Dementiell erkrankte Migrantinnen und Migranten - eine ... · uns ist es gelungen, einen Weg...
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Dementiell erkrankte Migrantinnen und Migranten -
eine bisher vernachlässigte Gruppe
Arbeiterwohlfahrt Bezirk Westliches Westfalen e. V.
und AWO Unterbezirk Gelsenkirchen-Bottrop
Eine Broschüre zum Projekt Demenz & Migration/
Demenzservicezentrum für Menschen mit
Zuwanderungsgeschichte
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„Plötzlich hat mein Vater mich nicht mehr erkannt!“ 1
Mein Vater war einer der ersten so genannten türkischen Gastarbeiter in Deutschland. Nach einigen
Jahren holte er meine Mutter, meinen Bruder und mich nach. Meine beiden jüngeren Geschwister
wurden bereits in Deutschland geboren. Uns Kinder gefällt das Leben in Deutschland. Ich glaube,
uns ist es gelungen, einen Weg zwischen den beiden Kulturen zu finden. Auch wenn wir manchmal
spüren, dass unsere Eltern mit einigen unserer Entscheidungen nicht einverstanden sind, akzeptieren
sie diese Entscheidungen. Daher ist mein Vater nach wie vor ein wichtiger Gesprächspartner für
mich.
Doch in den letzten Monaten hat er sich sehr verändert.
Er vergisst Ereignisse, die ich ihm erzählt habe, schreit meine Mutter manchmal grundlos an,
einfache Tätigkeiten des Lebens müssen ihm neu erklärt werden. Wir konnten weder ihn noch
meine Mutter überzeugen, zum Arzt zu gehen. Bei meinem letzten Besuch fragte mich mein Vater,
wer ich denn sei. Erst glaubte ich, dass er Spaß mache, aber ich merkte
schnell, dass er mich wirklich nicht erkannt hatte. Es war einer der schrecklichsten Momente in
meinem Leben.
Als ich dies meinem Onkel berichtete, sagte er mir, dass mein Vater Bunama2 hat. Was ist mit
meinem Vater passiert und wie kann ich ihm und unserer Familie helfen?
Warum diese Broschüre?
Im Jahr 2005 lebten fast 1,9 Millionen Menschen türkischer Herkunft in Deutschland. Viele kamen
als Gastarbeiter ab den 1960er Jahren nach Deutschland. Ihr Ziel war es, in der Fremde Geld zu
verdienen, um sich ein besseres Leben in der Heimat aufzubauen. Nur wenige wollten für immer in
Deutschland bleiben.
Dies ist Jahrzehnte her und für viele Türkinnen und Türken ist Deutschland, gewollt und ungewollt,
Heimat geworden. Viele haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen, Familien gegründet
und fühlen sich hier zu Hause. Für die Eltern und die Großeltern aber bleibt oft die Sehnsucht
1 Auszug aus dem gleichnamigen Ratgeber; herausgegeben von der Arbeiterwohlfahrt Bezirk Westliches Westfalen e. V. in Kooperation mit Ethnologie in Schule und Weiterbildung (ESE) e.V.; Dezember 2005 2 Abwertendes türkisches Wort für Demenz
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bestehen, in die Türkei zurückzukehren. Auch wenn die meisten von ihnen inzwischen zu alt
geworden sind, um in ihre einstige Heimat zurückzugehen, so haben sich doch viele diesen Wunsch
bewahrt. Zahlreiche Kontakte freundschaftlicher, vor allem aber verwandtschaftlicher Art werden
gepflegt. Viele besuchen ihre einstige Heimat, solange sie körperlich dazu in der Lage sind, oder
schicken Geld und Geschenke, um Angehörige zu unterstützen.
Vor diesem Hintergrund erscheint der Wunsch nur allzu verständlich, kulturelle Verhaltensweisen
beizubehalten, Sitten und Bräuche zu pflegen und die türkische Sprache nach wie vor als
Muttersprache anzusehen. Besonders für alte Menschen ist der Gedanke an eine Rückkehr so stark
wie zur Zeit ihrer Ankunft in Deutschland. Entsprechend versuchen sie, ihren Familienmitgliedern
eine Rückkehr in die Türkei zu ermöglichen. Der Kauf von Immobilien, Land oder aber die
Hochzeiten ihrer Kinder mit Personen aus der Türkei geben hiervon Zeugnis. Die Vorstellung, dass
türkische Werte und Traditionen verloren gehen, ist für viele unvorstellbar und inakzeptabel.
Trotzdem spüren auch sie den kulturellen Wandel. Kinder und Enkelkinder haben oft andere Werte
und Vorstellungen übernommen, sehen Deutschland als ihre Heimat an.
Das tägliche Leben spiegelt sich für sie in zwei getrennten Gesellschaften wider, in Deutschland
und in der Türkei. Äußere Rahmenbedingungen, wie z.B. der Arbeitsort, führen zu einer
nachhaltigen Veränderung der sozialen Beziehungen. Aus einstigen Großfamilien werden
zunehmend Kleinfamilien. Die Versorgung der Kinder, Alten und Behinderten ist familiär nicht
mehr unbedingt gewährleistet. Kommen Krankheiten wie z.B. Demenz hinzu, verschlechtert sich
die Situation noch zusätzlich.
Gerade bei der Pflege von Demenzkranken muss vieles berücksichtigt werden. Unterschiede in den
Vorstellungen und Bedürfnissen können zu Missverständnissen führen. Der Umgang miteinander
wird hierdurch manchmal problematisch.
Wegen der noch fehlenden Infrastruktur zur Aufklärung und Versorgung dementiell erkrankter
Menschen und ihrer Angehörigen sind die betroffnen Familien oftmals hin und her gerissen, hier in
Deutschland nach Notlösungen zu suchen oder die erkrankte Person doch in die Türkei zurück zu
bringen – manchmal wissend, dass es auch dort an einer gut ausgebauten Versorgungssituation für
Demenzkranke mangelt.
