Der Erinnerer -...

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Deutschland Der Erinnerer Justiz Reinhard Strecker prangerte früh an, dass Nazirichter in der Bundesrepublik Recht sprachen. Dafür wurde er zuerst gehasst und dann, sehr spät, geehrt. Geschichte eines übersehenen Helden. Generalbundesanwalt Max Güde lud Stre- cker ein, ihm sein Material zu präsentieren. »Ganz offensichtlich echt« sei es, sagte Güde kurz darauf in einem Fernsehinter- view. Sein Vorgesetzter, Bundesjustiz- minister Friedrich Schäffer (CDU), forder- te ihn daraufhin auf, »größere Zurückhal- tung als bisher« an den Tag zu legen. Der Verfassungsschutz observierte Stre- ckers Mitstreiter Koppel, die Staatsanwalt- schaft ermittelte gegen ihn wegen »landes- verräterischer Beziehungen«. Die Polizei durchsuchte Koppels Wohnung ohne rich- terlichen Beschluss, nahm ihn für 24 Stun- den fest und beschlagnahmte das Konto, auf dem er Spenden für die Ausstellung gesammelt hatte. »Damals haben wir uns gesagt: jetzt erst recht«, erzählt Strecker. Zwei Monate spä- ter stellte er gemeinsam mit Koppel Straf- anzeige gegen 43 ehemalige deutsche Rich- ter und Staatsanwälte an Sondergerichten, wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Totschlag. 15 Jahre nach dem Ende des »Dritten Reichs« waren sie die Ersten, die gezielt Strafanzeigen gegen Nazijuristen formulierten, die wieder im Amt waren. Etwa gegen einen Richter, der eine 25-jäh- rige Polin zum Tode verurteilt hatte, weil sie angeblich eine deutsche Geschäftsfrau mit einer Handtasche erschlagen hatte. Kurz nach der Anzeige erreichte Stre- cker der Brief eines Zollobersekretärs aus Franken: »Sie sind ein ganz gemeiner, nie- derträchtiger und charakterloser Mensch, der nicht mehr als den Galgen verdient hat ... Ich werde mich freiwillig als Henker melden und Sie mit lächelnder Miene vom Leben in den Tod befördern.« Strecker brachte Studenten dazu, die Ausstellung auch in Frankfurt am Main, Hamburg, München, West-Berlin und an- deren Städten zu zeigen. Er schrieb, sie solle »so nüchtern wie nur möglich« präsentiert werden. »Wir urteilen nicht, wir bieten Material an.« In West-Berlin forderte Jus- tizsenator Valentin Kielinger (SPD) die Rektoren beider Uni- versitäten auf, keine Räume für die Präsentation zur Verfü- gung zu stellen. Die Aussteller seien von »sowjetzonaler Seite inspiriert«. Als der Galerist Ru- es die Rebellen der Studentenbewegung von 1968? War es zuvor der hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer, der die 1963 beginnenden »Auschwitzprozesse« gegen vormalige SS-Wachleute initiierte und dem ein Spielfilm vor drei Jahren ein Denkmal setzte? Vieles spricht dafür, dass Strecker der Erste war. Trotzdem ist er heute vergessen und war auch früher nicht besonders be- kannt. Er ist ein deutscher Held, dem nicht die öffentliche Anerkennung zuteilwurde, die er verdient. Der sich dem Erinnern