Der Eigene : 1903-05

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    358 o o DER EIGENE o og e n an n t en N o r ma l en K ü m m e r l i n g eheißen.

    Besonders wertvoll an dem Hirsch-feldschen Buche ist das Kapitel vomurnischen Kinde, geistvoll und fein in derZergl iederung der kindl ichen Psyche undwertvol l durch die Winke über die pädagogische Behandlun g solcher Kinder. Vieleder angegebenen Kennzeichen treffen allerdings au ch für jedes no rmale Kind zu.Hier muß man mit dem Abstrahieren besonders vorsicht ig sein. Andrersei ts verfällt man auch leicht in das entgeg engesetzte Extrem man veral lgemeinert zuleicht. So spricht z. B. Dr. Hirschfeldvon dem geringern Wärmebedürfnis desHomosexuel len und le i te t im Zusammenhange damit von dem beim Urninghäufiger vorkommen sol lenden warmenHänden den Volksausdruck „warmerBruder her. Nun is t aber, wenn nichtdas Gegenteil zutrifft, soviel sicher, daßdiesen gegen Kälte Unemp findlichen einebenso großer Prozentsatz dagegen s eh rEmpfindl icher gegenübersteht .

    Es schein t mir auch, da ß Herr Dr.Hirschfeld in der Unterscheidung zwischenerworbenen und angeborenen Kennzeichendes homosexuel len Menschen zu mildevorgeht , obgleich er selbst of t genug dasProblematische solcher Unterscheidungenbeton t. Ich sehe hier ganz von denanatomischen Merkmalen ab. Aber dieweibl iche, oder besser : urnische Art d esganzen Sichgebens is t of tnurangenommen,und die Urningskneipen und -bal le s inddie eigentlichen Symptom fabriken . Hierwerden durch das Unters ichsein, daslaisser faire und die Gewohnheit die Kennzeichen erworben. Entsch ieden zu weit

    geht es aber, zu behaupt en, gerade die,oft irritierenden, spezifisch männlichen

    Kennzeichen an Urningen seien als bloßeMaske vorgenom men. Hier bestätigen einpaar Ausnah men keinesweg s eine Regel.

    Sehr interessant ist auch, was unsüber die Berliner Strichjungen erzähltwird. Die Jungen verkehren übrigensnicht nur mit der weibl ichen Prost i tut ion,sondern tun sich auch sehr häufig als Zuhälter mit ihr zusam men. Dann betreibtman in Komp agnie da s traurigste allerGewerbe.

    Über die Bisexualität hat Herr Dr.Hirschfeld sein Urteil ganz korrigiert, wiemir scheint, mit Unrecht. In seinemkleinen vortrefflichen Büchlein „Sapphound Sok rates sieht er sie als etwas Selbstverständliches an und stellt sie in schönerklarer Klassifikation zwischen Normal-und Homosexual i tä t . Je tz t schreibt er :„Früher hielt ich sie (die Bisexuellen) füreine weitver breitete Gruppe. Aber diegewissenh afte Explora tion vieler ver

    he i ra t e te r Urni n g e ha t m ich s c hw ankend gem a c h t .

    Vermiß t habe ich ein Inhaltsverzeichnisin dem Buch, das aus einzelnen, vomVerfasser bereits in den „Jahrbüchern fürsexuelle Zwisch enstufen veröffentlichtenArbeiten zusammengestellt ist. Mit letzteremUmstand hängt auch zusammen, daß s ichhin und wieder Bezugnahmen auf das Jahrbuch vorfinden, die den meisten Lesernunve rständli ch sein müss en. Vielleichtwären auch die vielen Beläge treffend zueiner, gewiß mit Freuden begrüßten,Bibliographie für den Schluß des Bucheszusammengestel l t worden.

    Das Alles läßt sich leicht bei einerneuen Auflage abstellen , die ich demBuche baldigst und von Herzen wünsche.

    O.

    Verantw ortlich für die Redaktion un d Verlag :A d o l f B r a n d

    Charlot tenburg, Wilhelmsplatz aDruck von G . Re i c ha rd t , G ro i tz s c h i . S .

    W o

    Die Renaissancedes Eros Uranios

    i e g l e i c h g e s c h l e c h t l i c h e L i e b e a ls e i n e

    F r a g e d e r m ä n n l i c h e n F r e i h e i t

    Mit naturrechtlicher, naturwissenschaftlicher,

    kulturhistorischer und sittenkritischer Antwort

    VonDr Benedict Friedlaender

    Das Werk ist nach Erscheinen durch alleBuchhandlungen zu beziehen.

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    Bei MAX SPOHR in LEIPZIG, sidonienstr. 19Bwurden neuverlegt in de ut sc he r einz ig au tor isi ert er Uebersetzung

    folgende Schriften von

    O S C R W I L D E

    Dorian Gray p=^ Roman PSJ j p ^ p ^ P*J P=J P ^ p^ p^ Mk. 3,—Das Sonettenproblem des Herrn W. H. P=J Nove lle p >̂ „ 1,20Lady W indermeres Fächer p ^ Das Drama e. guten W eibes „ 1,50Eine Frau ohne Bedeutung i^p ^j^ >p ^j? ^.p ^p ^.p ^> „ 1,80Salome p ^ Dram a in einem Aufzuge p= > p^> p ^ p ^ p=^ „ 1,—Der glückliche Prinz und andere Erzählungen P ^ P ^ „ 1,50Ein idealer Gatte p=̂ P*J P^ P=J P >̂ P^ P ^ P^ P >̂ P^ P=J „ 1,80Ernst se in p ^ Eine triviale Geschichte für seriöse Leute „ 2,—

    Die Schriften sind durch alle Buchhandlungen zu beziehen sowie direkt vom

    Verlag von MAX SPOHR in Leipzig.

    Gesellschaft zur Verbreitung klassischer Kunsto o o o o o G. m. b . H. 000 00 0

    : Berlin SW. Friedrichstrasse 16 :

    Wan ds chm u ck-Sammlung vonM eisterwerken klassischer Kunst

    Kupferdruck-Kunstblätter in Groß-Imperial-Format

    nach Original-Aufnahmenherausgegeben vonP r o f e s s o r D r V v o n L o g a

    Direkto rial-Assiste nt am Kgl. Kupferstichkabinet in Berlin.

    Volks-Ausgabeauf weiß K upferdruck mit China. Ladenp reis pro Blatt Mk. 10.—

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    Zu beziehen durch alle Buchhandlungenoder direkt von der Ges. z. V. kl. K.

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    DER EIGENE

    EIN BLATT FÜR MÄNNLICHE KULTUR

    KUNST UND LITTERATUR

    MAI 19 3

    CHAULOTlENBURüB U C H - U N D K U N S T- H A N D L U N G

    DEK EIGENEADOLl: IWANl Ji CO.

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    DER EIGENEEIN BLATT FÜR MÄNNLICHE KULTUR KUNSTcüCüOiasasai UND LITTERATUR U IS IS IS U IS

    HEKAUSGEUF-K: AD ULK UK ANU o CHAKt-OTTENUURQ.

    MAI 1903

    INHALT:Mnitu vun Friedrich Nietzsche o S eilt 2 Hi .Eng el um der Laute", Kupfv iynctic, nacheiner licpruduk liun der .Ne uen Flii.luKMpItischell Gesellschaft in Steglitt o Seile 2'J3 o.Inseln Ues Eros" vun Adull llraud o Seile 2(13 o .Wald lrel" Gedicht vun Adull lirjiido Seile 2'Jü o .Die Gciuciuscha ll der Eigen en", Kuuslllla ll vu n Fidus o Seite1 2Ü7 o.keilten" , K upllcistc vuu Fidus u Seile -Miy o .Maicnplu ckcn", Gedicht vun Adullllrand o Sei le 2UU o .Kalm lalirl" Gedicht v

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    INSELN DES EROS

    Wir suchen unser eigen Land, das Land unserer Neigung,die Gestade der neuen Menschen, die Gefilde der

    Seele, die Welt un s e re s Schmerzes und uns er erFreuden.

    W ir stuften unse re Schiffe ab von en Ufern der Wirklichkeit und fahren mit singenden Harfen in end los-b laueWeiten heimlicher Ahnungen hin, zu en stillen Inseln, die anden Grenzen der Geschlechter in paradiesischer Schönheitblühen, dorthin, wo uns die glänzenden Rrucii seliger Freundschaft winken

    94 o o ER EIGENE o o

    Wir sind Verfehmte, Vogelfreie, Gemiedene auf der breitenHeerstraß e d es Alltaglichen — unnützes, loses Volk inden Augen der Immersatten — Fluchb eladene vor denheiligen Opferaltären rechnender Freiheitspriester — Frevlerund Ausgestoßene aus allen Tempeln der Gewöhnlichkeit —Ewig-Unzertrennliche — Ewig-Unverstandene — Ewig-Unbefriedigte, die ihr Glück nur in sinkenden Nebeln schaue n

    Wir suchen und irren — Piraten auf dem Meere sin nberauschender Schönheit — Schicksalsgenossen auf demqualvollen Beutezuge eines schrankenlosen, niegestilltenBegehrens, denen der Tod ein stiller Lotse in Siriusfeinentrostloser Hoffnungen ist.

    Wir suchen und irren und treiben im meergrünenSchweigen auf wollustschwellenden Fluten durch purpurneNacht.

    Unnennbares süßes Leid ist unser höchster Gewinn, einimmer neu aufflammender, allzuschöner Traum unser kostbarster Reichtum.

    Wir suchen und irren üb er grund loser Tiefe zwecklosdahin und erreichen es nie, das Ziel unsrer einsamen Fahrten,die stillen Inseln unserer unersättlichen Sehnsucht, wo keineGalgen des Elends ragen und kein Gesetz der Liebe dieMysterien unserer Freundschaft mit Verachtung schändet

    — Aber sie leuchten uns immer, die däm mernd enUfer seliger Träume, wo unter blühendem Schutte dieGräber unseres Leibes den Flötentönen schmeichelnderLieder lauschen, wo uns aus Lilienkelchen trunkene Blicke

    und schwellende Lippen glühen, Erinnerungsgesichteblende nder Jugend und duftender Schöne zu ewigem Bleibenwinken

    Wir sehen sie wieder, die Gefährten unvergeßlicherStunden, mit denen wir wie in stillem Wachen durch violenschwüle Haine heiliger Ruhe gleiten, Rosen und Epheu imgoldglänzenden Haar, an dunklen Cypressen lispelnder Sehnsucht vorbei, über die stürzenden Wasser der Zeit demSternenfrieden der Erfüllung zu.

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    t I

    l

    U l

    o o INSKI N ÜliS UKOS o 295

    Wir gehen leise Seile an Seite durch schweigende Felderund trinken die kühlen Wo nnen der Vergangenheit. Dennder Augenblick ist kurz, aber die Erinnerung fließt ew ig. —

    Wir werfen wieder die Anker zu ruhloser Rast undsetzen die Boote aus zur kettung und Mitfahrt. Wir irrenunstat am Sonnenstrande des üliieks und suchen nachschiffbrüchigen verw andten Seelen, nach sturmerp robtenKämpfern auf stillen Wogenhohen stolzer Einsamkeit, diean den letzten Trümmern ihrer Lebenswünsche in Ver-zweiflung ringen.

    Zu den Quellen der Erlösungen geht unsere Fahrt, zuden seligen Tempeln des unbekannten Gottes, dein wir alledienen

    Wir mü ss en es finden, das Land unserer Leiden undfahren mit euch, ihr todeslustigen Sänger heiliger Torheitund Liebe, ihr Selbstpeiniger und Märtyrer eures uner-

    bittlichen Lachens, mit träumenden Segeln in gastfreieBuchten ewiger Schönheit ein

    ADOLF BRAND.

    a a i iu f a i a t fi M ii

    296

    WALDFREILbereschenbeereu leuchten,Lachen wie Kurallen rot,Und ich nippe Deine Lippen,Küö trotz Strafe und Verbot

    Erlenhecken uns umdachen,Plätschernd springt der Bach vorbei,Murmelt neckend w as von Liebe —

    Und ich küß Dich: eins, zwei, dreitDu mein großer, wilder Junge,Bist mein Sonnenglanz und Ruhm,Holder Stern in meinen Nachten,Wegziel dem Zigeunertuml

    ADOLF UKAND

    Dsä

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    REIGEN f- DUS

    MAIENGLOCKEN

    y s läutet ihr Glocken zum Welten in;ii?— „Wir liiuten den ewigen l-rüt i l int i herbei l

    Was stimmt heut so höh euer bebendes lirz?— „Wir denken der Sivi;e vom achtzehnten Märzl"

    Wen ruft ihr so ernst heut mit ehernem Mund?— „Wir rufen die Volker zum I-Yeiheiishund "

    Was kündet ihr jubelnd von Turm zu Turm?— „Alldeulschlands I Erlösung aus N acht und Sturm "

    Was klingt ihr so leise durch Anger und Feilt?— „Wir singen zu Grabe die alte Welt "

    AUÜLI- BKAND

    KAHNFAHRTi.

