) B = u(x1, x2, ...) B

(U = gesellschaftlicher Gesamtnutzen, u = Nutzen eines einzelnen Individuums, abhängig

vom Einkommen y, B = Bevölkerungszahl)

Radikale Implikation dieser Doktrin: bei gegebener Bevölkerung maximiert eine

Gleichverteilung des Volkseinkommens den gesellschaftlichen Gesamtnutzen U: alle Individuen

sollten das gleiche Einkommen y erhalten. Dies wegen des Gesetzes des abnehmenden

Grenznutzens.

Der Utilitarismus beinhaltet eine Robinson Crusoe-Sicht des Menschen (soziale Beziehungen

ausgeschlossen oder unwesentlich (extremer Individualismus).

Wichtig sind eigentlich nicht das Prinzip der Nutzenmaximierung, sondern die materiellen und

immateriellen Güter, die in die Nutzenfunktion eingehen.

Dies ist ein ethisches Problem: Welche Güter bewirken eine permanente Steigerung des

Wohlbefindens des Menschen? Welche materiellen und immateriellen Güter sind mit einem

guten Leben verbunden?

(Das heisst auch: Ausschalten von Gütern, die kurzfristig scheinbar Nutzen stiften, langfristig für

den Menschen jedoch schädlich sind.)

2. Politische Implikationen des Systems der 'Philosophischen Radikalen'

a) Vertreten eines extremen Laissez-Faire

Phil. Rad. sind gegen die Fabrikgesetzgebung, die abzielt auf

− Verbesserung der Arbeitsbedingungen

− Einschränkung von Frauen- und Kinderarbeit

Grund: Leiden und Übel gehören zum natürlichen Zustand (Arbeiterklasse muss einen

Überschuss produzieren damit höheres politisches und kulturelles Leben möglich ist). Eingriffe

in den natürlichen Zustand, z.B. durch Armengesetze, bringen ev. kurzfristige Verbesserungen,

sind aber langfristig schädlich, vor allem weil weniger Mittel für die Kapitalakkumulation bereit

stehen.

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b) Demokratie und Meinungsfreiheit werden gefordert, wobei allerdings das aktive und passive

Wahlrecht an ein bestimmtes Einkommen gebunden ist.

Impliziert ein uneingeschränktes Vertrauen in die menschliche Erkenntnisfähigkeit.

c) Erziehung und Bildung ist demnach für das Funktionieren der Demokratie wichtig.

Allerdings sind die gesellschaftliche Oberschicht, inkl. die englische Hochkirche, und

wissenschaftliche Vereinigungen vorwiegend gegen allgemeine Schulbildung für die

Arbeiterklasse: Die Arbeiter würden sich Wissen, auch über soziale Zustände erwerben, und

dann nicht mehr bereit sein, sich mit ihrem Schicksal abzufinden.

B. Ricardos Theorie

I. Einleitende Bemerkungen

Das ökonomische Werk von David Ricardo ist aus seiner Kritik an Adam Smith

herausgewachsen. Vor allem gab sich Ricardo nicht zufrieden mit der Bestimmung der

Preiskomponenten durch vage und zum Teil widersprüchliche Angebots- und Nachfragefaktoren

bei Adam Smith. So ist bei Adam Smith nicht klar ob der Wert bestimmt durch die bei der

Produktion eingesetzte Arbeitsmenge oder durch Angebot und Nachfrage.

Ricardo eliminierte die Widersprüche aus Adam Smiths System und stellte die Wert- und

Verteilungstheorie auf eine sichere Grundlage. Er ging aus vom sozialen Produktionsprozess

und hat die Arbeitswerttheorie und das Überschussprinzip der Verteilung herausgearbeitet.

Er kann deshalb zusammen mit François Quesnay als einer der Mitbegründer der Politische

Ökonomie betrachtet werden.

Ricardo beschäftigte sich mit allen grossen Problemen der ökonomischen Theorie:

Verteilung, Wert, Wachstum, Beschäftigung und Aussenhandel sowie mit Fragen der

Besteuerung.

Methodisch gesehen war Ricardo ein kompromissloser Realist. Er versuchte immer an das

Wesen eines Sachverhaltes, z.B. Wert, heranzugehen, d.h. Prinzipien herauszudestillieren,

reine Theorie zu erarbeiten.

Er war konsequenterweise ein hervorragender Modellbauer: es ging ihm darum, komplexe

Sachverhalte mit einem möglichst einfachen Modell zu erklären (ein kompliziertes Modell zu

bauen ist keine Kunst, das ist ein Handwerk!).

Ricardo ist wahrscheinlich der beste Theoretiker in der Geschichte der ökonomischen Theorie.

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II. Die Verteilungstheorie

1. Allgemeines

Ricardo geht das Verteilungsproblem vor dem Problem des Wertes an, weil die Regelung der

Einkommensverteilung Vorbedingung ist für die Lösung des Wertproblems. (Bei Adam Smith

und in der heutigen neoklassischen Theorie ist es gerade umgekehrt: Hier ist das

Verteilungsproblem ein Anhang zur Werttheorie.)

Die einfachste Version von Ricardos Verteilungstheorie ist im Essay von 1815 enthalten: Ein

Essay über den Einfluss eines niedrigen Getreidepreises auf den Kapitalgewinn (An essay on the

influence of the low price of corn on the profits on stock).

Im Vorwort zu den 'Principles', seinem Hauptwerk, schreibt Ricardo:

"Der Gesamtertrag der Erde, d.h. alles, was von ihrer Oberfläche durch vereinte Anwendung von

Arbeit, Maschinen und Kapital gewonnen wird, verteilt sich unter drei Gesellschaftsklassen,

nämlich der Grundeigentümer, die Besitzer ... des Kapitals, das zum Anbau des Bodens

erforderlich ist, und diejenigen, durch deren Arbeit er bebaut wird.

Doch pflegen auf den verschiedensten gesellschaftlichen Entwicklungsstufen die jeder dieser

Klassen aus dem Gesamtertrage der Erde als Grundrente, Kapitalprofit und Arbeitslohn

zufallenden Anteile insofern wesentlich verschieden zu sein, als sie hauptsächlich von der

jeweiligen Fruchtbarkeit des Grund und Bodens, von der Anhäufung des Kapitals und der

Bevölkerung, sowie auch von der im Ackerbau stattfindenden Anwendung von Geschicklichkeit,

Talent und Werkzeugen abhängen.

Die Gesetze aufzufinden, welche diese Verteilung bestimmen, ist das Hauptproblem der

Volkswirtschaftslehre."

Dieses grundlegende volkswirtschaftliche Problem, das Verteilungsproblem, kann nun anhand

des Weizenmodells - enthalten im Essay von 1815 - am besten erklärt werden. Wir halten uns

dabei an die sehr einfache graphische Darstellung dieses Modells, die der ungarisch-englische

Ökonom Nicholas Kaldor 1956 in einem Artikel entwickelt hat.

2. Das Grundmodell der Einkommensverteilung (das Weizenmodell)

Bei David Ricardo wird die Einkommensverteilung in demjenigen Sektor geregelt, der die

lebensnotwendigen Konsumgüter herstellt. Dies ist der landwirtschaftliche Sektor; Weizen

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steht stellvertretend für Nahrungsmittel sowie Rohstoffe, aus denen, mit Hilfe von Arbeit, andere

lebensnotwendige Güter wie Häuser, Kleider und Schuhe hergestellt werden.

Die Verteilung muss nach Ricardo im landwirtschaftlichen Sektor geregelt werden, weil der

Reallohn notwendigerweise in lebensnotwendigen Gütern ausgedrückt ist (lebensnotwendige

Gütermengen, die mit dem Geldlohn gekauft werden können). Renten und Profite ergeben sich

dann als Restprodukt in diesem Sektor; beide, Profite und Renten, bilden den Überschuss, der

im landwirtschaftlichen Sektor zustandekommt.

Um das Weizen-Verteilungsmodell darzustellen, gehen wir aus von einer technischen Beziehung

zwischen Input und Output.

Der Input besteht aus Arbeit und Boden, der Output aus Weizen:

Hinter dieser Darstellung steckt folgende Überlegung: Der landwirtschaftliche Boden in gleich

grosse Parzellen eingeteilt. Diese werden nach ihrer Güte geordnet.

Auf diesen Parzellen werden jeweils bestimmte gleich bleibende Arbeitsmengen eingesetzt.