ver- schrieb und zeigte, wie viel ein Einzelner bewegen kann. Und der noch davon er- zählen kann, wie es war. Als 29-jähriger Student hatte er sich mit Wolfgang Koppel zusammengetan, dem Vorsitzenden des Sozialistischen Deut- schen Studentenbundes (SDS) an der Tech- nischen Hochschule Karlsruhe. Mit ihm wollte er die Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« erstmals in größerem Rahmen zeigen, in Karlsruhe, der Stadt der Bun- desgerichte. 'Der SPD-Parteivorstand erklärte dazu, dass er keine Aktionen billige, »die von Komitees veranstaltet werden, deren Hin- termänner und Absichten nicht bekannt sind«. Die Sozialdemokraten fürchteten, dass die Kommunisten in der DDR die Ausstellung unterstützten. Im Kalten Krieg war alles, was aus der DDR kam, zu bekämpfen. Ohnehin war die Ausstellung nur drei Tage lang in Karlsruhe zu sehen. Aber r hat sein Leben lang gegen das Vergessen gekämpft. Nun ist er alt, 88 Jahre, sitzt in einem blauen Oh- rensessel und sagt mit einer-präg- nanten, leicht knarrenden Stimme: »Mein Gedächtnis ist schwach.« Und dann erin- nert sich Reinhard Strecker doch genau. An den 27. November 1959, als er mit Kommilitonen eine Ausstellung in der Karlsruher Stadthalle eröffnete. In jahre- langer Arbeit hatten die Studenten Fälle von Richtern dokumentiert, die während der Nazizeit Unrechtsurteile gesprochen hatten und in der Bundesrepublik wieder Dienst taten. Strecker hatte das Todes- urteil eines Sondergerichts im besetzten Polen auf Plakate drucken lassen. Die Pressekonferenz am nächsten Tag, sagt Strecker, »nahm einfach kein Ende, so groß war das Interesse«. Viele auslän- dische Korrespondenten waren gekom- men. Strecker erklärte damals: »Dass Rich- ter, die bei solchen Urteilen mitgewirkt ha- ben, noch heute die Robe tragen, erfüllt uns junge Menschen mit tiefer Sorge für die Zukunft.« Am Tag darauf kündigte der Karlsruher Oberbürgermeister den Studenten den Mietvertrag für die Stadthalle, auf Druck aus der Hauptstadt Bonn. Sie zogen da- raufhin in eine alte Bierkneipe, ins »Kro- kodil«, Tagsüber waren Kopien der Doku- mente im Schankraum ausgelegt, abends mussten sie abgeräumt werden. Streckers Haare und sein Bart sind in- zwischen weiß, seine Augen blitzen blau. Sein Schreibtisch ist mit Zei- tungsausschnitten bedeckt, ein Bücherregal füllt die Längs- wand des Zimmers hoch bis zur Stuckdecke seiner Altbauwoh- nung im Berliner Südwesten. Vor 60 Jahren gehörte Stre- cker zu einer kleinen Gruppe junger Westdeutscher, die ge- gen die systematische Über- nahme von Nazirichtern in die Justiz der Bundesrepublik re- bellierte. Juristen der Sonder- gerichte hatten während des Naziregimes etwa 11000 Men- schen zum Tode verurteilt. Historiker streiten darüber, wer nach Jahren des Schwei- gens die Konfrontation der Westdeutschen mit der NS- Geschichte einleitete. Waren E , Jurist Globke (Pfeil) 1941 in Bratislava: Jahre des Schwelgens 34