    D e s Abe nds Schatten schleichen auf den SeeUnd folgen lauschend unserm kleinen Kahn,Die Tiefen blicken stumm und rätselvoll —

    Die Sterne aber sinnen in die Nacht. . .Dort durch den Uferwald kommt still der Mond

    Im Kiefernhaar blinkt bleich sein mattes GoldUnd aus dem Schilfe steigen Nebel auf —

    Die Sterne aber sinnen in die Nacht. . .

    Die Wasser glänzen und die Tiefe bebt,Du siehst mich groß und bang und fragend anUnd meine Pulse pochen sehusuchtstoll —

    Die Sterne aber sinnen in die Nacht. . .

    Die Wellen schmeicheln leise um das Boot,Die Fluten träumen und die Ruder nihil,

    Der Wind nur zieht uns schweigend stromhinab —Die Sterne abe r sinnen in die Nacht. — — —

    II.

    w ir fuhren wieder auf den See hinaus

    Und wieder sah der Mond so bleich und großUnd wieder spielt im Rohr der Abcndwiud.

    Leicht glitt der Nachen auf den Wassern hin,Sie sali am Steuer und ich fuhr den Kahn,— Du lagst zu ihren Ritten wie ein Kind.

    Sie sang und sprach von ihrer Kinderzeit,Du lauschtest still und tatst mit Worten schön

    Und Deine Stimme klang so weich und lindAn meiner Seite aber saß der Tod

    Und zeigte stumm mir mein verblutend HerzUnd meine Ruder jagten pfeilgeschwind. —

    Wir stiegen aus und ihr gingt dann allein. . . Und als mein Herz verblutet war im Wald,Sang in den Blättern noch der Abendwind. —

    OLF BRAND

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    m

    ES SOLLEine Erinnerung

    | * s soll Menschen geben , die nur einmal lieben, — nur einmal in•*"-"* einem langen Leben

    O einmal nur lieben — und dann — ? dann, wenn diese Liebenur kein Leben umfaßt, — wenn sie nur ein Rausch ist von Stunden,VÜII Tagen, dann — was dann — V

    Menschen, die dann nie melir lieben, nie mehr —: die soll esgeben.

    Es soll auch Menschen geben, die dann sterben — Men schen : .d ie

    sterben, wenn sie lieben.* —

    0 W alter, mein lieber guter Walter, wie seltsam war e s doch,dali wir uns fanden, — wie seltsam, daß wir uns treffen mußten — •du und ich. Wie seit Jahren abgezahlt waren unsere Schritte, damitwir just in jenem Augenblicke aufeinanderstießen. Wie seltsam

    Wir waren für einander bestimmt, wir hatten uns geahnt und allgewaltig zogen unsere Sympathien uns ane inand er, — uns nicht

    3 4 o o ER EIGENE o o

    kennend fanden wir uns als Bekannte. Es konnte kein V erfehlengeben, wir mußten uns finden.

    In einem fremden Hause, in dem fröhlicher Trubel lustige Menschenvereinte, auf der breiten Trep pe, auf der ohne Unterlaß Menschenherauf und hinabström ten, fremd an sich vorübergehend , da — Walter —

    sahen w ir uns zuerst. Du und ich, wir beulen Einsam en: du mitdeiner feinen, zarten Jünglingsseele, die die Allgewalt der Liebe michnicht kannte, dem Leben noch so fern, so rein noch von den Leidenund Wirrsalen dieses Dase ins, so unbeschrieben und geheimnisvoll indeinem W esen, — du Walter, mein junger, geahnter Liebling mit dengroßen , milden Augen, die erwartend wehmütig wie in Tränen lächelten,gleichwie dein Mund, der schweigend im Spiele deiner Lippen dochvon den geheimen Ahnungen deiner jungen Seele plaude rte. U Walter,du und ich: ich ein Wissender, ich, der müde von tausend Irrfahrtendurch die Mysterien unsere s Seins n ur zuweilen an friedlicher Stalleder Erholung landend, durch alle Stürme der Enttäuschung und de sLeides sich die Freude an der Schönheit als heiligstes Gut, als Letztesaus den Trümmern eines versunke nen Glauben s rettete. O Waller du

    und ich; die beiden Pole, die einander zustreben, der Eine im Anderenseine Ergänzung findend — auf jener fremden T rep pe, d a stießen wirauf einander, geheimnisvoll erfaßt von dem gleichzeitigen Bewußtseinder Bedeutung dieses Findens.

    Ich schritt hinab — du kamst herauf. Wir stießen auf einandermit unseren Blicken, die sich dann nicht wieder lösten.

    Kings um uns eilende, lachende Menschen; wir: regungslos wiegebannt, ansehend einander, wie tief in Erinnerungen suchend, inTraumen s uchend — wo wir uns schon sahen, wann, wie oft, — obes gestern war, ob vor einer Stunde, — ob wir seit immer uns kannten,nie von einander gewichen waren, — o b, ob — — — —

    Wir sahen uns nie vordem

    Deine Blicke ließen durch das Kindliche ihres Ausdruckes deineSehnsuch t schimmern, dein V erlangen dich an mich zu klammern mitdeiner heißen, reinen Seele, mit deinem jungen Leibe, — deine Blickedrangen in meine Seele wie ein geheimes Feuer, doch in Flammen sorein, so heilig, so voll ahnen der Seligkeit und voll flehender Hoffnung.O mein Walter, mein lieber kleiner Walter

    Deine Blicke lösten sich nicht, abe r du tratest an meine Seitewie durch unsichtbare Fesseln au mich gezwungen . In deinen Blickengabst Du dich mir, betend, daß ich dich nehme.

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    u o L S S U I I o o 3Ü5

    Wir schritten zsuam mcn hinab, — in die klare Nacht hinaus —schweigend, wie um erst ganz das Wunderbare dieses l-'iudcus zu fassen.Wir gingen Arm in Arm, Blick tu Klick, ganz beseligt von den wonnigenSchauern dieser jungen Liebe. Was sollten wir uns auch sagen,kannten sich unsere Seelen doch schon seil ew ig — — — ? —

    halten unsere Augen nicht schon genug gesprochen — — — ?So schritten wir zusammen dahin, stundenlang, nicht an die Zeitdenkend, an Nichts denkend

    Du botes t mir deine Lippen zum Kusse, wir küßten uns — küßtenuns, du mich, ich dich; — O, deine Lippen, mein Waller, die SüllenIHorten deines rosigen Mundes, der so fein die Regungen deiner Seeleverschwieg, weil das Geheimnis des Kusses ihm beiedier dünkte, alsdie Spra che, in der wir von allen Dingen reden . Und es war dochso seltsam, «.Sali wir uns fanden.

    War es nicht ein Ereignis — wie ein Markstein uns eres Lebens,nicht die Erfüllung von H offnungen, nicht ein endlich es Ziel vonAhnungen — — — ?

    Und uns — Walter — uns war uns nicht, als hatten wir einesBerges ragenden üipfel erklommen, die reine Lull der Höhe atmend,den Sternen so nahe, den goldigen — — —

    Morgendainmerlicht, fahl und blaß, stieg herauf —, wir trenntenuns : Die Sterne verloschen langsam wie von zarten Schleiern gedeckt,ah und zu noch aufblinkend, als wollten sie mit ihrer nächtlich goldigen Poesie das weiße mitleidlose Licht der Sonne überstrahlen.

    Doch deine Sterne, W aller, die wunde rbaren, denen die reineJünglingsseele Lichtspenderin ist: die Sterne deiner geliebten Augen,die leuchteten noch, blinkten fort in den jungen Morgen hinein, frohlockend und jauchzend.

    Nach diesen seligen Stunden unserer ersten reinen Freuden sahen wiruns lange Zeit hindurch so oll, fast taglich, tu t schritten wir anjenem e rsten A bende Arm in Ann, Blick in Blick, ireude truuke n durchhelle Sternenuächtc wie in zarte Mareheuschauer oder in wonnigeTräume versunken. Oft auch trafen wir uns an stiller, trauter Statteund offenbarten uns die geheimsten, ungeahntesten Regungen unsererSeelen. Oft auch, o mein Walter , saßen w ir in dem lauschigen Gartendes stillen W irtshauses draußen vor dem Tore, immer am gleichen

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    liebgewonne nen Plätzchen, in der stillen Laube. Wilder Wein umrankte uns traulich.

    Dort war es auch, wo ich dir zuerst sagte, daß wir scheidenmüßten, scheiden — nicht für immer, o mein Gott, nein — für eineunbestimmte Zeit. Ich sagte dir, daß Pflichten mic h abriefen in ein

    fernes Land. Ich sagte es dir so schonend zärtlich, so liebevoll.O, mein armer kleiner Walter, zagend sah ich dich an —

    Die holden Rosen deiner sammetweichen Wangen erbleichten, alsob ein kalter Winterschauer Schneeflocken über blühende Gärtenbreitete. Um deine Lippen, die holden, zuckte verhaltener Schmerz, dasInnerste deines jungen Herzens wühlend. Du versuchtest ihn niederzuzwingen — umsonst.

    Von deinem Weh ergriffen, in meiner Seele deinen Jammer fühlend,neigte ich mich zu dir, deine Augen schlöss en sich, deine edle n feinenLider bargen Trä nen, g roße, heiße Träne n, die sie nicht halten konnten,die dann wie schwere Perlen an deinen langen Wimpern hingen bissie herabfielen auf deine bleichen Wangen — späte, müde R osen, auf

    denen der Herbsttau stand.Und ich küßte den Tau von den bleichen Rosen, — die heißen

    Tränen von deinen Wangen. Du schlugst die Augen auf, die wehmut-schwere n — und neigtest deine Wange an die meine, wir weintenbeide.

    Dann kam das Scheiden.Walter, o du lieber, süßer Freund Deine Hand lag zitternd in

    der meinen, deine Blicke schienen mich zu umklammern, fiebernd, wirrin Herzensangst, in namenloser — wie wenn ein Sterbender mit glühenden Lippen flehend noch das Leben halten will, das entschwindende. —

    O Gott, das Leben Wie es uns leiden macht und — wie wires lieben, o wie wir es lieben)

    Und ich fühlte, daß ich dein Leben warIch tröstete dich — „Walter, lieber, lieber Junge, wir sehen uns

    ja wiederl"

    „Ja, ja," sa gtest du mit einem so seltsamen Lächeln — „ja, ja, w irsehen uns wieder "

    Dann sprachen deine Lippen jene letzten teuren Worte, die ewigin meiner Seele nachklingen werden:

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    o o ES SDl.L o o 307

    „Wir sehen uns wieder — Du gehst in ein fernes, schönesLand, neuen Freuden entg egen, du wirst nicht einsam sein. AlteFreunde wirst du wieders ehen. — Ich habe niemand Zu niemandsprach ich von meiner Liebe — von dieser seltsamen — , denn ichhabe sie nie vordem gefühlt. Nie wuß te ich, dali es W onnen gibtwie diese — und ein Leid w ie dieses — O mein lieber FreundI

    Ich fühle es, wie alles in mir sich /um S terilen neigt, da du scheidest.In dir — o du Geliebter — erk annte ich mich und d eine Seele w urdedas Heim meiner Hoffnungen — wurde „mein" Heim. Nun gehst duund in dir verliere ich alles — .dies —. Sieh', ich bin ande rs als du,ich bin arm gegen dich. Ich fühle es am Versinken meiner Kräfte,dall alles in mir erschöp ft ist, alles, alles Nach dir: nichts meh rü tröste mich nic ht "

    Zwei Jahre vergingen. Wir schrieben uns anfangs oft. Es wolltemir scheinen, als wärest du gefaßt und zuversichtlich geworden undich lebte in der frohen Hoffnung, daß dein Leben sschm erz sich ge-mildert habe.

    Spater schriebst du seltener. — Plötzlich überra schte mich einBrief voll herzzerreißend er Klagen und bittereu Grames . Ich tröstetedich aufs Neue mit aller Zärtlichkeit.

    Erst nach laugen Wochen traf eine beruhigende Antwo rt ein. Duschriebst mir, daß du leidend gewesen seist und batest mich, dir deineUngeduld zu vergeben.

    Ich kehrte heim.Nun wollte ich wieder liebkosend über deine b londen, weichen

    Locken streichen und deine Wangen kü ssen, die nun wieder aufblühensollten wie Kosen im Frühling staii, so frisch uiul lachen d. Ach wiefreute ich mich

    Zu spät

    Menschen, die ein Glück, dem sie begegnen, vernichtet — Menschen,die nur einmal lieben, nur einmal und dann nie mehr, — Menschen,die an Liebe sterben — ja, die soll es geben, — — soll es geben.