Dazu folgendes Beispiel der Tochter einer dementiell erkrankten, 54 Jahre alten türkischen Frau,
die nach einer Odyssee durch mehrere Krankenhäuser und verschiedene Psychiatrien mittlerweile in
einem Altenheim ohne türkisches Fachpersonal in Wuppertal untergebracht ist :
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…Die Krankheit schreitet bei meiner Mutter sehr schnell fort. Die Ärzte sagen, sie
befindet sich im mittleren Stadium einer Demenz und braucht rund um die Uhr
Betreuung. Sie ist sehr gewalttätig und aggressiv geworden. Deswegen wurde sie
zuletzt aus einem Krankenhaus in die psychiatrische Abteilung eines anderen
Krankenhauses verlegt. Als man dort merkte, dass meine Mutter auch hier fehlplaziert
war, habe ich einen Platz in einem Altenheim gesucht. …..ich werde am 24.03. nach
Adana fliegen und mir in Mersin schon mal die Heime ansehen. Ich suche jetzt in
Wuppertal eine Rückkehrberatungsstelle. Ich weiß, dass ich die Option für die
Wiedereinreise nach Deutschland für meine Mutter offen halten muss, ich schätze aber,
dass das nicht geht. Ihr Mann, ein Deutscher mit begrenzten türkischen
Sprachkenntnissen (es handelt sich nicht um den Vater der Absenderin) ist völlig
überfordert mit der Situation. Er meint, dass er sich fast gar nicht mehr mit seiner Frau
unterhalten kann, weil die kein Deutsch mehr spricht und er nur wenig türkisch kann.
Eine Zeit lang hat er versucht sie zu Hause zu pflegen, aber es ging nicht gut. Jetzt wird
er sich wohl scheiden lassen, er war schon beim Rechtsanwalt. Also da wäre nur noch
ich. Ich weiß, dass ich sie auf keinen Fall zurückholen werde. Ich habe einen Beitrag im
Internet gelesen, der hieß
„Lieber eine Knoblauchsuppe in der Heimat
als ein Kaninchen in einem deutschen Altenheim“
- ich wusste nicht ob ich lachen oder weinen sollte.
Ich weiß nur, dass sie keiner hier besucht. Sie vereinsamt, weil da keine
Kommunikation ist. Die Schwestern haben sogar die türkische Küchenhilfe von unten
raufgeholt, damit sie zumindest ein, zwei Worte sprechen kann.
Meine Schmerzgrenze ist erreicht.
Es wird in der Türkei nicht besser und nicht schlechter sein – aber ich habe dann
vielleicht eine Sorge weniger. Ich möchte jetzt nur noch wissen, ob es in der Türkei
auch eine Patientenverfügung (wissen Sie was das auf Türkisch heißt?) gibt.
Machen Sie sich keine Sorgen um mich. Ich werde das jetzt durchhalten, auch wenn ich
immer verbitterter werde – diese Phase wird vorüber gehen. Vielleicht bin ich ja sogar
froh, dass ich nie wissen werde, was meine Mutter mitbekommt, fühlt und denkt. Ich
werde es nie wissen.
Alles andere können wir am Donnerstag im Büro besprechen. Selamlar……….
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Dieser erschütternder Fall erreichte die Fachstelle für dementiell erkrankte Migrantinnen und
Migranten und deren Angehörige im März 2004 und die darin geschilderte Situation stellt leider
keinen Einzelfall dar.
Ziel dieser Broschüre ist es, über ein Projekt der Arbeiterwohlfahrt zu informieren, das sich des
Themas angenommen hat und versucht, erste Orientierungen, erste Lösungsansätze, erste Produkte
zur Beschäftigung und Informationsmaterialien für Betroffene und deren Angehörige aber auch für
Pflegepersonal, Ärzte und andere vorzulegen.
Vielleicht kann damit ein Beitrag dazu geleistet werden, dass derartige Fälle von Hilflosigkeit und
Verzweiflung etwas weniger werden.
Die demographische Entwicklung der Bundesrepublik zeigt, dass viele MigrantInnen der ersten
Generation bereits das siebzigste Lebensjahr erreicht haben. Aufgrund dieser Entwicklung und der
Kenntnis, dass die Wahrscheinlichkeit an Demenz zu erkranken mit zunehmendem Alter wächst, ist
in den kommenden Jahren mit einem starken Anstieg demenzerkrankter MigrantInnen zu rechnen.
Auf diese Situation sind jedoch weder die Institutionen der Altenhilfe oder des Gesundheitswesens,
noch die Migrantenfamilien, in denen ein Großteil der Pflege geleistet wird, vorbereitet. Auch
Forschung und Lehre haben diese Gruppe bisher fast an keiner Stelle in ihrem Fokus.
Auch eine Eingabe von Stichwörtern wie „Demenz und Migration“ oder „dementiell erkrankte
Migranten“ in die Suchmaschine GOOGLE ergab in der Vorbereitungsphase des Projekts im Jahr
2003 fast keine Ergebnisse aus dem deutschsprachigen Raum....
Weltweit wird die Zahl der Demenzkranken auf ca. 30 Millionen geschätzt. „Die Zunahme von
Demenzerkrankungen ist eng verbunden mit dem Lebensalter und daher auch mit der
demografischen Bevölkerungsentwicklung. Bei der Alzheimerkrankheit ist das Alter als einziger
Risikofaktor definitiv gesichert (Kurz, 2003). Das Risiko, eine Demenz vom Alzheimer-Typ zu
entwickeln, steigt expotentiell mit dem Lebensalter an, Beginnend mit dem 60sten Lebensjahr
verdoppelt sich das Risiko etwa alle 5 Jahre“ (J. Becker in TUP, 6-2005).
