Demographie und Einkommens- entwicklung · 2017-04-28 · Demographie und Einkommens- entwicklung...

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Demographie und Einkommens- entwicklung (Effekte des demographischen Wandels, Teil A) Ulrich Roppel Diskussionspapiere aus der Fakultät für Sozialwissenschaft – 17-1a Ruhr-Universität Bochum 2017 ISSN 0943 – 6790

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Demographie und Einkommens- entwicklung (Effekte des demographischen Wandels, Teil A)

Ulrich Roppel

Diskussionspapiere aus der

Fakultät für Sozialwissenschaft – 17-1a

Ruhr-Universität Bochum

2017

ISSN 0943 – 6790

DISKUSSIONSPAPIERE AUS DER FAKULTÄT FÜR SOZIALWISSENSCHAFT

RUHR-UNIVERSITÄT BOCHUM

DEMOGRAPHIE UND EINKOMMENSENTWICKLUNG

(EFFEKTE DES DEMOGRAPHISCHEN WANDELS, TEIL A)

von

Ulrich Roppel

Diskussionspapier Nr. 17 – 1a

April 2017

Korrespondenzanschrift: Dr. Ulrich Roppel c/o Ruhr-Universität Bochum Fakultät für Sozialwissenschaft Sektion für Sozialpolitik und Sozialökonomie D-44780 Bochum Telefon 0234/32-28971

Die Diskussionspapiere aus der Fakultät für Sozialwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum werden von der Fakultät für Sozialwissenschaft herausgegeben. Die inhaltliche Verantwortung für die Beiträge liegt bei den Autoren und nicht bei der Fakultät. Die Papiere können bei den jeweiligen Autoren angefordert werden. Die Liste aller Papiere finden Sie auf den Internet Seiten der Fakultät unter http://www.sowi.rub.de/ Rubrik „Forschung“ ISSN 0943 - 6790

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Demographie und Einkommensentwicklung

Ulrich Roppel *

Gliederung 1. Erwerbsbevölkerung

1.1 Echo der Vergangenheit 1.2 Annahmen für die Zukunft 1.3 Ausweitung vs. Einschränkung des internationalen Handels

2. Erwerbstätigkeit

2.1 Arbeitslosigkeit

2.2 Ineffizienz der keynesianischen Politik

2.3 Agenda 2010

2.4 Mitgliederverlust der Gewerkschaften

2.5 Gesetzliches Rentenalter

2.6 Gesetzlicher vs. tariflicher Mindestlohn

2.7 Einnahme- vs. ausgabenorientierte Politik

2.8 Arbeitsmarkt- vs. bedarfsorientierte Familienpolitik 3. Arbeitsproduktivität

4. Intergenerative Verteilung Literaturverzeichnis

* Cirsten Roppel danke ich für eine Vielzahl von Hinweisen. Der Verfasser trägt die alleinige Verantwortung. Kommentare sind willkommen.

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Kurzfassung Über den demographischen Wandel und dessen Folgen wird nicht mehr nur in Fachkreisen, sondern auch der Öffentlichkeit diskutiert - das Thema hat die Medien erreicht. Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht darauf aufmerksam gemacht wird, dass viele Bereiche politischen Handelns betroffen sind und dass bereichsübergrei-fend gehandelt werden muss. Grundlegende Zusammenhänge werden jedoch eben-so ignoriert wie zentrale Fakten. Darauf wird in vier Arbeitspapieren aufmerksam gemacht. Es geht um die Folgen der demographischen Alterung für die Einkom-mensentwicklung (Teil a), den Staatshaushalt (Teil b), die Alterssicherung (Teil c) und das Gesundheitswesen (Teil d). Gegenstand dieses Beitrages ist die Einkommensentwicklung. Da sie dem Produkt dreier Faktoren - der Erwerbsbevölkerung, ihrer Erwerbsbeteiligung und ihrer Ar-beitsproduktivität - entspricht, muss dargelegt werden, welchen Einfluss die demo-graphische Alterung auf diese Determinanten hat. Das macht zwar die Bundesregie-rung, allerdings sind manche Einschätzungen mit großen Fragezeichen zu versehen. Vergleichsweise valide ist ihre Prognose des demographischen Gerüsts. Die Regie-rung geht davon aus, dass in den kommenden drei Jahrzehnten die Zahl der Er-werbspersonen um 20 % kleiner und die der Rentner um 40 % größer werden wird, so dass sich der Altenquotient fast verdoppelt. Besonders beschleunigen wird sich der Anstieg im kommenden Jahrzehnt. Dann werden viele Themen, die gegenwärtig tabuisiert werden, auf der Agenda ganz oben stehen. Dazu gehört, dass die Rentner den Regeln des Generationenvertrages nicht nachgekommen sind, die nicht nur eine monetäre Unterstützung der aktuellen, sondern auch eine generative Unterstützung der kommenden Generation verlangen. Weniger zuverlässig ist der von der Regierung prognostizierte Anstieg der Erwerbs-tätigkeit. Er kommt nur zustande, wenn auf den Anstieg des Altenquotienten mit ei-ner einnahmeorientierten Ausgabenpolitik reagiert wird. Gefordert wird hingegen eine ausgabenorientierte Einnahmepolitik. Dabei wird ausgeblendet, dass die Arbeitslo-sigkeit in der Vergangenheit infolge der Ausgabenorientierung um mehrere Mio. ge-stiegen ist und erst zurückging, als davon abgewichen wurde. Am wenigsten valide ist die Regierungsprognose der Produktivitätsentwicklung. Da die Jüngeren mehr sparen als die Älteren, wird die aggregierte Ersparnis der Priva-ten bei einem steigenden Altenquotienten kleiner werden. Um ausreichende Investi-tionen zu gewährleisten, muss dem durch eine Rückführung des staatlichen Budget-defizits - hervorgerufen durch die Schuldenbremse - entgegengewirkt werden. Gänzlich unpopulär ist die Feststellung, dass die intergenerative Einkommensvertei-lung dem Produkt der Faktoren Altenquotient und Rentenniveau entspricht. Daher muss das Rentenniveau massiv gesenkt werden, wenn sich die Einkommensvertei-lung nicht zu Lasten der Arbeitskräfte verschlechtern soll.

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1. Erwerbsbevölkerung

Einkommen fällt nicht vom Himmel. Es entsteht auch nicht durch Wunschdenken. Es

muss produziert werden, wobei es dem Produkt dreier Faktoren entspricht:

• der Erwerbsbevölkerung,

• der Erwerbstätigkeit,

• dem Pro-Kopf-Einkommen der Erwerbstätigen.

Angenommen, die Erwerbsbevölkerung bestehe aus 100 und die Erwerbstätigkeit

liege bei 50 Personen. Dann wird ein Einkommen (Sozialprodukt) von 5.000 € erwirt-

schaftet, sofern das Pro-Kopf-Einkommen der Erwerbstätigen im Durchschnitt 100 €

beträgt.

Dementsprechend ruht, worauf Abbildung I.1 hinweist, die Einkommensentwicklung

auf einer demographischen und einer wirtschaftlichen Säule, so dass das Gewicht

der wirtschaftlichen Säule überproportional zunehmen muss, wenn dasjenige der

demographischen Säule kleiner wird und die Einkommen weiterhin steigen sollen.

Dabei sind drei Phasen zu unterscheiden: die Vorerwerbs-, die Erwerbs- und die

Nacherwerbsphase, da Einkommen - von Ausnahmen abgesehen - allein in der Er-

werbsphase produziert wird, während es in der Vor- und Nacherwerbsphase nur

konsumiert wird.

Abbildung I.1 Einkommen = Erwerbs- * Erwerbs- * Pro-Kopf-Einkommen bevölkerung tätigkeit der Erwerbstätigen

demographische wirtschaftliche Säule Säule

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Abbildung I.2: Arbeitskräfte und Rentner (Tsd.)

Quelle: Werding (2016)

Wie werden diese Phasen personell besetzt sein? Die Bundesregierung zeichnet ein

düsteres Bild (Abbildung I.2)1. Nach ihrer Einschätzung wird in den kommenden drei

Dekaden die

• Bevölkerung im Erwerbsalter - darunter werden diejenigen verstanden, die zwi-

schen 15 und 64 Jahre alt sind - von gut 53 auf 42 Mio. zurückgehen (– 20 %),

• Bevölkerung im Rentenalter von mehr als 17 auf fast 24 Mio. zunehmen (+ 40 %).

