Der berühmteste Unterkiefer der Welt

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Powered by Ein Heidelberger afrikanischen Ursprungs Lange stand der Unterkiefer des Homo heidelbergensis als ein isoliertes Einzelstück ganz im Schatten anderer spektakulärer Funde urzeitlicher Menschen. Heute gilt der Homo heidelbergensis als letzter gemeinsamer Vorfahre von Neandertaler und Homo sapiens und nimmt damit im Stammbaum des modernen Menschen eine zentrale Stellung ein. Am Abend des 21. Oktober 1907 betrat der Sandgrubenarbeiter Daniel Hartmann, genannt „Sanddaniel“, die Wirtschaft Hochschwender im Dorf Mauer bei Heidelberg und verkündete: „Heit Unterkiefer des Homo heidelbergensis. © Geologisch-Paläontologisches Museum, Universität Heidelberg Seiten-Adresse: https://www.gesundheitsindustrie- bw.de/fachbeitrag/aktuell/ein-heidelberger-afrikanischen- ursprungs 1

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Ein Heidelberger afrikanischen UrsprungsLange stand der Unterkiefer des Homo heidelbergensis als ein isoliertes Einzelstück ganz imSchatten anderer spektakulärer Funde urzeitlicher Menschen. Heute gilt der Homoheidelbergensis als letzter gemeinsamer Vorfahre von Neandertaler und Homo sapiens undnimmt damit im Stammbaum des modernen Menschen eine zentrale Stellung ein.

Am Abend des 21. Oktober 1907 betrat der Sandgrubenarbeiter Daniel Hartmann, genannt„Sanddaniel“, die Wirtschaft Hochschwender im Dorf Mauer bei Heidelberg und verkündete: „Heit

Unterkiefer des Homo heidelbergensis. © Geologisch-Paläontologisches Museum, Universität Heidelberg

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haw ich de Adam g`funne.“ Gefunden hatte er in der Sandgrube Grafenrain am Flüsschen Elsenzeinen fast vollständigen, ziemlich klobigen menschlichen Unterkiefer, der sehr alt aussah. Amnächsten Tag wurde der Paläontologe Professor Otto Schoetensack von der Universität Heidelbergunterrichtet, der den Sand- und Kiesgruben der Heidelberger Umgebung auf der Suche nacheiszeitlichen Fossilien häufig Besuche abgestattet hatte. Schoetensack beschrieb den Fund in einer1908 veröffentlichten Monografie „Der Unterkiefer des Homo heidelbergensis aus den Sanden vonMauer bei Heidelberg“ und klassifizierte ihn hellsichtig als zu einer ausgestorbenen Menschenartgehörig, die noch vor dem Neandertaler gelebt hatte. Dieser wurde anhand eines fossilen Fundes imNeandertal bei Düsseldorf im Jahr 1856 erstmals klassifiziert. Andere Neandertalerfossile warenbereits früher entdeckt, aber erst später als solche identifiziert worden.

Der berühmteste Unterkiefer der Welt

Der Unterkiefer des Heidelberger Urmenschen - das kostbare Typusexemplar, dessen Alter nachneueren Untersuchungen auf etwa 600.000 Jahre bestimmt worden ist - lagert heute in einemTresor des Instituts für Geowissenschaften (früher: Geologisch-Paläontologisches Institut) derUniversität Heidelberg. Jeder Besucher kann aber im Museum des Instituts eine detailgetreue Kopiebewundern - ebenso auch in dem kleinen Urweltmuseum im Rathaus der Gemeinde Mauer. WeitereÜberreste des Urmenschen hat man trotz intensiver Suche an der Fundstelle nicht entdeckenkönnen. Aber man hat dort große Mengen an einzelnen Knochen von Nashörnern, Elefanten, Löwen,Flusspferden u. a. geborgen. In jüngerer Zeit hat man in Bilzingsleben am Kyffhäuser weitere

Die Grabungsstelle Grafenrain bei Mauer, Fundort des Heidelberger Unterkiefers. © Institut für Geowissenschaften, Universität Heidelberg

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menschliche Fossilien gefunden, die zwar geologisch jünger sind, aber der gleichen Art wie derHeidelberger Mensch zugerechnet werden. Außerdem fand man in Schöningen bei Helmstedthervorragend erhaltene Jagdspeere und Tierskelette, die darauf schließen lassen, dass dieseMenschen hervorragende Jäger waren. Illustrationen dazu kann man im Urweltmuseum in Mauerbesichtigen.

Zwar hatte schon in den 1890er-Jahren Eugène Dubois auf Java das Schädeldach und einenOberschenkelknochen ausgegraben, die er als eine uralte Zwischenform zwischen Menschenaffenund Mensch identifizierte und Pithecanthropus erectus (ursprünglich: Anthropopithecus), den„aufrecht gehenden Affenmenschen“, nannte. Seine Befunde wurden aber von den Wissenschaftlernlange nicht ernst genommen. Und so galt der Heidelberger Unterkiefer eine Zeitlang für viele alsfrühestes Zeugnis für die Abstammung des Menschen.