In den Industriestaaten leiden etwa 10% der über 65-Jährigen unter einem mittelschweren oder
schweren Demenzsyndrom. Zusätzlich geht man davon aus, dass sich noch 6 – 8 % der
entsprechenden Altersgruppe in fraglichen oder leichten Stadien dementieller Erkrankungen
befinden (Kurz, 2003).
Der 4. Bundesaltenbericht rechnet mit einer Neuerkrankungsquote für die Gruppe der 65-Jährigen
und Älteren von jährlich 192.000 Personen und zusätzlich für die Gruppe der unter 65-Jährigen mit
ca. 4.000 bis 6.000 Personen. Somit werden rund 200.000 Neuerkrankungen pro Jahr erwartet,
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davon ca. 135.000 mit Alzheimerdemenz (4. Bundesaltenbericht, 2002 – entnommen aus TUP
6/2005).
Derzeit leben ca. 1,2 Millionen Menschen in Deutschland, bei denen eine Demenzerkrankung
diagnostiziert worden ist.
Alle Forschungsergebnisse hinsichtlich der Alterungsprozesse bei Migrantinnen und Migranten
kommen zu dem Ergebnis, dass eben diese Alterungsprozesse bei den Gruppen der ehemaligen
„Gastarbeiter“ auf Grund ihrer Migrationbiografie und auf Grund der Arbeits- und
Lebensbedingungen, denen sie unterworfen waren 5 bis 10 Jahre früher einsetzt als bei „deutschen“
Alten. Insofern müsste man eigentlich alle Zahlen entsprechend hochrechnen.
Bei einem Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund von durchschnittlich 10 %
(einschließlich der Gruppe der Spätaussiedler) könnte davon ausgegangen werden, dass bereits jetzt
rund 120.000 demenziell erkrankte Migrantinnen und Migranten der Hilfe, Versorgung und
Unterstützung bedürften. Tatsächlich wird diese Zahl erheblich kleiner sein, weil
Demenzerkrankungen bei diesen Gruppen bisher noch sehr wenig diagnostiziert werden. Gründe
dafür werden neben Aspekten der Information, Aufklärung, Versorgung und Pflege nachfolgend
thematisiert und diskutiert.
Grundsätzliche Positionsbestimmung
Die Grundhaltung und das ethische Verständnis im Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen
sind die entscheidenden Faktoren dafür, welche Arbeitsansätze, Methoden und Konzepte in der
Therapie, der Angehörigenarbeit und in Pflegeeinrichtungen grundlegend sind.
Wir gehen davon aus, dass die Persönlichkeit eines Menschen trotz einer Demenzerkrankung
erhalten bleibt. Demenzerkrankte werden aufgrund ihrer Erkrankung nicht zu anderen Individuen.
Die Grundhaltung im Umgang mit an Demenz erkrankten älteren Menschen sollte daher ebenso auf
Respekt, Wertschätzung und Wahrnehmung der Einzigartigkeit der Personen beruhen, wie der
Umgang mit Nichterkrankten.
Die Anerkennung der Tatsache, dass der ältere Mensch krank ist, hat große Bedeutung. Vielfach
wird diese Tatsache umgangen oder umschrieben und lediglich von veränderten Menschen
gesprochen. Das entspricht nicht der Realität und nimmt diesem Personenkreis den Status des
kranken Menschen.
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Die an Demenz erkrankten Menschen leben oftmals im Langzeitgedächtnis und sind intellektuell,
nicht aber emotional eingeschränkt. Mit fortschreitendem Krankheitsverlauf ziehen sie sich in der
Regel in eine vergangene Zeit ihrer Biographie zurück, in eine eigene Welt, die zunehmend weniger
Bezüge zur Realität aufweist.
Sie sind in Zeit und Raum „verrückt“.
Ihre als „problematisch“ empfundenen Verhaltensweisen, der Verlust des Realitätsbezuges und sich
oftmals hieraus entwickelnde Aggressionen, sind eine Herausforderung an Angehörige und
Pflegekräfte. Um Demenzerkrankte zu verstehen, müssen Wege gefunden werden, ihnen in ihre
Welt zu folgen. Biographiearbeit ist der Schlüssel für einen erfolgreichen Zugang zu
demenzerkrankten Menschen.
Nicht Sie können sich dem Gesundheitssystem oder den pflegenden Personen in ihrer Familie
anpassen, sondern die Personen des den Kranken umgebenden Systems müssen ihre Einstellungen
gegenüber dem erkrankten Individuum ändern.
Daher hat die Angehörigenarbeit zentrale Bedeutung.
Im Mittelpunkt der Unterstützung an Demenz erkrankter Menschen steht somit die Person, nicht die
Krankheit Demenz, menschliche und nicht allein medizinische Ansätze und Lösungen müssen
gefunden werden. Von zentraler Bedeutung ist es hierbei, ihre Identität durch den Erhalt und
Aufbau sozialer Kontakte zu stärken, vorhandene Ressourcen zu erkennen und zu fördern.
Vor dem Hintergrund einer spezifischen Migrationsbiographie, deren zentrales Merkmal der
biographische Bruch im gesellschaftlichen und kulturellen Lebensbezug ist, müssen die
vorhandenen Arbeitsansätze und Versorgungskonzepte modifiziert werden. Auch hier gilt es, die
Individualität und Einzigartigkeit der Person zu bewahren. Dies bedeutet unter anderem, dass die
sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen dieser Personen, bezogen sowohl auf die Herkunfts- als
auch auf die Aufnahmegesellschaft, berücksichtigt werden müssen.
Diese Grundpositionen leiten sich überwiegend ab aus dem person-zentrierten Ansatz von Tom
Kitwood, beschrieben in seinem Buch „Demenz“ und dem KDA Handbuch „Leben mit Demenz“
Die daraus resultierende Erkenntnis war einer der Ausgangspunkte für ein Vorhaben, das seit
Februar 2004 von der Stiftung Wohlfahrtspflege des Landes NRW finanziert wird. Dabei handelt es
sich um das derzeit einzige von der Stiftung geförderte Demenz-Projekt, das sich ausschließlich der
Zielgruppe der Migranten zuwendet.