Zuerst werden die besten Böden bebaut, dann immer schlechtere. Der Output nimmt also immer

zu, wenn auch in immer geringerem Masse. Er erreicht ein Maximum und kann sogar abnehmen,

wenn die Ernte das Saatgut nicht mehr ersetzt (solche Böden werden natürlich nie angebaut).

QL

NL

dQL / dNL

QL/NL

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Mit dem Kaldor-Diagramm kann die einfachste Version der Verteilungstheorie von Ricardo

festgehalten werden:

Das Gesamtprodukt ist:

OMDC (Durchschnittsprodukt pro Arbeiter mal Arbeitseinsatz) oder

OMAP (Summe der Grenzprodukte jeder Gruppe von Arbeitern)

Zwei Prinzipien regulieren nun die Verteilung des Gesamtproduktes in der Landwirtschaft:

das Marginalprinzip und das Überschussprinzip.

− Das Marginalprinzip legt die Höhe der Bodenrente fest.

Vereinfachende Annahme: Der schlechteste gerade noch bebaute Boden erhält keine Rente. Alle

besseren Böden erhalten eine Differentialrente, die umso höher ist, je besser der Boden ist.

Die Rente ist somit gegeben durch BAP oder BADC, (was impliziert, dass die von PC und

DA ausgehenden segelförmigen Flächen gleich gross sein müssen).

− Beim Überschussprinzip geht es um die Aufteilung des Restprodukts OMAB in Löhne und

Profite.

Bei der Bestimmung der Lohnsumme ist die Festlegung des natürlichen Lohnsatzes von

zentraler Bedeutung.

QL/NL

dQL/dNL

NL O

W

B

C

P

D

A

K

Renten

Profite

Löhne M

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Der natürliche Lohnsatz soll den Unterhalt des Arbeiters und seiner Familie ermöglichen, wobei

die Familiengröße so ist, dass die Bevölkerung konstant bleibt (2-3 Kinder, die die Eltern

ersetzen; es sind etwas mehr als zwei Kinder erforderlich, weil einige Leute nicht heiraten).

Der natürlich Lohnsatz hat eine bestimmte soziale Funktion: Er soll die langfristige

Arbeitsfähigkeit und Reproduktion der Arbeiter garantieren.

Entscheidend ist, dass der natürliche Lohnsatz nicht auf einem Faktormarkt bestimmt wird,

sondern durch physiologische, soziale und politische Faktoren festgelegt wird.

> Grundlegende und permanente gesellschaftliche Vorstellungen, was der natürliche Lohnsatz ist

(Institutionen).

Der natürliche Lohnsatz ist konstant oder er kann sich langsam verändern:

− Er kann im Zeitablauf in einem Land variieren, z.B. zunehmen, wenn permanent vermehrt

Kapital akkumuliert wird.

− Er kann in einem bestimmten Zeitpunkt in verschiedenen Ländern und Regionen

unterschiedlich sein. (In England > als in Frankreich > grösser als in Polen).

In der Graphik ist der natürliche Lohnsatz gleich OW. Die Konkurrenz unter den Arbeitern

bewirkt, dass dieser im Prinzip für alle Arbeiter gleich ist.

Die Lohnsumme ist demnach OMKW.

Sobald der natürliche Lohnsatz und die Lohnsumme bestimmt sind, sind die Profite eine

Restgrösse, sozusagen ein Überschuss, der aus dem Produktionsprozess herauskommt. Daher

auch der Name Überschussprinzip.

Die Profite und die Profitrate werden auf dem schlechtesten Boden bestimmt. Die dort

anfallenden Profite sind AK.

Die Profitsumme ist WKAB.

In diesem einfachen Modell ist der Kapitaleinsatz gegeben durch die Lohnsumme OMKW.

Dieses Kapital ist eigentlich nur Umlaufskapital. Man kann aber Fixkapital auch hineinnehmen,

indem die Arbeit als direkte und indirekte Arbeit auffasst (indirekte Arbeit produziert die Geräte,

die im landwirtschaftlichen Sektor verwendet werden).

Die Profitrate r ist das Verhältnis von Profiten zum Kapitaleinsatz:

r = AK/KM oder r = WKAB / OMKW .

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Die Konkurrenz bewirkt, dass auf allen Böden die gleiche Profitrate realisiert wird.

Die landwirtschaftliche Profitrate ist r = rL. Diese Profitrate bestimmt nun auch die

Profitrate in der Industrie rI.

III. Probleme im Zusammenhang mit Verteilung und Wachstum

1. Der prinzipielle Zusammenhang zwischen Verteilung und Wachstum

Für Ricardo haben die Profite eine bestimmte natürliche Funktion: Sie finanzieren die

Investitionen, die unmittelbar mit dem Wachstum des landwirtschaftlichen Sektors und damit des

Sozialprodukts verbunden sind. (Der landwirtschaftliche Sektor enthält auch Industrie und

Handwerk, sofern sie Geräte und Maschinen für die Landw. produzieren: indirekte Arbeit!).

Ricardo arbeitet mit folgenden Beziehungen:

Die Lohnsumme W ist gleich dem Kapitalstock K: W = K.

Die Profite werden voll investiert: P = I.

Die Investitionen sind gleichbedeutend mit einer Ausweitung des Kapitalstocks: I = ∆K.

Die Profitrate ist damit gleich der Wachstumsrate des Systems:

r = P/W = P/K = I/K = ∆K/K = gK .

Die Wachstumsrate des Kapitalstocks bestimmt auch die Wachstumsrate des Sozialprodukts und

der Bevölkerung.

Der Zusammenhang zwischen Profitrate und Wachstumsrate ist zentral für die klassische

politische Ökonomie.

Wichtig: Ricardo vertritt uneingeschränkt das Saysche Gesetz, das verschieden ausgedrückt

werden kann:

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Allgemeine Überproduktion ist unmöglich; jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage;

Geld ist nur ein Schleier (Einkommen werden entweder konsumiert oder gespart und investiert;

niemand hält Geld, weil dies keinen Ertrag abwirft).

2. Wachstum, Landwirtschaft und Handelspolitik

Kaldor-Diagramm

Aus dem Kaldorschen Grunddiagramm für die Verteilungstheorie von Ricardo ergibt sich, dass

ein relativ geringer Arbeitseinsatz in der Landwirtschaft mit einer hohen Profitrate verbunden ist

und umgekehrt.

Dabei verändern sich die Wachstumsrate und die Profitrate in die gleiche Richtung.

Ein rasch wachsender Kapitalstock impliziert nun, dass der Marktlohnsatz w den natürlichen

Lohnsatz w* übersteigt:

W = K + ∆K = K + P W / NL = w > w*

Eine solche Situation würde nach Robert Malthus (Bevölkerungstheoretiker; Zeitgenosse und

Freund Ricardos) zu einem raschen Bevölkerungswachstum führen, damit auch von NL, und

somit würden die Profitrate und die Wachstumsrate in der Landwirtschaft wiederum sinken. Der

Marktlohnsatz würde sich wiederum dem natürlichen Lohnsatz anpassen.

QL/NL

dQL/dNL

NL O

W

B

C

P

D

A

K

Profite

M

Profite

Renten

Renten

M’

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Ricardo erhoffte sich dagegen, dass die rasche Akkumulation von Kapital langfristig zu

einem Anstieg des natürlichen Lohnsatzes führen würde. Dies würde die Lage der

Arbeiterschaft verbessern. (Obwohl gegen Armengesetze - die den Profit vermindern würden -

war Ricardo überaus sozial gesinnt.)

Deshalb die Anzahl der landwirtschaftlichen Arbeiter möglichst klein halten, d.h. nur die besten

Böden anbauen.

Rest der Arbeiter in Exportindustrien einsetzen: Industrie-Güter exportieren, vor allem

Textilien! Im Gegenzug landwirtschaftliche Güter importieren.

Diese Organisation der Wirtschaft impliziert die Abschaffung der Getreidezölle: Der Import

billiger landwirtschaftlicher Produkte wird dann möglich.

Ricardo hat im englischen Parlament immer die Abschaffung der Getreidezölle verfochten. Im

Jahre 1846 - 23 Jahre nach Ricardos Tod - wurde seine Forderung realisiert.

Mit seiner Theorie: hohe Profite, niedrige Renten, vertrat Ricardo die Interessen der

Unternehmer, des neuen Industriebürgertums, gegen die Interessen der landbesitzenden

Aristokratie, die natürlich an hohen Renten interessiert war.