Abbildung I.3: Altenquotient (%)

Quelle: Werding (2016)

In der Folge davon wird sich der Altenquotient - die Relation zwischen der Bevölke-

rung im Renten- und Erwerbsalter - fast verdoppeln (Abbildung I.3). Er wird nicht auf

Altenquotient (65+/15-64)

Phase I Phase III Phase II

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einen Berg klettern, der durch einen Tunnel überwunden werden kann, sondern auf

ein Hochplateau. Dabei sind drei Zeiträume zu unterscheiden: Zunächst - bis 2020

(Phase I) - wird er nur mäßig steigen; anschließend - bis 2035 (Phase II) - wird es,

wenn die sog. Baby-Boomer das Ruhestandsalter erreichen, zu einer deutlichen Be-

schleunigung kommen; danach - ab 2035 (Phase III) - wird er sich auf hohem Niveau

stabilisieren. Ihren derzeitigen Tabu-Charakter werden viele Vorschläge in der zwei-

ten Phase verlieren.

Der Anstieg des Altenquotienten ist zwar eine düstere Prognose, aber nicht diejenige

einer Privatperson, die keine politische Verantwortung trägt, sondern eine amtliche

Prognose - die der Bundesregierung. Weil sie außerordentlich weitreichende Konse-

quenzen hat, ist die Frage nach ihrer Validität von großer Bedeutung. Zutreffend ist

zwar, dass Prognosen - auch wenn sie Modellrechnungen genannt werden - imma-

nent unsicher sind, da sie auf Annahmen beruhen, die falsch sein können. Das un-

terscheidet Prognosen von Prophezeiungen. Allerdings hält der Einwand, deshalb

seien auch demographische Prognosen Kaffeesatzleserei, einer genaueren Betrach-

tung nicht stand, da das von ihnen gezeichnete Bild zu einem großen Teil lediglich

das Echo der Vergangenheit ist; hier ist das „Morgen“ geprägt vom „Gestern“.

Daher sind Bevölkerungsprognosen selbst über eine Zeitspanne von drei Jahrzehn-

ten vergleichsweise zuverlässig. Verantwortlich dafür ist, dass - was bei jeder Prog-

nose der Fall ist - eine Bestandsgröße mithilfe der sie verändernden Stromgrößen

fortgeschrieben wird. Deshalb sind stets zwei Dinge wichtig: die

• quantitative Relation zwischen der Bestandsgröße und den Stromgrößen,

• Geschwindigkeit, mit der die Stromgrößen die Bestandsgröße beeinflussen.

Um welche Quantitäten es sich handelt, zeigt das Beispiel des Jahres 2010. Seiner-

zeit lag der Bevölkerungsbestand bei 82 Mio. Zu unterscheiden sind vier Stromgrö-

ßen: Geburten- und Sterbefälle (zusammen als „natürliche“ Entwicklung bezeichnet)

sowie Ein- und Auswanderungen (Migration). Deren Größenordnung lag bei etwa

700 bzw. 900 Tsd. (Geburten resp. Sterbefälle) sowie bei 800 bzw. 700 Tsd. (Ein-

1 Die Angaben entsprechen denen des Szenarios T- des vierten Tragfähigkeitsberichts der Bundesre-gierung; vgl. dazu genauer Werding (2016). Anders als von der Regierung behauptet ist es kein pes-simistisches, sondern ein optimistisches Szenario.

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wanderung resp. Auswanderung). Mithin lag das Gewicht der Stromgrößen gemes-

sen an der Bestandsgröße im unteren einstelligen Prozentbereich.

Bei der Geschwindigkeit ist zu differenzieren, wobei sich große Hoffnungen auf die

Geburtenentwicklung richten. Da aber die heute geborenen Kinder erst in etwa 20

Jahren erwerbstätig und in etwa 65 Jahren Rentenbezieher werden, beeinflussen sie

den Bevölkerungsbestand nur mit Kalendergeschwindigkeit, weshalb die daraus re-

sultierende demographische Entwicklung auch als träge bezeichnet wird. Demge-

genüber reagiert der Bevölkerungsbestand auf Zuwanderungen deutlich schneller,

da die zugewanderten Erwerbsfähigen unmittelbar die Erwerbs- und die zugewan-

derten Nicht-Mehr-Erwerbsfähigen unmittelbar die Rentnerbevölkerung beeinflussen.

Ist aber die Zukunft lediglich das Echo der Vergangenheit, stellt sich schnell die Fra-

ge, warum ausgeblendet wird, dass die demographische Alterung mit der Fertilität

und Mortalität zwei Quellen hat, wobei die unter dem bestandserhaltenden Niveau

liegende Geburtenentwicklung das größere Gewicht hat als die gestiegene Lebens-

erwartung. Der Grund dieser doppelten Alterung ist: Jede nachfolgende Kohorte ist

kleiner als die vorhergehende, wenn weniger Kinder geboren werden als zur Be-

standserhaltung erforderlich ist (was gleichzeitig bewirkt, dass den kleineren Kinder-

auch kleinere Elterngenerationen folgen). Zugleich lebt bei sinkender Sterblichkeit

jede nachfolgende Kohorte länger als die vorhergehende. Beide Entwicklungen füh-

ren zum Anstieg des Altenquotienten.

Sind aber zwei Entwicklungen für die Bevölkerungsalterung verantwortlich, sollte es

auf die Relation zwischen ihnen ankommen, wenn über die Anpassungsfolgen ent-

schieden wird. Insofern ist auch die Forderung, über die Folgen der Alterung müsse

ursachengerecht entschieden werden, überraschend - denn dies bedeutet, dass die-

jenigen, die das Problem überproportional verursacht haben, auch überproportional

belastet werden sollten. Es sei denn, unter Gerechtigkeit wird das Gegenteil verstan-

den - dass nämlich diejenigen, dies es nicht überproportional verursacht haben,

überproportional zu belasten sind. Dann sollen die Erwerbstätigen dafür bezahlen,

dass die Rentner ihrer Verpflichtung des Generationenvertrages nicht nachgekom-

men sind.

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1.1 Echo der Vergangenheit

Was ist „Gestern“ passiert?

Fertilität

Abhängig ist die Geburtenentwicklung von der Höhe der Fertilitätsrate, die an der

zusammengefassten Geburtenziffer gemessen wird. Mit einem Wert von etwa 1,4 bis

1,5 Kindern je Frau verharrt sie schon seit vielen Jahren auf niedrigem Niveau; sie

liegt bereits seit fünf Jahrzenten unterhalb des bestandserhaltenden Bereichs (2,1

Kinder). Ein ähnliches Bild vermittelt der internationale Vergleich. Gegen Ende des

letzten Jahrzehnts lag die Geburtenrate in Deutschland, Italien und Japan mit 1,4

unterhalb des G7-Durchschnitts (1,7); in den USA, Großbritannien und Frankreich

lag sie darüber.

Mortalität

Die Zahl der Sterbefälle ist abhängig von der Höhe der Lebenserwartung. Gemessen

wird sie an der Zahl der Jahre, die ein Mensch in einem bestimmten Alter unter Be-

rücksichtigung der zum aktuellen Zeitpunkt geltenden Sterblichkeitsverhältnisse vo-

raussichtlich noch leben wird. Üblicherweise werden zwei Angaben unterschieden:

die Lebenserwartung bei Geburt und diejenige im Alter von 65 Jahren. In der ersten

Hälfte des 20. Jahrhunderts ging vor allem die Sterblichkeit im Kindesalter zurück; in

der zweiten Hälfte stieg auch die Lebenserwartung der Rentner deutlich. Für neuge-

borene Jungen kletterte sie innerhalb von vier Dekaden auf rd. 75 und für neugebo-

rene Mädchen auf rd. 81 Jahre. Für einen 65-jährigen Mann stieg sie auf fast 20

Jahre, diejenige gleichaltriger Frauen nahm auf fast 24 Jahre zu. Der internationale

Vergleich zeigt, dass sie in allen G7-Ländern zugenommen hat, wobei sie in Japan

am höchsten ist.

Migration

Hinsichtlich der zweiten Saldogröße - der Migration - zeigt die Vergangenheit, dass

Deutschland bereits seit vielen Jahrzehnten ein Zuwanderungsland ist, wobei die

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Nettozuwanderung (Einwanderung abzgl. Auswanderung) starken jährlichen

Schwankungen unterliegt. Weil Deutschland ein Einwanderungsland ist, sind auch

drei Dinge bekannt: Erstens ist Einwanderung nicht dasselbe wie Integration; zwei-

tens sind Integrationsprobleme nicht der Ausnahme-, sondern der Regelfall; drittens

müssen aus Zuwanderern Erwerbstätige werden.