    CALSARKON.

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    ALKIBIADESAN DER LEICHE DES CHARMIDES

    Stene aus dem l. Akte vun llulgcr Drachmanns Drama .Alkibiadcs*(Auf der Agora von Athen, nach ts. Charmid es ist vun I haiax, dcm Ncbcnhiililer des

    Alkibia des um die Gunst der Heiare Timatidra erschlagen wurden . Alkib iades veriulgtden Mörder; zurück bleibt Ax io ch us , der Unkcl des Alkibiades, ein.Lebemann)

    A x i o c h u s .Da liegst Du nun Charm ides So schnell in Hitze — und nun so

    plötzlich abgekühlt. Na Murgen werden alle Hetären Athens in Sackund Asch e liegen um Dich. (™ Alkibiades, der zurückkommt). Hast DM ihnerwischt?

    A l k i b i a d e s .Wie Hektor könnt er laufenUnd m einen P atro klo s? — E rschlug er ihn ? (beugt sich nieder).So sprich doch Freund, mein WaffenkameradStier mich nicht an mit diesen kalten Blicken.Ich liebte Dich, mein tapfrer Zeltgenoß;

    Ich liebt im Lager Dich und hoch zu Roß,Und wenn im Kampfe, Rücken gegen Rücken,Der Feinde Ansturm trotzig wir ertrugen. —Warst Du mir Mann, so unter Mannes Wille,Gab ich als Weib mich Deiner Liebe hin

    A x i o c h o s .Toten Mannes Ohren hören nicht) Was frommt ihm da 'no ch' ein e

    Liebeserklärung.A l k i b i a d e s .

    Acht Der herrlichste Jüngling Athens war er; das Kunstwerk derGötter.

    A x i o c h o s .

    Große Trauer schafft Ü bertreibung. Du vergißt Dich selbst.A l k i b i a d e s ( w ir tt s ic h üb er d i e L e ic h e) .

    Charmides — mein Charm idesA x i o c h o s .

    Sieh da kom mt Timandra. Wirf doch ein Auge auf sie zur Ab-wechslung

    (Der Tag beginnt zu grauen, Timandra tritt vur).

    Ti m a n d r a .Wir wollen Frieden schließen — Alkibiades I

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    o o AI KIHIAUUS o o 3Q 9

    A l k i b i a d e s .

    Du hast kein Herz; hast nur ein Scheines Haupt.Für Mitgefühl doch ist darin nicht Kaum.Es birgt die weiße, hoheitsvolle StinteNur eine vollbesehriebne Rechentafel,Worauf nach ihrem Zahlenwert geordnet,

    Der keilte nach, die Freunde Du geschrieben.Ueh heim, und salbe Dich mit Wuhtgeritclieit;Die Wange schminke, doch nicht lauger weile,W o, wie die Wahrheit sclutiinkchis, mein FreundNun totenbleich /.um Hades niedersteigtI

    Ti m a u d r a .Wir zwei, mein Alkibiades, wir gleichenVielmehr einander, als Du selber denkst.Mir spreche nicht von Schminken und von Salben,Von Schönheitsmitteln, die wir beide nützen,Zu mehren beide tinsrer Heize Zahl;Zu fesseln unsre Freunde, Männer — Frauen,

    Und zu zertreten tinsrer Neidei Tücke —Ducli wenn vom Herzen Du mir sprichst, so wisse:Ihm schenktest Du das Deine, mir nur Gold;Und diese Brust ist dennoch, ach so voll,So voll von Liebe und von Mitgefühl,Daß ich nun schöpfen kann aus meinem Reichtum,Und spenden ihm, dem Eigner Deines Herzens.

    (Sic Idst die i t lmiici i vtn i l i r un G L - W. U U 1 und kniet niedere.

    Hier streu ich Blumen vor dein Götterbild;Aus jedem Blutenkelch fallt eine Träne,Und jedes Blatt ist duftduiclitiankte Sehnsucht.

    (ü l lL ' l l t l i l u l l lCI l )

    So ruhe nun Charmides, ruhe sauft;

    Den Hügel häuften Dir Tituaiulras Haben,So voll von Duft, daß sie mit Iltis UtileDes To d es Wangen selbst in Flammen setzten.

    A l k i b i a d e s(reiüt sich den Kratz au* dem Haar}

    Horst Du, wa s sie sae,t CharmidesV Soll ich mit einer Hetiirewettteifern? — W uhlanl Sieh, hier sind zerrissenen Herzens Worte türjeder gebrochen en Blume Blatt. Ich streue sie auf Deinen schönen

    i310 o o DER EIGENE o o

    Leib, und Anikas Gärten werde ich plündern, auf daß in des Früh-lings ganzen Wohlduft m ein toter Freund sein Haupt versenken mag.

    (Die Freunde des Alkibiades mit Hetären und Fldtenspicleripncn treten aul).

    A x i o c h o s .Da sind sie scho n, alle öffentlichen Anlagen ) Pflücke sie nun.

    A l k i b i a d e s(entreißt den Weibern Kranze und Blumen; dergleichen tun die Freunde. Sie bestreuen

    den Toten).

    Nun stimmet den Trauermarsch an, Flötenspielerinnen; ihr aber,Freunde, hebt ihn auf und traget ihn sanft. — Eine Leichenfahrt wollenwir ihm bereiten, von der ganz Athen sprechen soll t

    P o l e m a r c h .Wo sollen wir Charmides hinbringen?

    A l k i b i a d e s .Heiml

    T h r a s y b u l o s .Doch nicht so — in nächtlichem Aufzug? — De s alten Vaters

    Herz möchte darüber brechen.

    A l k i b i a d e s .Heim zu mir

    A x i o c h o s .Und Hipparete? Bist du ihres Dankes auch gewiß für solch

    besonderlich Schauspiel?

    A l k i b i a d e s .So tragt ihn nach Timandras Haus

    Timandra (iroh).Zu mir? Meiner Fürsorge willst du ihm vertrauen?

    A l k i b i a d e s .Erweise ihm, wenn du mich wirklich liebst,An meiner Statt die letzte, hohe Ehre.Und für den Obolos, das Frachtgeld Charons,Drück deine Lippen auf den kalten Mund,

    Daß unser Freund, erwachend, mag sich wähnenVon Aphroditens Armen sanft umschlungen.(nimmt einem der Weiber die Lyra) I

    Nun schreitet dreimal um Apollos BildUnd hebet sachte nur die zagen FüßeZu traurig süßer Flöten Tränensang —Ob nur der Morgentau die Wangen feuchtet? —O, du, noch jüngst so morgenfrisch und froh,Dir weih ich jetzt des Todes Abendltymne

    Aus dem Dänischen übertragen von OTTO WETTER.

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    o o IUI I 1 1.1 I N D S C I l A i T

    DIE FREUNDSCHAFT

    I round Genügsam ist der Wescnleuker —Schämen sich kleinmeislerisehe Denker,

    Die so ängstlich nack Gesetzen spalm -•Geislerreich und KörpcrweltgewühleWalzet eines Rades Schwung zum Ziele.

    Hier sah es mein Newton gclm.

    Sphären lehrt es, Sklaven eines Zaumes,Um das Herz des gm eu Weltenraumes

    Lahyriuthenbalinen zielm —Geister in umarmeiuleii SystemenNach der großen (»eistersonne strömen,

    Wie zum Meere Hache- flielut.

    Wars nicht dies allmächtige Getriebe,Das zum ewgeil Jubclbund der Liebe

    Unsre Herzen aneinander zwang?Raphael, an D ein em Arm — o WonneIWag auch ich zur grollen Geislei sonne

    Freudigmutig den Volleuduugsgaug

    Glücklich glücklich Di ch hat) ich gefunden,Hab aus Millionen Dich umwunden,

    Und aus Millionen m ei n bist Du —Lall das Chaos diese Welt mnriilleln,Durcheinander die Atomen schütteln;

    Ewig flichn sich unsre Herzen zu

    Muli ich nicht aus D ei ne n FlammenaugenMeiner Wollust Wiederslrahlen saugen?

    Nur in D ir bestaun ich mich —Schoner malt sich mir die schone lirde,Heller spiegelt in des Freunds Gebärde,

    Reizender der Himmel sich.

    o o DER EIGENE o o

    Schwermut wirft die bangen Tränenlasten,Süßer von des Leidens Sturm zu rasten,

    In der Liebe Busen ab;Sucht nicht selbst das folternde EntzückenIn des Freunds beredten Strahlenblicken

    Ungeduldig ein wollüstges Grab?Stund im All der Schöpfung ich alleine,

    Seelen träumt ich in die Felsensteine,Und umarmend kUSt ich sie —

    Meine Klagen stöhnt ich in die Lüfte,Freute mich, antworteten die Klüfte,

    Tor genügt der süßen Sympathie.

    Tote Gruppen sind wir — wenn wir hassen;Götter — wenn wir liebend uns umfassenI

    Lechzen nach dem süßen Fesselzwang —Aufwärts durch die tausendfachen StufenZahlenloser Geister, die nicht schufen,

    Waltet göttlich dieser Drang.

    Arm in Arme, höher stets und höher,Vom Mongolen bis zum griechschen Seher,

    Der «ich an den letzten Seraph reiht,Wallen wir einmütgen Ringeltanzes,Bis sich dort im Meer des ewgen Glanzes

    Sterbend untertauchen Maß und Zeit.J—

    Freundlos war der große Weltenmeister,Fühlte Mangel — darum schuf er Geister,

    Selge Spiegel seiner SeligkeitIFand das höchste Wesen schon kein ^Gleiches,Aus dem Kelch des ganzen Seelenreiches

    Schäumt ihm — die Unendlichkeit.

    SCHILLER

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    o o STKK IH ICIITCII KN o o 315

    STRE1FIJCHTCHENDiejenigen, die vorgeb en, die Scham gepach tet zu haben, sind ge -

    wohnlich die Schamlosesten.*

    Wer mit dreckigen Augen herumlauft, auch wenn er dabei sichmit einem V orrecht brüstet, w ird statt Helena in jedem Weib e eineMetze erblicken.

    Den Walkürenritt mitgemacht zu haben, schützt noch lange nichtvor einem Buliret|uiem, so wenig, wie die diebische Elster vor demStabal matcr.

    Allen denen, die im Himmelreich des Körperlichen nicht die Hinter-türchen für ihre verlogene Legitimation finden, wie an den „Pfortender klerikalen Seligkeit, ist die Schönheit eine Ketzerin.

    Mit den Hausierern der Frömmigkeit läßt sich nicht rech ten: sieübersetzen das Faustbekenninis stets in die Wo rte: „Geschäft ist Alles,umnebelnd Laienhirn —

    *Vom Feigenblattfabrikanten zum üuiumiWarenlieferanten ist nur

    ein halber Schritt, nicht einmal ein ganzer.*

    Die verdo rbene P hantasie ganzer Zeitalter hat sich mit all ihrenOpfern bei denen zu bedanken, die als Lehrmeister der Sitten unsitt-liche Sittlichkeit predigen.

    *Die Natur wird erst do rt bedenklich, w o sie ihre Besserwisser

    zum Narren hält.

    Dem Unreinen ist Alles unsauber, blo s nicht die Anmaßun g derImpotenz, öffentliche Moralgeseize feilzubieten.

    Die Neugierde ist eine natürliche Stufe der Wissensfrucht: ab erdie Moralisten sorgen dafür, daß sie nie aufhört, im Trüben zufischen und nie sich erlau bt, den Sündenfall der Erkenntnis zu be-gehen

    316 o o DER EIGENE o o

    Nicht die unreife gemeine Sinnlichkeit geniert ie hierarchischenDiplomaten, sondern jene erwach sene, mündig gew ordene Erlaubnisder Augen und Ohren, welche zur Selbständigkeit der Sache führt Die klerikale Politik weiß überall in Praxis den gemeinen Triebender Masse gegenüber ein Auge zuzudrücken — auch wenn sie sie in

    der Kanzeltheorie verdam mt — auf Zusicherung genüg ender Geg en-dienste, zu denen sich nichts geeigneter erweist, als die appro bierteRückständigkeit v on Herz und Hirn. —

    Um den Menschen im blinden Gehorsam und in der dazu ge-eigneten Ohnmacht zu erhalten, gibt es kein besse res Mittel, als ihmsein Wachstum zu verdächtigen.