Robert Malthus, ein Freund und gleichzeitig wissenschaftlicher Gegner Ricardos, forderte

dagegen hohe Renten und niedrige Profite (und vertrat so gewollt oder ungewollt die Interessen

der Grundbesitzer).

Malthus argumentierte wie folgt:

− Hohe Profite und damit hohes Wachstum sind schlecht, weil ein zu grosser Kapitalstock

aufgebaut wird und die damit verbundene Produktion nicht voll abgesetzt werden kann.

− Deshalb sei es vernünftiger, die Nachfrage nach Konsumgütern im weitesten Sinn zu

steigern. Das könne geschehen durch eine Erhöhung des Rentenanteils am

Volkseinkommen, weil höhere Landrenten zu einer höheren Nachfrage nach Luxusgütern

führe, für kulturelle Zwecke eingesetzt werden können oder zusätzliche Staatsausgaben

finanzieren können.

Malthus machte deshalb den antiliberalen Vorschlag, die Einfuhrzölle für Getreide beizubehalten

und damit auch schlechtere landwirtschaftliche Böden zu bebauen.

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Mit seinen Vorschlägen wurde Malthus zu einem Vorläufer von Keynes. (Malthus wird übrigens

von Keynes lobend erwähnt und als erster Cambridge-Ökonom bezeichnet - Malthus war

Mitglied des Jesus College in Cambridge).

Schliesslich unterlagen die Argumente von Malthus denjenigen Ricardos:

− Allgemeine Überproduktion sei unmöglich. Das Angebot könne nie zu gross sein und seine

Struktur spiele keine Rolle: mehr Konsumgüter oder mehr Investitionsgüter.

− Ricardo stützte sich auf das Gesetz von Say:

− Die Einkommen werden immer ausgegeben, um Konsum- und Investitionsgüter zu kaufen.

P = S bestimmt I!

3. Verteilung und Wachstum im Zeitablauf

Kaldor-Diagramm

Wenn aufgrund von Bevölkerungswachstum die Beschäftigung im landwirtschaftlichen Sektor

zunimmt, verändert sich die Einkommensverteilung.

Je nach Form der Produktionsfunktion bleibt die Rentenquote konstant oder nimmt zu auf

Kosten der Profitquote, die schlussendlich gegen Null strebt. Die Lohnquote nimmt zu, wobei

der natürliche Lohnsatz konstant bleibt oder langfristig auf das reine Existenzminimum absinken

kann.

QL/NL

dQL/dNL

NL O

W

C

P

D

Profite

M’

Profite

M

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Die Entwicklung der Verteilungsquoten kann auch anhand der Preisgleichung für

landwirtschaftliche Güter (Weizen) dargestellt werden:

pL = wG nL (1 + r) nL = dNL / dQL

Im Zeitablauf steigt der Weizenpreis pL, weil wegen der schlechter werdenden Böden immer

mehr Arbeit eingesetzt werden muss, um eine bestimmte Weizenmenge zu produzieren: nL

steigt.

Wenn aber der Weizenpreis zunimmt, muss auch der Geldlohnsatz wG steigen, so dass der

natürliche Lohnsatz w* erhalten bleibt (die Profitrate r muss sinken: siehe Kaldor-Diagramm).

Mit steigendem Weizenpreis steigt die landwirtschaftliche Rente automatisch an (ein höherer

Weizenpreis bewirkt eine steigende Rente). Dies kann auch graphisch dargestellt werden:

4. Das malthusianische Bevölkerungsgesetz und der stationäre Zustand

Ricardos Freund, Robert Malthus, versuchte, die Gesetzmäßigkeiten der

Bevölkerungsentwicklung zu bestimmen. Vereinfachend besagt dieses Gesetz, dass die

Bevölkerung wächst, wenn der Marktlohnsatz den natürlichen Lohnsatz übersteigt. Der

natürliche Lohnsatz würde nämlich die Bevölkerung gerade konstant halten (Familien mit 2 bis 3

Kindern).

Ausgehend von der Proportionalität zwischen Arbeitsmenge und Bevölkerung kann das

Wesentliche am malthusianische Bevölkerungsgesetz anhand einer einfachen Beziehung

festgehalten werden:

PL

NL

rwGnL

wGnL

R

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∆NL = c (w - w*)

w* ist der natürliche Lohnsatz, w der Marktlohnsatz K / NL (K, das umlaufende Kapital ist

gleich der Lohnsumme W, die wiederum gleich der Summe der in der Vergangenheit

investierten Profite ist; NL ist die Beschäftigung in der Landwirtschaft). c ist ein

Reaktionskoeffizient, der angibt, wie schnell sich Arbeitsmenge und Bevölkerung verändern,

wenn der Marktlohnsatz vom natürlichen Lohnsatz abweicht.

Das malthusianische Bevölkerungsgesetz besagt also, dass die Bevölkerung konstant bleibt,

wenn der (laufende) Marktlohnsatz mit dem natürlichen Lohnsatz übereinstimmt. Die

Bevölkerung nimmt zu, wenn der Marktlohnsatz über dem natürlichen Lohnsatz liegt und

umgekehrt.

Wenn nun die Unternehmer ihre Profite investieren, werden das Sozialprodukt, Bevölkerung

und Arbeitsangebot zunehmen. Das impliziert, dass auch im landwirtschaftlichen Sektor der

Arbeitseinsatz immer mehr zunehmen muss, damit die steigende Bevölkerung ernährt werden

kann. Immer schlechtere Böden müssen bebaut werden. Grenzertrag und Durchschnittsertrag

nehmen ab, bis der sogenannte stationäre Zustand erreicht wird.

Dieser Vorgang kann anhand des grundlegenden Kaldor-Diagramms dargestellt werden:

NL O

W

Renten

M

Löhne K

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Der stationäre Zustand ist gekennzeichnet durch

1) w = w*, wobei der natürliche Lohnsatz dem reinen Existenzminimum entsprechen kann

(wegen des Bevölkerungsdrucks).

2) einen sehr hohen Rentenanteil; die Einkommensverteilung ist also äusserst ungleich. Dies

impliziert: wenige Reiche, vorwiegend Grundbesitzer; der grösste Teil der Bevölkerung lebt in

Armut (Ricardo und die Klassiker im allgemeinen betrachteten diesen Zustand als

naturgegeben).

3) Die Profite sind null; es wird also nicht mehr investiert, was bedeutet, dass es kein Wachstum

mehr geben kann.

Der stationäre Zustand ist also kein erfreulicher Zustand. Weil die klassische politische

Ökonomie, vor allem Ricardo und Malthus den stationären Zustand für unvermeidlich hielten,

bezeichnete beispielsweise der englische Schriftsteller und Gesellschaftskritiker Thomas Carlyle

die Politische Ökonomie als 'dismal science' (die unselige oder traurige Wissenschaft).

Ricardo selber gilt wegen der Unvermeidlichkeit des stationären Zustandes als

pessimistischer Liberaler.

IV. Wert und Verteilung

Einleitung

Das Weizenmodell ist definitionsgemäss ein Eingut-Modell. Es braucht hier offensichtlich keine

Werttheorie, die u.a. dazu dient, den Wert verschiedener Güter auf einen Nenner zu bringen, um

den Reichtum, den Wohlstand, eines Landes messen zu können.

Die Einkommensverteilung kann im Weizenmodell ohne jegliche Schwierigkeit studiert werden.

Vor allem die Berechnung der Profitrate P/K ist problemlos, da sowohl P wie auch K = W in

Weizen gemessen werden.

Eine Werttheorie braucht es also nur, wenn verschiedene Güter vorhanden sind. Es geht darum,

den Wert der Güter irgendwie zu messen, um sie vergleichbar zu machen, damit die Preise und

der Reichtum eines Landes bestimmt werden können.

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Dabei genügt Messen mit Papiergeld nicht, denn Papiergeld hat selber keinen Wert und ist nur

Stellvertreter von Wert (für Ricardo ist allerdings Geld = Gold, das alle Eigenschaften einer

Ware hat).

Eine objektive oder subjektive Werttheorie ist also erforderlich. Ricardo entwickelt nun eine

objektive Werttheorie, die Arbeitswerttheorie, und verbindet diese mit dem Überschussprinzip

der Einkommensverteilung.