1.2 Annahmen für die Zukunft

Wie wird das „Morgen“ aussehen?2

Fertilität

Bezgl. der Fertilitätsrate betrachtet die Regierung drei Optionen: Konstanz, leichter

Anstieg, leichter Rückgang. „Konstanz“ bedeutet, dass die Geburtenrate bei 1,4 Kin-

dern verharren wird. Mit „leichter Anstieg“ wird ein moderates Wachstum auf den

Wert von 1,6 Kindern und mit „leichter Rückgang“ ein moderates Schrumpfen auf

den Wert von 1,2 Kindern unterstellt. Somit bewegt sich die Fertilitätsannahme in

einem Korridor von 1,4 ± 0,2 Kindern. Das ist weit entfernt von der Annahme, die

Geburtenrate würde auf 2,1 Kinder je Frau - mithin auf das bestandserhaltende Ni-

veau - zurückkehren.

Diese Einschätzung deckt sich mit derjenigen der Ökonomischen Theorie der Fertili-

tät.3 Stets muss nach den Interessen der Beteiligten und den Möglichkeiten der Um-

setzung gefragt werden. Das Umsetzungspotential hat wegen des medizinisch-

technischen Fortschritts (Entwicklung der „Pille“ sowie der Fertilitätsmedizin) zuge-

nommen; gestiegen sind - weil die Arbeitsproduktivität zugenommen hat - auch die

Einkommen der Haushalte. Gleichwohl kann der Kinderwunsch kleiner geworden

sein, wobei auf zwei Sachverhalte aufmerksam gemacht wird: auf

2 Genauer dazu Bundesministerium des Innern (2011) sowie Statistisches Bundesamt (2015). 3 Die dort vertretenen Positionen unterscheiden sich im Wesentlichen nur in der Frage, ob das Ein-kommensniveau oder die Einkommensverteilung entscheidungsrelevant ist. In den Modellen vom Typ Becker ist es das absolute und in den Modellen vom Typ Easterlin die relative Höhe des Einkommens.

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• den Zielkonflikt zwischen Qualität4 und Quantität,

• die steigenden Zeitkosten des Aufziehens von Kindern.

Wird nämlich unterstellt, dass die Eltern nicht zwischen dem Geschlecht und der

Geburtenfolge unterscheiden, kann die gewünschte Kinderzahl trotz steigender Ein-

kommen kleiner werden, sofern

• die Eltern ihre Kinder - getreu dem Motto „es soll ihnen zumindest gleich gut,

wenn möglich sogar besser gehen“ - am Einkommenswachstum beteiligen wol-

len,

• die Einkommenselastizität bzgl. der Kinderqualität größer ist als diejenige bzgl.

der Kinderquantität.

Dann lägen, beträgt bspw. das Einkommen der Eltern 12.000 € und möchten diese

10 % ihres Einkommens für drei Kinder verwenden, die Ausgaben je Kind bei 400 €.

Diese 10%-Zielsetzung ließe sich jedoch nicht verwirklichen, wenn die Einkom-

menselastizität der Kinderqualität mehr als 10 % beträgt. Sie könnte nur eingehalten

werden, wenn die Kinderzahl reduziert wird.5 Das ist gemeint, wenn von einem Ziel-

konflikt zwischen der Kinderqualität und der Kinderquantität gesprochen wird. Daher

hat Becker mit seinem Hinweis, dass zwar in der Vergangenheit nach dem Ge-

schlecht der Kinder (Jungen, Mädchen) und der Geburtenfolge (Erstgeborene,

Zweitgeborene usw.) unterschieden wurde, dass dies aber in modernen Gesellschaf-

ten nicht mehr der Fall ist, auf einen Sachverhalt aufmerksam gemacht, der wesent-

lich zur Erklärung des säkularen Geburtenrückganges beitragen kann.

Ferner muss bei der Frage nach dem Einfluss steigender Kosten auf die Kinderwün-

sche zwischen Geld- und Zeitkosten unterschieden werden. Geldkosten (Ausgaben

für Nahrungsmittel, Kleidung, Spielzeug, Mobiliar usw.) scheinen keine entscheiden-

de Rolle zu spielen. Das sieht anders aus bei den Zeitkosten. Kinder werden im Re-

gelfall innerhalb der Elternfamilie aufgezogen, sie verbleiben in dieser oftmals bis

4 In den empirischen Untersuchungen wird die Kinderqualität - mangels besserer Alternativen - an den Ausgaben je Kind gemessen. 5 Anders formuliert: Die Ausgaben entsprechen dem Produkt aus der Zahl der Kinder und den je Kind getätigten Zahlungen, also den Fallzahlen und Fallkosten. Reagieren die Fallkosten auf einen Ein-kommensanstieg überproportional, müssen die Fallzahlen gesenkt werden, sofern die Ausgaben un-verändert bleiben sollen.

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zum Ende ihrer schulischen Ausbildung. Dabei sind es vor allem die Frauen, die die

Zeit für das Aufziehen der Kinder aufbringen, und soweit dies einhergeht mit dem

Verzicht auf eine weitergehende Ausbildung oder die Wiederaufnahme der Erwerbs-

tätigkeit, sind vor allem sie es, die diesen Preis zahlen. Dementsprechend wird den

weiblichen Zeitkosten in der Ökonomischen Theorie der Fertilität eine zentrale Rolle

zugewiesen.

Mortalität

Bei der Mortalität sieht das Bild anders aus. Hier unterstellt die Regierung keine

Stagnation, sondern einen weiteren Gewinn an Lebensjahren. Dabei werden zwei

Optionen betrachtet: weiterer Anstieg, allerdings gering; weiterer Anstieg, jedoch

hoch. „Geringer Anstieg“ bedeutet, dass angenommen wird, die Lebenserwartung

bei Geburt würde bis zum Jahr 2060 auf etwa 85 bzw. 90 Jahre (Männer bzw. Frau-

en) zunehmen. Das entspricht einem Zuwachs von rd. 7 bis 8 Jahren im Vergleich

zur Lebenserwartung im Zeitraum 2006/2008. Dann wird die Lebenserwartung

65jähriger Männer bei gut 22 und diejenige gleichaltriger Frauen bei fast 26 Jahren

liegen; das sind etwa 5 Jahre mehr als im Zeitraum 2006/2008. „Hoher Anstieg“ be-

deutet, dass die Lebenserwartung bei Geburt für Männer bei fast 88 und für Frauen

bei gut 91 Jahren liegen wird. Für Männer entspricht dies einem Zuwachs von etwa

11 und für Frauen von rd. 9 Jahren im Vergleich zu 2006/2008. In diesem Fall wird

die Lebenserwartung von 65-jährigen Männern fast 25 und die von Frauen gut 27

Jahre betragen.

Auch diese Annahmen sind realistisch gewählt. Zwar ist die Lebenserwartung in

Deutschland bereits seit vielen Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen; das Beispiel

Japans zeigt jedoch, dass ein weiterer Anstieg möglich ist. In der Vergangenheit

wurde der Anstieg eher unter- als überschätzt; wird er erneut unterschätzt, wird die

auf Deutschland zukommen Alterswelle größer sein als von der Regierung prognos-

tiziert.

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Migration

Für die Zukunft der Migration wird angenommen, dass die Zuwanderungen im Trend

weiterhin größer sein werden als die Abwanderungen. Dabei werden grundsätzlich

zwei Varianten betrachtet: Nettozuwanderungen von jährlich 100 bzw. 200 Tsd. Per-

sonen. In beiden Fällen handelt es sich eher um willkürliche Setzungen als um theo-

riegestützte Annahmen. Die Werte sind als langjährige Durchschnitte zu interpretie-

ren, die aktuellen Werte - das zeigt der Zustrom an Flüchtlingen - werden starken

Schwankungen unterliegen. Zwar haben Zuwanderungen unmittelbare und - je nach

Größenordnung - auch beachtliche Wirkungen, dennoch sollte ihr Einfluss auf das

Arbeitskräftepotential nicht überschätzt werden. Vergessen werden sollte auch nicht,

dass bereits die Prognose des Rückgangs der Erwerbspersonen um 20 % auf der

Annahme einer Nettozuwanderung von 200 Tsd. Personen pro Jahr basiert - also

auf der Annahme, dass in drei Jahrzehnten netto etwa 6 Mio. Menschen zuwandern

werden.6

Zuwanderung wird zumeist bipolar diskutiert; entweder man ist dafür oder dagegen.

Differenzierende Sichtweisen sind, obwohl notwendig, Mangelware. Über viele Jahre

hinweg wurden sowohl die hohen Zuwanderungen als auch die damit verbundenen

Integrationsprobleme ignoriert. Ohne Zweifel sind die gesellschaftlichen Probleme

vielschichtig; sie aber einfach auszublenden, ist keine gute Strategie. Da Einwande-

rung nur dann zu einem gesamtwirtschaftlich steigenden Einkommen führt, wenn

aus Zuwanderern Erwerbstätige werden, also deren Integration in den Arbeitsmarkt

erfolgreich ist, wird sich die Migrationspolitik an den Arbeitsmarktfolgen ausrichten

müssen.7

1.3 Ausweitung vs. Einschränkung des internationalen Handels

Weniger offenkundig, aber in der Realität außerordentlich wichtig ist auch die Frage

nach dem zukünftigen Einfluss des internationalen Handels auf das Einkommens-

wachstum. Darauf, dass er dem Rückgang des Erwerbspersonenpotentials entge-

genwirken kann, hat bereits D. Ricardo - ein Zeitgenosse von A. Smith, dem die Ent-

6 Wird unterstellt, dass jährlich 800 Tsd. Personen ein- und 600 Tsd. Personen auswandern, kommt es zu einer Nettozuwanderung von 200 Tsd. Personen. Dann liegen in drei Jahrzehnten die Einwande-rung bei 24, die Auswanderung bei 18 und die Nettozuwanderung bei 6 Mio. Personen.