Wir wollten also Neuland betreten...
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Unsere Hypothese:
Wie auch bei Deutschen kann davon ausgegangen werden, dass Alzheimer und Demenz bei
Migrantinnen und Migranten - wenn auch noch nicht öffentlich in größerem Umfang wahrnehmbar
- in der gleichen Häufigkeit vertreten ist.
Es wird auch davon auszugehen sein, dass dementielle Erkrankungen wie auch andere Krankheiten
und Beeinträchtigungen bei diesen Menschen auf Grund ihrer Migrationsbiografie in der Regel
früher, also bereits in jüngeren Jahren als bei Deutschen auftreten. Genaue Zahlen und
Forschungsergebnisse gibt es allerdings zur Häufigkeit und zum Einsetzen von demenziellen
Erkrankungen bei Menschen mit Migrationshintergrund noch nicht.
Das Projekt „Fachstelle für an Demenz erkrankte Migrantinnen und Migranten und deren
Familienangehörige“ (Kurztitel Demenz und Migration) befasst sich seit dieser Zeit mit dem
Phänomen Demenz bei – insbesondere – türkischen Migrantinnen und Migranten.
Im Folgenden wird beschrieben, welche Erfahrungen in der Auseinandersetzung mit dieser
Thematik gesammelt und wie erfolgreiche Schritte umgesetzt werden konnten, auf welche
Hindernisse wir gestoßen sind und wie sich derzeit weitere Planungen darstellen.
Am Start...
Zu den günstigen Startbedingungen zählte, dass das Projekt im Internationalen Migrantenzentrum
der Arbeiterwohlfahrt in Gelsenkirchen angesiedelt und mit einer türkischen
Sozialwissenschaftlerin besetzt werden konnte, die in diesem in der Szene und in der Stadt
bekannten Zentrum bereits seit einigen Jahren als Sozialberaterin tätig war.
Nach unserer Vorstellung stellte dies eine günstige Bedingung für einen guten „Zugang zur
Zielgruppe“ dar – dennoch: trotz guter Vorarbeit, vieler Gespräche und Recherchen waren wir sehr
überrascht wie unzureichend sich doch der Informationsstand in der türkischen Bevölkerung
darstellt, welche und wie viel Vorurteile und völlige Falschinformationen gegenüber dem
Phänomen Demenz weit verbreitet sind und wie viele Hindernisse und Probleme sich daraus für die
praktische Arbeit ergaben.
Nichtwissen und Vorurteile bestimmten den Umgang mit Menschen, die dementiell erkrankt sind.
Bestenfalls gelten sie als verrückt, schlimmer wird es, wenn man glaubt, Demenz sei ansteckend.
Die Hodschas, die Islamgelehrten in den Moscheen, erklären sogar, Demenz sei eine Strafe Gottes.
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So stießen wir zum Beispiel auf das Vorurteil, Demenz sei eine ansteckende und erbliche
Krankheit, so dass man diese Menschen verstecken und sich für sie schämen müsse.
Oder aber es wird verbreitet, diesen Menschen sei nicht zu helfen, weil sie von Gott oder Allah mit
der Krankheit gestraft worden seien.
Derartige Positionen werden selbst von islamischen Theologen verbreitet und demzufolge natürlich
auch oftmals geglaubt!
Wir mussten erfahren, wie sehr der Rollenverlust des von der Erkrankung Betroffenen und
Schamgefühle den Zugang zu Familien erschwerten. Diesen Positionen zu entgegnen hat sich als
äußerst wichtig aber auch sehr aufwendig erwiesen. So wurden erste Materialien für
Informationsveranstaltungen zur Kranken- und Pflegeversicherung, über Krankheiten im
Allgemeinen bis hin zur Demenz im Besonderen entwickelt.
Der Projektstart wurde in breiter Form veröffentlicht. Auf der Internetseite der Arbeiterwohlfahrt
Bezirk Westliches Westfalen: [email protected], sowie in Online-Datenbanken sind die
Kurzfassung einer Projektbeschreibung sowie weitere Materialien zu finden.
Verschiedene Fachzeitschriften aus den Arbeitsfeldern Migration und Altenpflege haben über die
Arbeit berichtet und tun dies auch weiterhin. Ein Expertenkreis wird ebenfalls kontinuierlich
unterrichtet.
Ferner wurde und wird das Thema Demenz + Migration in zahlreichen Arbeitskreisen und Gremien
vorgestellt, um zum Beispiel Mitarbeiter/-innen des Gesundheitssystems zu sensibilisieren und auf
die Möglichkeit der Vermittlung an die Fachstelle zu verweisen. Auch bei „Demenz-
Veranstaltungen“, entsprechenden Messen oder Gesundheitstagen in der Region ist das Projekt mit
Präsentationen immer wieder beteiligt.
Die Zielrichtung …
Damit ist auch bereits ein Hinweis auf die Zielrichtung des Projekts gegeben: Das Projekt richtet
sich nicht vorrangig an die Altenhilfe. Vorrangig stehen die zu Hause lebenden, demenziell
erkrankten Menschen mit Migrationshintergrund und deren Familienangehörige im Fokus, denen
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Hilfe und Unterstützung gewährt werden soll. Aus diesem Grund wird von uns in
Veröffentlichungen auch immer wieder der Untertitel
als Motto und Leitgedanke eingesetzt.
Neben den erkrankten Menschen und deren Familien sind die Strukturen und handelnden Personen
im Gesundheitswesen eine weitere bevorzugte Zielgruppe unserer Bemühungen.
Die Umsetzung...
In Gelsenkirchen wurde eine muttersprachliche
Fachstelle für an Demenz erkrankte Migrantinnen und
Migranten und deren Familienangehörige installiert.