1. Ricardos Arbeitswerttheorie

Ausgangspunkt sind zwei Preisgleichungen in Landwirtschaft und Industrie:

In der Landwirtschaft wird der (Weizen-)Preis auf dem schlechtesten Boden produziert; die

Rente ist dort Null und tritt deshalb nicht als Preiskomponente auf:

pL dQL = wG dNL (1 + r) : dQL

pL = wG nL (1 + r) nL = dNL / dQL

(Arbeitseinsatz pro Produkteinheit) (pL = Weizenpreis, QL = Weizenmenge, wG = Geldlohnsatz)

In der Industrie wird ein nichtnotwendiges Luxusgut QI produziert:

pI QI = wG NI (1 + r) : QI

pI = wG nI (1 + r) nI = NI/QI

(Arbeitseinsatz pro Produkteinheit)

Die Produktionskoeffizienten nL und nI enthalten direkte und indirekte Arbeit. Der

Produktionsprozess ist ein sozialer Prozess: Es besteht Arbeitsteilung, wobei Arbeit der

grundlegende Produktionsfaktor ist, der an der Produktion beider Güter beteiligt ist.

Das landwirtschaftliche Produkt Weizen ist ein Basisgut, das über die Löhne an der Produktion

beider Güter beteiligt ist.

Die Profitrate r ist die im landwirtschaftlichen Sektor bestimmte Profitrate. Das muss so

sein, weil das landwirtschaftliche Gut das Lohngut ist.

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Die landwirtschaftliche Profitrate bestimmt die Profitrate in der Industrie; dies geschieht

über den Konkurrenzmechanismus: Wenn die industrielle Profitrate höher ist als die

landwirtschaftliche fliesst Finanzkapital in die Industrie und umgekehrt.

Der relative Preis ist demnach:

wG nI (1 + r)

pI / pL = ------------------------ = nI / nL = QL / QI

wG nL (1 + r)

Der Wert des Industrieproduktes wird in Einheiten des landwirtschaftlichen Produktes

ausgedrückt.

Der relative Preis entspricht dem Verhältnis der beiden Arbeitskoeffizienten. Die in der

Produktion direkt und indirekt aufgewendete Arbeit bestimmt den Wert eines Produktes.

Ricardos vertritt demnach eine objektive Werttheorie

Ricardo meinte, dass im Zeitablauf nI sinkt (technischer Fortschritt) und nL steigt (wegen dem

Ertragsgesetz; immer schlechtere Böden werden bebaut). Das heisst, landwirtschaftliche

Produkte, inkl. Rohstoffe, werden im Verhältnis zu Industrieprodukten teurer.

[Dies wird sehr wahrscheinlich irgendwann einmal der Fall sein. Gegenwärtig stimmt jedoch

diese Aussage nicht: die Preise für Primärprodukte sinken.

Gründe:

− die Geldlöhne sind in der Industrie schneller gestiegen als in der Landwirtschaft.

− der produktionstechnische Fortschritt in der Landwirtschaft war sehr intensiv

− Industrieprodukte sind Flussgrössen, Rohstoffe sind Bestandesgrössen, die (fast) beliebig

schnell gefördert werden können.]

2. Arbeitswerttheorie und Verteilung

Problem: Wie wird die Verteilung im Falle mehrerer Güter geregelt?

Es muss ein Wertmass gefunden werden, das es ermöglicht, den Wert der Güter auf einen

gemeinsamen Nenner zu reduzieren. Dieses Wertmass ist Arbeit.

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(Dieses Wertmass erlaubt es, die in die Definition der Profitrate r = P/K eingehenden Grössen, P

und K (die unterschiedliche Güter sein können), auf den gleichen Nenner zu bringen und so die

Berechnung von r zu ermöglichen.)

Ausgangspunkt ist die Preisgleichung für das landwirtschaftliche Produkt Weizen:

pL = wG nL (1 + r) nL = dNL / dQL

Dividiert durch pL ergibt:

1 = w* nL (1 + r)

Der Reallohnsatz wG/pL entspricht dem natürlichen Lohnsatz w*.

Die landwirtschaftliche Profitrate ist dann gegeben durch die folgende Beziehung:

1 (dQL / dNL) - w*

rL = ----------- - 1 = -------------------------

w* nL w*

Um die Profitrate in der Industrie zu bestimmen, gehen wir aus von der entsprechenden

Preisgleichung:

pI = wG nI (1 + r) nI = NI/QI

Da der Reallohnsatz in Weizen ausgedrückt ist, muss auf beiden Seiten dieser Beziehung durch

pL dividiert werden; der relative Preis ist auch gleich dem Verhältnis der Arbeitskoeffizienten:

pI nI

----- = w* nI (1 + r) = ----- = w*nL(1+r)

pL nL

(Hier kommt die Arbeitswerttheorie ins Spiel.)

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Aus der Beziehung rechts aussen, ergibt sich die obige Beziehung für die Profitrate:

1 (dQL / dNL) - w*

rI = rL = -------- - 1 = -----------------------

w* nL w*

Die Einkommensverteilung ist im demjenigen Sektor geregelt, in dem die notwendigen

Konsumgüter produziert werden. Dieser Sektor - hier der Weizensektor - ist der

Basisgütersektor.

Das Basisgut ist also Weizen, das Nichtbasisgut das Industriegut.

Das Basisgut ist preisbestimmend: die landwirtschaftliche Profitrate bestimmt die Profitrate in

der Industrie. Damit ist der Preis des Nichtbasisgutes bestimmt.

Dies ist ein grundlegendes Resultat, das sich aus der Wert- und Verteilungstheorie von Ricardo

ergibt.

3. Die Bedeutung der Verteilungstheorie von Ricardo

Diese kann am besten erfasst werden, wenn man sich vor Augen hält, dass die

Arbeitswerttheorie untrennbar mit dem sozialen Produktionsprozess verbunden ist:

Direkte und indirekte Arbeit und Basisgüter (Weizen) werden eingesetzt, um Basisgüter und

Nichtbasisgüter zu produzieren.

Weil nun die Produktion ein sozialer Prozess ist, muss die Verteilung ebenfalls ein sozialer

Prozess sein.

Dies ergibt sich aus den Grundgleichungen der Verteilungs- und Werttheorie von Ricardo (für

den Zwei-Güter-Fall; bei mehr als zwei Gütern ist das Argument dasselbe):

pL = wG nL (1 + r) nL = dNL / dQL

pI = wG nI (1 + r) nI = NI/QI

Wir haben hier ein System von zwei Gleichungen und vier Unbekannten: pL, pI, wG und r.

Eine der Unbekannten kann eliminiert werden, indem relative Preise - hier nur ein relativer Preis

gebildet werden. In beiden Gleichungen durch pL dividiert ergibt:

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1 = w* nL (1 + r) und

pI

----- = w* nI (1 + r)

pL

Die drei Unbekannten sind: pI/pL, w* und r.

Über die Beziehung pI/pL = nI/nL kann der relative Preis eliminiert werden, und es ergibt sich

die grundlegende Beziehung zwischen Profitrate und natürlichem Lohnsatz in der Landwirtschaft

(eine Gleichung, zwei Unbekannte: r und w):

1 (dQL / dNL) - w*

rI = rL = -------- - 1 = -----------------------

w* nL w*

Bei Ricardo ist der natürliche Lohnsatz w* durch physiologische, soziale und politische

Faktoren festgelegt. Damit ist auch die Profitrate als Restgrösse bestimmt.

Wichtig: Für Ricardo muss die Verteilung ein soziales (und ev. politisches) Problem sein

(soziologische Verteilungstheorie), eben weil der Produktionsprozess ein sozialer Prozess

ist.

Es geht um das Verhältnis von Teilen (Löhnen, Profiten und Renten) zum Ganzen

(Sozialprodukt). Ein gegebenes Sozialprodukt soll sozial akzeptabel verteilt werden (so gerecht

wie möglich; soviel distributive Gerechtigkeit wie möglich).

Die Verteilung des Sozialprodukts ist also kein Marktproblem (es gibt bei Ricardo keine

Faktormärkte).

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V. Modifizierte Arbeitswerttheorie und Verteilung

1. Einleitung

Ricardo glaubte ursprünglich, dass er eine Theorie der Einkommensverteilung ohne Rückgriff

auf die Werttheorie entwickeln könne: Das Weizenmodell der Einkommensverteilung ist ein Ein-

Gut-Modell, und es braucht hier offensichtlich keine Werttheorie, weil kein Vergleich der Werte

mehrerer Güter erforderlich ist.

