Demisch: Lebensglück durch Ordnung und Spiel

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Den Alltag mit positiver Einstellung meistern zu können, das wünschen sich viele Menschen. Doch den wenigsten gelingt es. Irgendetwas vermiest einem immer die Stimmung und die dafür Verantwortlichen sind oft schnell gefunden: der Partner, die Kollegen, das Finanzamt, die Politiker. Solche Schuld¬zuweisungen verschaffen der Seele kurzfristig Entlastung, doch auf lange Sicht machen sie nur noch unglücklicher, weil wir uns selbst aus den Augen verlieren. Klaus Demisch, viele Jahre Leiter einer Klinik für Psychiatrie und Psychologie, zeigt, wie wir unsere Gefühle mit den Prinzipien von Ordnung und Spiel in den positiven Bereich heben und dort stabilisieren können – und somit in der Lage sind, ein erfülltes, glückliches Leben zu führen. Mehr unter www.klaus-demisch.de.

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Klaus Demisch

Lebensglück durch Ordnung und Spiel

Weitere Informationen über den Verlag und sein Programm unter www.buchmedia.de

Januar 2011© 2011 Buch&media GmbH, MünchenUmschlaggestaltung: Kay Fretwurst, FreienbrinkHerstellung: Books on Demand GmbH, NorderstedtPrinted in Germany · isbn 978-3-86520-382-3

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11

1 Gefühle und Lebensgefühl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15

1.1 Das Lebensgefühl in den Neurowissenschaften . 211.2 Weitere Aspekte des Lebensgefühls . . . . . . . . . . 251.3 Schlafmangel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271.4 Nichtfühler, Zuvielfühler und

Impulskontrollgestörte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29

2 Die Welt der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34

3 Die Welt des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41

4 Die Kehrseite der Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46

5 Die Kehrseite des Spiels . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52

6 Wechsel zwischen Ordnung und Spiel . . . . . . . . . . . 55

7 Ordnung und Spiel in einzelnen Lebensbereichen . . . 60

7.1 Arbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 607.2 Erotik – Sexualität, Partnerschaft und Ehe . . . . . 787.3 Freizeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 927.4 Kunst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 987.5. Freundschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1027.6 Beziehungen über das Internet und

Onlinesüchte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107

7.7 Normaler Alltag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1127.8 Unsere ungemütlichen Nächte . . . . . . . . . . . . . . . 1167.9 Depressionen: Zusammenbruch einer Ordnung . . 119

8 Schlussbetrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 122

9 Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127

Vorwort

S ich gut zu fühlen und das Leben zu genießen, jetzt im Au-genblick und möglichst immer – was gibt es Besseres auf der

Welt? Eigentlich nichts, doch es fällt schwer, im Alltag eine ange-nehme Stimmung aufrechtzuerhalten. Irgendetwas läuft immer schief, und so tröstet man sich, dass die Zeiten schlechter werden, es ist eben Krise, und dass früher sowieso alles besser war. Oder man vermutet eine ungünstige Kombination in seinen Genen, für die man natürlich nicht verantwortlich ist. Naheliegend, dass man an Mutter oder Vater denkt, vielleicht aber auch an den Onkel Ot-to, der einem schon immer unsympathisch war. Wir wissen zwar, dass das so nicht stimmen kann, doch dank dieser gängigen Erklä-rungen müssen wir nicht resignieren und können unser Leben le-ben, ohne die Hoffnung auf bessere Zeiten aufgeben zu müssen.

Leichter haben es allerdings Menschen, die sogleich den Schuldi-gen für ihr Missgeschick finden. Es sind natürlich immer die ande-ren, und schon Sartre sagte in seinem Theaterstück Geschlossene Gesellschaft: Die Hölle, das sind die anderen.

Auch geht es um so Unterschiedliches wie Mobbing am Arbeits-platz, die Globalisierung, das Finanzamt, die Umweltverschmut-zung oder die Klimaerwärmung. Wollen wir dagegen die eigenen Schwierigkeiten an leibhaftigen Menschen festmachen, fühlt man sich berufen, auf die Ehefrau beziehungsweise den Ehemann zu verweisen; am Stammtisch sind es die Politiker, aber auch die Leh-rer, die ungezogenen Kinder oder der Chef sind für diese Fremdzu-weisungen durchaus geeignet. Zieht es einen dagegen mehr zum allgemein Menschlichen, so liegt man durchaus im Trend, empört auf die Gier und Habsucht der Mitmenschen hinzuweisen.