Hier wird Beratung und Begleitung durch eine
türkische Fachkraft angeboten.
Diese Stelle ist Anlauf-, Clearing-, Informations- und
Vermittlungsstelle für Ratsuchende aus der Region,
wobei mittlerweile die Anfragen auch aus weiter
entfernten Städten wie Siegen, Wuppertal, Münster,
Hamburg, Berlin usw. kommen.
In bisher in über 15 Informations- und
Aufklärungsveranstaltungen wurden die entwickelten
Informationsmaterialien eingesetzt und bisher über 300
vorwiegend türkische, aber auch serbo-kroatische
MigrantInnen erreicht. Einige dieser Veranstaltungen konnten durch gute informelle Kontakte in
Moscheen in Recklinghausen, Gladbeck, Marl und anderen Orten durchgeführt werden, was sich
für den Multiplikationseffekt als sehr hilfreich erwiesen hat.
Neben der Information und Aufklärung über die Erkrankung ist diese Veranstaltungsform auch ein
Weg, betroffene Personen zu erreichen, ihnen die Angebote der Fachstelle vorzustellen und einen
behutsamen Einstieg in die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit dem sensiblen Thema
Demenz zu ermöglichen.
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Die Anlauf-, Clearing-, Informations- und Vermittlungsfunktion der Fachstelle haben wir gemäß
der nachstehenden Abbildung aus dem Projektflyer, der übrigens auch in türkisch, serbo-kroatisch,
polnisch und russisch vorliegt, wie folgt beschrieben:
Die Fachstelle will in deutscher und türkischer
Sprache in vielen Fragen und Angelegenheiten
unterstützen:
• Einbeziehung der Kranken in das
Alltagsleben
• Pflege in der Familie
• Umgang und Kommunikation mit dem
kranken Menschen
• Leistungsansprüche z.B. in der Kranken-
und Pflegeversicherung
• Optimale und sichere Gestaltung der
Wohnung
• Individuelle Informationen zu Demenz,
ihren Symptomen und dem Verlauf
• Vermittlung zu Ärzten und Therapeuten
• und anderes mehr ….
Die Bedeutung von Information und Aufklärung
kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Ist
es doch so, dass selbst in „deutschen“
Zusammenhängen über viele Jahre hinweg
unterschiedliche Bezeichnungen für die gleichen Symptome zur Verwirrung über den Gebrauch der
Begriffe beitrugen.
Ein kurzer Blick zurück macht deutlich, wie ‚jung’ die heute in Deutschland verbreiteten
Erkenntnisse über Demenz und Alzheimer eigentlich noch sind:
„Bis in die 70er Jahre wurde eine Verkalkung der Blutgefäße als Ursache für die geistigen
Einbußen bei alten angenommen, diagnostiziert als ‚Zerebralsklerose’ oder ‚zerebrovaskuläre
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Insuffizienz’. Die Alzheimerkrankheit galt als eine seltene geistige Erkrankung, die vor dem
eigentlichen Alter auftritt. Ende der 70er Jahre stieg die Zahl der dementiell erkrankten Menschen
enorm an und sie wurden entsprechend der Hauptsymptomatik als ‚verwirrt’ oder ‚desorientiert’
bezeichnet.
In den 80er Jahren wurden die Begriffe abgelöst durch die Diagnose eines ‚HOPS’
(Hirnorganisches Psychosyndrom). Schließlich ergaben wissenschaftliche Untersuchungen in den
90er Jahren, dass die Alzheimerkrankheit am häufigsten ist, und Alzheimer wurde zum Synonym
für den geistigen Abbau bei alten Menschen….Unklar verwendete Begrifflichkeiten in der Medizin
und die Erfahrung, dass Menschen mit den gleichen kognitiven Einbußen auf ganz unterschiedliche,
individuelle Weise reagieren sowie die Gefahr der Stigmatisierung durch eine psychiatrische
Diagnose führten innerhalb der pflegenden und betreuenden Berufsgruppen zu einer Opposition, die
eine rein medizinische Betrachtungsweise ablehnte“ (J. Becker in TUP, 6-2006).
Grond, Naomi Feil, Tom Kitwood, Böhm oder Radley sind Beispiele dafür neben der
medizinischen Betrachtungsweise auch andere Aspekte im Umgehen mit dementiell erkrankten
Menschen einzuführen, zu begründen und zu beschreiben.
Wenn schon so lange und so viel Unklarheiten über Demenzen und den Umgang mit dementiell
erkrankten Menschen herrschten und teilweise immer noch vorhanden sind, um wie viel weniger
kann man dann erwarten, dass Migrantinnen und Migranten eine informierte und aufgeklärte
Gruppe darstellen.
Demzufolge ist Aufklärung und Information gerade auch für die Gruppen äußerst wichtig!
Ergänzend zu den bereits beschriebenen Informations- und Aufklärungsmaterialien wurde in einer
Positionsbeschreibung zum Umgang mit an Demenz erkrankten MigrantInnen erstellt und
veröffentlicht. Diese Positionen beschreiben die Grundhaltung und das ethische Verständnis im
Umgang mit an Demenz erkrankten Menschen, mit denen wir an die Arbeit in diesem Projekt
gehen.
Dabei leiten sich unsere Grundpositionen überwiegend aus dem personen-zentrierten Ansatz von
Tom Kitwood ab, beschrieben insbesondere in seinem Buch „Demenz“.
Eine weitere von uns als wichtig eingeschätzte Grundlage ist das „Handbuch Leben mit Demenz“
vom Kuratorium Deutsche Altershilfe (KDA).
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In unserer Positionsbeschreibung werden auch erste Modifizierungsnotwendigkeiten für das
Pflegekonzept „Aktivitäten und existentiellen Erfahrungen des Lebens" (AEDL) im Hinblick auf
Migrantinnen und Migranten entworfen.