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Deutschland

Der ErinnererJustiz Reinhard Strecker prangerte früh an, dass Nazirichter in der Bundesrepublik Recht sprachen.Dafür wurde er zuerst gehasst und dann, sehr spät, geehrt. Geschichte eines übersehenen Helden.

Generalbundesanwalt Max Güde lud Stre-cker ein, ihm sein Material zu präsentieren.»Ganz offensichtlich echt« sei es, sagteGüde kurz darauf in einem Fernsehinter-view. Sein Vorgesetzter, Bundesjustiz-minister Friedrich Schäffer (CDU), forder-te ihn daraufhin auf, »größere Zurückhal-tung als bisher« an den Tag zu legen.

Der Verfassungsschutz observierte Stre-ckers Mitstreiter Koppel, die Staatsanwalt-schaft ermittelte gegen ihn wegen »landes-verräterischer Beziehungen«. Die Polizeidurchsuchte Koppels Wohnung ohne rich-terlichen Beschluss, nahm ihn für 24 Stun-den fest und beschlagnahmte das Konto,auf dem er Spenden für die Ausstellunggesammelt hatte.

»Damals haben wir uns gesagt: jetzt erstrecht«, erzählt Strecker. Zwei Monate spä-ter stellte er gemeinsam mit Koppel Straf-anzeige gegen 43 ehemalige deutsche Rich-ter und Staatsanwälte an Sondergerichten,wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mitTotschlag. 15 Jahre nach dem Ende des»Dritten Reichs« waren sie die Ersten, diegezielt Strafanzeigen gegen Nazijuristenformulierten, die wieder im Amt waren.Etwa gegen einen Richter, der eine 25-jäh-rige Polin zum Tode verurteilt hatte, weilsie angeblich eine deutsche Geschäftsfraumit einer Handtasche erschlagen hatte.

Kurz nach der Anzeige erreichte Stre-cker der Brief eines Zollobersekretärs ausFranken: »Sie sind ein ganz gemeiner, nie-derträchtiger und charakterloser Mensch,der nicht mehr als den Galgen verdient

hat ... Ich werde mich freiwilligals Henker melden und Sie mitlächelnder Miene vom Lebenin den Tod befördern.«

Strecker brachte Studentendazu, die Ausstellung auch inFrankfurt am Main, Hamburg,München, West-Berlin und an-deren Städten zu zeigen. Erschrieb, sie solle »so nüchternwie nur möglich« präsentiertwerden. »Wir urteilen nicht,wir bieten Material an.«

In West-Berlin forderte Jus-tizsenator Valentin Kielinger(SPD) die Rektoren beider Uni-versitäten auf, keine Räumefür die Präsentation zur Verfü-gung zu stellen. Die Ausstellerseien von »sowjetzonaler Seiteinspiriert«. Als der Galerist Ru-

es die Rebellen der Studentenbewegungvon 1968? War es zuvor der hessischeGeneralstaatsanwalt Fritz Bauer, der die1963 beginnenden »Auschwitzprozesse«gegen vormalige SS-Wachleute initiierteund dem ein Spielfilm vor drei Jahren einDenkmal setzte?

Vieles spricht dafür, dass Strecker derErste war. Trotzdem ist er heute vergessenund war auch früher nicht besonders be-kannt. Er ist ein deutscher Held, dem nichtdie öffentliche Anerkennung zuteilwurde,die er verdient. Der sich dem Erinnern ver-schrieb und zeigte, wie viel ein Einzelnerbewegen kann. Und der noch davon er-zählen kann, wie es war.

Als 29-jähriger Student hatte er sich mitWolfgang Koppel zusammengetan, demVorsitzenden des Sozialistischen Deut-schen Studentenbundes (SDS) an der Tech-nischen Hochschule Karlsruhe. Mit ihmwollte er die Ausstellung »UngesühnteNazijustiz« erstmals in größerem Rahmenzeigen, in Karlsruhe, der Stadt der Bun-desgerichte.

'Der SPD-Parteivorstand erklärte dazu,dass er keine Aktionen billige, »die vonKomitees veranstaltet werden, deren Hin-termänner und Absichten nicht bekanntsind«. Die Sozialdemokraten fürchteten,dass die Kommunisten in der DDR dieAusstellung unterstützten. Im KaltenKrieg war alles, was aus der DDR kam, zubekämpfen.

Ohnehin war die Ausstellung nur dreiTage lang in Karlsruhe zu sehen. Aber

r hat sein Leben lang gegen dasVergessen gekämpft. Nun ist er alt,88 Jahre, sitzt in einem blauen Oh-rensessel und sagt mit einer-präg-

nanten, leicht knarrenden Stimme: »MeinGedächtnis ist schwach.« Und dann erin-nert sich Reinhard Strecker doch genau.