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stehung der modernen Volkswirtschaftslehre zugeschrieben wird - aufmerksam ge-

macht. Danach ist es wirtschaftlich nicht sinnvoll, alle Güter selbst zu produzieren;

vorausgesetzt, es wäre technisch möglich (Theorie der komparativen Kostenvortei-

le). Vielmehr sollte sich das Land A auf die Produktion derjenigen Güter beschrän-

ken, die es mit relativen Kostenvorteilen - die es immer gibt - herstellen kann und

dann mit den Ländern B, C usw. handeln, also die im Inland produzierten Güter ex-

portieren und die im Ausland produzierten Güter importieren.

Damit widersprach Ricardo dem seinerzeit vorherrschenden Merkantilismus, nach

dem internationaler Handel ein Nullsummen-Geschäft ist, bei dem das Land A das-

jenige gewinnt, was das Land B verliert. Ricardo klammert allerdings das sog. Kollek-

tivgüterproblem aus, das an dieser Stelle zwei Facetten hat: Erstens, dass ein Land

vom Protektionismus profitieren kann, sofern sich die anderen Länder dem Freihan-

del verpflichtet fühlen; zweitens, dass internationaler Handel bei denjenigen Bürgern

auf Widerspruch stößt, die ihn als Bedrohung ihrer Einkommen und Arbeitsplätze

betrachten.8

Offenbar stärkt jedoch der Flüchtlingsstrom das Lager derjenigen, die das Heil im

Protektionismus sehen.9 Globalisierung ist „out“, Nationalisierung ist „in“; auf diese

einfache Formel scheinen sich zahlreiche Entwicklungen der jüngsten Zeit reduzie-

ren zu lassen. Die Forderung nach Nationalisierung mag zwar dazu führen, dass de-

ren Protagonisten Eingang in die Parlamente finden. Wirtschaftlich betrachtet ist

aber Protektionismus keine gute Strategie - schon gar nicht vor dem Hintergrund der

absehbaren demographischen Entwicklung.

2. Erwerbstätigkeit

Da die Einkommensentstehung auf einer demographischen und wirtschaftlichen

Säule ruht, muss - sollen die Einkommen weiter wachsen - das Gewicht des wirt-

schaftlichen Gerüsts größer werden, wenn das Gewicht des demographischen Ge-

7 Einen in diese Richtung gehenden Vorschlag unterbreiten Hinte/Rinne/Zimmermann (2011). 8 Auch an dieser Stelle zeigt sich, dass die Bürger in ihrer Rolle als Konsument (als Nachfrager von Gütern) vom Handel profitieren wollen, ihn aber in ihrer Rolle als Produzent (als Anbieter von Arbeit) ablehnen. 9 Neben dem aktuellen Flüchtlingsstrom stärkt auch die gestiegene Kapitalmobilität den Ruf nach Pro-tektion.

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rüsts kleiner wird. Darauf wurde aufmerksam gemacht. Auch darauf, dass das wirt-

schaftliche Gerüst zwei Bestandteile hat: die Zahl und die Arbeitsproduktivität der

Erwerbstätigen. Diese Teile haben unterschiedlich große Bedeutung, da

• die Erwerbsbeteiligung aus logischen Gründen nur begrenzt zunehmen kann,

• das Wachstum der Produktivität hingegen unbegrenzt steigen kann (bspw. um

jährlich zwei, drei oder mehr Prozent).

Die fehlende Unterscheidung zwischen diesen Aspekten hat wesentlich zu dem Kol-

laps der Staatswirtschaften vom Typ UDSSR beigetragen.10 Dass deren anfänglich

hohes Wachstum auf den immensen Bemühungen beruhte, die Erwerbsbeteiligung -

mit zum Teil höchst fragwürdigen Methoden - größer zu machen, war bekannt. Nicht

aber, dass das Produktivitätswachstum nahe bei Null lag - jedenfalls lag die Rate

weit unterhalb derjenigen von Marktwirtschaften westlicher Prägung. Auch deshalb

war Deutschland gut beraten, den Forderungen nach einer Ausweitung der Staats-

und Einschränkung der Marktwirtschaft nicht blindlings gefolgt zu sein. Es ist zwar

nicht angebracht, der marktwirtschaftlichen Funktionsfähigkeit uneingeschränkt zu

vertrauen; das sollte aber auch nicht zur unbedingten Staatsgläubigkeit führen.

2.1 Arbeitslosigkeit

Dem Rückgang des Erwerbspersonenpotentials kann durch eine stärkere Mobilisie-

rung des Potentials entgegengewirkt werden. An dieser Stelle konkurrieren in der

Politik zwei Positionen:

• Einerseits wird ein größeres nachfrageorientiertes Engagement des Staates für

notwendig gehalten; diese Position stützt sich auf die keynesianische Theorie.

• Andererseits wird dafür plädiert, den Anspruchslohn niedrig zu halten, der erst

überschritten werden muss, damit es zu einer Erwerbsbeteiligung kommt; diese

Position stützt sich auf die klassische Theorie.

10 Vgl. ausführlicher zu den Schwierigkeiten der Produktivitätsmessung beim Vergleich von Wirt-schaftssystemen Powell (1968).

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Abbildung I.4: Registrierte Arbeitslose

Quelle: Statistisches Bundesamt

Die Empirie spricht gegen die erstgenannte und für die zweitgenannte Position. Da-

rauf macht Abbildung I.4 aufmerksam. Sie zeigt, dass die Arbeitslosigkeit

• vor dem Wirksamwerden der Agenda 2010 in drei Jahrzehnten (von Mitte der

1970er bis Mitte der 2000er Jahre) um ca. 4 Mio. größer wurde; dabei stieg die

Arbeitslosenquote auf 13 %,

• nach dem Wirksamwerden der Agenda 2010 in einem Jahrzehnt - trotz der Welt-

wirtschaftskrise der Jahre 2007 bis 2009 - um gut 2 Mio. kleiner wurde; dabei

halbierte sich die Arbeitslosenquote.

Daher sollte auch den zahlreichen Wiederbelebungsversuchen der keynesianischen

Politik mit Zurückhaltung begegnet werden. Dort spielen drei Sachverhalte eine pro-

minente Rolle: die

• Stagnationsthese,

• Einschätzung, dass die Erträge öffentlicher Investitionen bisweilen höher sind als

diejenigen privater Investitionen,

• These von den Grenzen der Geldpolitik.

Agenda 2010

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Die Stagnationsthese führt zurück zu Hansen (1939), der die Sorge äußerte, nur bei

einer wachsenden Bevölkerung werde die gesamtwirtschaftliche Nachfrage und mit

ihr das Investitionsvolumen soweit zunehmen, dass Vollbeschäftigung langfristig si-

chergestellt sei. Hier müsse, so die Forderung, die Fiskalpolitik einspringen, wobei

vor allem an Bildungs- und Infrastrukturinvestitionen gedacht wird. Ferner wird darauf

aufmerksam gemacht, dass die Geldpolitik bei einem Nominalzins von Null ihre unte-

re Grenze erreicht habe, dass dies aber nicht notwendigerweise zur Vollbeschäfti-

gung führe. Das Erkennen von Problemen ist aber nicht dasselbe wie das Lösen von

Problemen. Dementsprechend fragwürdig ist die Rückkehr zu einer Nachfragepolitik,

die ignoriert, dass der Staat bestimmte Voraussetzungen ihrer Wirksamkeit gar nicht

sicherstellen kann.

2.2 Ineffizienz der keynesianischen Politik

Warum kann ihre Wirksamkeit nicht garantiert werden? Verantwortlich dafür sind drei

Gründe:

• Das Kollektivgüterproblem und die daraus folgende mangelnde Bereitschaft der

Gewerkschaften, die Nachfragepolitik des Staates mit der Tarifpolitik abzustim-

men.

• Die Instabilität der Phillips-Kurve und die daraus resultierende Stagflation.

• Die Verdrängung der Ursachen der Arbeitslosigkeit.