Fazit dieser Positionierung ist: Alle Unterstützungsangebote und Maßnahmen haben zum Ziel,
demenzerkrankten Menschen Orientierungshilfen zu bieten und die Selbstachtung zu stärken.
Gleichzeitig dienen sie dazu, pflegende Angehörige zu entlasten.
Damit soll ein hohes Maß an Lebensqualität möglichst lange beibehalten werden.
Andere Zielgruppen der Projektarbeit .....
Ausgehend von den Erfahrungen mit islamischen Theologen und Hocas wird versucht, auch diese
über Alzheimer und Demenz zu informieren, da gerade von ihnen - vielfach aus Unwissenheit -
Falschinformationen über die Krankheit verbreitet werden. Wiederholte Bemühungen beim
türkischen Konsulat und bei der Türkisch-Islamischen Union/Anstalt für Religion e.V. (DITIB) sind
bisher leider bisher aufgrund bürokratischer Hemmnisse auf
türkischer Seite gescheitert.
Ärzte und Psychologen sind immer wieder an die Fachstelle
herangetreten mit der Bitte, üblicherweise angewendete
Testverfahren zur Diagnostizierung der Krankheit in die
türkische Sprache zu übersetzen. Als Ergebnis von
Gesprächen mit diesen Ärzten und der Auseinandersetzung
mit dem Thema wurde eine Stellungnahme zur
Übertragbarkeit von üblichen Testverfahren auf die
Zielgruppe bzw. zu deren Nicht-Übertragbarkeit wegen der sprachlichen, mathematischen und
figuralen Ausrichtung erarbeitet und ebenfalls veröffentlicht.
Als Fazit wird dabei herausgestellt: Alle Bestandteile der Testverfahren erweisen sich als
problematisch für die Demenzdiagnostik bei Migranten/-innen.
Das Hinzuziehen von Dolmetschern - meist Familienangehörige - und die Sprachlastigkeit der
Testverfahren bergen eine große Gefahr von Fehlinterpretationen und Fehldiagnosen.
Die Personengruppe, an der die Verfahren normiert wurden, unterscheidet sich fundamental von der
Gruppe der Migranten/-innen der 1.Generation hinsichtlich des Bildungsstandes, des
Alphabetisierungsgrades und der Ausdrucksfähigkeit in der deutschen Sprache. Damit wird in
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unserer Stellungnahme festgehalten, dass die vorliegenden Testverfahren zur Diagnostik bei
demenziell erkrankten Migrant/-innen aus den beschriebenen Gründen nicht anwendbar sind.
Stattdessen ist eine Anpassung an die unterschiedlichen Migrantengruppen und eine Modifizierung
dringend notwendig, um eine neue Normierung und damit Auswertbarkeit zu erreichen. Eine reine
Übersetzung von Testverfahren ist daher nicht sinnvoll und wird von der Arbeiterwohlfahrt nicht
unterstützt.
Es gibt im Rahmen einer noch nicht veröffentlichten und fertig gestellten Diplomarbeit erste
Versuche, Diagnoseverfahren mittels Bildern zu entwickeln. Hier werden kulturelle Hintergründe
berücksichtigt. So sind in unserem Kulturraum allgemein bekannte Bilder den Probanden unter
Umständen unbekannt und werden in der Folge von ihnen nicht (wieder)erkannt. Bei Paar-
Assoziationen und Zuordnungsaufgaben könnten andere Zusammenhänge erfasst werden, die in den
Diagnoseverfahren als Fehler betrachtet würden. Hintergrund hierfür ist, dass ein kultureller
Unterschied in der Bildung sprachlicher Prototypen und Kategorien existiert.
Die Beschäftigung und Auseinandersetzung mit diesem Thema wird insbesondere auch in den
Kontakten mit den türkischen Kooperationspartnern des Projekts, der Alzheimer-Gesellschaft in
Ankara und einer Abteilung des türkischen Gesundheitsministeriums, fortgesetzt.
Unsere Kooperationen …
Zu Beginn der Projektarbeit haben sich für uns
wertvolle Kontakte in die Türkei ergeben. Zum
einen handelt es sich dabei um eine Abteilung des
türkischen Gesundheitsministeriums in Ankara, das
Direktorat für soziale Dienstleistungen, zum andern
um die Alzheimer-Gesellschaft ebenfalls in Ankara.
Die bisherigen Kooperationen haben sich als für
beiden Seiten ganz wichtig erwiesen. So profitieren
wir von deren Erfahrungen und Entwicklungen und
sie von den bei uns erstellten ersten Produkten. Ein
durch das Gesundheitsministerium entwickelter
Ratgeber für alte Menschen „Yaslilik El Kitabi“
konnte auf hiesige Verhältnisse übertragen werden.
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Die Broschüre in türkischer Sprache informiert über das Altwerden, Krankheit, Pflege und
Versorgung durch die Familie, Leistungsansprüche usw.
Sie wird im Januar 2006 veröffentlicht.
Die Alzheimer-Gesellschaft in Ankara hat zum Welt-Alzheimer-Tag am 21.09.2004 im türkischen
Fernsehen Zuschauer mit kurzen Spots über die Krankheit und die Belastungen für die Familien
informiert und aufgeklärt. Der Film „Yalniz Degilsiniz – Du bist nicht allein“ ist mittlerweile mit
deutschen Untertiteln versehen und wird von uns bei Veranstaltungen für Familien und Angehörige
eingesetzt.
Ein 2. Teil des Films mit weitergehenden Informationen zur Demenz und den damit
zusammenhängenden Symptomen richtet sich eher an Fachleute oder besonders interessierte Laien.
Die Filme beschreiben zwar Situationen in der Türkei, lassen sich aber sehr gut auf hiesige
Verhältnisse übertragen. Außerdem werden sehr eingängige und schöne Bilder von erkrankten
Menschen und helfenden Angehörigen gezeigt, die auch Mut machen, sich diesem tabubelegten
Thema zu stellen.