Schuldzuweisungen an unterschiedliche Adressen können der geplagten Seele zwar momentan Entlastung bringen, doch lang-fristig wird durch diese leicht durchschaubaren seelischen Manö-ver unser alltägliches Lebensgefühl kaum besser.

Wir reiben uns an Nebensächlichkeiten und vergällen uns den Alltag. Und am Ende rückt das Lebensglück in weite Ferne, weil wir uns selbst aus den Augen verloren haben.

In dieser kleinen Abhandlung soll ein anderer Weg beschrieben werden, um das Lebensglück und ein gutes, erfülltes Leben zu erreichen. Wir werden die Aufmerksamkeit auf unsere Gefühle richten und uns darauf konzentrieren, sie beharrlich in den posi-tiven Bereich zu heben und dort zu stabilisieren. Dazu bedienen wir uns der Prinzipien von Ordnung und Spiel.

Das Konzept entstand während der langjährigen Tätigkeit des Verfassers als Leiter einer großen Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie. In vielen therapeutischen Gesprächen stellte er mit Erstaunen fest, dass Patienten intuitiv und unabhängig von ärztlicher Hilfe und etablierten Psychotherapien mit ihren indi-viduellen Vorstellungen von Ordnung und Spiel jonglieren, um sich bei belastenden Lebenssituationen zu stabilisieren und sich aus krisenhaften Situationen zu befreien. Die Erkenntnis, dass sich Gefühle auf direktem Weg mithilfe von Ordnung und Spiel – ganz real oder auch durch bloße Vorstellung – positiv beeinflussen lassen, filterte der Verfasser bis zur grundlegenden Konzeptreife nach und nach aus den Geschichten und Erzählungen der Pati-enten heraus. Und da jeder Mensch mit dem gleichen Gefühlsins-trumentarium ausgestattet ist und der Wunsch nach Lebensglück grundsätzlich positiv zu beurteilen ist, konnte der Ordnungsrah-men des klinischen Bereichs verlassen werden.

In der vorliegenden kleinen Abhandlung geht es weder um psy-chotherapeutische Techniken noch um Verhaltensanleitungen und erst recht nicht um eine Verbeugung vor dem Leben, das als ständig neu zu entwerfendes Kunstwerk bestaunt werden soll. Es sind eher Gedanken und Vorstellungen, die dem Zeitgeist und der

Lebensauffassung in den quirligen urbanen Zentren unserer glo-balisierten Welt entsprechen.

Viele Beispiele beziehen sich auf das unspektakulär alltäglich Gewohnte, denn es ist der Ort, an dem sich unsere Gefühle reiben und gelegentlich auch zerreiben. Andererseits finden wir gerade hier das Terrain, in dem sich die Gefühle wohltuend entfalten können, vorausgesetzt freilich, sie werden nicht behindert.

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Einleitung

N iemand bleibt im Laufe seines Lebens von unangenehmen Überraschungen verschont, sei es durch Spekulationen an

der Börse, nicht bestandene Prüfungen, Kränkungen am Arbeits-platz oder plötzlichen Verlust der Arbeit. Und am Ende brennt auch noch die hübsche Ehefrau mit dem Steuerberater durch. Sol-che Erlebnisse trüben beträchtlich unsere Lebensauffassung und können dazu führen, dass wir am Ende unser Lebensglück aus den Augen verlieren. Ein überwiegend gutes Gefühl im ganz norma-len Alltag, im Folgenden Lebensgefühl genannt, ist jedoch uner-lässlich für das Lebensglück.

Die hier vorgestellten Ideen sollen uns helfen, unser Lebensge-fühl in den positiven Bereich zu heben und zu stabilisieren, nicht nur im Urlaub, an Sonn- und Feiertagen oder in den Armen des Liebhabers, sondern an jedem Tag und zu jeder Stunde, am besten auch noch nachts durch angenehme Fantasien und Träume.