Auch kann im Weizenmodell die Profitrate problemlos berechnet werden, weil der

Kapitaleinsatz und die Profitsumme in der gleichen Form - Weizen - anfallen.

Es gelang Ricardo zu zeigen, dass sein einfaches Verteilungsmodell gültig bleibt, wenn mehrere

Güter vorhanden sind, deren Austauschverhältnisse durch eine Arbeitswerttheorie bestimmt sind.

Hier wird Weizen durch Arbeit ersetzt, um die Profitrate der verschiedenen Güter zu berechnen,

und die Verteilung wird in demjenigen Sektor bestimmt, der das Basisgut - Weizen - herstellt.

Bei der weiteren Ausarbeitung seiner Arbeitswerttheorie stellte Ricardo aber fest, dass diese nur

unter bestimmten Annahmen gültig ist. Insbesondere hängen die relativen Preise von zwei

Faktoren ab:

1) von den Proportionen, in denen die direkte und die indirekte Arbeit im sozialen

Produktionsprozess eingesetzt werden.

2) von der Einkommensverteilung; konkret von der Profitrate und damit auch vom natürlichen

Lohnsatz.

Wegen der zunehmenden Bedeutung des Fixkapitals hat nun Ricardo begonnen, direkte und

indirekte Arbeit zu trennen, vor allem Lohnkosten und Fixkapitalkosten. Dies führt zu einer

Modifikation der Arbeitswerttheorie, die wir nun untersuchen wollen.

2. Die Grundgleichung der modifizierten Arbeitswerttheorie (Produktionspreise)

Ausgangspunkt ist die Preisgleichung für ein bestimmtes Gut 1:

(pK1 v1 + wG n1) (1 + r) = p1

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vl = K1/x1 ist der Kapitaleinsatz pro Produkteinheit, pK1 der Preis eines Kapitalgutes K1, wG

der Geldlohnsatz, n1 der Arbeitseinsatz pro Produkteinheit des Gutes 1 (direkte und indirekte A.,

indirekt im Zusammenhang mit Rohmaterialverbrauch) N1/q1, r die Profitrate und p1 der

Produktpreis.

Zur Vereinfachung sei angenommen, dass das im Sektor 1 eingesetzte Fixkapital nur durch

Arbeit hergestellt wird:

pK1 = wG nK1 (1 + r) nK1 = NK1/K1

Unter Berücksichtigung dieser Gleichung ergibt sich für die obige Preisgleichung des Gutes 1:

wG [nK1 (1 + r) v1 + n1] (1 + r) = p1

Im Sinne von Ricardo nehmen wir weiter an, dass für ein Gut 2 genau die gleiche

Produktionsstruktur besteht.

(Dies impliziert einen Abschreibungssatz von 100% für das eingesetzte Fixkapital. Fixkapital

unterscheidet sich vom Umlaufskapital nur dadurch, dass es in der Vorperiode produziert wird.)

Damit haben wir zwei Gleichungen für zwei Produktionspreise. Daraus können wir eine

Gleichung für den relativen Preis bilden; diese stellt die Grundgleichung für die modifizierte

Arbeitswerttheorie dar:

p2 nK2 v2 (1 + r) + n2 n2 [(1 + r) k2 + 1]

---- = --------------------------- = ----------------------- (x)

p1 nK1 v1 (1 + r) + n1 n1 [(1 + r) k1 + 1]

nK1 v1 (NK1/K1) (K1/q1) NK1

Hier ist k1 = --------- = ------------------------- = ------

n1 N1/q1 N1

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das Verhältnis von indirekter, im Fixkapital verkörperter Arbeit, zu direkter Arbeit, eine Art von

Kapitalausstattung pro Arbeiter oder Kapitalkoeffizient.

Analoges gilt für k2.

ki könnte auch definiert werden als das Verhältnis von vergangener Arbeit zu

gegenwärtiger (direkter) Arbeit.

Alle Grössen sind Durchschnittsgrössen, wenn es sich um Industriegüter handelt,

Marginalgrössen, wenn landwirtschaftliche Produkte betrachtet werden.

Die Frage ist nun, inwieweit die so bestimmten relativen Preise mit der Arbeitswerttheorie

übereinstimmen. Ricardo ist auf diese Frage im 1. Kapitel seiner 'Principles of Political Economy

and Taxation' explizit eingegangen. Auf seine Antwort gehen wir im nächsten Abschnitt kurz

ein.

3. Produktionspreise und Arbeitswerttheorie

Ricardo unterscheidet vier verschiedene Situationen. Diese können mit Hilfe der obigen

Grundgleichung (x) analysiert werden.

− in drei Fällen ergibt sich eine reine Arbeitswerttheorie:

1) Wenn kein Fixkapital eingesetzt (ki = 0) wird , haben wir:

p2/p1 = n2/n1

2) Dieses Ergebnis gilt auch, wenn k1 = k2 ist.

n1 und n2 werden mit einem gleich grossen Faktor (der in den eckigen Klammern steht)

multipliziert; dieser repräsentiert den Fixkapitaleinsatz.

Zu diesen beiden Fällen sagt Ricardo:

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"Der Wert eines Gutes oder die Menge eines anderen, für welche jenes ausgetauscht wird, hängt

von der zu seiner Produktion erforderlichen Arbeitsmenge ab und nicht von der grösseren und

oder kleineren Vergütung, die für diese Arbeit gewährt wird."

(Letzteres ist eine Kritik am 'labour commanded - Ansatz' von Adam Smith:

(p1/wG = N1). Wenn Gut 1 ein Basisgut ist, wird der Geldlohnsatz ebenfalls sinken, wenn

wegen einer technischen Verbesserung n1 und p1 sinken, und N1 bleibt u.U. konstant. Ist Gut 1

kein Basisgut, sinkt jedoch N1.bei technischem Fortschritt. Ricardo schliesst daraus, dass Smiths

Wertmass falsch sei.)

3) Wenn die Profitrate r gleich Null ist, jedoch k2 und k1 ungleich sind, ergibt sich ebenfalls

eine reine Arbeitswerttheorie:

p2/p1 ist nun bestimmt durch das Verhältnis der Summe von direkter und indirekter Arbeit pro

Produkteinheit: (Ni + NKi) / xi

Ricardo sagt dazu:

"Nicht bloss die unmittelbar auf die Güter verwendete Arbeit beeinflusst deren Wert, sondern

auch die in den Geräten, Werkzeugen und Gebäuden, welche dieser Arbeit dienen, enthaltene."

4) In einem vierten Fall gilt die reine Arbeitswerttheorie nicht, nämlich wenn

r > 0 und k1 ungleich k2 ist.

Die relativen Preise sind also abhängig von zwei Faktoren:

1) den Produktionskoeffizienten ni und ki und

2) der Einkommensverteilung, repräsentiert durch die im landwirtschaftlichen Sektor bestimmte

Profitrate r.

Diese Produktionspreise stimmen nun nicht mehr mit den Arbeitswerten überein. Die

Produktionspreise stellen eine modifizierte Arbeitwerttheorie dar, die nun von den

Produktionsbedingungen und von der Einkommensverteilung (von der Profitrate r) abhängig

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sind. Das Überschussprinzip der Verteilung bleibt damit erhalten: Der natürliche Lohnsatz ist ein

soziales Datum (soziologische Verteilungstheorie).

4. Produktionspreise und Reichtum

Wenn die einzelnen Produktionspreise von der Einkommensverteilung (r) abhängig sind, ist auch

das Sozialprodukt von der Einkommensverteilung abhängig. Zur Erklärung ein ganz einfaches

Beispiel:

Das nominale Sozialprodukt Qn bestehe aus zwei Gütern:

Qn = p1 q1 + p2 q2

Das reale Sozialprodukt Q kann in Einheiten des Gutes 1 (z.B. Weizen) gemessen werden. D.h.,

es muss auf beiden Seiten dieser Definitionsgleichung durch p1 dividiert werden:

Qn/p1 = Q = q1 + (p2/p1) q2

Selbst wenn die Produktmengen konstant bleiben, ändert sich das reale Sozialprodukt Q, wenn

sich die Einkommensverteilung ändert: eine Veränderung von r führt in der Regel zu einer

Veränderung von p2/p1. Wenn beispielsweise r steigt, werden kapitalintensivere Güter teurer

und umgekehrt.