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Neben den Kooperationspartnern in der Türkei arbeiten wir mit Partner aus der Region zusammen,
von denen nachfolgend noch zu reden sein wird.
Produktentwicklung....
Ein wesentlicher Aspekt war und ist seit Beginn der Projektarbeit die Produktentwicklung, mit der
auch über ein mögliches Ende der Modellförderung hinaus eine nachhaltige Wirkung erzielt werden
sollte. Leitgedanke dabei war, dass es bisher keine (uns bekannten) Produkte zur Beschäftigung und
spezielle Informationsmaterialien für demenziell erkrankte Migranten/-innen und deren Angehörige
gibt. Hierzu sollten mit eigenen Entwicklungen erste Beiträge geleistet werden.
Einige unserer Produkte wie die Informationsmaterialien, die Broschüre in türkischer Sprache und
die Filme sind bereits erwähnt worden, im Folgenden werden weitere beschrieben:
Gemeinsam mit unserem Kooperationspartner in Münster, dem
Institut für Ethnologie in Schule und Erwachsenenbildung,
wurde ein Ratgeber für Migrantinnen und Migranten zum
Thema Demenz in deutscher Sprache für pflegende Angehörige
als Hilfestellung und zur Unterstützung erstellt.
Der Ratgeber „Plötzlich hat mich mein Vater nicht mehr
erkannt“ enthält auf 50 Seiten:
• Ratschläge zur Krankheit Demenz im Allgemeinen und bei
türkischen Demenzkranken im Besonderen
In leicht verständlicher Form wird hier über die Krankheit
und ihre Erscheinungsformen informiert; erste Anzeichen
für Demenzerkrankungen werden deshalb vorgestellt, weil bei Diagnosen die Angehörigen
oftmals ein wichtiger Gesprächspartner des Arztes sind und ihm Hinweise auf auffällige
Verhaltensweisen geben können.
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• In Tipps zum Umgang mit Demenzkranken werden das sich verändernde Lebensgefühl der
Demenzkranken und die Auswirkungen auf das Familienleben beschrieben.
• Tipps zu verschiedenen Pflegesituationen, die sich beim Duschen, Waschen, bei Inkontinenz,
bei Weglauftendenzen und anderen Situationen im Haushalt ergeben können, sind speziell auf
muslimische Gepflogenheiten abgestimmt.
Das Gleiche gilt für Tipps zur Beschäftigung mit dementiell Erkrankten.
• Die Tipps hinsichtlich der Auswirkungen und Belastungen der Erkrankung auf die pflegenden
Angehörigen haben unter anderem zum Ziel, den Angehörigen weiter Mut zu machen, ihnen ein
schlechtes Gewissen zu nehmen und Hilfestellungen anzubieten.
• In den Tipps zu Unterstützungs- und Beratungsmöglichkeiten werden wichtige Anlaufstellen
und Adressen genannt.
• Letztlich sind Hinweise zu Leistungsansprüchen zum Beispiel gegenüber der Kranken- und
Pflegeversicherung in Kurzform zusammengestellt.
Zur Veranschaulichung sind eigens Grafiken
entwickelt worden,
die auf die Zielgruppe Migrantinnen und
Migranten hoffentlich
in besonderer Weise ansprechend wirken. So
soll der Aspekt der Ernährung so veranschaulicht werden:
Oder auf die Situation der Körperpflege
wird mit der nebenstehenden Grafik hingewiesen.
Mit den von uns so genannten
„Erinnerungskarten“ wurde September 2005
ein weiteres Produkt herausgegeben. Bei den 24
Erinnerungskarten geht es darum, in der
türkischen Bevölkerung sehr bekannte
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Spruchweisheiten und Sprichwörter zu vervollständigen. So soll der erste Teil eines Sprichwortes
auf der Vorderseite der Karte vom Demenzkranken gelesen werden oder er wird ihm oder ihr
vorgelesen; im zweiten Schritt soll das Sprichwort dann durch den Erkrankten im Gespräch
möglichst vervollständigt werden. Auf der Rückseite ist als Hilfestellung der zweite Teil des
Sprichwortes abgedruckt.
Über die Karten ist einerseits Gedächtnistraining und Aktivierung möglich, andererseits kann über
sie der Versuch unternommen werden, miteinander ins Gespräch zu kommen.
Die türkischen Sprichwörter und Weisheiten ähneln den deutschen Sprichworten und lassen sich
sinngemäß auch in analoge deutsche Sprichwörter übertragen (siehe dazu die genannten Beispiele).
Ihnen kommt jedoch in der türkischen Lebensweise und in der Alltagssprache eine sehr viel höhere
Bedeutung und Rolle zu als Sprichworten in Deutschland.
Jeder Mensch hat eine einzigartige Biografie und daher wird es Menschen geben, zu denen man mit
diesem Instrument keinen Zugang findet; womöglich kennen sie diese Sprüche gar nicht oder
erinnern sich zumindest nicht daran, weil sie in ihrer Vergangenheit, in ihrer Kindheit oder Jugend,
keine so große Rolle gespielt haben.
Aber da es sich um weit verbreitete, überregionale Weisheiten handelt, die speziell in der
Generation der türkischen Menschen, die jetzt über 60 oder 65 Jahre alt sind, eine große Bedeutung
hatten, gehen wir davon aus, dass die Karten für viele erkrankte Migrant/-innen eine gute Zugangs-
und Beschäftigungsmöglichkeit sind.
Die Karten liegen in türkischer Sprache mit deutscher Übersetzung vor. Sie können sowohl von
Angehörigen zu Hause als auch in Einrichtungen eingesetzt werden.
Hier ein Beispiel aus obigem Bild: „Akil Yasta ... degil bastadir“ kann mit dem deutschen
Sprichwort „Alter schützt vor Torheit nicht“ übersetzt werden; oder: „Aci patlicani ... kiragi
calmaz“ heißt im übertragenen Sinn „Unkraut verdirbt nicht“.