Kollektivgüterproblem

Zwar ist der Glaube weit verbreitet, die keynesianische würde die klassische Be-

schäftigungstheorie ersetzen, das ist aber nicht der Fall. Weil sie diese nicht ersetzt,

sondern ergänzt, ist ihre Wirksamkeit an die Voraussetzung gebunden, dass die

Nachfragepolitik des Staates mit der Lohnpolitik der Tarifparteien abgestimmt wer-

den muss. Dazu waren die Gewerkschaften in der Vergangenheit nicht bereit; dazu

werden sie auch künftig nicht bereit sein.

Warum war der Abstimmungsversuch - bekannt geworden unter den Überschriften

„Konzertierte Aktion“ und „Bündnis für Arbeit“ - erfolglos? Das liegt an der prinzipiel-

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len Schwäche von Orientierungsgrößen, da diese dem Eigeninteresse der Beteiligten

widersprechen. Zentrale Bedeutung hat dabei das sog. Kollektivgüter-Problem. Hier

profitiert nicht allein diejenige Gewerkschaft von den Vereinbarungen, die Zurückhal-

tung bei den Lohnforderungen praktiziert, sondern alle Gewerkschaften profitieren -

auch dann, wenn sie keine Zurückhaltung geübt haben. Diese Schwachstelle sollte

durch eine Konzertierte Aktion überwunden werden - also durch einen staatlich vor-

gegebenen Rahmen, der dafür sorgt, dass alle Gewerkschaften davon ausgehen

konnten, dass sich die Beteiligten an den Orientierungsdaten ausrichten. Tatsächlich

nahm jedoch das Interesse an darüber hinausgehenden Abschlüssen zu. Dadurch,

dass öffentlich kundgetan wurde, in welcher Größenordnung Lohnsteigerungen

volkswirtschaftlich verkraftet werden konnten, bildeten die Orientierungsdaten nur

den Ausgangs- und nicht den Zielpunkt der Verhandlungen.

Stagflation

Auf Seiten der Politik schwand die Euphorie über die keynesianische Beschäfti-

gungspolitik auch, weil erkannt wurde, dass sie zu einer Situation führen kann, in der

die Arbeitslosigkeit nicht sinkt, das Preisniveau aber steigt.11 Dafür ist ebenfalls ver-

antwortlich, dass die Nachfragepolitik des Staates mit der Tarifpolitik der Gewerk-

schaften abgestimmt werden muss.

Bei dieser Einschätzung spielen zwei Konzepte eine prominente Rolle: die „natürli-

che“ Arbeitslosenrate (NRU; Natural Rate of Unemployment) und die Phillips-Kurve.

Die NRU ist ein Konglomerat von Faktoren, bestehend aus den mit der Suche nach

einem Arbeitsplatz verbundenen Friktionen (friktionelle Arbeitslosigkeit) und den mit

der Arbeitsmarktordnung einhergehenden institutionellen Determinanten der Arbeits-

losigkeit (institutionelle Arbeitslosigkeit). Die Phillips-Kurve bildet - zwar nicht in origi-

närer, aber doch in modifizierter Form - den Zusammenhang zwischen Arbeitslosig-

keit und Inflation ab.12 Zunächst wurde sie als Speisekarte interpretiert, die darüber

Auskunft gibt, welche Geld- und Finanzpolitik notwendig ist, um Arbeitslosigkeit ab-

zubauen und wie hoch der dafür zu bezahlende Preis in Form von Inflation ist. Eine

11 Die Empirie stützt die Stagflationssorge. Bspw. stieg in den Jahren zwischen 1973 und 1975 die Zahl der Arbeitslosen von 270 Tsd. auf 1 Mio., und zwar bei hohen Inflationsraten von rd. 7 %. 12 In der originären Version wird der Zusammenhang zwischen Lohnänderungen und Arbeitslosigkeit und in der modifizierten Version zwischen Preisänderungen und Arbeitslosigkeit erörtert; vgl. dazu Samuelson/Solow (1960).

17

Menükarte ist sie aber nur dann, wenn die Kurvenparameter stabil sind, was jedoch

nicht der Fall ist. Dreht sie sich nämlich nach oben (Versteilerungseffekt), kommt es

dazu, dass der Versuch, die Arbeitslosigkeit mittels der Geld- und Finanzpolitik unter

den NRU-Wert zu drücken, lediglich Inflation entstehen lässt. Dann ist die Phillips-

Kurve eine vertikale Linie beim NRU-Wert. Hier gibt es keinen „trade off“ zwischen

Inflation und Arbeitslosigkeit; hier führt jeder Versuch, die Arbeitslosigkeit mit Hilfe

der Nachfragepolitik unter den NRU-Wert zu drücken, lediglich zur Inflation.

Verdrängung der Ursachen

Von Aktionismus wird dann gesprochen, wenn Maßnahmen wirkungslos sind, weil

sie keinen Bezug - weder direkt noch indirekt - zu den Ursachen haben. Dazu kommt

es, wenn die keynesianische von der klassischen Arbeitslosigkeit verdrängt wird.

Dieses Risiko ist allenfalls in einer autarken, nicht aber in einer offenen Wirtschaft

vernachlässigbar. Dort ist es besonders groß, wenn der Anteil der importierten Roh-

stoffe am gesamten Rohstoffbedarf einer Volkswirtschaft hoch ist (was in Deutsch-

land der Fall ist) und die Gewerkschaften auf eine Verschlechterung der Terms of

Trade - des Preisverhältnisses zwischen Export- und Importgütern - mit steigenden

Lohnforderungen reagieren (was in Deutschland passierte).

Sinken die Terms of Trade, wirkt dies wie ein Rückgang der Arbeitsproduktivität, auf

den mit Lohnzurückhaltung reagiert werden müsste. Passiert jedoch das Gegenteil,

wird also ein Lohnausgleich dafür gefordert, dass die Lebenshaltungskosten infolge

gestiegener Importgüterpreise (vor allem des Ölpreises) zugenommen haben, kann

eine nachfragebedingte von einer kostenbedingten Arbeitslosigkeit verdrängt wer-

den.13

Nachvollziehbar ist die Forderung nach höheren Löhnen durchaus, da hier der Druck

auf die Gewerkschaftsfunktionäre groß ist, auch dann höhere (oder zumindest un-

verminderte) Lohnforderungen durchzusetzen, wenn sie selbst die Notwendigkeit der

Lohnzurückhaltung erkannt haben.

13 Die Empirie stützt die Sorge, dass es zu einer Verdrängung der Ursachen der Arbeitslosigkeit kom-men kann. Bspw. hat nach Einschätzung der Deutschen Bundesbank die Ölpreiserhöhung zusätzliche Lohnforderungen im Jahr 1980 in einer Größenordnung von etwa 0,4 % und in 1981 von etwa 1,7 % zur Folge gehabt, während der beschäftigungsneutrale Lohnerhöhungsspielraum in dieser Größenord-nung eingeengt wurde.

18

2.3 Agenda 2010

Warum führte die Agenda 2010 zu einem Rückgang der Arbeitslosigkeit? Verant-

wortlich dafür ist, dass gesehen wurde, dass die amerikanischen und europäischen

Erfahrungen letztlich eine gemeinsame Quelle haben. In den USA ist das Niveau der

Ersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit vergleichsweise niedrig und die Leistungen

werden nur für einen kurzen Zeitraum gewährt - mit der Folge, dass die Arbeitneh-

mer Jobs mit geringer Bezahlung akzeptieren. Demgegenüber ist das Niveau in Eu-

ropa höher und die Leistungen werden auch länger gewährt; das wiederum macht es

den Arbeitnehmern leichter, Angebote zurückzuweisen, die sie als nicht akzeptabel

betrachten - die Folge ist, dass sie Jobs mit geringer Bezahlung nicht akzeptieren.

Insofern führen dieselben Kräfte, die in den USA eine geringere Bezahlung nach sich

ziehen, in Europa zu einer steigenden Arbeitslosigkeit.

Vor diesem Hintergrund reduzierte die Regierung Schröder den Anspruchslohn. Er

ging zurück aufgrund der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe (sog. Hartz IV-

Regelung), der Verkürzung des Anspruchs auf Arbeitslosengeld und des Wegfalls

der Frühverrentungsmöglichkeiten. Daraufhin sank die Arbeitslosigkeit.

2.4 Mitgliederverlust der Gewerkschaften

Zahlreiche Gewerkschaften waren über die Entscheidung der Regierung Schröder

für die Agenda 2010 keineswegs unglücklich, obwohl sie diese als „Abrissbirne des

Sozialstaates“ bezeichneten. Der Grund war, dass es bei den Gewerkschaften zu

einem Rückgang der Mitgliederzahlen kam. Die Gewerkschaften erkannten, dass sie

zwar ausreichend Macht hatten, um hohe Lohnsteigerungen durchzusetzen, aber

keine Macht hatten, die Unternehmungen zu zwingen, die Beschäftigung bei gestie-

genen Löhnen aufrechtzuerhalten oder sogar auszuweiten. Der damit einhergehen-

de Mitgliederverlust induzierte erhebliche Konflikte in den eigenen Reihen. Daher

waren auch nicht die wirtschaftlichen, sondern die für ihre Organisation relevanten

politischen Auswirkungen maßgebend.