Das Lebensglück wird nach unserem Konzept durch gutes Füh-len und nicht durch ängstliches Planen und kontrollierendes Den-ken erreicht und somit stehen das Fühlen und der Komplex der Emotionen im Mittelpunkt unserer Überlegungen. Zuletzt wird deutlich werden, dass ein erfülltes Leben auch in Zeiten schwan-kender Wertvorstellungen erreichbar ist, und zwar unabhängig von guten oder schlechten Partnerschaften als auch davon, ob das wirbelnde Globalisierungs-Karussell uns Wohlstand oder Armut beschert hat.

Leider haben unsere Gefühle die unangenehme Eigenschaft, uns eher mit Schwermut und Trübsal zu belasten, als uns heiter und froh durch den Tag zu begleiten – ein Missgeschick der Evolution

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scheint dafür verantwortlich zu sein. So sieht Thomas Metzinger die Evolution des Bewusstseins in seinem wegweisenden Buch Der Ego-Tunnel – Eine neue Philosophie des Selbst: Von der Hirn-forschung zur Bewusstseinsethik … als einen sich ausdehnenden Ozean des Leidens und der Verwirrung und meint, die psycholo-gische Evolution habe uns nicht für ein dauerhaftes Glück opti-miert (01). Umso wichtiger wird es sein, fähige Helfer zu finden, um unsere Gefühle so zu lenken, dass sie sich ins Positive heben. Spontan wird man jetzt vielleicht an das autogene Training den-ken, bei dem durch formelhafte Vorsätze der gewünschte Zustand erreicht wird. Wiederholt man zum Beispiel standardisierte Sätze wie Ich bin ganz ruhig! oder Arme ganz schwer!, kann sich dieser Effekt nach längerem Training bei vielen Menschen einstellen.

Bedauerlicherweise funktioniert dieses jedoch nicht mit For-meln wie Ich bin glücklich! oder Ich will glücklich werden! Dieser geniale Weg bleibt uns versperrt, denn ein derart leicht zu erlan-gendes Glück würde vermutlich die Menschheit über die Zeiten in einem Zustand tatenloser Glückseligkeit dahindämmern lassen, ohne eine einzige Kulturleistung vollbracht zu haben. Auch wür-de es keine Erfahrung des Unglücks geben, und Glück wäre somit ein unbekannter Zustand.

Somit werden wir zum Erreichen unseres Ziels weder auf autosuggestive Techniken zurückgreifen noch auf Meditation, und auch die gütigen Feen und die sieben Zwerge sollen nicht bemüht werden.

Wir nehmen vielmehr Ordnung und Spiel in die Pflicht. Um ihre Bedeutung zu unterstreichen, werden wir sie gelegentlich in den Rang von Welten erheben und von der Welt der Ordnung oder der Welt des Spiels sprechen. Dabei wird deutlich werden, dass diese beiden vermeintlichen Antipoden einen direkten und leicht zu beobachtenden Einfluss auf unser Lebensgefühl ausüben und damit das Tor zum Lebensglück eröffnen können.

Vergegenwärtigen wir uns das angenehme Gefühl beim Anblick einer geschmackvoll und ordentlich aufgeräumten Wohnung und setzen dagegen das Unbehagen, das wir empfinden, wenn wir ein

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liederlich vermülltes Zimmer betreten. Oder lassen wir die Heiter-keit spielerisch wirbelnder Wassertropfen einer Fontäne auf uns wir-ken, im Gegensatz zur traurigen Beklommenheit, wenn das Wasser versiegt und uns stattdessen rostige Wasserrohre anstarren.

Schon diese kleinen Beispiele zeigen, dass uns sowohl das Or-dentliche als auch das Spielerische direkt zu erfreuen vermögen, ohne dass es hierzu großer Erklärungen und Deutungen bedarf. Ordnung und Spiel kümmern sich in diesem Konzept wenig um die Einsprüche des kritischen Verstandes, und deshalb wollen wir ihn lediglich zur Verständigung mit dem Leser bemühen. Doch am besten legen wir ihn zunächst einmal am Garderobenständer der Gefühlswelt ab wie den Hut beim Betreten eines Restaurants.

Nicht die vordergründig ablaufenden Lebensereignisse sind in un-serem zu untersuchenden Kontext für die Beeinflussung der Ge-fühle repräsentativ, sondern die hinter ihnen stehenden Prinzipien von Ordnung und Spiel. Sie schwingen den Taktstock und geben der Erlebnissymphonie ihren individuellen Klang. Das heißt wie-derum, dass wir uns von dem Geräuschblech des Tagesgeschehens nicht zu stark beeindrucken lassen sollten.