In den von uns erstellten Flyern mit Informationen zur Fachstelle sowie auf Tafeln, die bei
Veranstaltungen oder Messen und Gesundheitstagen Verwendung finden, sind auch Warnzeichen
zur Früherkennung einer möglichen Demenz beschrieben, die der gängigen Fachliteratur
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entnommen wurden. Diese Informationen liegen auch in türkischer, serbo-kroatischer, polnischer
und russischer Sprache vor.
Bi r Demet Türkü
Ein Strauß traditioneller türkischer Volkslieder
aus verschiedenen Region der Türkei
Mit dieser Musik-CD wird die Reihe von Produkten
zur Beschäftigung mit dementiell erkrankten
Migrantinnen und Migranten des Projekts Demenz &
Migration der Arbeiterwohlfahrt fortgesetzt.
Türkische Volksmusik hat im Leben der Migranten
aus der Türkei eine große Bedeutung. Schon als
Wiegenlieder nehmen sie einen wichtigen Platz in
ihrem Leben ein. Sie sind der Ursprung der
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türkischen Volksmusik, Kinder hören sie schon vor ihrer Geburt im Mutterleib, wenn die werdende
Mutter die Lieder singt. Die hier vorgelegten Volksmusikstücke handeln von Liebe, Trennung, dem
Verlust der Heimat, von Heldentaten, Sorgen und Hoffnungen. Leben Menschen in der Fremde,
gewinnen diese Lieder noch mehr Bedeutung für sie.
Musik kann eine wichtige Form des Zugangs zu dementiell erkrankten Menschen sein und so
wurden hier weitgehend bekannte,verbreitete traditionelle und generationenübergreifende
Volkslieder neu eingespielt in der Hoffnung, über diese Musik mit den Menschen ins Gespräch
kommen zu können: können sie sich an die Liedtexte und die Melodien erinnern? Welche
Bedeutung hatten diese Lieder für sie in ihrer Kindheit oder Jugend, die sie damals in der Türkei
verbracht haben. Oftmals erweist sich gerade eine auf den einzelnen Menschen passende Musik als
das einzige noch mögliche Instrument, um noch Kommunikation, Emotionen, Reize oder
Interaktionen auszulösen.
Musik ist eine Sprache ohne Worte. Sie eignet sich besonders für dementiell erkrankter Menschen,
denn die Melodien der alten Lieder bleiben präsent, selbst wenn der Text bereits bröckelt - ganz
gleich wie ausgeprägt die Demenz ist. Zusätzlich kann Musik als Erinnerungstherapie eingesetzt
werden, die bei Demenzpatienten durch die Orientierung auf positive Erinnerungen die
Lebenszufriedenheit erhöhen kann.
Die vielfältigen positiven Wirkungen des Einsatzes von passgenauer Musik im Pflegealltag, in der
Betreuung bis hin zur Therapie von Menschen mit dementiellen Erkrankungen sind in der
Fachliteratur hinlänglich beschrieben und begründet: Beispielhaft sind hier zu nennen: Dorothea
Muthesius “Gefühle altern nicht. Musiktherapie mit dementen Patienten” (1997) bzw. andere
Werke der Autorin oder KDA-Qualitätshandbuch “Leben mit Demenz”.
Die Perspektiven ....
Die Modellförderung über die Stiftung Wohlfahrtspflege lief im Jahr 2006 aus, das Projekt selbst
wurde jedoch - auch in personeller Kontinuität mit der türkischen Fachkraft – mit einer
Finanzierung des nordrhein-westfälischen
Ministeriums für Generationen, Frauen, Familie
und Integration (MGGFI) fortgeführt.
Seit Dezember 2007 ist das bisherige Projekt als
so genanntes Demenz-Servicezentrum (DSZ) für
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Menschen mit Zuwanderungsgeschichte in die Landesinitiative Demenzservice NRW
aufgenommen worden und wird aus Mitteln des nordrhein-westfälische Ministeriums für Arbeit,
Gesundheit und Soziales (MAGS) sowie der Pflegekassen finanziert.
http://demenz-service-nrw.de/content/seite%2092.html
Dieses Demenz-Servicezentrum hat nicht wie die übrigen 11 DSZ einen regionalen Bezug sondern
den thematischen Auftrag, das Thema Demenz & Migration für andere DSZ und in Nordrhein-
Westfalen zu pushen.
Das Thema Demenz & Migration ist damit in NRW in erstklassiger Form in die Angebots- und
Versorgungsentwicklung eingebunden.
Im Rahmen dieser Neustrukturierung ist es durch die Einbeziehung einer pflegerisch-medizinisch
ausgebildeten russischstämmigen Fachkraft gelungen , die Informations- und
Unterstützungsangebote auf polnisch- und russischsprachige Ratsuchende auszuweiten, da sich
hier ein konkreter Bedarf und eine wachsende Zahl von Anfragen ergeben hatte.
Besondere Teilaspekte insbesondere der interkulturellen Öffnung von Diensten und der Gewinnung
von Freiwilligen werden auch weiterhin über das oben genannte MGFFI finanziert.
Abschließend…….
Unser Bemühen unter dem Motto
wird auch weiterhin gelten und den ratsuchenden Menschen mit Migrationshintergrund die
notwendige Unterstützung sichern.
Erfreulich ist, dass sich mittlerweile ein paar mehr Leute, Institutionen, Organisationen und auch
Studierende und Forscher des Themas angenommen haben oder dies tun werden.
Wenn wir hierzu den einen oder anderen kleinen Anstoß gegeben haben sollten, wäre dies ein
weiterer Erfolg der bisherigen Projektarbeit.
Dortmund und Gelsenkirchen im Februar 2008
Reinhard Streibel, Maria Karpuschew und Bedia Torun