19

Nicht entscheidungsrelevant war hingegen die im Rahmen der Insider/Outsider-

Theorie geübte Kritik an ihrem Solidaritätsverständnis.14 Zwar ist nachvollziehbar,

dass die Gewerkschaften versuchen, Löhne gegen den Druck des Marktes zu vertei-

digen. Die damit verbundene Lohnstarrheit nach unten wäre aber weniger problema-

tisch, wenn ihr eine Lohnstarrheit nach oben gegenüberstünde, weil dann in expan-

dierenden Branchen ausreichend viele neue Arbeitsplätze geschaffen würden. Fak-

tisch wird aber im eigenen Tarifgebiet keine befriedigende Rücksicht auf die Entlas-

senen in anderen Tarifgebieten geübt. Faktisch orientieren sich die Tarifpartner vor

allem an den Interessen der Insider und nicht denen der Outsider. Auch das zeigt,

dass zwischen den wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen unterschieden

werden sollte.

2.5 Gesetzliches Rentenalter

Höchst fragwürdig sind die Einwände gegen die Anhebung des gesetzlichen Ren-

tenalters, mit der die Politik dem reduzierten demographischen Potential ebenfalls

entgegenwirken will.

Bereits der Beschluss, den Rentenbeginn schrittweise von dem fünfundsechzigsten

auf das siebenundsechzigste Lebensjahr anzuheben, stieß auf den heftigen Wider-

stand der Gewerkschaften. Vom Gesetzgeber wurde beschlossen, das Rentenalter

in den Jahren zwischen 2012 und 2031 schrittweise heraufzusetzen, wobei es in den

ersten 12 Jahren um einen Monat und anschließend um zwei Monate pro Geburts-

jahrgang angehoben werden soll. Diese Regelung wurde von den Gewerkschaften

vehement kritisiert. Sie wandten ein, dass

• ein höheres Lebensalter ein Handicap auf dem Arbeitsmarkt sei,

• eine Mehrbeschäftigung Älterer den Jüngeren den Zugang zum Arbeitsmarkt er-

schweren würde.

Die seit einigen Jahren zunehmenden Erwerbsquoten älterer Menschen sprechen

jedoch gegen die Handicap-These. Verantwortlich für den Anstieg ist der Wegfall der

Gesetzgebung zur Frühverrentung. Als sie noch bestand, wurde sie von den Unter-

14 Vgl. dazu ausführlicher Lindbeck/Snower (1989).

20

nehmungen im Einvernehmen mit den Gewerkschaften für die Entlassung von Älte-

ren genutzt. Hingegen hat der Wegfall der Frühverrentung die Verständigung teurer

gemacht, weil die Unternehmungen jetzt gezwungen waren, den Kündigungsschutz

zu beachten. Und weil die Verständigung teurer wurde, wurde die Nachfrage nach

älteren Arbeitnehmern billiger und dementsprechend ausgeweitet.

Die Empirie stützt auch nicht den Einwand, es käme zu keinem Anstieg der Er-

werbsbeteiligung insgesamt, sondern lediglich zu einer höheren Jugendarbeitslosig-

keit. Vielmehr sind in zahlreichen Staaten mit hohen Beschäftigungsquoten älterer

auch die Beschäftigungsquoten jüngerer Arbeitnehmer hoch; die Erwerbsbeteiligung

älterer Arbeitnehmer versperrt also den Jüngeren den Zugang zum Arbeitsmarkt kei-

neswegs zwangsläufig.

2.6 Gesetzlicher vs. tariflicher Mindestlohn

Höchst umstritten war auch die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Dabei

ging es gar nicht um die Frage, ob ein Mindestlohn notwendig ist - auch wenn dies

kommuniziert wird. Vielmehr ging es um die Frage, ob der gesetzliche dem tariflichen

Mindestlohn überlegen ist.

Im Zuge des langjährigen Anstiegs der Arbeitslosigkeit wurden zwei Dinge deutlich:

• erstens, dass die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften keineswegs zu gering

war, um hohe Lohnsteigerungen durchzusetzen,

• zweitens, dass höhere Löhne keineswegs zwangsläufig zu einer geringeren Ar-

beitslosigkeit führen, wie von der sog. Kaufkrafttheorie behauptet wird.

Aktuell wird beides erneut bemüht. Von der Regierung wird argumentiert, der gesetz-

liche Mindestlohn sei notwendig, um die Verhandlungsmacht der Gewerkschaften

aufrecht zu erhalten. Argumentiert wird auch, dass höhere Löhne die Konsumnach-

frage ausweiten würden, was zur Folge habe, dass die Arbeitslosigkeit weiter ab-

nehmen werde. Tatsächlich entstand der gesetzliche Mindestlohn, weil es um Wäh-

lerstimmen ging. Deshalb sträubten sich auch große Teile der Politik gegen eine un-

abhängige Mindestlohnkommission, die ihre Anpassungsempfehlung von der Be-

21

schäftigungsentwicklung abhängig macht. Daran waren zahlreiche Politiker gerade

nicht interessiert; sie wollten die Wirkungen des gesetzlichen Mindestlohnes nicht an

den wirtschaftlichen, sondern den politischen Folgen messen.

2.7 Einnahme- vs. ausgabenorientierte Politik

Wegen der Ineffizienz der keynesianischen Politik wuchs auch die Erkenntnis, dass

die Bewältigung des demographischen Wandels einer einnahmeorientierten Politik

bedarf. Darunter wird eine Vorgehensweise verstanden, bei der auf die demographi-

sche Alterung nicht mit zunehmenden Einnahmen, sondern weniger Ausgaben rea-

giert wird. Das Gegenteil wird mit der ausgabenorientierten Politik verlangt; hier soll

die Belastung der Erwerbstätigen - entweder als Beitrags- oder als Steuerzahler -

ausgeweitet werden, um die mit der steigenden Zahl der Rentner einhergehenden

Mehrausgaben zu finanzieren.

Notwendig ist die Einnahmeorientierung, weil Arbeitslosigkeit ein Ungleichgewicht ist;

dann ist das Angebot größer als die Nachfrage. Zwar ist die Angebotsentscheidung

von verschiedenen Faktoren abhängig, die drei Gruppen (Einkommen, Freizeit, Pres-

tige) zugewiesen werden können. Wirklichkeitsfremd wäre es aber, dem Einkom-

mensbereich eine nur nachrangige Bedeutung zuzumessen; vielmehr haben finanzi-

elle Erwägungen ein großes Gewicht. Würde aber mit einer ausgaben- anstelle einer

einnahmeorientierten Politik reagiert werden, käme es in der Phase II des Anstiegs

des Altenquotienten zu einer galoppierend steigenden finanziellen Belastung der

Erwerbstätigen. Das wiederum wäre kontraproduktiv, weil hier genau das - die stei-

gende Mobilisierung der Arbeit - in Frage gestellt wird, was notwendig ist, um der

demographischen Entwicklung entgegenzuwirken.

Weil Arbeitslosigkeit ein Ungleichgewicht ist, steht auch die These auf wackeligen

Füßen, sie werde automatisch kleiner werden, da im Verlauf der demographischen

Entwicklung die Zahl der Arbeitssuchenden generell und speziell die der Fachkräfte

geringer werde. Es ist nicht sinnvoll, isoliert nur eine Marktseite - die Angebotsseite -

zu betrachten und die andere Marktseite - die Nachfrageseite - auszublenden. Ge-

nau das macht die Automatismusthese; hier wird implizit angenommen, dass die

Nachfrage weniger stark zurückgeht als das Angebot. Zutreffend ist zwar, dass die

22

Unternehmungen gegenwärtig in einzelnen Regionen händeringend nach Fachkräf-

ten suchen. Das muss aber kein Dauerzustand sein. Ein Dauerzustand wäre es nur

dann, wenn der Nachfrageüberhang permanent ist. Würde jedoch auf die demogra-

phische Entwicklung mit einer ausgabenorientierten Politik reagiert werden, würde

dies die Nachfrage reduzieren und der Nachfrageüberhang wäre nur temporär.