An einigen kleinen Beispielen soll dies vorab verdeutlicht wer-den.

War es nicht ein gutes Gefühl, als wir neulich unsere adrette Wohnung betraten und später in geordneter Formation mit Kind und wohlerzogenem Hund den Sonntagsspaziergang unternah-men? Erinnert sei auch an das klare Gefühl, als wir damals die harmonischen Säulenreihen des dorischen Tempels im sizilia-nischen Selinunt bewunderten. Das gute Lebensgefühl stellte sich hier jedoch nicht ein, weil die Wohnung mit etwas Besserem als mit Ikea-Möbeln ausgestattet war, der Hund nicht bösartig einen Radfahrer anfiel und die etwas brüchigen Säulen in Sizilien noch nicht zusammengefallen waren. Vielmehr stand hinter all diesen Situationen eine gute Ordnung, die uns mit ihrem sichernden Einfluss umfasste und unser Lebensgefühl in den positiven Be-reich hob. So jedenfalls lautet unsere Annahme.

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Sitzen wir dagegen in unserer Eckkneipe beim wöchentlichen Skat, entzückte uns beim letzten Urlaub das Spiel der Meereswel-len mit wechselnden Mustern im feuchten Sand, oder wir hörten die hinreißende Musik von Bryan Adams Summer of 69: In die-sen Fällen wird die Stimmung durch das Prinzip des Spiels ange-hoben und nicht durch die Spielkarten, das salzige Meereswasser oder das charmante Gesicht des Rockmusikers. Unabhängig da-von, ob diese kleinen Geschichten jetzt überzeugen oder nicht: Sie sollen dafür stehen, dass Ordnung und Spiel direkt und intensiv auf unser Lebensgefühl einwirken. Das, was real geschieht, ist oft also gar nicht vorherrschend relevant für das aufkommende Ge-fühl. Somit kann die Qualität des Lebensglücks in einem gewis-sen Ausmaß von den tatsächlichen Lebensereignissen abgekoppelt werden, und eine stete Abfolge von glücklichen Erfahrungen ist nicht notwendig, die ja bekanntermaßen auch spätestens nach sie-ben fetten Jahren unweigerlich zu Ende geht.

Gefühle sind also Dreh- und Angelpunkt für das Lebensglück. Der Verfasser hofft auf die intuitive Überzeugungskraft seines Kon-zeptes, sodass weitgehend auf Zitate und wissenschaftliche Erörte-rungen verzichtet werden kann. Auch vollmundiges Gerede über Lebenskunst soll vermieden werden, darüber hinaus wird es nur wenige gut gemeinte Empfehlungen und fast keine Ermahnungen und Appelle geben, die in der ausufernden Ratgeberliteratur so beliebt sind. Damit haben uns schon unsere Eltern strapaziert, später die Lehrer und zuletzt der beflissene Hausarzt. Genützt hat all das wenig.

Eigensinn, Spaß und Freude sollen indes die entscheidenden Leitwörter sein, die sich über intensives Fühlen erschließen.

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1 Gefühle und Lebensgefühl

W ir greifen aus der großen Anzahl von Gefühlen das Le-bensgefühl heraus, da sich die vielfältigen Einflüsse von

Ordnung und Spiel auf unsere Gefühlswelt an diesem am besten aufzeigen lassen. Wir wollen es schon jetzt sehr optimistisch als »Eintrittskarte zum Lebensglück« bezeichnen. Nach den umfas-senden philosophischen Untersuchungen von Sabine A. Döring (Hrsg.) (02) müsste man allerdings von einer Emotion sprechen, da sich die Palette von Gefühlen im Gegensatz zu den Emotionen fast beliebig erweitern lässt. Sie nennt emotionale und nicht emo-tionale Gefühle, wobei emotionale Gefühle auf etwas in der Welt gerichtet sind und das hier im Folgenden definierte Lebensgefühl folglich zu den Emotionen gezählt werden müsste. Doch Lebens-emotion wäre sicher ein unverständlicher Ausdruck und so blei-ben wir bei dem Begriff Gefühl. Früher wurde dem Lebensgefühl in der wissenschaftlichen Forschung gebührend Aufmerksamkeit geschenkt. So heißt es im 1904 erschienenen, neu bearbeiteten Wörterbuch der philosophischen Begriffe von Rudolf Eisler (03):

Lebensgefühl ist das unbestimmte Gefühlsganze, das mit den Ge-meinempfindungen … verbunden ist. Es ist … die Grundstimmung, die durch den gesamten Zustand des Organismus, durch den norma-len oder abnormalen Gang der Lebensbewegungen, besonders der vegetativen Funktionen bedingt ist.