(Die Kapitalintensität wird durch ki (Definition oben) gemessen.)

5. Produktionspreise und Marktpreise

Für Ricardo sind Werte und Produktionspreise grundlegend. Marktpreise sind dagegen sekundär

und schwanken um die Produktionspreise, die 'Gravitationszentren' darstellen. Übersteigen die

Marktpreise dauernd die Produktionspreise (die realisierten Profite übersteigen die normalen

Profite), werden die Produktionskapazitäten ausgeweitet und umgekehrt. [Grafik]

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VI. Beschäftigung

Obwohl für Ricardo das Beschäftigungsproblem ganz im Sinne von Adam Smith nicht relevant

ist, macht er dazu einige Bemerkungen, dies auf drei Ebenen:

1) betreffend die Unmöglichkeit allgemeiner Überproduktion (es wird von allen Gütern zuviel

produziert) und damit die Unmöglichkeit von unfreiwilliger Arbeitslosigkeit (das Gesetz von

Say).

2) über das langfristige Beschäftigungsproblem im Zusammenhang mit dem Bevölkerungsgesetz

von Robert Malthus.

3) betreffend mittelfristige Arbeitslosigkeit im Zusammenhang mit der Einführung von neuen

Produktionstechniken (technologische Arbeitslosigkeit)

1. Unmöglichkeit allgemeiner Überproduktion: Das Saysche Gesetz

Ricardo vertrat kompromisslos das Gesetz von Jean Baptiste Say, das unterschiedlich formuliert

werden kann:

1) Allgemeine Überproduktion ist unmöglich, weil letztlich Güter gegen Güter getauscht werden;

Geld ist nur ein Schleier, der die realen Vorgänge überdeckt. [Dies impliziert, dass unfreiwillige

Arbeitslosigkeit ebenfalls nicht möglich ist.]

Es kann nur relative Überproduktion geben: von einigen Gütern wird zuviel produziert, von

andern zuwenig (dies führt zu struktureller Arbeitslosigkeit).

2) Jedes Angebot schafft sich seine eigene Nachfrage: die Einkommen, die aufgrund der

Produktion von Gütern entstehen, dienen dazu, die Produktion aufzukaufen.

3) Das Sparen bestimmt das Investieren. Was nicht konsumiert wird, wird letztlich investiert,

wobei ev. der Zinssatz diesen Prozess erleichtert und beschleunigt: Bei S > I sinkt der Zinssatz; I

steigt bis S = I.

Dies ist die Tugend des Sparens, von der vor allem Adam Smith gesprochen hat. Ricardo sagt

explizit zum Sayschen Gesetz: "Niemand produziert anders, als in der Absicht zu konsumieren

oder zu verkaufen, und er tut letzteres stets mit dem Wunsche, ein anderes gut zu erstehen,

welches ihm unmittelbar nützlich ist oder das sich zur künftigen Produktion verwenden lässt.

Daher wird er durch das Produzieren notwendigerweise entweder zum Konsumenten seiner

eigenen waren, oder zum Käufer und Konsumenten der Güter einer anderen Person. ... Es kann

also kein Kapitalbetrag in einem Lande angesammelt werden, der sich nicht produktiv anlegen

liesse, bis die Löhne infolge des Steigens der Subsistenzmittel derartig in die Höhe gehen und

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demnach für den Kapitalsprofit so wenig übrig bleibt, dass der Grund der Kapitalisierung

unterbleibt. [Wenn auf der anderen Seite jemand ein Einkommen erhält, wird er dieses nicht

horten, sondern den entsprechenden] Betrag selbst produktiv anlegen oder aber ihn zu dem

Zwecke an jemand anderen ausleihen" (Prinzipien, Waentig-Ausgabe, 293-96).

Keynes, in seiner 'Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes' (1936),

war der erst Ökonom, der eine theoretisch einwandfreie Widerlegung des Sayschen Gesetzes

geliefert hat.

2. Beschäftigung und das Malthusianische Bevölkerungsgesetz

Langfristig wird das Beschäftigungsproblem über das malthusianische Bevölkerungsgesetz

gelöst. Wenn die Wachstumsrate der Bevölkerung grösser ist als die Wachstumsrate der

Kapitalakkumulation, wird der Marktlohnsatz sukzessive unter den natürlichen Lohnsatz sinken.

Die fehlende Nahrungsmittelgrundlage wird zu Hungersnöten führen, die Bevölkerung wird

zurückgehen. Bei jeweils gegebenem Lohnfonds wird sich wiederum der natürliche Lohnsatz

einspielen.

Wenn der Marktlohnsatz über den natürlichen Lohnsatz ansteigt (w > w*), vermindern sich

kurzfristig die Profite (P) und Profitrate (r). Einerseits wird sich nun gemäss Malthus das

Bevölkerungswachstum beschleunigen. Anderseits gehen gemäss Ricardo die Investitionen und

die Wachstumsrate zurück. Die landwirtschaftliche Produktion wird also weniger schnell

zunehmen.

Einerseits nimmt also das Arbeitsangebot zu, anderseits nimmt die Nachfrage nach

Arbeitskräften ab. Mit der Zeit wird der Marktlohnsatz unter den natürlichen Lohnsatz sinken.

Dies wird die Lebenslage der Bevölkerung verschlechtern und diese dadurch reduzieren. Dieser

Prozess dauert solange, bis der Marktlohnsatz wiederum mit dem natürlichen Lohnsatz

übereinstimmt. Bei dieser Situation wird die Bevölkerung konstant bleiben.

(Der natürliche Lohnsatz kann jedoch langfristig ansteigen, wenn Profitrate und Wachstumsrate

permanent hoch sind und die Wachstumsrate der Bevölkerung übersteigen. Dies ist der Fall bei

technischem Fortschritt (Grenz- und Durchschnittsproduktkurve im Kaldor-Diagramm

verschieben sich nach oben) oder wenn nur die besten Böden angebaut werden.

3. Mittelfristige Arbeitslosigkeit (technologische Arbeitslosigkeit)

Ricardo untersucht den Einfluss von technischem Fortschritt (Einführung von neuen und

besseren Maschinen) in einem zusätzlichen Kapitel "On Machinery (Über das

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Maschinenwesen)", das erstmals in der 3. Auflage der 'Principles' erschien. Er kommt hier zu

einer auf den ersten Blick überraschenden Schlussfolgerung, nämlich dass technischer Fortschritt

positive und negative volkswirtschaftliche Aspekte aufweist. Positiv ist, dass der technische

Fortschritt zu einer Einsparung von (direkter und indirekter) Arbeit führt: bestimmte Produkte

und Produktmengen erfordern insgesamt weniger Arbeit für ihre Herstellung. Diese Produkte

werden dadurch billiger, wovon alle Bevölkerungsschichten (Arbeiter, Industrieunternehmer

und Grundbesitzer) profitieren. Mit den gleichen Geldeinkommen können nun grössere

Gütermengen gekauft werden.

Der negative Effekt des technischen Fortschritts besteht in einer Freisetzung von Arbeitskräften,

weil Bruttoeinkommen und Nettoeinkommen eventuell nicht im Gleichschritt zunehmen.

Ricardo definiert das Sozialprodukt Q als Bruttoeinkommen (oder Roheinnkommen): Q =

W + P + R. (W ist die Reallohnsumme, die mit der Geldlohnsumme gekauft werden kann; P und

R: realen Profite &Renten.)

Die realen Profite und Renten - der Überschuss - stellen das Nettoeinkommen (oder

Reineinkommen) dar. Ricardo ging nämlich davon aus, dass die Löhne im Produktionsprozess

aufgebraucht werden und somit Zwischenprodukte darstellen.

Entscheidend ist nun, dass bei technischem Fortschritt das Reineinkommen zunehmen kann,

während gleichzeitig das Bruttoeinkommen zurückgehen kann. Das heisst: Die Einführung

von neuen und besseren Maschinen kann - vor allem - die Profite steigern, während gleichzeitig

die Löhne sinken. Letzteres impliziert, dass auch weniger Arbeiter beschäftigt werden können.

Arbeiter werden also durch technischen Fortschritt freigesetzt und werden somit arbeitslos.