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    LUCIFER HIDUS

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    o o LIUJK5UEÜ o o

    LIEBESLIEDLiebst Du den Leib, liebst Du die Seele? Sprich

    Ich weiß es nicht, allein ich liebe DichIch liebe Deines Mundes stumme Pracht,Des cilgcn Herzens rothewerte WachtUn d seiner Worte bunlbcwcgtc Schar

    Un d Deine Krone Dein gekraustes Haar

    In dessen glänzend goidbeschwertem Blond

    Sich zwanzig Jahre schon di e Sonne sonnt

    Und ihre reinsten Strahlen drin verliert;Ich liebe Deine breite Hrust, geziert

    Mit Purpur und wie eine Brünne blankUnd Deine Füße, stolz uiul stark und schlank.Dir strahlt der Stirne Adel wie ein Stern,Wild und bestandig, allem Staube fern,Und Deiner Augen klares Feur erhelltDie formlos finstre gramverwahrte WeltMit also süßem Licht, daß jeder Hauch,Der los sich lost aus ihrer Nebel Bauch,Und drohend her zu Deinem Antlitz wehtEntsetzt sich flüchtet oder untergehl:Des Kiesen Grimm wird Dir ein seufzend Nichts;Ja, Du bist Heim und Quelle alles LichtsUnd alles Muts, der jemals Kampf begann,

    Und Anmut, welche Keiner lernen kann.Denn ob Dein Haupt sich lächelnd zu mir neigt,Üb Deine niegcküßle Lippe schweigt,Ob es vergessne Paradiese gibt,Dich lieb ich mehr, als je ich mich geliebt

    Ob deshalb meine Seele singt und klingt,Weil ihm da s kühne Auge Nahrung bringt,Da Du durch Zufall, der kein Zufall ist, .

    b. s.mo DER EIGENE o oVon allen Schönen hier der Schönste bist? V"Tk dß ^Wohl fühlt und weiß des B lutes dunkler Sch lag: £)< J21AVA U . - J U J URings ruht die Nacht und frißt den jungen Tag, r ir .__Doch alle Deine Pracht war längst verlebt, f~ * - ^ A e r u ^ l LWar Deine Seele nicht hineingewebt,

    Hineingewirkt, hineingewachsen, wieIn bunter Töne Tanz die Melodie.Wenn Aug in Auge, Lipp in Lippe dringt,Wenn Dich mein Arm in heißer Kraft umschlingtUnd ohne Worte wild Dein Haupt umfaßt,Wie leicht, wie lieb schien mir des Lebens Last,Weich seine Hand wie weißer Tauben FlugUnd kühl sein Brand und selig sein Betrug:Leib ist und Seele wunderbar verschränkt,Du hast mir, was Du scheinst und bist, geschenkt

    Und ob mein Blick Dich niemals reih ersah,Bin ich verwandt mit Dir und ewig nah;Mögen die Tage enden und das LichtZur Nacht sich wenden: pich verlier ich nichtDenn suchen werd ich nach Dir ohne RastUnd wie die Sonne den Demanten faßt,Werd ich Dich finden, wenn als dunkler TauDu traurig ruhst in tiefer Schluchten Grau;Mein starker Tritt wird krachend Dich befrein,Wenn trüb Du lächelst durch des Eises Schrein;Schläfst Du als Echo an der Alpen Tron,Ich wecke Dich mit jubelnd hellem Ton;Birgt Dich als Knospe schwarzer Zweige Reich,Ich schmeichle Dir mit Lenzluft warm und weich,Wärme die rauhe Rinde bis ins Mark,

    Bis Du hervorbrichst königlich und stark.Wo Dich mein Auge sieht, da bin ich Dein,Was mir alsdann geschieht, ich geb mich drein —Du bist dem Herzen, das Dich ganz versteht,Wie eine Sonne, die nicht untergehtIAll meine Liebe hat das heiße BlutZu Stahl gehämmert, der im Herzen ruht,Zu Licht entflammt, daß Dich und sich erfreut,Zur Blum entfaltet, die sich stets erneut

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    o o LIU1KSLIED o o

    LIE ESLIED

    Liebst Du den Leib, l iebst Du die Seele? SprichI

    Ic h we i l es nicht , a l le in ich l iebe DichIch l iebe Deines Mundes s tumme Pracht ,Des ei l ten Herzens rnihewcrte WachtUnd seiner Worte Iwulbcwcgtc ScharUnd Deine Krone, Dein gekraustes Haar,In dessen glänzend goidfoescliwertem BlondSich zwanzig Jahre schon die Suuue sonntUnd ihre reinsten Strahlen drin verl ier t ;Ich liebe Deine breite Hrusl, geziert

    Mit Purpur und wie eine Brünne blankUnd Deine Ril le , s tolz und stark und schlank.Dir s t rahl t der Sinne Adel wie ein Stern,Wi ld und beständig, a llem Staube fern,Und Deiner Augen klares Feur erhel l tDie formlos f instre gramverwahrte WeltMit also süßem Licht , daß jeder Hauch,Der los sich löst aus ihrer Nebel Bauch,Und drohend her zu Deinem Antl i tz wehtEntsetzt s ich f lüchtet oder untergeht:Des Kiesen Grimm wird Dir ein seufzend Nichts;Ja, Du bist Heim und Quelle alles LichtsUnd al les Muts, der jemals Kampf begann,

    Und Anmut, welche Keiner lernen kann.Denn ob Dein Haupt sich lächelnd zu mir neigt.Ob Deine nicgeküßlc Lippe schweigt ,Ob es vergessne Paradiese gibt,D ic h l ieb ich mehr, a ls je ich mi ch gel iebtI

    Ob deshalb meine Seele singt und klingt,Weil ihm das kühne Auge Nahrung bringt ,Da Du durch Zufal l , der kein Zufal l is t , .

    o o DER EIGENE o o

    Von allen Schönen hier der Schönste bist?Wohl fühlt und weit des Blutes dunkler Schlag:Rings ruht die Nacht und frißt den jungen Tag,Doch alle Deine Pracht war längst verlebt,War Deine Seele nicht hineingewebt,

    Hineingewirkt, hineingewachsen, wieIn bunter Töne Tanz die Melodie.Wenn Aug in Auge, Lipp in Lippe dringt,Wenn Dich mein Ann in heißer Kraft umschlingtUnd ohne Worte wild Dein Haupt umfaßt,Wie leicht, wie lieb schien mir des Lebens Last,Weich seine Hand wie weißer Tauben FlugUnd kühl sein Brand und selig sein Betrug:Leib ist und Seele wunderbar verschränkt,Du hast mir, was Du scheinst und bist, geschenkt

    Und ob mein Blick Dich niemals reih ersah,Bin ich verwandt mit Dir und ewig nah;

    Mögen die Tage enden und das LichtZur Nacht sich we nden: P ic h verlier ich nicht 1Denn suchen werd ich nach Dir ohne RastUnd wie die Sonne den Demanten faßt,Werd ich Dich finden, wenn als dunkler TauDu traurig ruhst in tiefer Schluchten Grau;Mein starker Tritt wird krachend Dich befrein,Wenn trüb Du lächelst durch des Eises Schrein;Schläfst Du als Echo an der Alpen Tron,Ich wecke Dich mit jubelnd hellem Ton;Birgt Dich als Knospe schwarzer Zw eige Reich,ich schm eichle Dir mit Lenzluft warm und weich,Wärme die rauhe Rinde bis ins Mark,

    Bis Du hervorbrichst königlich und stark.Wo Dich mein Auge sieht, da bin ich Dein,Was mir alsdann geschieht, ich geb mich drein —Du bist dem Herzen, das Dich ganz versteht,Wie eine Sonne, die nicht untergeht All meine Liebe hat das heiße BlutZu Stahl gehämmert, der im Herzen ruht,Zu Licht entflammt, daß Dich und sich erfreut,Zur Blum entfaltet, die sich stets erneut

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    3 o l.ll liLSULU c o 32 J

    Wohin die Jahre all versunken sind,Die langen, weiß ich nicht, geliebtes Kind;Doch jeder ihrer Augenblicke warErfüllt von Dir und trug bekränztes Maar,Zog zarten Zauber rings tun mein Revier,

    Nicht unter Menschen lebt ich, nur mit DirAls Gabe hell die tote Zeit zurück,Was unvergänglich Dir und mir: ein Glück. — —So ward ich reicht Ist auch der Herbst verdorrt,Es schläft ein Lenz in dürren Asten fort,Und in uns wogt und wärmt und rollt und ruhtDer Soiiimcrsoiinc iinzufriednes Blut.

    WAL HIER EHBENFR1E0.

    RUHENDER MARS

    VERLORENES GLÜ K

    Ich ging wohl über die HeideIm Sternendammerschein Ich dachte, wie einst wir beideHier wandelten zu zwein.

    Es wallte der weiße NebelEmpor aus Wald und MoorUnd hüllte Busch und GräserIn zarten Silberflor.

    In zauberhaftem WebenErstieg Dein teures Bild

    ; Zu geisterhaftem Leben,; Das nie mein Sehnen stillt.

    Du bist von mir gegangen,'Zu suchen neues Glück,Und hältst mich doch gefangen,Kehrst Du auch nie zurück.

    Ich ging wohl über die Heide,Durchs tauige Grasermeer. —0, ewig wehes Scheiden,

    ' Grausames Nimmermehr —R. V.

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    HEINRICH VOGELER-WORPSWEDE

    Heinrich Vogeler gehurt jener kleinen Grup pe vonMalern an die sich in dem niedersächsischen MoordorfWorpswede am Weyerberg unweit Bremen niedergelassen haben um ihre Talen te aus der ruhigen und innigenVertiefung in eine an intimen Schönheiten reiche Natur sichentfalten zu lassen. Diese Maler sind Fritz Mack ensen derGriihlerisclie; Otto Modersohn der Träumerische in derLandschaft; Fritz Overbeck der Wu chtig e; Hans am End eder Klare; Carl Vimnien der Farben reiche; Heinrich Vogelerder Puet. Er und Macke nsen bilden die beiden kontrarenEndpunkte der Gruppe.

    Mackensen ein Psycholog derb potenziert mannlichschöpft sein Können lediglich aus intimer Beobac htung. Erist ein Realist von ernstem Charak ter; seine Men schen sindreif und haben zumeist die Mühen des Lebens gekostet.Seine Landschaften sind herb. Er hat hervorragende malerischeQualitäten. Die lyrische Note befindet sich in seiner Kunstso gut wie nicht.

    Sein Gegensatz ist Heinrich Vogeler.Am Fuße des Weyerbergs dicht vor dem Wald liegt

    ein altes weißgestrichenes niedersächsisches Bauernhaus.Sein Besitzer hat es im Laufe der Jahre nach seinen Neigungenumgebaut. Er hat eine trauliche Mansarde daraufgesetztim Geschm ack des Em pire und sie mit dicken weißenUrnen flankiert. Er hat eine freundliche weiße Estrade vordas Haus gebaut um die sich im Sommer rote Rosen rankenund sie wiederum mit den geliebten weißen Urnengeschmlickt. Grüne Lüden hängen vor den niedlichen Fensterndie besetzt sind mit altmodisch en Blumen. Vor der Türund zu Füßen der Estrade stehen steife Oleander- undLorbeerbäumchen.

    3 6 o o ER EIGENE o o

    Der breite Haupteingang zu diesem altväterlichen Hausliegt auf der einen Giebelseite und ist von den mächtigenKronen zweier Kastanienb äume besch attet. Betrittst Du diekühle geräumige Diele so siehst Du ringsher auf den Gesimsen alte Geräte au s Zinn und andere Zieraten in denFormen der Vergangenheit prangen schöne anheimelndeSachen alten Familien in der Worpsw eder Gegend entstammend . Hier zur Seite kommst Du in ein winzigesreizendes Zimmerchen das den kleinen Bücherschatz desBew ohners birgt. Dort geht es in eine stille Stube mitseidenen Tapeten und Mahagonimöbeln aus der Zeit desEmp ire. Lugt Dein Auge du rch die niedrigen Fenster sosieht es in einen bun ten Blumen garten der wiederum diealtmodischen Neigungen seines Pflegers errät und hinüberzu den schlanken Räumen und hängenden Zweigen jungfräulicher Birken.