An den 27. November 1959, als er mitKommilitonen eine Ausstellung in derKarlsruher Stadthalle eröffnete. In jahre-langer Arbeit hatten die Studenten Fällevon Richtern dokumentiert, die währendder Nazizeit Unrechtsurteile gesprochenhatten und in der Bundesrepublik wiederDienst taten. Strecker hatte das Todes-urteil eines Sondergerichts im besetztenPolen auf Plakate drucken lassen.

Die Pressekonferenz am nächsten Tag,sagt Strecker, »nahm einfach kein Ende,so groß war das Interesse«. Viele auslän-dische Korrespondenten waren gekom-men. Strecker erklärte damals: »Dass Rich-ter, die bei solchen Urteilen mitgewirkt ha-ben, noch heute die Robe tragen, erfülltuns junge Menschen mit tiefer Sorge fürdie Zukunft.«

Am Tag darauf kündigte der KarlsruherOberbürgermeister den Studenten denMietvertrag für die Stadthalle, auf Druckaus der Hauptstadt Bonn. Sie zogen da-raufhin in eine alte Bierkneipe, ins »Kro-kodil«, Tagsüber waren Kopien der Doku-mente im Schankraum ausgelegt, abendsmussten sie abgeräumt werden.

Streckers Haare und sein Bart sind in-zwischen weiß, seine Augen blitzen blau.Sein Schreibtisch ist mit Zei-tungsausschnitten bedeckt, einBücherregal füllt die Längs-wand des Zimmers hoch bis zurStuckdecke seiner Altbauwoh-nung im Berliner Südwesten.

Vor 60 Jahren gehörte Stre-cker zu einer kleinen Gruppejunger Westdeutscher, die ge-gen die systematische Über-nahme von Nazirichtern in dieJustiz der Bundesrepublik re-bellierte. Juristen der Sonder-gerichte hatten während desNaziregimes etwa 11000 Men-schen zum Tode verurteilt.

Historiker streiten darüber,wer nach Jahren des Schwei-gens die Konfrontation derWestdeutschen mit der NS-Geschichte einleitete. Waren

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Jurist Globke (Pfeil) 1941 in Bratislava: Jahre des Schwelgens

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Aktivist Strecker: »Der Kampf hat sich gelohnt«

dolf Springer seine Räume am Kurfürsten-damm anbot, bedrängte die SPD-geführteLandesregierung die Hausbesitzerin, demKunsthändler zu kündigen. Springer bliebstandhaft, Strecker und seine Mitstreiterzeigten in den Galerieräumen 14 Tage langihre Dokumentation.

Bei Strecker wurde in dieser Zeit zuHause eingebrochen, Dokumente ver-schwanden. Er erhielt Morddrohungen.Und war so besorgt, dass er seine zwei klei-nen Töchter außer Landes brachte. Immer-hin, ein paar Menschen sprangen ihm bei:die Jüdische Gemeinde, ein KuratoriumLinksliberaler, zu denen Helmut Gollwit-zer und Günter Grass gehörten, linke So-

zialdemokraten, aber auch der konserva-tive Verleger Axel Springer.

Dass der SPD-Senat unter Willy Brandtes nicht wagte, die Ausstellung zu verbie-ten, lag am großen Interesse von Korres-pondenten ausländischer, besonders briti-scher Zeitungen. Als die Schau im Mai1961 in Hamburg eröffnet wurde, bat Stre-cker die Initiatoren um die Erstattung derFahrkarten, »leider im Voraus, weil ichmir nichts mehr borgen kann und auch zuhoch verschuldet bin, um weitere Ausla-gen zu machen«.

Ein Lektor des Verlags Rütten und Loe-ning, der zum Bertelsmann-Konzern ge-hörte, schlug Strecker vor, ein Buch mit

DER SPIEGEL Nr. 7/9.2.2019

Dokumenten über Hans Globke zu-sammenzustellen. Globke war Mit-verfasser und Kommentator der na-tionalsozialistischen NürnbergerRassegesetze gewesen, mit denenJuden ausgegrenzt und verfolgtworden waren - und seit 1953Kanzleramtsminister von Bundes-kanzler Konrad Adenauer (CDU).