Der zentrale Grund für diesen Vorgang: Die neue Technik ist in der Regel "kapitalintensiver"

als die alte; Maschinen ersetzen direkte Arbeit. Die Maschinen müssen zwar auch produziert

werden und erfordern indirekte Arbeit. Jedoch ist in der Regel die Freisetzung von direkter

Arbeit grösser als der Mehreinsatz von indirekter. Die Beschäftigung geht deshalb zurück.

Nach Ricardo wird die neue Technik unwiderstehlich die alte ersetzen, weil bei konstantem

natürlichem Lohnsatz die neue Technik mit einer viel höheren Profitrate verbunden ist als die

alte.

Die neue Technik wird somit aufgrund einzelwirtschaftlicher Rationalität gewählt und nicht

aufgrund von sozialer oder gesamtwirtschaftlicher Rationalität. Die einzelwirtschaftliche

Rationalität orientiert sich am Reineinkommen und - vor allem - an der Profitrate. Die

gesamtwirtschaftliche Rationalität würde jedoch sich an der Entwicklung des Bruttoprodukts und

der Arbeitsproduktivität orientieren.

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Ähnlich wie Keynes (das Sparparadoxon) hat also Ricardo auch Widersprüche zwischen

einzelwirtschaftlicher und gesamtwirtschaftlicher (sozialer) Rationalität offen gelegt. Dies steht

im Widerspruch zur liberalen Theorie, die von Adam Smith ausgeht. Hier koordiniert im Prinzip

der Markt die individuellen rationalen Handlungen so, dass auch gesamtwirtschaftliche

Rationalität zustande kommt (dies ist Adam Smiths unsichtbare Hand).

Ricardo zur technologischen Arbeitslosigkeit:

"Kapitel XXXI: Das Maschinenwesen

In dem vorliegenden Kapitel werde ich einige Untersuchungen über den Einfluss des

Maschinenwesens auf die Interessen der einzelnen Gesellschaftsklassen anstellen; ein

Gegenstand von grosser Bedeutung, der noch nie in einer zu bestimmten und befriedigenden

Ergebnissen führenden Weise erforscht worden zu sein scheint. Ich setzte hier mehr nachträglich

meine Ansichten über diese Frage auseinander, weil dieselben bei weiterem Nachdenken einen

wesentlichen Wechsel erfahren haben; und obgleich ich mir nicht bewusst bin, dass ich jemals

etwas über das Maschinenwesen veröffentlicht habe, was ich zurücknehmen müsste, so habe ich

doch Lehren, welche ich jetzt für irrig halte, auf andere Weise vertreten. Es wird mir daher zur

Pflicht, meine gegenwärtigen Ansichten und meine Gründe, mit denen ich dieselben unterstütze,

einer Prüfung zu unterbreiten.

Bevor ich meine Aufmerksamkeit nationalökonomischen Fragen zuwandte, bin ich der Meinung

gewesen, dass eine solche Anwendung von Maschinen in einem Produktionszweige, welche eine

Arbeitsersparnis bewirkte, von allgemeinem Nutzen wäre. [...] Da es mir deshalb schien, dass

dieselbe Nachfrage nach Arbeit wie früher vorhanden, und der Lohn kein niedriger wäre, so

glaubte ich, dass die arbeitenden Klassen in gleicher Weise wie die anderen an dem Vorteil der

allgemeinen Wohlfeilheit der Waren partizipieren würden, die aus dem Gebrauch von Maschinen

entspringt.

Das waren meine Ansichten, und ich behalte sie, soweit es den Grundeigentümer und den

Kapitalisten anbetrifft, auch jetzt noch unverändert bei; doch bin ich davon überzeugt, dass der

Ersatz der menschlichen Arbeit durch Maschinen den Interessen der Arbeiterklassen oft sehr

schädlich ist.

Mein Irrtum ging von der Voraussetzung aus, dass sich bei jeder Zunahme des Reineinkommens

der Gesellschaft auch ihr Roheinkommen vermehren würde. Jetzt jedoch sehe ich den Grund

vollständig ein, dass die eine Vermögensquelle, aus welcher die Grundeigentümer und

Kapitalisten ihr Einkommen beziehen, grösser werden kann, während sich die andere - nämlich

die, von welcher die arbeitenden Klassen hauptsächlich abhängen - vielleicht vermindert. Wenn

ich im Rechte bin, folgt daraus, dass dieselbe Ursache, die das Reineinkommen des Landes

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vermehren, zu gleicher Zeit eine Überbevölkerung herbeiführen und die Lage der Arbeiter

verschlechtern kann" [David Ricardo: Grundsätze der Volkswirtschaftslehre und der

Besteuerung, Waentig-Ausgabe, 397-99].

VII. Geld und Aussenhandel

David Ricardo hat noch auf zwei anderen Gebieten Grosses geleistet, nämlich auf dem Gebiete

der Geldtheorie und der Außenhandelstheorie. Beide seien der Vollständigkeit halber erwähnt.

Was die Geldtheorie anbetrifft, ist Ricardo einer der Vorläufer des Monetarismus. Er betrachtete

Geld als unbedeutend (Geld ist ein Schleier, der reale Vorgänge überdeckt). Die Preise sind

proportional der Geldmenge, die damals aus Gold bestand. Von der Zentralbank (Bank of

England) ausgegebene Banknoten standen stellvertretend für Gold und konnten jederzeit in Gold

eingelöst werden.

Über den Aussenhandel ergibt sich nach Ricardo eine bestimmte Verteilung der Goldmenge

unter den handeltreibenden Ländern. Länder mit niedrigen absoluten Preisen realisieren

Exportüberschüsse (die Exporte übersteigen die Importe) und umgekehrt. Diese Überschüsse

werden in Gold bezahlt. Länder mit einem Exportüberschuss erhalten also Gold; umgekehrt

fliesst Gold aus Defizitländern ab. In den Überschussländern steigen damit die Preise,

Exportprodukte werden teurer, das Exportvolumen geht zurück; umgekehrt steigen die Importe.

Die Defizitländer weisen Goldabflüsse, sinkende Preise, steigende Exporte und sinkende Importe

auf. Diese Prozesse gehen solange vor sich, bis Aussenhandelsbilanzen ausgeglichen sind. Diese

Theorie der Geldmengen- und Preisanpassung beruht auf der Annahme, dass das

Beschäftigungsvolumen gegeben ist (in der Regel wird Vollbeschäftigung angenommen);

Ungleichgewichte werden also über Preisanpassungen eliminiert.

Die Aussenhandelstheorie beruht auf dem Prinzip der komparativen Kosten, das Ricardo

begründet hat. Dieses Prinzip geht davon aus, dass Aussenhandel auch zustande kommt, wenn

absolute Preisunterschiede zwischen zwei Ländern bestehen, d.h. wenn im einen Land alle Preise

höher sind als im anderen. Entscheidend sind die relativen Preise. Ricardo illustriert dies am

Handel von Tuch und Wein zwischen England und Portugal. In England sind beide Güter teurer.

Jedoch ist Tuch in England relativ billiger als in Portugal: Für eine beliebige Einheit Wein erhält

man in England mehr Tuch als in Portugal. Somit können beide Länder die verfügbare

Gütermenge, d.h. den materiellen Wohlstand, steigern, wenn sie sich in der Produktion

spezialisieren und Handelsbeziehungen aufnehmen. England wird sich auf die Herstellung von

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Tuch spezialisieren, einen Teil der Produktion exportierten und im Gegenzug Wein importieren.

Umgekehrt wird Portugal Wein exportieren und Tuch importieren.

Das Prinzip der komparativen Kosten legt also die Struktur des Aussenhandels fest: Jedes Land

exportiert diejenigen Güter, die es relativ kostengünstig herstellen kann. Das

Beschäftigungsvolumen wird als gegeben angenommen (meistens wird Vollbeschäftigung

postuliert). Ricardos Aussenhandelstheorie bildet damit das Gegenstück zur merkantilistischen

Aussenhandelsdoktrin.

C. Von Ricardo ausgehende Entwicklungen

Die 'Principles' von David Ricardo können als Brennpunkt der ökonomischen

Theoriengeschichte gesehen werden. Er hat als Erster ein logisch einwandfreies theoretisches

System der Volkswirtschaftslehre (der Politischen Ökonomie) entwickelt. Einerseits laufen alle

Entwicklungen auf ihn zu, anderseits gehen alle Entwicklung von ihm aus, entweder durch Kritik

oder Weiterentwicklung.