Philipp Lersch1 (04) beschreibt das Lebensgefühl folgendermaßen:

1 Mir ist Lerschs bedenkliche Verstrickung in den Nationalsozialismus bekannt, dennoch habe ich bezogen auf den thematischen Kontext keine entwicklungspsychologisch stimmigere »Engführung« des hier gemeinten Begriffes gefunden, auch nicht in dem umfassenden Werk Allgemeine Psy-chopathologie von Karl Jaspers.

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Die entwicklungspsychologisch ersten Formen des Lebensgefühls sind die stationären leiblichen Zustände … Wir kennen sie als kör-perliches Behagen (etwa bei Wärme) und Unbehagen (bei Kälte und Nässe), als Frieren und Erhitztsein, als Hunger, Durst und Sättigung, als Müdigkeit, Schläfrigkeit und Frische …

Weiterhin zählt der Psychologe die Stimmungen zum Lebensge-fühl, die sich nach seinen Worten zwischen den Polen Heiterkeit /Lustigkeit bis Traurigkeit und Missmut bewegen. Darüber hinaus nennt er Erregungsformen des Lebensgefühls wie Angst und Ek-stase.

Das Lebensgefühl ist demnach eine Grundstimmung, die nach diesen Autoren durch die »Lebensbewegungen« (gemeint sind ak-tuelle Ereignisse, aber auch innere Befindlichkeiten – von Eisler als vegetative Funktionen bezeichnet) – moduliert werden. Lersch schlägt auch eine Bewertung des Lebensgefühls vor, die sich zwi-schen einem positiven und einem negativen Pol bewegt.

In der neueren psychologischen und philosophischen Literatur ist das Lebensgefühl allerdings entbehrlich geworden. Blättert man beispielsweise in dem aufschlussreichen Buch von Demmerling und Landwehr, Philosophie der Gefühle (05), so gibt es zwischen A wie Achtung und Z wie Zorn keinen Eintrag für das Lebensge-fühl, und auch der Philosoph Hastedt (06) hält in seiner kleinen philosophischen Abhandlung über die Gefühle das Lebensge-fühl nicht mehr für erwähnenswert. Er schlägt vielmehr vor, die Gefühle in acht Untergruppen einzuteilen, beginnend mit den Leidenschaften, gefolgt von den Emotionen, Stimmungen, Emp-findungen, sinnlichen Wahrnehmungen, Wünschen und abge-schlossen von den erkennenden Gefühlen und Gefühlstugenden.

Das von uns bevorzugte Lebensgefühl erfreut sich im heutigen Sprachgebrauch dagegen großer Popularität. Die Suchmaschine Google zeigt unter diesem Stichwort 4.380.000 Eintragungen auf Deutsch (Stand 31. 12. 09 13:55 MEZ).

Nach Daniel Cohn-Bendit kulminiert möglicherweise das Lebens-gefühl im Protest, in Kiel dagegen zählt Segeln zum einschlägigen

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Lebensgefühl und bei Mr. Wong findet man zum Thema Lebensge-fühl exklusive italienische Weine und amerikanische Oldtimer.

Angesichts der Tatsache, dass der Begriff Lebensgefühl heute überwiegend als Label in der Werbebranche benutzt wird, gilt es, ihn von dem hier intendierten seriösen Zusammenhang ab-zugrenzen.

Ein Gefühl kann im Grunde nie ohne Bedeutungs- oder Inter-pretationsverluste exakt benannt werden. Bedeutung und Sinnge-halt von Gefühlen sind zudem abhängig vom Zeitgeist, beständig kommen neue Namen in Mode, um oft gleiche emotionale Fär-bungen zu bezeichnen. Was heute geil oder cool ist, war vor eini-gen Jahrzehnten vielleicht aufregend oder gediegen. Wir werden also vom Verständnis eines aktuellen und neu definierten Lebens-gefühls ausgehen, wohl wissend, dass wir damit im Grunde nichts anderes tun, als neuen Wein in alte Schläuche zu füllen.