Bei einer ausgabenorientierten Politik droht Deutschland auch eine Griechenland

vergleichbare Situation. Griechenlands Problem ist, dass die erwirtschafteten Ein-

kommen nicht ausreichen, um die Ausgabenwünsche zu finanzieren. Das ist aber

nicht - wie oftmals zu hören ist - das Ergebnis eines zu hohen Euro-Wechselkurses,

sondern des Kaufs von Wählerstimmen. Dadurch kam es zu einer nicht wettbe-

werbsfähigen Wirtschaft.15

Zwar scheint es zunächst politisch effizient zu sein, den Kauf von Stimmen durch

Kredite zu finanzieren. Allerdings schwindet die Vorteilhaftigkeit dann, wenn die Kre-

ditkosten exponentiell zunehmen. Das war in Griechenland der Fall. Auch deshalb

entstand der Wunsch, der Währungsunion beizutreten. Dass dafür Zahlen gefälscht

werden mussten, wurde von der EU-Kommission nicht beanstandet. Dadurch konnte

der kreditfinanzierte Kauf von Wählerstimmen weitergeführt werden. Jedoch war der

Beitritts-Bonus Anfang der 2010er Jahre verbraucht, als die Zinsen ein Rekordhoch

erreichten. Die Folge war, dass Griechenland die Mitgliedsländer zu einem auf die

Aushebelung der Nicht-Beistandsklausel hinauslaufenden „Rettungsschirm“ auffor-

derte. Die offizielle Begründung war, dass damit Zeit gekauft werden sollte, um die

Lücke zwischen dem Anspruch auf Sozialleistungen und der wirtschaftlichen Leis-

tungsfähigkeit zur Finanzierung der Sozialleistungen schließen zu können.

Wie kann eine dauerhaft große Diskrepanz zwischen den erwirtschafteten und ver-

wendeten Einkommen verhindert werden? Gedanklich könnte die Lücke durch höhe-

re Steuern und Beiträge zur Sozialversicherung geschlossen werden; jedoch mit

dem Risiko von Stimmenverlusten. Geringer ist dieses Risiko, wenn die Differenz

durch Schulden ausgeglichen wird. Am geringsten ist es, wenn sie durch die Partner-

15 Wegen des Stimmenkaufs ist auch die Rigidität der griechischen Finanz-, Güter- und Arbeitsmärkte in vielen Bereichen deutlich größer ist als die in anderen Mitgliedsländern, was zur Folge hat, dass Griechenland von globalen Entwicklungen, die sich der nationalen Kontrolle entziehen, härter als ande-re Länder getroffen wird (sog. asymmetrische Schockwirkungen).

23

länder finanziert wird. Vor diesem Hintergrund entstand die in dem Maastricht-

Vertrag verankerte Nicht-Beistandsklausel (no bail out-rule); mit ihr soll verhindert

werden, dass die Partnerländer zur Finanzierung herangezogen werden. Genau das

wurde von der Kommission mit dem Hinweis unterlaufen, die Klausel müsse „flexi-

bel“ interpretiert werden. Daher ist auch die gern kommunizierte Behauptung, die

Klausel verbiete den vielerorts geforderten Schuldenschnitt, mit Fragezeichen zu

versehen. Die Kommission wird wiederum auf eine „flexible Interpretation“ drängen.

2.8 Arbeitsmarkt- vs. bedarfsorientierte Familienpolitik

Damit die weibliche Erwerbsbeteiligung zunimmt, müssen sich die Rahmenbedin-

gungen für die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessern. Die Bundesregie-

rung argumentiert, dies sei bereits mit Hilfe des Elterngeldes sowie des Betreuungs-

anspruchs erfolgt; insofern sei auch die Prognose, die weibliche Erwerbsbeteiligung

würde in den kommenden Jahrzehnten stark steigen, valide. Denn das Elterngeld sei

keine Mehrbedarfsleistung, mit der das Ziel verfolgt werde, die Geldkosten des Auf-

ziehens von Kindern zu kompensieren, sondern eine Lohnersatzleistung, mit der

versucht werde, die Zeitkosten des Aufziehens von Kindern zu senken. Damit solle

der Einkommensverlust, der mit einer Aufgabe der Erwerbstätigkeit zugunsten der

Kindererziehung einhergeht, zumindest teilweise ausgeglichen werden. Deshalb

werde es auch nur für kurze Zeit gewährt, da längerfristige Unterbrechungen der Er-

werbstätigkeit gravierende Karrierenachteile nach sich ziehen würden. Flankierend

dazu würden die Möglichkeiten der außerhäuslichen Betreuung von Kindern ausge-

baut; angestrebt sei, für ein Drittel der Kinder unter drei Jahren ganztätige Betreu-

ungsplätze zur Verfügung zu stellen

Hilfreich ist der Umstieg auf eine beschäftigungsorientierte Familienpolitik sicherlich,

auch dadurch kann dem reduzierten demographischen Potential entgegengewirkt

werden. Allerdings zeigt die Auseinandersetzung zwischen den Parteien, dass der

Umstieg noch zu vielen heftigen Diskussionen führen wird.

24

3. Arbeitsproduktivität

Noch mehr als die Regierungsprognose zur Erwerbsbeteiligung ist diejenige zur Ar-

beitsproduktivität mit Fragezeichen zu versehen - also die Einschätzung, die demo-

graphische Entwicklung werde den Verlauf der Arbeitsproduktivität kaum beeinflus-

sen. Vielmehr wird die Aufgabe darin bestehen, einen signifikanten Rückgang zu

verhindern. Dabei geht es nicht um die Frage, ob überhaupt mit einem Anstieg der

Arbeitsproduktivität zu rechnen ist, sondern um die Frage, wie sich die demographi-

sche Alterung auf die Arbeitsproduktivität auswirken wird. Hier sollte auch die Wir-

kung kleiner Differenzen nicht unterschätzt werden.16

Zwar ist in der Literatur umstritten, mit welchem Gewicht die diversen Determinanten

im Detail auf das Produktivitätswachstum einwirken. Nicht umstritten ist jedoch, dass

Investitionen ein großes Gewicht haben und dass gespart werden muss, damit es zu

Investitionen kommt. Dabei müssen zwei Sachverhalte unterschieden werden: die

zyklische Komponente17 und die Trendkomponente. Letztere hat drei Bestandteile:

• die Technologie (das technische und organisatorische Wissen),

• die Kapitalintensität (das Verhältnis von Kapital zu Arbeit),

• die Arbeitsqualität (die aus geringer und höher qualifizierten Arbeitskräften zu-

sammengesetzte Beschäftigung).

Die Bundesregierung geht davon aus, dass die Produktivitätsentwicklung in erster

Linie von der Technologie geprägt wird, dass diese aber nicht signifikant von der Be-

völkerungsalterung abhängig sei. Hier stützt sie sich auch auf den Sachverständi-

genrat (2011), der davor warnt, aus dem steigenden Durchschnittsalter der Arbeits-

bevölkerung zwangsläufig auf einen Rückgang der Produktivität zu schließen. Zwar

sei, so der Sachverständigenrat, die physische und kognitive Leistungsfähigkeit jün-

gerer Arbeitskräfte im Durchschnitt größer als diejenige älterer Arbeitnehmer, letztere

verfügten jedoch über ein größeres Erfahrungswissen. Würden sich diese Teilpro-

16 Während eine Wachstumsrate der Produktivität von 2,5 % den Lebensstandard bereits in 28 Jahren verdoppelt, was nach der 70er-Daumenregel (70/2,5) der Fall ist, würde der Lebensstandard erst in ca. 47 Jahren um das Zweifache zunehmen, läge das Wachstum nur bei 1,5 % pro Jahr (70/1,5).

25

zesse ausgleichen, werde der Anstieg des Durchschnittsalters der Arbeitsbevölke-

rung die Entwicklung der Arbeitsproduktivität nicht bremsen.

Gravierende Zweifel an der Produktivitätsprognose der Regierung entstehen dann,

wenn nach dem Einfluss der demographischen Alterung auf die Kapitalintensität ge-

fragt wird. Da die Bildung von Kapital Ersparnisse verlangt, kommt es auf Zweierlei

an: auf die Entwicklung

• der Bevölkerungsanteile von Jung und Alt,

• des staatlichen Defizits.

Darauf, dass die gesamtwirtschaftliche Ersparnis von der Höhe des Altenquotienten

abhängt, hat bereits Diamond (1965) aufmerksam gemacht. Er geht davon aus, dass

die partielle Sparquote der Jüngeren größer ist als die der Älteren.18 Dann kommt es

zu einem Rückgang der aggregierten Ersparnis, weil die Bevölkerungsentwicklung

mit einem kleiner werdenden Anteil der Jüngeren - und damit größer werdenden An-

teil der Älteren - einhergeht. Diesem Rückgang kann verlässlich nur durch ein rück-

läufiges Budgetdefizit entgegengewirkt werden, deshalb muss es gesenkt werden.