    Hinter dem kleinen Bücherzimmer geht es in ein Atelier.Es kann geschehen daß Du laut auflachst wenn Du dieSchwelle überschreitest weil Dir irgend eine große übermütig gepinselte Kapriole entgegensch aiit ein riesiges rotesblutendes Herz etwa mit dem Pfeil der Liebe hindurchoder ein Männchen oder Schäfchen aus einer Spielzeugschachtel od er Ähnlich es. Aber es kann auch geschehendaß Dir plötzlich ist als trätest Du in einen freundlichenRaum des Fried ens ein wenn nämlich vor Dir auf derStaffelei ein Bild in maienzarten Farben sich erhebt einHain von Linden und blühend en Rosen darin am Randeeines Bachleins weit von der Welt und ihrem Lärmen ent

    fernt zwei junge Menschen in der Umarmung der Liebewandeln. — Das Atelier zeugt von der vielseitigen Beschäftigung seines Bewohn ers. Man sieht da Kupferplattenmit begonnenen Radierungen; Kohlen- Feder- und Bleistiftzeichnungen; Studien in ö l; Blumen Zweige und bunteGräser ; Entwürfe zu Möbeln zu Tepp ichen zu Buntpapieren zu Tapeten; Zeichnungen für Buchschmuck undsolche für Stoffe und Gew änder. Hier hängt eine Guitarre

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    o l l l-INKICII VoULI.U K-WOK I SWI.DK o o ^ 7

    und ein ewig geöffnetes Klavier. Schaust Du aber durchdie Fenster hinaus, so siehst Du wieder die lieblichenZweige der Birke schwanken, des Magdleins unter denBäumen.

    Das w eiße Haus am Weyerberg ist der Barkenhoff undsein Bewohner der Maler Heinrich Vogeler.

    Mackensen ist der Wurpsweder Charakterist, Vogelerder Worpswede r Dichter. Er betrachtet die Welt und ihreMenschen nicht mit den Augen des psychologischen Beobachters wie jener, sondern vor allem mit einem reichenpoetischen Empfinden. Seine Landschaften sind Stimmungenmit dein vertieften üehalt der mannigfachen WorpswederMotive. Er ist nicht der Mann der gewalligen Stimmungen,wie wir sie von üverb eck iiiul Modersohn kennen. Erlebt sich nicht in den Aufruhr hinein, er sucht nicht dasGewaltige der Natur zu bannen, wir haben keine Moor-

    bikler, vom Sturm zerpeitschl, oder drohen de Wolkenmassenvon ihm, oder Gewitter, die über den W eyerberg ziehen,Bilder, wie eigentlich alle anderen Worpsweder gemalt haben.Nein, seine Landschaften sind idyllisch, sanft, Fried ensbilde r.Er liebt vor allem den Frühling und liebt ihn mit seinemganzen schwärm erischen Herzen. Birke und Linde stehenihm von den Bäumen am nächste n. Besonders die dünnenSt. imme und Zweige der Fiühlin gshirk c hat er immer w iedermit zarten Mitteln gedichtet. Die Linde verwen det er gernals dekorativen Hintergrund bei figürlichen Darstellungen.Vogelers Fiühlingsbirken, die eine sehr persönlic he Notehaben, sind äußerst charakteristisch für ihn. Sie sind fein

    und schlank und muten zuweilen wie lebende Wesen an,wie junge blasse Menschen mit träumenden Häuptern, dieim Frühling stehen und seinen Segen auf sich niedergehenlassen. — In dem Grün der Wiese n, d as er malt, blühendie bunten Blumen des Frühlings, Krokus, Tulpen, Margueritenund gelbe Butterblumen. Den für die Wo rpswed er Landschaft bezeichn enden K anälen und flachen Ufern der Hammebegegnen w ir auch bei ihm. Er liebt es, lange, dunkle

    3 8 o DER EIQENE o o

    Kähne mit ruhig emporragenden Segeln langsam auf demschmalen W asser dahintreiben zu lassen, wodurch eine b edeutende dekorative Wirkung erzielt wird. Das niedersächsische, strohbedeckte Bauernhaus mit seinem weiblich-grauen Kalk- oder roten Backstein-Wänden fehlt nicht.Die Stilisierungen greifen auf eine freundliche Verg angenheit zurück. So sehen wir Häuser, für die der Barkenhoffvorbildlich war, oder wie wir sie noch aus unserer Kindheit her von den Gärten u nserer Großeltern kennen. DieFarben sind meist weich, licht und m ilde, zuweilen vonreizvoll gebrochenen Tönen.

    Der Accent von Vogelers Bedeutung liegt nicht in derLandschaft als solcher, wie bei den anderen Worpswedern,mit Ausnahme Mackensens. Vogeler interessiert da ammeisten, wo er figürliche Darstellungen in die Landschafthineinbringt; da, wo er sie mit dem Fühlen still in ihrwandelnder Menschen vermählt. Die Menschen sind

    nun, zumeist, wie die Landschaften selbst, Geschö pfe desFrühlings.Vogelers Frühlingskinder sind zumeist keine Gestalten

    aus der W elt -unserer Tage. Der poetische Sinn diesesKünstlers greift in romantischem Sehnen zurück in dieblauen Tage einer Zeit, wo der Ritter das Fräulein liebte,da es Knappen in weichem Sammet und schimmernderSeide gab, d a das Schloßfräulein auf den Zinnen d er väterlichen Burg im Abendg lanz stand und hinau sblickte auf dieruhenden Felder, ob es den nahenden Geliebten nicht sähe.Vogeler erträumt sich mit Vorliebe so eine golden-rom antische, etwa mittelalterliche Zeit, nicht so wie sie jemalshistorisch war, sondern so, wie sie seinen Träumen holderscheint, eine Welt, die eigentlich nur eine Welt der Gefühle ist, losgelö st von Ort und Zeit. Er stellt jungeKnappen in langen Röcken aus karmoisinrotem Sammet dar,das Schwert an dem goldenen Gurt und eine stählerneHaube auf dem lockigen Haupt. Schlank e Mäd chen mitgroßen Augen und langherabwallenden, lichten Gewändern.

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    o o HEINRICH VOliliLliK-WOKI'SWK OI: 0 o 3 2 9

    Mildchen mit duftendem, über die Ohren herabgekämmtemHaar und feinen Gliedern; mit still sinnenden Zügen unterdem blauen Auge und schmalen weißen Münden wie sieRosetti liebte. Diese jungen Ritter und Mildchen wan derndurch den F rühling und lieben einander. Sie lieben sichtief und schweigend, mit einer Liebe, die keusch und heiligist wie der Frühling, in dem sie blüht. Vugeler verstehtes wundervoll, diese reine stille Liebe, die den einen Menschenzum anderen mit tiefem Sehnen hinüberzieht, zwischen zweijungen Leuten zu gestalten und mit der umgebenden Naturin schfmen Einklang zu bringen. Er laßt seine Liebespaarein langsamem Sch reiten und Arm in Arm unter hellen Birkenwandern oder an knospenden Rosen mit hohen Stammenvorbei. Er laßt sie in einem blüh enden Garten stehen undin stummer, weltvergessener Um armung sich küssen, wa hrend d ie Nachtigall aus dem Rosenb usch schlügt und hintendie runden Kuppeln grün ender Linden raun en. W ahrend sie so beieinander stehen, will es scheinen, als seiendie beiden Gestalten in ein groß es, inniges Gefühl verschmolzen. Er laßt sie auch gern auf einer einsamen Bankbeisammen an einem Hügel sitzen und trauinend in dieFerne schauen, wahrend die Sonne vergeht und die Zinneneiner fernen Burg im Abendrot erglänzen, und das blondeHaupt d es Mad chens sinkt langsam an die Schulter desGeliebten nieder, der seinen Arm in glücklichem Empfindenum das Leibchen seines Fräuleins legt. Vogeler hat diesesThem a verschiedentlich variiert, mit Vorliebe so, daß dieLiebenden dem Bescha uer den Rücken wenden. Am glücklichsten ist das Motiv wohl auf einer Radierung „Idyllezum Ausdruck gebrach t. Eine allegorische Figur der Minne,ein schönes Madchen mit langem Haar, sitzt hier zu Füßendes liebenden Paares im Grase und greift auf einer Lautegroße Akkorde, die diese Szene menschlichen Glücks zueiner Sinfonie verklaren. Auf einer anderen Radierung„Im Mai ist das Paar auf der Bank, dem Betrachtendenden Rücken kehrend, ein Paar des Alters, das in beschau-

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    lichem Erinnern auf die w erdend e Natur und die stillenHäuser von Worpswede niederblickt.

    Neben den Figuren aus einer erdichteten Ritterzeitziehen den K ünstler vorzüglich die Menschen aus jenenaltväterlichen Tagen an, wo die Männer mit langen Röcken,

    Vatermördern und breitkrempigen Cylindern einherschritten,wahrend die Mädch en ihr in großen Locken geringeltes Haarauf die Schultern niederfallen ließen und über d er Brustgekreuzte Spitzentücher trugen. Zu dem Stil jener friedlichen Epoche, die wir die Biedermeierzeit heißen, hatVogeler sehr reiche Beziehung en. Er liebt dicke Rosen -guirlanden, die sich in einfachen Bogen schling en, Urnenmit Blumenkränzen und Oleanderbaumchen mit rundenKronen. Er trauint gar zu gern in der Vergangenheit undläßt die lärmenden Tage unserer Zeit in dem entlegenenWorpswede gern in nicht berührender Ferne an sich vorüberziehen. Er schafft sich im Gegensatz zu den schnell

    lebenden Menschen der Gegenwart leidenschaftslose, stille,glückliche Gestalten, die der Natur ganz nahe stehen, derenGlück in einer romantischen Sehnsucht und in der Liebezu einem zärtlich empfindenden Herzen liegt; Menschen, diegern die Laute schlagen und die Glocken über die Felderklingen hören; die auf den Sang der Vögel und das Gemurmel der Quellen lauschen; die ihren Madchen Veilchenpflücken und fromme Worte sagen; die in das Getümmelder großen Welt nicht passen würden.

    Es wäre seltsam, wenn ein Mensch, der sich so gern indie weit- und zeitenfernen Gefilde naiven Empfindens hinein-träumt, nicht zu einem Künder der Poesie des Märchens würde.Und Vogeler ist in der Tat ein Märchenkünder wie sie nichthäufig sind. Er hat sich für seine märchenhaften Darstellungenvorzüglich der Radierung bedient, die er mit beson derer Vorliebe und besonderem G lück pflegt. Seine Themata schließensich teils an bekannte Märchen an, teils sind sie Kindereiner freien Fantasie. Das Dornrö schen-M otiv, da, wo derRitter an das schlafende Prinzeßchen herantritt, um es zu

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    wecken, kehrt mehrfach wieder. Wir sehen den Fruschkönigaus dem Graben springen, einer goldenen Krone entgegen,die fein säuberlich auf einem am Rande des Grabens ausgebreiteten Schnupftuch liegt. Das Märchen von den siebenRaben und dem suchenden Schwesteilein hat ihm als Vorwurf gedient. Dann sehen wir kleine Prinzessinnen mitKronen auf dem glänzenden Haar in den Frühling staunenund sehen buckelige Hexen, die, auf den Stecken gestützt,nach giftigen Kräutern und Pilzen suchen oder über bösenGedank en brüten, in der Dämm erung. In den Märchen -darstellungen kommt auch Vogelers drolliger Humor ambesten zum Ausdruck . Etwas Kindliches, Dum ni-Süüe s steigtauf. Es ist, als wohnten zwei Seelen in diesem K ünstler:die eine zieht ihn zur Gestaltung des innigen, reinen Gefühls,die andere lockt ihn auf das Feld des Schnurrigen, Sonderbaren. So hat er eine schlanke Prinzessin radiert, die voneiner Hohe, unfern der väterlichen Burg, hinab in dieblühen de Landschaft schaut; in der Hand trägt sie einenknospenden Zweig und zugleich die Schnur, die zu einemwollenen Schäfchen leitet, einem Spielzeug, das auf Holzrädern rollt, wie die Kinder es haben.

    Wir sag ten, daß Vogeler mit Vorliebe radiert. Vielleichtdarf man behaupten, dali er in einigen seiner radiertenBlätter, auf denen die Aquatinta immer eine Rolle spielt,bisher sein Bestes überhaupt gegeben h at. Es gibt radierteExlibris von ihm, zu den schönsten gehörend, die in unserenTagen in Deutschland gemacht sind. Besonders gern bedient er sich der Radierung, wir wiederholen es, zur Verkörp erung seiner Märchenfräume. Die Friihlingsmotive sindnatürlich auch hier vorherrsch end. Wieder sehen wir denFrühling belebt von jungen Menschen, die selbst w ie derFrühling sind: von jungen Mädchen zumal, in jenem zartenAlter, wo sich eben aus dem Kind die Jungfrau entfaltenwill. Sie sitzen unter silbernen Birken und schauen lauschend

    en Vögeln in den Zweigen zu, oder sie wandeln sinnenddurch d as Land, und ihre verlorenen Augen gehen über

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    duftende Felder. Das junge Paar, das seine erste Liebeträumt, ist immer wied er zu finden. Es gibt ein entzückend esBlatt von ihm, auf dem wir durch die Zweige eines Lärchenbaumes hindurch zwei zärtlich sich umfassende Menschenkinder in d er Dämmerung des Abends wandern sehen. —Das Thema des To des hat Vogeler mehrfach beschäftigt.So hat er ein Blatt „To d und Alte radiert, keine herbe, ergreifende Szene, wie sie Mackensen gegriffen haben würde,sondern ein Vorgang ohne Schmerzen und Grauen: der Todführt die Alte mit sanften Armen, ein Spe nder des Friedens,der Heimat zu.