Als Strecker das Manuskript ab-lieferte, verfügte die Bertelsmann-Konzernspitze, dass es nur als Ta-schenbuch und um fast die Hälftegekürzt erscheinen solle. Das Vor-wort begann mit den Sätzen: »Fürdas heutige Deutschland gibt es nureine moralische Berechtigung, denWiderstand gegen Hitler und dieAblehnung seiner Handlanger,Drahtzieher, Mordhelfer und ihrerMethoden. Solange noch Verbre-chen und Relikte des NS-Macht-staates unbewältigte Gegenwartbleiben, fehlt diesem Staat seinemoralische Grundlage.« Noch be-vor das Buch gedruckt. war, gingGlobkes Anwalt gegen Strecker vor.

Strecker traf den DramatikerRolf Hochhuth, der sich ebenfallsmit der Aufarbeitung der NS-Ver-brechen beschäftigte und dessenStück »Der Stellvertreter« Bertels-mann nicht veröffentlichen wollte.Hochhuth erzählte ihm, eine Chef-sekretärin des Verlags habe ihn zu-rechtgewiesen: Er habe in seinemStück die Atmosphäre im Reichs-sicherheitshauptamt der SS falschdargestellt. Als Hochhuth fragte,wie sie darauf komme, habe sie ge-antwortet: »Na, ich war doch daauch Chefsekretärin.«

Strecker erhielt Unterstützungaus dem Ausland. Der polnischeGeneralstaatsanwalt lud ihn ein,Strecker arbeitete in WarschauerArchiven, als einer von nur dreiDeutschen. Auch in Prag konnte erforschen. In westdeutschen Archi-ven durfte er hingegen keine Doku-mente einsehen. Zum Berlin Docu-

ment Center der amerikanischen Besatzerin West-Berlin erhielt er ebenfalls keinenZutritt.

Dafür griff ihm die DDR-Staatssicher-heit unter die Arme. Globke hatte gegenStrecker geklagt, und Stasi offiziere arbei-teten nun eine Liste von mehr als 20 Punk-ten ab, um Strecker Material zu liefern.Ende 1961 händigte die Oberste Staatsan-waltschaft der DDR Strecker 117 Kopienvon Dokumenten aus, die Globke belaste-ten. Strecker sagt, er habe nicht gewusst,wer da für ihn tätig war. Der Verlag sicher-te Kanzleramtschef Globke trotzdem zu,Streckers Buch nicht weiter zu vertreiben.Der Autor hatte bereits vorher hohe Schul-

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den gehabt, jetzt hatte er nochmehr.

Die Polen wollten nach ei-ner Weile genauer wissen, wasdas für ein junger Deutscherwar, der manisch in den Archi-ven arbeitete. Im April 1963setzte der polnische Innenmi-nister ein Telegramm an denStasichef Erich Mielke in Ost-Berlin ab: »Unsere Organe in-teressieren sich für den west-deutschen Bürger ReinhardStrecker.« Gut drei Monatespäter antwortete Mielke miteinem PersönlichkeitsprofilStreckers. »Seine Geisteshal-tung ist, gegen -linke und rech-te Extremisten- zu kämpfen.«Zu diesem Schluss waren Stasi-offiziere schon zuvor gekom-men. »Aufgrund dieser Einstel-lung besitzt er eine Reihe von Vorbehaltengegenüber der DDR.«

Die Stasioffiziere schrieben, »dass Stre-cker, trotz einer ganzen Reihe progressiverTendenzen, die in seinem Bestreben zumAusdruck kommen, die in Diensten desBonner Staates stehenden Beamten zu ent-larven, eine äußerst zweifelhafte Personist«. Es sei »im Verkehr mit Strecker Vor-sicht zu empfehlen«.

Woher nahm der Student die Kraft, sichmit CDU und SPD sowie Verfassungs-schützern und Staatsanwälten anzulegenund immer weiterzumachen?