Die inländische Finanzierung der Investitionen hat zwei Quellen: die private und die

öffentliche Ersparnis.19 Finanziert der Staat seine Ausgaben ausschließlich durch

Steuern („ordentliche“ Einnahmen), wird von einem ausgeglichenen Budget gespro-

chen, finanziert er sie zusätzlich durch Schulden („außerordentliche“ Einnahmen), ist

von einem Budgetdefizit die Rede. Mithin nimmt das für Investitionen verfügbare in-

ländische Finanzierungsvolumen dann zu, wenn die Privaten mehr sparen oder der

Staat sein Budgetdefizit reduziert. Wird jedoch der Trend zu höheren Schulden-

17 Mit der zyklischen Komponente wird darauf aufmerksam gemacht, dass die Arbeitsproduktivität hef-tig schwankt. In Rezessionszeiten ist das Wachstum niedrig (oder sogar negativ), in Boomzeiten ist es hoch. 18 Vgl. dazu auch Lee/Mason (2011). 19 Zwar können Investitionen auch vom Ausland finanziert werden, das Vertrauen auf die ausländische Finanzierung ist aber keine gute langfristige Strategie, da sie schnell verschwinden kann. Und selbst dann, wenn sie fortgesetzt wird, fließen viele Investitionserträge den ausländischen Eigentümern zu und nicht den eigenen Bürgern. Der Umfang, zu dem sich das Ausland an der Finanzierung der inlän-dischen Investitionen beteiligt, kann an der Differenz zwischen den Exporten und Importen (dem sog. Außenbeitrag) abgelesen werden. Bspw. wurden 2007 in den USA für 730 Mrd. $ mehr Güter impor-tiert als exportiert. Dieser Betrag stand den Ausländern zur Verfügung, um an die US-Bürger ausgelie-hen zu werden. Die Außenhandelsbeziehungen zwischen den USA und China spiegeln dies wider, wobei China den Nettobetrag nutzte, um US-Anleihen zu kaufen.

26

standsquoten nicht gebremst, wird das Sparen des Staates weiter sinken; gebremst

werden kann der Trend durch die Schuldenbremse.

Abbildung I.5: Staatliche Investitionsquote im OECD-Durchschnitt

Quelle: Jäger/Schmidt (2015)

Hingegen ist die Vorstellung, das Budgetdefizit müsse ausgeweitet werden, damit

der Staat investiert, gänzlich wirklichkeitsfremd. Darauf machen Jäger/Schmidt

(2015) aufmerksam, die das Investitionsverhalten von 13 OECD-Ländern - darunter

Deutschland, Großbritannien, Japan und die USA - analysieren. Das Ergebnis ist

(Abbildung I.5): Im OECD-Durchschnitt lag der Anteil der öffentlichen Investitionen

(Bruttoanlageinvestitionen des Staates in % des BIP) im Jahr 1971 noch bei 4,4 %,

aber nur noch bei 2,4 % im Jahr 2006. Die Verfasser erklären dies mit dem Alter der

Wahlbevölkerung. Daher mag es zwar sein, dass die Rendite öffentlicher in man-

chen Fällen höher ist als diejenige privater Investitionen; das bedeutet aber keines-

wegs zwangsläufig, dass es in einer alternden Gesellschaft vermehrt zu derartigen

Investitionen kommen wird.

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4. Intergenerative Verteilung

Nicht nur das Einkommensniveau, sondern auch die Einkommensverteilung hat ein

demographisches und wirtschaftliches Gerüst. Wird dabei zwischen der Generation

der Arbeitskräfte und derjenigen Rentner unterschieden, entspricht die intergenertive

Einkommensverteilung dem Produkt aus Rentnerquotienten und Rentenniveau (Ab-

bildung I.6).20 Zwar werden diese Begriffe typischerweise nicht gesamtwirtschaftlich

verwendet, sondern auf eine bestimmte Institution bezogen, vor allem auf die Ge-

setzliche Rentenversicherung (GRV). Dann geht es um den GRV-Rentnerquotienten

und das GRV-Rentenniveau. Der Unterschied zwischen dem gesamtwirtschaftlichen

und dem institutionellen Wert ist jedoch klein, da die GRV das mit weitem Abstand

größte Alterssicherungssystem in Deutschland ist. Vergleichbares gilt für die Gesetz-

liche Krankenversicherung (GKV); dort geht es um den GKV-Rentnerquotienten und

das GKV-Rentenniveau.21

Dargelegt wurde, dass sich der Altenquotient nach Einschätzung der Bundesregie-

rung in den kommenden drei Jahrzehnten fast verdoppeln wird. Soll dann die inter-

generative Einkommensverteilung unverändert bleiben, muss das Rentenniveau

deutlich gesenkt werden. Das zeigt das folgende Beispiel. Bezieht jeder Rentner im

Durchschnitt ein Einkommen von 100 € und gibt es 10 Rentner, beträgt das Ein-

20 Dieses Produkt entspricht zugleich dem Beitragssatz der Gesetzlichen Rentenversicherung, also dem Anteil am Einkommen der ökonomisch Aktiven, den die Rentner erhalten. 21 In der Literatur wird unter den Überschriften „Ricardianisches Äquivalenztheorem“ bzw. „Barrosches Neutralitätstheorem“ auf intragenerative Transfers aufmerksam gemacht, die zwar von der statistisch ausgewiesenen intergenerativen Verteilung nicht erfasst werden, die aber nicht von größerer Bedeu-tung sind.

Abbildung I.6 Einkommen der Rentner Zahl der Rentner Pro-Kopf-Einkommen der Rentner -------------------------------- = --------------------- * --------------------------- Einkommen der Zahl der Pro-Kopf-Einkommen Arbeitskräfte Arbeitskräfte der Arbeitskräfte intergenerative Rentnerquotient Rentenniveau Einkommens- verteilung

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kommen der Rentner insgesamt 1.000 € (100*10). Sind die Beträge für die Arbeits-

kräfte doppelt so hoch, hat die intergenerative Einkommensverteilung den Wert 0,25;

der Rentnerquotient und das Rentenniveau haben jeweils den Wert 0,5. Steigt der

Rentnerquotient um die Hälfte (von 0,5 auf 0,75), muss folglich das Rentenniveau

um ein Drittel zurückgehen (von 0,5 auf 0,33), damit die Einkommensverteilung mehr

oder minder unverändert bleibt. Gefordert wird hingegen die Anhebung des Renten-

niveaus, zumindest aber die Stabilisierung auf dem heutigen Niveau.

In der Vergangenheit ging es vor allem um die funktionale Verteilung, wobei die Auf-

fassung, die Kapitalisten würden die Arbeiter in Marktwirtschaften ausbeuten, mit

dem Zusammenbruch zahlreicher Staatswirtschaften an Überzeugungskraft verloren

hat. Künftig wird sich die Kontroverse auf die Verteilung der Einkommen zwischen

den Nicht-mehr-Erwerbstätigen (den „alten“ Menschen) und den Erwerbstätigen (den

„jungen“ Menschen) richten. Es wird um die intergenerative Einkommensverteilung

gehen. Das wird die „neue soziale Frage“ sein.

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Literaturverzeichnis Becker, G. (1982), Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen Bundesministerium des Innern (2011), Demografiebericht, Berlin Diamond, P. (1965), National Debt in a Neoclassical Growth Model, American Eco-nomic Review Easterlin, R. (1980), Birth and Fortune, Chicago Hansen, A. (1939), Economic Progress and Declining Population Growth, American Economic Review Hinte, H., U. Rinne und K. Zimmermann (2011), Ein Punktesystem zur bedarfsorien-tierten Steuerung der Zuwanderung nach Deutschland, IZA Research Report Nr. 35 Hüther, M. und T. Straubhaar (2009), Die gefühlte Ungerechtigkeit, Berlin Jäger, P. und T. Schmidt (2015), The Political Economy of Public Investment when Population is Aging - A Panel Cointegration Analysis, Ruhr Economic Paper Nr. 557 Kotlikoff, L. und S. Burns (2004), The Coming Generational Storm, Cambridge (Mass.) Lee, R. und A. Mason (2011), Population Aging and the Generational Economy, Cheltenham u.a. Lindbeck, A. und D. Snower (1989), The Insider-Outsider Theory of Employment and Unemployment, Cambridge (Mass.) Phillips, A. (1958), The Relation between Unemployment and the Rate of Change of Money Wages in the United Kingdom, 1861-1957, Economica Powell, R. (1968), Economic Growth in the U.S.S.R., Scientific American Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2011), Herausforderungen des demografischen Wandels, Wiesbaden Samuelson, P. und R. Solow (1960), Analytical Aspects of Anti-Inflation Policy, American Economic Review, Papers and Proceedings Statistisches Bundesamt (2015), Bevölkerung Deutschlands bis 2060, Wiesbaden Werding, M. (2016), Modellrechnungen für den vierten Tragfähigkeitsbericht des BMF, Köln