Auf Ricardo hin weisen François Quesnay und Adam Smith, die beide eine Kritik des

Merkantilismus implizieren. Ricardos Principles wiederum stellen eine Klarifikation, Kritik und

Weiterentwicklung von Adam Smith's Wealth of Nations dar.

Von Ricardo gehen, grob gesprochen, fünf verschiedene Entwicklungslinien der ökonomischen

Theorie und, allgemeiner, des ökonomischen Denkens aus (siehe 'Dogmengeschichte - Überblick

über die Gesamtvorlesung'). Diese beruhen auf Weiterentwicklung, meistens aber auf Kritik des

Ricardianischen Systems.

I. Die neoklassische Entwicklungslinie

Die erste dieser Gedankenströmungen ist die neoklassische Entwicklungslinie. Zu Beginn des

19. Jh. standen die Vorläufer der Neoklassik (J.B. Say, S. Bailey, M. Longfield und N. Senior)

den Ideen Ricardos äusserst kritisch gegenüber und forderten eine Rückkehr zu Adam Smith.

Diese Ökonomen betrachteten vor allem die gesellschaftliche Bestimmung des natürlichen

Lohnsatzes sowie das Überschussprinzip der Einkommensverteilung als falsch (vor allem schien

bedenklich, dass die Höhe des natürlichen Lohnsatzes 'diskutiert' werden könne). Die

Bestimmung der Verteilungsgrössen - Lohnsatz, Profitrate und Rente - durch Angebot und

Nachfrage, wie sie Adam Smith angedeutet hatte, wurde wieder aufgegriffen und

weiterentwickelt. Diese Entwicklung erreichte ihren Höhepunkt in der sogenannten

marginalistischen Revolution. Diese begründete zwischen 1870 und 1890 die neoklassische

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Schule, die die heutigen Lehrbücher dominiert. Ihre Hauptvertreter sind William Stanley Jevons

und Alfred Marshall (England), Carl Menger (Österreich) und Léon Walras (Frankreich). Walras

entwickelte die Theorie des allgemeinen Gleichgewichts, Marshall die Theorie des partiellen

Gleichgewichts, die den Grossteil der heutigen Lehrbücher ausmacht.

Bei der Neoklassik stehen das Individuum und der Tausch im Vordergrund. Alle Preise werden

durch Angebot und Nachfrage bestimmt, auch die Preise der Produktionsfaktoren Boden, Kapital

und Arbeit, d.h. Renten, Profite und Zinsen und Lohnsätze. Damit wird die Verteilung endgültig

zu einem Marktproblem. Die Theorie des wirtschaftlichen Gleichgewichts impliziert, dass die

Wirtschaft ein autonomer Sektor ist, der vor allem von gesetzlichen Rahmenbedingungen

umgeben ist. Die Wirtschaft ist in neoklassischer Sichtweise selbstregulierend; eine Tendenz zur

Vollbeschäftigung ergibt sich, wenn genügend Konkurrenz herrscht.

II. Kapitalismuskritik und ökonomische Theorie des Sozialimus

Diese Strömung ist direkt aus Ricardo herausgewachsen. Karl Marx hat die Wert- und

Verteilungstheorie Ricardos aufgegriffen, weiterentwickelt, ergänzt und in einem weitangelegten

sozialphilosophischen und historischen Zusammenhang gestellt. Marx war allerdings

vorwiegend ein Kritiker des Kapitalismus, der die ökonomische Theorie des Sozialismus nur

angedeutet hat. Im Wesentlichen hat Marx einen humanistischen Sozialismus vertreten. Gegen

sein Lebensende (gest. 1883) hat er befürchtet, dass eine sozialistische Revolution in Russland

zustandekommen könnte, ein Land, das er für eine solche Revolution noch nicht reif hielt. Seine

Befürchtungen wurden bestätigt.

Eine eigentliche ökonomische Theorie des Sozialismus wurde erst im 20. Jahrhundert entwickelt.

Berühmte Namen sind Feldman, Dobb, Lange und Kantorovich. Die zentrale Planung von

Preisen und Mengen ist kennzeichnend für den Sozialismus, wie er in der Sowjetunion von 1917

bis 1991 bestand.

III. Die deutsche historische Schule und der amerikanische Institutionalismus

Beide stellen eine Kritik an der abstrakten Modelltheorie dar, wie sie von Ricardo entwickelt

wurde. Beide betrachteten die Modelltheorie als irrelevant, weil man mit abstrakten Modellen

der komplexen historischen und gesellschaftlichen Realität nicht gerecht werden könne. Theorie

müsse sozusagen induktiv aus der historischen und gesellschaftlichen Realität gewonnen werden.

Abstrakte und universalistische Theorien sind deshalb weitgehend nutzlos, weil historische

gesellschaftliche Situationen und Entwicklungen einmalig sind.

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Wichtige Vertreter der deutschen historischen Schule sind Karl Knies, Gustav Schmoller,

Werner Sombart und Max Weber.

Der amerikanische Institutionalismus wurde von Thorstein Veblen, einem Amerikaner

norwegischer Abstammung, begründet. Commons und Carey sind wichtige Vertreter.

Die deutsche historische Schule und der amerikanische Institutionalismus waren relativ

bedeutsam in der zweiten Hälfte des 19. Jh. und in der ersten Hälfte des 20. Jh. Das Fehlen einer

Theorie führte aber schliesslich zum Zusammenbruch dieser Schulen, weil es sich als unmöglich

erwiesen hat, ohne Theorie an komplexe Probleme, wie beispielsweise Beschäftigung und

Arbeitslosigkeit, heranzugehen.

IV. Die merkantilistisch-Keynesianische Entwicklungslinie

Die Merkantilisten vertraten die Ansicht, dass in einer Geldwirtschaft die in Geld ausgedrückte

effektive Nachfrage die wirtschaftliche Aktivität und damit die Beschäftigung und das Ausmass

der Arbeitslosigkeit bestimme. Sie entwickelten jedoch keine hieb- und stichfeste Theorie, und

so war es für die Klassiker ein leichtes, ihre Doktrin zu eliminieren und sie durch das

angebotsorientierte Saysche Gesetz zu ersetzen. In der Diskussion mit Malthus hat dabei Ricardo

eine entscheidende Rolle gespielt.

Seit Ricardo geisterte das Prinzip der effektiven Nachfrage, das Überproduktion und

unfreiwillige Arbeitslosigkeit impliziert, sozusagen in der Unterwelt des ökonomischen Denkens

herum. Erst 1936 hat Maynard Keynes in seinem Buch "Die allgemeine Theorie der

Beschäftigung, des Zinses und des Geldes" überzeugend nachgewiesen, dass ein wirtschaftliches

Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung und somit unfreiwilliger Arbeitslosigkeit bestehen kann.

Aus dem Keynesschen System hat sich in den 50er und 60er Jahren die post-Keynesianische

Politische Ökonomie herausgebildet. Wichtige Vertreter dieser letzteren Schule sind Michal

Kalecki, Joan Robinson, Nicholas Kaldor, Paul Davidson, Sidney Weintraub und Geoffrey

Harcourt.

V. Ricardo: Untergang seines Systems und Renaissance

Die eigentliche Ricardianische Schule ist kurz nach Ricardos Tod (1823) untergegangen

(Maurice Dobb): Kritik der Vorläufer der Neoklassik, vor allem am Überschuss-Prinzip, das die

Verteilung nicht als ein Marktproblem auffasst, sondern als einen sozialen Prozess. Die Höhe des

natürlichen Lohnsatzes ist dabei unbestimmt und steht damit zur gesellschaftlichen Diskussion.

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Dies war eine 'gefährliche' Implikation des Ricardo-Systems, die prompt von Marx erkannt

wurde.

Erst in den 20er Jahren dieses Jahrhunderts setzte eine Ricardo-Renaissance ein. Diese wurde

eingeleitet von einem italienischen Ökonomen, Piero Sraffa, der 1925/26 in zwei Artikeln eine

grundlegende Kritik der neoklassischen Angebotskurve vortrug. Diese wurde im Laufe der Zeit

vertieft und ausgebaut. 1960 veröffentlichte Sraffa ein grundlegendes Werk, das die

Ricardianische Theorie in eine moderne Form brachte.

In den letzten 20 Jahren hat sich die Klassisch-Keynesianische Politische Ökonomie

herausgebildet, die eine Synthese von Ricardos Wert- und Verteilungstheorie und der

Beschäftigungstheorie von Keynes darstellt.