Paläoanthropologen sind offenbar - selbst nach Maßstäben der wissenschaftlichen Welt - einebesonders streitbare Gruppe. Vielleicht hängt das damit zusammen, dass ihr Forschungsgegenstandweit über die Wissenschaft hinaus Emotionen hervorruft und die Forscher deshalb besonders imRampenlicht der Öffentlichkeit stehen. Vielleicht auch damit, dass sie den Angriffen der kirchlichenOrthodoxie und der Fundamentalisten aller Religionsgemeinschaften besonders ausgesetzt sind. Vorallem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war aber die Heftigkeit der Auseinandersetzungen oftnicht nur aus der Eitelkeit oder Verletzlichkeit der Forscher gespeist, sondern auch ausnationalistischen und rassistischen Vorurteilen, die uns heute bizarr anmuten.

Homo britannicus

Wenige Jahre nach dem Fund von Mauer wurde in einer Kiesgrube der südenglischen OrtschaftPiltdown eine besonders spektakuläre Entdeckung gemacht, die weltweit für Schlagzeilen sorgte:Bruchstücke eines Menschenschädels mit einem Menschenaffen-ähnlichen Unterkiefer. Dazu wurdenprimitive Steinwerkzeuge und Knochenfragmente eines Flusspferdes und eines Elefanten geborgen.Man hatte, wie es schien, das perfekte Missing Link gefunden, das 40 Jahre zuvor Darwin in seinemepochalen Werk über die Abstammung des Menschen gefordert hatte. Der Jubel war gewaltig, hatteman doch damit auf dem Höhepunkt britisch-deutscher Rivalität kurz vor dem Ersten Weltkrieg dieDeutschen, auch was die Herkunft des Menschen angeht, überflügelt. Die ironisierte Bezeichnung„Homo britannicus“ (der offizielle Name lautete nach seinem angeblichen Entdecker: Eoanthropusdawsoni) deutete an, dass manche Patrioten durchaus ernsthaft die Vorstellung hegten, dass dieMenschheit britischen Ursprungs sei.

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Der Piltdown-Mensch war die „größte Betrügerei in der Geschichte der Wissenschaft“ (so das NaturalHistory Museum in London auf seiner Webseite). Die Schädelbruchstücke stammen von einem auf altgefärbten modernen Menschen, der Unterkiefer und ein Eckzahn von einem Orang-Utan. Zweifelhatte es früh gegeben, aber erst 1952, nach 40 Jahren, wurde der Betrug von Kenneth Oakley,Geoarchäologe am Natural History Museum, durch chemische Analysen aufgedeckt. Er hat dasVerdienst, dadurch das durch die Affäre schwer ramponierte Ansehen des berühmten Museumswieder hergestellt zu haben. Heute, genau hundert Jahre nach der „Entdeckung“ des Piltdown-Mannes, beschäftigt dieser Kriminalfall noch immer die Wissenschaftler: Welche Rolle spielten dieBeteiligten, darunter berühmte Namen wie der Jesuitenpater Teilhard de Chardin? Was waren dieMotive der Fälschung? In einer jüngsten Publikation beschreibt Professor Chris Stringer,Forschungsleiter des Bereichs „Human Origins“ am Natural History Museum, die heutige Sicht desSkandals und ein neues Forschungsprogramm, das mit modernsten Methoden der DNA-Analyse,Spektroskopie, Radiokarbon- und Isotopenanalysen die letzten Rätsel um den Piltdown-Mann lösensoll (Nature 492, 177-179, vom 13. Dezember 2012: „The 100-year mystery of Piltdown Man“).

Untersuchung des Piltdown-Schädels 1912. Die zweite Person stehend von rechts ist Charles Dawson, der Finder undHauptverdächtige in dem Betrugsfall. © Natural History Museum, London

Out of Africa – again and again and again

Der Skandal hatte zweifellos dem Ansehen der Wissenschaft geschadet, aber er konnte letzten Endesden Fortschritt der Forschung nicht aufhalten. In den Jahrzehnten nach dem Ersten Weltkriegwurden zahlreiche Entdeckungen gemacht, die „Licht auf den Ursprung des Menschen“ warfen (nacheinem berühmten Zitat von Darwin). Rassistische Vorurteile waren aber noch lange Zeit weitverbreitet. So behauptete ein amerikanischer Anthropologe 1962: „Falls Afrika die Wiege derMenschheit gewesen ist, so war es höchstens ein belangloser Kindergarten. Unsere entscheidendenSchulen hatten wir in Europa und Asien“ (zitiert nach C. Stringer: The Observer, 19 June 2011). Erstdie modernen DNA-Analysen verhalfen der These, dass der Mensch tatsächlich in Afrika entstandenist, zum Durchbruch.