Das inhaltliche Zentrum des hier verwendeten Kompositums Le-bensgefühl ist nicht das Substantiv Leben, sondern das Verb leben im Sinne von in unserem Alltag dahinleben. Das Lebensgefühl ist somit die Stimmung unseres augenblicklichen Erlebens, und da je-de Gefühlsregung etwas ganz Persönliches ist und nicht auf Rich-tigkeit überprüft werden kann, ist demnach das, was wir jetzt im Moment fühlen, unser Lebensgefühl. Es ist Teil unserer eigenen Wirklichkeit und kann von einem Dritten nicht ernsthaft bezwei-felt oder infrage gestellt werden. Wenn ich sage, Ich bin glücklich! oder Ich habe Schmerzen!, kann das ein Außenstehender auf-grund ähnlicher Erfahrungen zwar nachvollziehen, ob er damit allerdings das Gleiche meint, lässt sich objektiv nicht belegen.

Nur wir ganz persönlich entscheiden, ob es gut ist, so wie wir jetzt leben – was einem guten Lebensgefühl entspricht –, oder ob wir etwas ändern wollen, da sich unser Lebensgefühl nicht im positiven Bereich befindet. Das Lebensgefühl wird Richtschnur und Kompass unserer Lebensführung sein, doch bei allem, was hier erörtert wird, sollen die Belange und Rechte unserer Mit-menschen natürlich beachtet und respektiert werden.

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Im Gegensatz zu Rudolf Eisler beschreiben wir das Lebensgefühl nicht aus der Zuschauer- beziehungsweise Dritte-Person-Perspekti-ve, sondern konzentrieren uns ganz auf seinen subjektiven Cha-rakter. Für den alltäglichen Gebrauch bewerten wir es auf einer einfachen Skala zwischen den Polen gut und schlecht beziehungs-weise positiv – negativ und einem Zwischenbereich, den wir als neutral bis gleichgültig bezeichnen.

In der Psychologie werden für subjektive Beurteilungen dieser Art oft Zehnerskalen verwendet, zum Beispiel beim Schmerzempfinden oder der globalen Lebensqualität, doch für unsere Belange ist eine einfache Entgegensetzung von positiv zu negativ zweckmäßiger, denn auch im Alltag sagt man ja lapidar, mir geht es gut oder schlecht, eventuell auch nur mäßig. Durch diese vereinfachte Handhabe kann das Lebensgefühl ganz direkt abgerufen und bewertet werden.

Das Lebensgefühl ist ständig in uns vorhanden. Wir können dieses Gefühl unterdrücken oder ausblenden, doch dann arbeitet es im Verborgenen beziehungsweise Unbewussten, denn gefühllose Zu-stände gibt es bei normaler Hirnfunktion nicht. So kann auch kein Mensch sein Lebensgefühl wie einen Radioapparat einfach abstel-len, es sei denn, er ist tot, doch das ist eine andere Geschichte, von der das nächste Buch des Verfassers handeln soll.

Was fühlen Sie beim Lesen dieser Zeilen? Ist es ein gutes oder schlechtes Gefühl oder eher ein gleichgültiges bis neutrales?

Was Sie in dieser Sekunde empfinden, repräsentiert Ihr aktu-elles Lebensgefühl – also eine verblüffend einfache Messung! Ist Ihr Lebensgefühl jetzt tatsächlich schlecht, kann das zweifelsoh-ne an dieser Lektüre liegen, trotzdem bitte ich Sie, weiterzulesen, denn die nächsten Kapitel enthalten noch viele interessante Über-raschungen!

Das Lebensgefühl ist ein Summensignal aller ins Bewusstsein einströmenden emotionalen Regungen, sowohl aus dem gefühlten Innen- als auch Außenraum. Diese in jedem Moment empfunde-nen Gefühle reihen sich in einer endlosen Kette aneinander, über

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Sekunden, Stunden und Tage, positive wie negative. Sie türmen sich auf zu einem imposanten Gebirge. Am Ende unseres Lebens entscheidet die Summe aller Einzelgefühle, ob wir das Lebens-glück gefunden oder verfehlt haben, und dies wird unabhängig davon sein, ob wir zuletzt mühsam in unserer schicken Villa am See einen Schaukelstuhl in Bewegung halten oder in einem dritt-klassigen Heim mit den Altenpflegerinnen schäkern.