    Es bleibt noch Einiges über Vogelers Tätigkeit auf demGebiete der angewandten Kunst zu sagen. Er hat sich besonders gern mit der Ausstattung von Büchern beschäftigt.Für die Zeitschrift „Die Insel , durch die er mannigfachangeregt wurde, hat er Initialen und anderen ornamentalenSchmuck gezeichnet, meist in einer glücklichen Holzschnittmanier. Er hat einige vorzügliche, auch farbig interessa nteÜberzug- und Vorsatzpapiere — die schönsten für eineigenes Versbuch „Dir und für Hugo von Hofmann sthalsDramolet „Der Tor und der Tod —, sowie eine Reihe vonTitelblättern entworfen. Am reichsten trägt die Spuren seinerHand das Buch „D ir (Verlag der Insel): hier stammt Allesvon ihm, bis auf die selbstgeschriebene, fantasievoiie Schriftund die selbstge dichteten Verse. Eine Fülle von anmutigenLinien und Liebesmotiven steckt in dem Buch, das imübrigen ganz nach der zeichnerischen Seite hin angeleg t ist.Von anderen Büchern, die Vogeler mit immer reicher sichentwickelnder Neigung zur Stilisierung geziert hat, seien diefolgenden genannt: Jacobse n: Marie Grubbe (Verlag EugenDiederichs); Salus; Ehefrühling (ebenda); Tieck-Brentano:Märchen (ebenda); Kurt Laßwitz: Nie und immer (ebenda);Forbis-Mosse; Mezzaeoce (Verlag Schuster und Loeffler);Bierbaum: Irrgarten der Liebe (Insel-Verlag); Bahr: Bildung(eben da); Hofmannsthal: Der Kaiser und die Hexe (ebenda);Schaukai: Pierrot und Colombine (Verlag Hermann Seemann

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    ÜEDICHT VON FRANZ EVüRS 2F ICIICHNUNÜ VON FIDUS

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    o o IIEINKICII VOGIiLLR -WOKI'SW UUE o o

    Nnchf.); Bethge: Elisa (ebenda); Bethge: Sonnenuntergang(Verlag Fischer und Franke).

    Zu Gerhart Hauptmanns Märchendrama „Die versunkeneGlocke hat der Künstler einen Cyklus von zehn Federzeichnungen angefertigt (1898). Die Reproduktionen sindfarbig leicht getönt und zu einer hübschen Mappe vereint(Verlag Fischer und Franke). Man bekommt bei Betrachtungdieser Blatter einen guten Einblick in Vogelers zeichnerischeFähigkeiten zur Zeit seiner früheren, ästhetisch noch we nigerkomplizierten Art. Ein Cyklus kleiner VogelerscherRadierungen erschien in einer Mappe mit dem Titel „Ani \t n Frühling (Verlag der Insel), liier findet man Vorzügliches. Ferner enthalten die beiden Worpsweder Mappenwerke „Am Weyerberg und „Aus Wo rpswed e (VerlagFischer und Franke) Radierungen des Künstlers. Dieübrigen Blatter sind einzeln erschienen.

    Es gibt einige in Scherrebeck gewebte Wandteppichevon Vogeler, mit Blumen- und Märchenmotiven (Dornröschen ). Ferner Stickereien, meist Blüten, die von einemsorgfältigen Naturstudium zeugen. Die Reihe der Ex-libris, die rradiert und gezeichnet hat ist groß; sie sind immer vonlyrischer Feinheit und sicherem stilistischem Gefühl. Er hatMöbel entworfen, mit sichtlichem Behagen an der Gemütlichkeit unserer Großväter. Rosen- und Guirlanden-Motiveappliziert er hier gem. Diese Möbel sind ungemein wohnlich und anheimelnd, ohne jede Feierlichkeit, die man sohäufig bei modernen Möbelkon ipositionen findet. GeräumigeSchreibtische mit kleinen Stübchengalerieen und vielenKasten, hellgelbe Betten mit grünseidenen Vorhängen undbehagliche Stühle mit Armlehnen. In diesen Stühlen lassensich poetische Traume spinnen, und alte Erinnerungen, diefast vergessen waren, tauchen, wenn Du beschaulich in ihnenruhst, wieder vor Dir auf.

    Heinrich Vogeler ist im Jahre 1873 zu Bremen geboren.Er schafft auf dem Boden der Heimat, von dem er seinBestes empfangen hat. Seine Entwicklung ist noch in stetem

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    Fluß. Eine ästhetische Verfeinerung macht sich immerstärker bemerkbar. Vogele rs We sen ist eine vornehme Stilleund Weltabgeschiedenheit. Englische Einflüsse über diePrärafaeüten her sind zu verzeichnen ohne daß sie sich auf-drängten. Stärker ist in letzter Zeit eine Bestimmung durchBeardsley in der zeichnerischen Manier. Die zeichnerischenElemente sind stärker bei Vogeler entwickelt als die malerischen. Er ist ein Künstler von Fantasie und einem ebensotiefen wie zarten Empfinden. Ein poetischer Schwärmervon romantischem Sehnen erfüllt. Ein klares Gemüt nachsinnend den blauen Tagen der Vergangenheit und ihrenverklungenen Sagen. Ein lyrischer Träumer vertraut mitdem duftigen Zauber des deutschen Märchens. Ein Künderdes Frühlings und der Liebe. So ist er einem suchendenRitter aus einem zeitenlosen Lande vergleichbar ein Menschder sich aus dem glücklichen Streben nach einem goldenen

    Ziel das Leben zur Kunst gestaltet.DR. HANS BETHGE.

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    D A S P L A U D E R S T Ü N D C H E N

    D ie langweilige Zeichenstunde war endlich vorüber, und dreißigPrimaner stürmten erfreut über den Schluß des Unterrichts diehohen Treppen des Gymnasiums herab, die von dem imobersten Stockwerke de s Gebäudes liegendem Zeichensaale auf diekiesbestreuteu Schulhüfe führten.

    D ie letzten Stunden de s Sonnabend s waren von den klugen Verfassern de s Lehrplans den freien Künsten gew eiht. In der prachtvollenAula sang noch ein Teil des Chores unter der Leitung eines Fachmanns ein Bruchstück aus dem Lohengrin, und mehrere der vomZeichnen kommenden Schüler blieben vor den Türen der Aula stehen,um den exakt ausgeführten Gesänge einige Augenblicke zu lauschen.

    Aber die größten Künstler der Welt hatten dort hinter den hohen vongriechischen Säuleu umrahmten Türen die hervorragendsten Tondichtungen singen können, freiheitslüsterne Primaner waren ihnen am Sonnabend nach dem langen, erst um zwei Uhr beendeten Unterricht einundankbares Auditorium gewesen, und es ist anzunehmen, daß siesolch einem Konzert wenig mehr Aufmerksamkeit geschenkt habenwürden wie den musikalischen D arbietungen ihrer Kameraden.

    Die meisten derjenigen, welche von der Schönheit der Musik angezo gen, vor der Aula stehen geblieben w aren, setzten nach wenigenMinuten ihren unterbrochenen Weg fort, ohne das linde des Gesangesabzuwarten. Auf dem riesigen im hellsten Sonnenlichte liegenden Hofeverabschiedeten sich die Schüler von einander, um sich nach allenmöglichen Richtungen in das Straßengewirr der Weltstadt zu zerstreuen.

    Nur zwei der jungen Leute harrten auf ihrem Lauscherposten aus,bis drinnen der letzte Ton verklungen w ar, und dann erst stiegen siedie Treppen vollends hinab, indem sie sich bemühten, möglichst geräuschlos zu schreiten und recht leise zu sprechen, um nicht denWiderhall der schier endlosen Korridore zu erwecken. Auf dem Hofeangekommen, standen sie einen Augenblick vor dem machtigen Ein-gaugsportale still.

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    8 0 o DER EIGENE o o

    .Ge hen wir noch einmal über den Jungfernstieg, Ernesto? ", fragteder größere von ihnen seinen Begleiter.

    .Ja, aber gern Du weißt, Kurt, ich habe Zeit. Wir dinierenjetzt erst so, so na, wie sagt man doch gleich?«

    .Sehr spat", ergänzte der andere den unvollendeten Satz.

    .Ja richtig, sehr spät«, entgegnete der Ausländer lächelnd. .Als owir gehen noch ein wenig. — D a wo llen w ir aber unsere Bücher beimPedell lassen, nicht wahr?"

    .Natürlich.«

    Sie traten noch einmal in das Gebäude, da s sie soeb en verlassenhatten, ein und stiegen die wenigen, ausgetretenen Stufen hinab, diezu der Kellerwohnung des Schuldieners führten. Sie trafen ihn geradebeim Mittagessen, aber er ließ sich durch den Eintritt der jungenHerren nicht im geringsten stören. D erartige Besuche waren bei ihmkeine Seltenheit.

    .Gute n Tag, Schm alzt«, begrüßten die beiden Freunde ihn wieaus einem Munde. .Schme ckt's?«

    Schmalz nickte schweig end, denn er hatte zuviel .Bildung" ummit gefüllten Munde zu sprechen.

    .Nun, was wünschen denn die Herren?«, fragte er, als er endlichwieder Herr seiner Sprechwerkzeuge ge worden war. ,Ah, sehe schon,soll wieder Bücher aufheben «

    .Jawohl, Schmalz « war die Antwort.

    „Hergegeben Sol Werde sie fortschließenI Sind gut bei mir uf-gehobe n. Sol Und nun die Stocket Nicht wahr?«

    .Jawo hl, Schm alz «

    Seine Hornbrille abnehmend suchte der Pedell aus einer großenAnzahl mehr oder minder eleganter Stöcke, die in einem Winkel desgeräumigen Zimmers standen, zwei dünne, gertenahuliche Spazierstückehervor, die er den jungen Herren hingab.

    .Wollen wollt noch poussieren? Was?" fragte er dann, dicht vor

    ihnen stehen bleibend und seine mageren Arme auf dem Rücken verschränkend. '

    .Jawohl, Schmalz."

    Der Alte lachte in hellen, langgezogenen Tonen..D och nun genug des Plauderns," nahm der Größere der beiden

    Herrn das W ort. .W ir haben keine Zeit mehr zu verlieren." Und mitgeheimnisvoller Stimme fügte er hinzu: .Wissen Sie, Schmalz, unsereDamen warten.«

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    o o DAS HLAtJUEKSTÜNDCHEN o o 3 3 9

    Dann stiegen die beiden freunde lachend zur Oberwelt hinaufund Schmalz setzte sich.wieder an den Eßtisch, nachdem er mit behaglichem Schmunzeln das Markstück, welches ihm der mit Ernestoangeredete junge Mann in die Hand geilrückt hatte, in seinem riesigenPortemonnaie hatte verschwinden lassen. —

    Kurt von Granzog und der junge Marquis von Carm'ageola

    schlenderten Arm in Arm über den in der Mittagsstunde von Menschenwimmelnden Jungfernstieg, jene berühmte Straße, auf welche derHamburger mit Recht ebenso stolz ist, wie z. ü. der Berliner auf seineLinden, der Hannoveraner auf seine Georgstraße.

    Sie freuten sich über die herrliche Alster, auf deren blauem Spiegelstattliche Schwäne ihre Kreise zogen , o hne sich durch die zahllosenlioole, welche das Wasser belebten, stören zu lassen, betrachteten dieAuslagen der großen Geschalte , in deren Schaufenstern die Herrlichkeiten der fünf Erdteile aufgestapelt waren, und betrachteten die Mensch en,indem sie sich gegenseitig auf interessante Erscheinungen in demGewühl der Eußgänger, Reiter und Eahrzeuge aller Art aufmerksammachten.

    Nachdem sie einigemal«: die Straße auf und ab gegangen w aren,trennten sie sich.

    „Also, Kurt,» sagte der Marquis, „ich erwarte Dich bestimmtzwischen fünf und halb sech s. Bis zum Theater haben wir dann nochZeit zu einem schönen P lauderstündchen. — Du, ich freue mich auf dieIphigenia. Und von unserer Loge aus, kann man die Bühne prachtvollübersehen. Ich bin so froh, daß Papa auch im Schauspielhause abonnierthat, obwohl er und die Mama niemals hingehen."

    „Nun ja, sie interessieren sich eben nicht so sehr für das deutscheDrama."

    „Freilich. Die Ellern ziehen die Oper dem Schauspiel vor. — Nachder Vorstellung speist Du natürlich bei uns zur Nacht."