Die ersten Menschen, die Afrika verließen, gehörten zur Art Homo erectus, benannt nach dem vonEugène Dubois 1891 beschriebenen ersten Exemplar aus Java (das schließlich als echt anerkanntworden ist). Die ältesten, etwa 1,8 Millionen Jahre alten Funde von Homo erectus liegen in Ostafrika,

Rekonstruktion des Homo heidelbergensis. © Natural History Museum, London

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von wo er sich sehr rasch nach Westasien (Dmanisi in Georgien) und später weiter bis nach Chinaund Indonesien ausbreitete. Dort überlebten seine Nachfahren bis vor 200.000 Jahren oder nochlänger. Der Homo erectus stammt mit Sicherheit von älteren, ausschließlich afrikanischenMenschenformen (Homo habilis oder Australopithecinen) ab; die Details sind aber heftig umstritten.

Lange Zeit hat man alle in Eurasien gefundenen Menschen aus der Zeit vor den Neandertalern derArt Homo erectus zugeordnet; dementsprechend wurde der Heidelberger Unterkiefer als zurUnterart H. erectus heidelbergensis zugehörig klassifiziert. Diese Bezeichnung findet sich auch nochim Geologisch-paläontologischen Museum Heidelberg. Inzwischen verwenden viele Anthropologenaber eine neue, weiter gefasste Nomenklatur. In Afrika entstand aus dem ursprünglichen H. erectusvor etwa 700.000 Jahren eine neue Menschenart mit wesentlich größerem Gehirn, die sich durchsorgfältig bearbeitete Steinwerkzeuge auszeichnete (die sogenannte Acheuléen-Kultur). In einerzweiten Ausbreitungswelle („Out of Africa-2“) gelangten diese Menschen nach Südeuropa und bisnach Deutschland und England. Nach dem Typusexemplar aus Mauer werden alle Vertreter dieserfortgeschritteneren Menschenart als Homo heidelbergensis bezeichnet. Mit ihrem robustenKörperbau und guten Jagdwerkzeugen war sie offenbar gut geeignet, mit den Klimaschwankungenin Europa umzugehen. Aus dem europäischen H. heidelbergensis entwickelte sich vor rund 250.000Jahren der Neandertaler.

Die in Afrika zurückgebliebenen Populationen des H. heidelbergensis (wahrscheinlich die großeMehrheit) dagegen entwickelten sich weiter zu den Vorfahren der heutigen Menschen. DieseEvolution ist schlecht dokumentiert. Vor etwa 600.000 - 500.000 Jahren lebten in Äthiopien, Sambiaund Südafrika Menschen, die als H. heidelbergensis anzusprechen sind; vor ca. 200.000 Jahren findensich in Äthiopien anatomisch moderne Menschen, die man deshalb schon zum Homo sapiensrechnet. Dieser altafrikanische Homo sapiens ist Träger der dritten Ausbreitungswelle („Out of Africa3“ oder „Recent out of Africa“), die vor weniger als 100.000 Jahren erfolgte. In ihrem Verlauferreichte er Europa etwa vor 45.000 Jahren und kolonisierte am Ende die ganze Welt.

Die Suche geht weiter

Das ist jedenfalls ein nach gegenwärtigem Forschungsstand plausibles, aber keineswegsunumstrittenes Szenario. Neue unerwartete Entdeckungen können das Bild dramatisch verändern,wie zum Beispiel der uralte Homo erectus von Dmanisi in Georgien, der bis vor 17.000 Jahre aufFlores heimische rätselhafte Zwergmensch oder der aus DNA-Analysen eines Fingerknochensidentifizierte Denisova-Mensch aus Südsibirien. Obwohl sich die Zahl von menschlichen Fossilien inden letzten Jahrzehnten vervielfacht hat, gibt es immer noch große Lücken in der Überlieferung. Einnoch größeres Problem besteht darin, dass die Fossilien so fragmentarisch sind: hier ein paarSchädelbruchstücke, dort ein Armknochen, einige Zähne, ein Jochbein oder eben ein Unterkiefer. Dasbietet Raum für unterschiedliche Interpretationen und gibt Anlass zu heftigen Kontroversen zwischenden Forschern. Mit großem Eifer und endloser Geduld wird daher an den bekannten Fundstellenweiter geforscht, weil sie die größten Aussichten bieten, mehr Informationen über die Fossilien zugewinnen. In Mauer bei Heidelberg beispielsweise untersucht jetzt die von Dr. Bernd Kober geleiteteForschungsgruppe Isotopengeochemie am Institut für Geowissenschaften der Universität Heidelbergmit einem hochmodernen Thermionen-Massenspektrometer das Umfeld der Sandgrube Grafenrain,in der 1907 Daniel Hartmann, der „Sanddaniel“, seinen Adam gefunden hatte.

Fachbeitrag

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