Je öfter ein gutes Lebensgefühl empfunden wird, desto mehr nimmt auch eine optimistische Einstellung zu unserem gelebten Leben zu und wird sich im sorgsamen Umgang mit sich selber, mit anderen Menschen, mit Tieren, Pflanzen, ja mit der gesamten uns umgebenden Lebenswelt widerspiegeln. Das Streben nach Le-bensglück, wie wir es hier verstehen, widerspricht auch nicht dem unter Glücksforschern bekannten Glücksparadox (07), das ist die Unmöglichkeit, Glück durch direktes Wollen zu erreichen.

In unserem Konzept möchten wir lediglich so oft wie möglich ein positives Lebensgefühl empfinden, wobei wir uns als »Helfer« der Ordnung und des Spiels bedienen. Und am Ende finden wir das Lebensglück diskret in unserem Einkaufswagen, ohne es zu-vor verbissen angestrebt zu haben.

Beginnt man aufmerksam seine Gefühle zu registrieren, so wird man feststellen, dass wir leider viel zu oft mit schlechten Stimmun-gen behaftet sind. Das liegt an der unangenehmen Eigenschaft un-seres Gehirns, negative Schwingungen schneller und intensiver ins Bewusstsein zu transportieren als positive. Stefan Klein (08) nennt uns in seinem bekannten Buch Die Glücksformel als Grund hierfür die evolutionäre Programmierung unseres Gehirns.

Jörg Lau (09) vermutet, dass es eine evolutionäre Selektion zu-gunsten des Negativismus zu geben scheint. Die Genügsamen und Selbstzufriedenen bringen es meist nicht weit, führt er wei-ter aus. Das Glück ist mit den Unzufriedenen, die allerdings mit Gereiztheit und Gestresstheit für ihre Erfolge bezahlen müssen.

Doch wir wollen uns jetzt nicht mit der Evolution anlegen. Für uns sind negative Stimmungen ganz einfach ärgerlich, deshalb

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werden wir uns bemühen, sie zu neutralisieren und ins Positive zu wenden.

Der Alltag saugt also wie ein Schwamm fortwährend die Schmutz-partikel des Negativen intensiver auf als den Lichtstaub des Posi-tiven. Unser Gehirn legt zwar alles fleißig in den Tiefen unserer Seele ab, doch frech und rücksichtslos drängt sich gerade das Nega-tive immer wieder ans Tageslicht, verursacht schlechte Stimmun-gen und drückt den Lichtstaub in den Schmutz. Deshalb erinnern wir öfter unglückliche Momente als glückliche. Nur schwer kann man sich gegen diesen Mechanismus wehren.

Jedes Ereignis wird mit seiner begleitenden Gefühlstönung in un-serem Gehirn gespeichert. Wenn wir schlecht gelaunt sind und dabei auf unsere schicke Freundin schauen, so umhüllt sie unser Blick mit einem zerschlissenen Mantel und legt sie derart in der emotionalen Gedächtnisschublade unserer Seele ab. Das hat die Gute nun gewiss nicht verdient! Deshalb sollten wir eine ange-nehm gestimmte Gefühlswelt pflegen wie den Perserteppich in unserem Wohnzimmer, sonst breitet sich das Negative seuchen-artig aus, wie man es bei vielen Mitmenschen leider beobachten kann. Fragt man beispielsweise beiläufig Freunde und Bekannte nach ihren letzten guten Zeiten, so tun sich viele schwer, ohne indes zu zögern, uns mit ihren trübseligen Gedanken zu behelli-gen. Deshalb ist es wichtig, Tag um Tag und so oft wie möglich das Lebensgefühl in den positiven Bereich zu heben und dort stabili-sierend vor dem Negativen zu schützen. Wir sollten Freude und Fröhlichkeit im Leben empfinden und uns nicht ständig mit dem Schrott und Unrat belasten, der sich fortwährend in unserer Seele anhäuft.

Trotzdem ist es unrealistisch, negative Gefühle einfach durch Nicht-beachtung zu verscheuchen, denn sie kommen ebenso hartnäckig wie ungefragt in unser Bewusstsein, weshalb der ständige Wider-stand gegen sie zu viel Energie verschwenden würde. Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir unsere Einstellung zu ihnen ändern und,