    „Ja, ich werde so frei sein. Also, A dieu, mein lieber Ernesto

    Auf Wiedersehen."„Auf Wiede rsehe n, Kurt. Aber ich bitte Dich, lall mich nicht zulauge auf Dich warten."

    Dann gingen sie auseinander, nachdem sie sich herzlich die Händegeschüttelt hatten. Aber sie wandten sich um, nachdem sie wenigeSchritte gegangen waren, um sich noch einmal lächelnd zu grüßen.

    Die Familie des Marquis von Carmageola weilte erst seit einigenMonaten in Hamburg. Einem der ältesten und vornehmsten Häuser

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    Italiens angehörend, hatte der Marquis die diplomatische Laufbahnerwählt, und zwei Jahre lang hatte er am Hofe zu München seinenKönig vertreten. Ein vorurteilsloser, kunstsinniger Mann, halle er diebayrische Residenz bald recht lieb gewonnen, aber seine Gemahlin, diegleichfalls einer uralten Familie Italiens entstammte, hatte sich trotz derhervorragenden Stellung, die sie am Hofe und in der Gesellschafteinnahm, in München nie recht wohl gefühlt, und als der Baron vonBeauchamp, der mit der einzigen Schwester der Marquise von Carmageolavermählt war, von seiner Regierung als Vertreter Frankreichs nachHamburg geschickt wurde, wußte sie ihren Gemahl, der sie zärtlichliebte, zu bewege n, seine V ersetzung im Quirinal zu beantragen. DerMarquis war selbst nach Rom gereist, und sein ritterlicher König, derden Marquis als einen geschickten und treuen Diener seines Hausesund des Staates sehr schätzte, versprach ihm, seinen Wunsch, nachHamburg versetzt zu werden, so bald wie möglich z erfüllen. WenigeWochen später wurde der Gesandte Italiens aus Hamburg zurückgerufen,und der Marquis von Carmageola erhielt den g ewünsch ten Poste n inder freien Reichs- und Hansastadt, ein Ereignis, weiches sowohl seine

    Gemahlin, wie die Familie Beauchamp mit großer Freude begrüßten.Um seinen einzigen Sohn alle Vorteile des deutschen Unterrichts

    genießen zu lassen, hatte der Marquis ihn schon in München aufsGymnasium geschickt, und auch in Hamburg besuchte Ernesto, der fürseine achtzehn Jahre ungewöhnlich hohe Kenntnisse besaß, wieder eineöffentliche Schule, und er h atte das Glück, in d erselben Klasse, inwelcher er saß, einen Freund zu finden, mit dem er vom ersten Tageseines Aufenthalts in Hamburg an viel verkehrte.

    Dieser Freund war Kurt von Granzog. Ein Sohn des österreichischenGesandten, hatte er sich mit seinem lebhaften Naturell unter den kühlen,zurückhaltenden Hamburgern recht unglücklich gefühlt, und obwohl erfast seit einem Jahre täglich mit einer großen Anzahl junger Leute

    zusammenkam, hatte er doch noch k einen gefunden, dem er nähergetreten war, und er war höchst angenehm überrascht, als er einesMorgens seinen neuesten M itschüler, den- jungen Ernesto Carmageolakennen lernte. Der beweglich e Italiener und der lebensfrohe Österreicherpaßten gut zueinander, und sicher wären sie auch ohne die Ähnlichkeitder sozialen Stellung ihrer Väter und ohne den gemeinsamen Glauben —sie gehörten beide der römischen Kirche an — gute Freunde geword en.Es war natürlich, daß die beiden katholischen Aristokraten bei denprotestantischen Republikanern Hamburgs nicht besonders beliebt waren,

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    und so kam es, daß ihre Mitschüler sich von ihnen, als sie immerintimer wurden, mehr und mehr als von den „beiden Adliehcn, wiemau sie nannte, zurückzogen, und endlich waren die beiden Freundeauch in den Pausen zwischen den einzelnen Stunden meistens allein.Herzlich früh, nicht au der Unterha ltung der übrig en Schüler teilnehm en

    zu m üssen, taten sie nichts, sich ihnen zu nähern, und ein oberflächlicherBeobachter mußte glauben, daß sie dem Stolze der Kaufmaunssohne,welche die Mehrzahl in ihrer Klasse bildeten, den Stolz auf ihre Geburtentgegensetzten. —

    In ihrem Äußern waren die Freunde sehr unähnlich. Kurt vonGranzug, welcher ungefähr ein Jahr alter war als F.ruesto, hatte einehohe, biegsame Figur, ein ausdrucksvolles (iesiehl mit seelenvollen blauenAugen, aus denen nicht mir Klugheit und ein starker Wille, sondernauch wah re Herzensgute sprach . Üppiges blon des Haar und ein kleinerzierlicher Schnurrbart von derselben Farbe milderten den Ausdruck seinervielleicht ein wenig scharf geschnittenen Züge.

    Ernesto war klein und zierlich, und jedes Glied, jede Fiber warbei ihm in bestandiger Bewegung. Sein zartes, mädchenhaftes Gesichtwurde von pechschwarzen Haaren umrahmt, und ebenso dunkel wiediese, waren seine Augen, die manchmal versonnen und traumverlorenin die Feme schauten, iuaucliin.il in hellem Feuer glühend die Leidenschaftlichkeit des jungen Marquis verrieten. Im Besitze einer wunde rvollen Stimme, die durch ihre Weichheit und Schmiegsamkeit jedenHörer be zauberte, durch und durch musikalisch, schien er zum Künstlerbestimmt zu sein, und es war, als ob seine Gehurt in einem Grafen-schlosse eine jener sonderbaren Launen der Natur war, die, uns unverständlich, unsere Kritik herausfordern. Seine lebhafte Phantas ie,sein Beurteilung*- und Hcohachiun gsverm ügcu ließen ihn zum Schriftsteller geboren erscheinen, und seine feinsinnigen, klugen Eltern taten,was sie kon nten, um keine Seile der herrlichen Begabung ihres Sohnesverkümmern zu lassen. Als sein Vater ihn einmal gelragt hatte, waser zu werden gedenke, halte er geantwortet, das wisse er noch nicht,zunäch st w olle er einmal mög lichst viel lernen. Und als der Vaterdann eines Tages unter den Papieren seines Sohnes durch einen Zufalleine grolle Anzahl von Gedichten, Skizzen und kleinen Erzählungenfand, sagte er sich, daß Frncsiu sein Leben einmal der Kunst widmenwürde, und obwohl er gern gesehen hatte, daß auch er die Staatskarriere eingeschlagen hätte, nahm er sich vor, den künstlerischenNeigungen seines Sohnes nicht entgegenzuarbeiten.

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    Im Gegensatz zu Ernesto hatte Kurt bereits seinen Beruf erwählt.Er wollte Offizier werden . Zwei Brüder s eines Vaters bekleideten hohePosten in der österreichischen Armee, und sie rieten dem jungenManne, dessen liebstes Vergnügen der Sport und Leibesübungen allerArt waren, zu, seinen Entschluß, von dem der Vater nicht recht entzückt war , auszuführen. Sobald er die Schule durchgemacht hatte,

    wollte Kurt nach seiner Heimat, dem herrlichen Wien, zurückkehren,um dann in eines der v ornehmsten Regimenter der Hauptstadt einzutreten. Es war nicht mehr ganz ein Jahr bis zur Abschlußprüfung,und in dieser Zeit hoffte er die Einwilligung seines Vaters zu diesemVorhaben zu erhalten. —

    Als Kurt sich von Ernesto auf den Jungfernstieg verabschiedethatte, war dieser bis zur nächsten Straßenecke gegangen, um dort aufeinen Wagen der elektrischen Straßenbahn zu warten, den er benutzenkonn te, um nach d er vom Zentrum der Stadt weit entfernten Villaseiner Eltern zu gelangen. Als er einige Augenblicke dagestand enhatte, tauchte plötzlich m itten auf der Fahrstraße eine hocheleganteEquipage auf, die Ernesto als seinem Vater gehörig erkannte. Er beeilte sich, den Wagen einzuholen, was ihm leicht gelang, da dieser in

    dem furchtbaren Gedrän ge d es Fahrwegs nur sehr langsam von derStelle kam. Der Marquis, neben w eichem noch ein fremder jungerHerr im Wagen saß, bemerkte, als er sich zufallig umwandte, seinenSohn, und sofort befahl er dem Kutscher zu halten. Als der Diener,welcher mit dem gallonierten Kutscher den Bock teilte, den jungenHerrn sah, wollte er hinabspringen, um ihm den Wagenschlag zu offnen,aber Ernesto war schneller gewesen als er, denn bevor der Dienernur einen FuO auf die Erde gesetzt hatte, stand der junge Marquisbereits im Wagen, schüttelte seinem Vater die Hand und verneigte sichvor dem Fremden.

    „Gestatten Sie, lieber Vetter, daß ich Ihnen meinen Sohn Ernestovors telle? wandte sich der Marquis an diesen. Und das Wort anErnesto richtend, sagte er mit eleganter Handbewegung auf seinenBegleiter deutend: „Der Baron Charles von Poutneuf ein Vetter desBarons von Beauchamp.

    „Ich bin entzückt, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Baron , entgegnete Ernesto, dem Herrn die Hand reichend. Dann setzte er sichauf den Rücksitz des Wagens und die edlen Pferde, die schon ungeduldig den Boden gescharrt hatten, setzten sich wieder in Bewegung.

    In der Familie des Marquis von Carmageola sprach man en tweder

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    c o DAS l LAUDI-.kSTUN lJCIII-N 343

    Italienisch ode r D eutsch, und nur in Ausnahmefällen b ediente man sichder französischen Sprache, dennoch haue lirneslu soviel Französischgelernt, um mit dem liaron l ontneuf, der kein deutsches Wortverstand, eine flieüende französische Konversation zu führen.

    .Di e ßeaucha mps speisen heute bei uns , erzähhlte der M arquis,„und w ir alle wo llen d iesen Abend in die Ope r fahren. Mussims„Baibier ist neu einstudiert, und wir treuen uns, endlich eine gute

    italienische Oper zu hören. /.um Nachtessen sind wir im HauseLieauchamp eingeladen. Wirst Du Dich uns anschließen, Erneslo, oderhast Du Dir bereits etwas Anderes vorgenommen

    „Ja, Papa , ich bitte mich zu entsc huldige n. Mein Freund Kurt .wird zu mir komm en, und dann wollten wir in's Schauspielhausgehen.

    „Ja, wenn Dein Freund kom mt , erwider te der Marquislächelnd, „haben wir andern allerdings keine Ansprüche mehr auf Dich.*Und sich zu dem Baron neigend, sagte er mit leiser Stimme einigeWorte, deren Sinn Ernesto nicht verstand, die aber auf dem schönen(jesichte des Franzosen ein leises Lächeln hervorriefen, sodaß man dieherrlichen, schneeweißen Zähne sehen konuleii, die seinen Mundschmückten.

    Der Wagen war vor der prachtvollen Villa des Marquis vorgefahren,und die drei Herren begaben sich, nachdem sie mit Hilfe eines Dienersihre Mäntel und Hüte abgelegt hallen, in das Wohnzimmer, um dortdie Marquise zu begrüßen und ihr die Gaste, welche der Hausherr zumDiner eingeladen hatte, anzukündigen. Man halle erst wenige Minutengeplaudert, als der Schwager und die lustige Schwägerin des Marquis,beide bereits in großer Toilette, eintraten, und die Stunde, die nochbis zur Tafel blieb, flog schnell unter heitern Gesprächen aller Art dahin.

    Nach dem Diner, das etwa eine Stunde gedauert hatte, verabschiedetesich Ernesto von seinen Ellern und Verwa ndten, um sich auf seineZimmer zu begeben. Einem Diener, der ihm auf dem Flur begegnete,sagte er, sobald Herr von Grau/ng da sei, möge mau ihn hinaufkommenlassen, eine besonde re Anmeldung sei nicht nötig. Dann stieg er diebeiden teppichbelegten Treppen hinauf, die zur ersten Etage, in der dieGesellschaftsräume lagen, und zum zweiten S tockwerk führten, in demsich die Fremdenzimmer und seine Gemacher befanden.

    Vier in Verbindung stehende Räume halle sich Ernesto zu seinerBehausung erwählt, und all die tausend Gegenstände, welche dieseZimmer füllten, halle er selbst ausgesucht, und Tapezierer und Dekorateur

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    hatten sich, wenn aucn kopfschüttelnd, seinen Anordnungen für dieEinrichtung seiner Zimmer fügen müssen. Das zugleich als Schreib-und Arbeitsraum dienende Vorzimmer war in tiefroten Tönen gehalten.Schmale Fenstervorhange aus rotem Samt flössen auf den mit Fellenund weichen Teppichen belegten Fußboden nieder und ließen das Lichtungehemmt in das maßig große Gemach fluten, in dessen Alitle einmit elektrischen Glühbirnen versehener Messingkronleuchter hing. Einriesiger, im modernsten Stile ausgeführter Schreibtisch, prachtvolle Bücher-schränke, hinter deren Glasscheiben die kostbarste n Geistesschä ize allerVölker standen , verrieten den Zweck dieses Raumes ebenso deutlichwie die steifen, nicht besonders bequemen Stühle, die an den Wänden,denen jeder Bilderscmuck mange lte, umherstanden . Hinter diesemZimmer lag der Salon Erne stos, dem sich ein kleines zum A nkleide-zimmer eingerichtetes Kabinett und das in blau und weiß gehalteneSchlafzimmer anschloß.

    Ernesto durchschritt das Vorzimmer und den Salon, und begab sichin das Ankleidezimmer, um den einfachen dunkelgrauen Anzug, den erin der Schule zu tragen pflegte, mit einem eleganten Theateran zuge zuvertauschen. Dann kehrte er in den Salon zurück und setzte sich an

    den Flügel von Keys, um bis zur Ankunft seines Fre undes ein wenigMusik zu treiben. —

    Es war ein phantastisch eingerichtetes Gemach, dieser Salon, undwer nicht wußte, 'daß ein Herr diesen seltsamen Raum bewoh nte, hätteihn mit seinen schwellenden, grünseidenen Polstermöbeln, den seidenenVorhängen und Portieren, den lauschigen Ecken und Winkelchen fürdas Boudoir einer kapriziösen Schönen halten können. Aber w ennman sich genauer in dem Salon umschaute, bemerkte man bald, daßman sich nicht in dem Zimmer einer Weltdame befand, denn einesolche hatte kaum Böcklins „Toteninse l und ernste Stiche Dürers audie Wände ihres Gemaches gehängt.

    Ein wunderbares Durcheinander von Möbein de r verschiedensten

    Stile herrschte in diesem Zimmer, aber gerade d iese scheinbare, inWahrheit so raffinierte Unordnung gab ihm reizvolle feine Stimmungen.In einer Ecke stand ein Divan, groß genug, um zwei Personen in seinenPolstern Herberge zu gewähren, und hinter ihm, auf schwarzer Marmor-säule stehend, erhob sich eine schimmernde Achillcusstatue, die Kopieeines berühmten antiken Bildwerks. Statue und Divan, vor dem einzierliches Tischchen aus Palisanderholz seinen Platz gefunden halle,waren von einem Baldachin aus grüner Seide überdacht, von dem zwei

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    3 o UAb l I .AI inUKSTUNDCIIKN o o 45

    lange Schleier zur Erde nicdei hingen, üie aus demselben kostbarenStoff, von duftenden Ketten aus Kosenhob: zu kunstvollen Falten gerafftan den Wunden befestigt waren, Eine Ampel im orientalischen Stilehing unter dem Baldachin, und künstliche Wasserrosen umrankten denelektrischen Leitungsdraht, an welchem die kleine Lampe befestigt war.Ein Schrankchen in der Nahe des Divaus mit wundervollen Einlege-arbeiten enthielt eine kleine Hibliulhek, die L ieblingswerke Emesto saus den Litteraluren aller Völker und Zeiten. Da stan d ein Homer,ein Anakreon neben dem „Don Carlos" Schillers und der „Iphigenie"Go ethes , und auße r Plateiu» foi in vollend eten G edich ten und den BriefenWinckelman ns waren von den m odernen Dichtem Pierre Loti, Adolfvon Wilbrandt und einige andere mit ihren Büchern vertreten.

    Über dem schwarzen Eheiihulzflügel war ein Bild Mozarts an-gebracht, welches den großen Tunkünstler am Klavier darstellte, undnahe bei diesem Stiche befand sich ein Fächer mit einer Anzahl vonPhotog raphien. Meistens waren es Offiziere und Sportsleute ausItalien, die dem jungen Marquis ihre Bilder geschenkt hatten, aber aucheinige deutsche Herren waren in dieser Sammlung vertreten, und unterihnen befanden sich einige bekannte M ünchner Künstler. Diese hattenohne Ausnahme sehwungvolle Widmungen auf ihre Photographien ge-schrieben. Sämtliche Herren, deren Bilder der junge Marquis als An-denken an schon e Tage au fbewahrte, waren älter wie Ernesto, abertrotzdem mußte er, wie mau aus den Widmungen, sow ie aus einigen Auf-nahmen, die ihn selbst mit dem einen oder dein anderen der Herrendarstellten, annehmen konn te, viel und recht freundschaftlich mit ihnenverkehrt haben. Kleine Vasen, welche neben und vor diesem Fächerauf derselben Konsole standen, enthielten einige starkduftende Blumen,welche das ganze Zimmer mit einem leisen, schwülen Hauche erfüllten.

    Ernesto hatte noch nicht die Sonate Mozarts, die er auf gutGlück aus dem Schranke, der seine Noten enthielt, hervorgezogenhatte, zu Ende gespielt, als an der Tür des Vorzimmers ein lautes,energisches Pochen ertönte.

    Das war Kurt Ernesto kan nte die Art und Weis e, mit welcherder Freund sich anzukündigen pflegte.

    Schnell sprang er von dem K laviersliihle auf, um dem Ankomm en-den selbst die Tür zu öffnen.

    „Du siehst, ich bin pünktlich wie die Sünde, Ernesto ," sagte Kurt,nachdem er seinen Freund begrüßt hatte, an seiner Seite das Vor-zimmer durchschreitend.

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    Ernesto schüttelte den Kopf, und eine leichte Wolke des Unmutshuschte über seine S tirn; der eigenartige Vergleich, den Kurt anstellte,schien ihm nicht zu behagen.

    .Ja , Du bist pünktlich — ab er pünktlich wie das Glück," ent-gegnete er, im Salon angekommen und Kurt in einen Sessel drückend ,während er sich auf einen niedrigen Schemel neben ihm niederließ.Wie durch einen Zufall blieb Kurts Hand auf seiner Schulter liegen.

    Kurt schien Gefallen au der Philosoph ie zu finden. „Pünktlichwie das Glück, sagst Du," nahm er das Gespräch nach einer kleinenPaus e wieder auf, „mir scheint, das Glück läßt manchmal arg langeauf sich warten."

    Ernestos Augen starrten in's Weite, und ein wundersamer, stillerGlanz lag in ihnen.

    „Nein," sagte er dann, „da s Glück zaudert nicht. Es kommt zuder Stunde , die ihm bestimmt ist " Und mit einer Hand über die Stirnfahrend, als wollte er so den Ernst verscheuchen, der ihn ergriffenhatte, schloß er lächelnd: „Und da Dir bestimmt war, zu dieser Stundezu kommen, und Du Deine Bestimmung erfüllt hast, da vergleiche Dichlieber mit dem Glück —" Errötend unterbrach er sich, und schnell auf-stehend, fragte er: „Rauchst Du eine Zigarette oder soll ich Dir einenLikör einschenken."

    „Ich mag heute nicht rauchen, aber den angebotenen Trunk nehmeich, wenn Du mittrinkst, dankend an."

    „Schön. Ich werde uns bedienen."Ernesto war an einen kleinen Tisch g etreten, auf welchem ein

    reizendes, silbernes Likörservice und verschiedene Rauchutensilienstanden. Er zog das Service zu sich heran, öffnete den Stöpsel derKaraffe und füllte langsam zwei der kleinen Becher, die sämtlich mitdem Wappen Derer von Carmageola verziert waren. D er aromatischeDuft des feinen Getränkes vermischte sich mit dem der Blumen, undKurt, der mit Entzücken jede der anmutigen Bewegungen des jungenMarquis verfolgt hatte, schloß einen Augenblick die Augen, um, sich

    tief in seinen Sessel zurücklehnend, die berauschende Luft, die ihn um-gab, mit tiefen Zügen einzuatmen.Ernesto hatte die gefüllten Becher auf ein schmales, mit gefälliger

    Malerei gesc hmücktes Präsentierb rett gesetzt, und mit den W orten:„Wenn ich bitten darf , trat er an Kurt heran, der bei dem Klangeseiner Stimme aus den Träumereien, in die er versunken war, er-schrocken auffuhr, um ihm den Likör anzubieten. Kurt nahm beide Becher

  • 8/9/2019 Der Eigene : 1903-05

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    an und stellte sie mit ihren kleinen Krystalluntersetzcrn neben sich aufden Tisch. Em esto brachte den Teller, auf dem er tlie Becher her-getragen hatte, w ieder an seinen Platz und kehrte dann zurück, umsich wieder auf seinen Sitz zu Kurts Rillen niederzulassen.

    Sie stieUen mit den kleinen Fingern an und tranken, Ernesto nurseine Lippen mit der goldklaren F lüssigkeit benetz end, Kurt den Becherbis zur Neige leerend.

    Schweifend satten sie eine kleine Weile nebeneinander und schautenin die Dämmerung, die langsam durch die mit großblumigen Stures undseidenen Gardinen halbverhüllten Fenster in's Zimmer schlich undMöbel uiu\ Bilder in verschwom menen , unbestimm ten Purinen erscheinen ließ.

    Endlich brach Emesto das Stillschweigen.„So ll ich Licht anzünd en V

    Er wollte aufstehen, um durch einen Druck auf den elektrischenKnopf Jen Liislre, der, wie im Arbeitszimmer, die Mitte des Salonseinnahm, zum Erstrahlen zu luiugen, aber Kurt verhindert ihn, seinVorhaben auszuführen.

    „Lall nur," sagte er, „ich sitze gern in der Dämmerung. Dann

    lallt sich's so schon plaudern und träumen."„Wie Du willst " entgegnete Emesto.Bald kam das Gespräch auf das Stück, das sie am Abend sehen

    würden, und Kurt erzählte von dem ge waltigen Eindrucke, den dasherrliche Drama auf ihn gemacht hatte, als er vor Jahren einmal dasülück gehabt hatte, Mitterwurzel als Orestes zu sehen.

    In seiner Begeisterung über den unvergleichlichen Künstler war eraufgesprungen, und er ging mit grollen Schritten im Zimmer auf undab, als er von ihm sprach. Endlich sch loß er sein e Erzählung mit denWorten: „Und als ich aus dem Theater kam, hatte ich nur den einenWunsch, diesen Menschen kenneu zu lernen, einmal mit ihm zu sprechen,ja nur einmal in seiner Nähe weilen zu können."

    „Und wurde dieser WUIIM.II erfüllt V- fragte Ern esto , al s Kurtschw ieg. Wäre dieser nicht so erregt, nicht so überwältigt von derErinnerung an jene Stunden mit ihren Träumen und Harren gewesen,so hätte er wohl die wunderbare Spannung bemerkt, die aus Ernestusbebender Stimme sprach.

    „Nein " antw ortete er, sich auf dem Divan unter dem Baldachin,vor dem er gerade in seiner Wanderung angekommen war, niederlassend. „Wenige Tage nach jener Aufführung raffle ein plötzlicher

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    Tod diesen gottbegnadeten Menschen in der Blüte seiner Jahre vomhöchsten Gipfel seiner Kunst hinweg.

    „Ach," erwiderte Ernesto, dem Freunde folgend und sich dichtneben ihm niederlassend . „D as ist traurig ."

    „Wer spielt übrigens den Pylades? ", fragte Curt schnell. „Es isteine schwierige Rolle "

    „Ich weiß e s nicht," entgeg nete Ernesto. Und dann sagte er ganzleise: „Orest und Pylades. — Wie seltsam, daß wir aus dem Altertumsoviel e berühmte Freundespaare kennen. Kastor und Poliux, Orestesund Pylades, Harmodius und Aristogiton, Alexander und Perdiecasund —"

    „Achilles und Patroklos, von denen uns Homer erzählt" unterbrachKurt den Freund.

    „Liest Du immer noch so viel im Homer, Ernesto?" fragte ernach einer Pause.

    „Es vergeht kein Tag, an dem ich ihn nicht zur Hand nehme",war die Antwort. „Homer ist wie die Natur. So oft man ihn durcheilt, man entdeckt immer neue Schönheiten in seinen Gedichten . —Sieh', mit dem Homer ist mir eine sonderbare Geschichte passiert. Alswir auf der Schule mit der Lektüre der Ody ssee begannen , erschienmir nichts langweiliger als diese endlosen Gesänge, die wir Vers fürVers mit peinlicher Erklärung jedes Wortes, jedes Buchstabens lesenmußten. Der griechische Unterricht wurde für mich eine Strafe, unddie für diese Stunden notwendigen Arbeiten erledigte ich mit dergrößten Unlust. Da brachte ich