Strecker kommt aus einer Juristenfarni-lie, sein Großvater erarbeitete das Bürger-liche Gesetzbuch (BGB) mit, der Vaterdiente als Kammergerichtsrat in Berlin.Als die Nationalsozialisten 1933 die Machtübernahmen, versuchten die Eltern, ihresieben Kinder in Sicherheit zu bringen,und schickten Reinhard nach Böhmen. Inden Kriegswirren verschlug es den Jungenin die Ukraine, 1944 griffen ihn deutscheSS-Männer am Dnepr auf.

»Sie stellten einen Transport von deut-schen Kindern auf«, erinnert sich Strecker,»die heim ins Reich gebracht werden soll-ten.« Von den 380 Jungen und Mädchenseien nur 23 in Mecklenburg angekommen.»Sie sind durch Entbehrung, Hunger undKrankheiten gestorben. Jeden Morgen wa-ren welche von uns tot. Sie lagen da undwaren tot.«

Nach dem Krieg fand die Familie in Trit-tau östlich von Hamburg wieder zusammen,die Eltern und alle sieben Kinder hatten denKrieg überlebt. Der 15 Jahre alte Reinhardarbeitete als Köhler im Wald, dann auf ei-nem Bauernhof. Er hatte bald das Gefühl,dass es in den westlichen Besatzungszonennach Kriegsende »eine nazistische Volksge-meinschaft gab, die im Hass auf die Besatzervereint war. Ich wollte in diesem von denNazis geprägten Land nicht weiterleben.«

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Student Strecker (r.) 1961*: »Wirmüssen Beweise präsentieren«

Deutschland

Strecker ging zunächst nach Rom, spä-ter nach Paris, studierte an der Sorbonne,kehrte auf Drängen seiner Eltern aber 1954nach Deutschland zurück und studierte inWest-Berlin Judaistik. Er war schockiertvom »Adenauer-Globke-Regime«, wie erdie CDU-Bundesregierung der Fünfziger-jahre nennt. Der Bundestag hatte 1951ohne Gegenstimmen beschlossen, dass alleBeamten, die bei der Entnazifizierungdurch die Alliierten nicht als »Hauptschul-dige« oder »Belastete« eingestuft wordenwaren, wieder Staatsdiener werden konn-ten. Das Ergebnis laut Strecker: »Die Na-zis waren überall wieder drin.«

Es ist der Moment, in dem der ruhigealte Mann in seinem Ohrensessel laut wird.»Sie hatten keine Scham«, ruft er. »Nichtdie geringste! Nichts!«

Erfand es unerträglich,seine Kinder in einemsolchen Land aufwachsenzu lassen.

Besonders viele ehemalige Nazijuristenhatten sich in Niedersachsen gesammelt,sie waren aus der sowjetischen Besatzungs-zone zugewandert, wo sie keine Chanceauf eine Anstellung hatten. Die aberwitzi-ge Konsequenz: 1948 waren bis zu 80 Pro-zent der niedersächsischen Richter undStaatsanwälte einstige NSDAP-Mitglieder.Als die NS-Diktatur 1945 unterging, warenes »nur« 65 Prozent gewesen.

Strecker fand es unerträglich, seine Kin-der in einem solchen Land aufwachsen zulassen. Er begann, eine »NS-Verbrecher-

• Mit dem jüdischen Fluchthelfer Joel Brand bei derEröffnung der Ausstellung »Ungesühnte Nazijustiz« inMünchen.

Kartei« aufzubauen. Die Leit-linie: »Wir müssen schwarzauf weiß Beweise präsentie-ren, um die Menschen zu über-zeugen.«

Er stellte das Projekt vortausend Studierenden in derFreien Universität in West -Ber-lin vor. Zunächst meldete sichnur eine Studentin, um mitzu-arbeiten. Als er 1958 in denSDS eintrat, verlangte er, dassjedes SDS-Mitglied in Berlin14 Tage oder Nächte an derKartei mitarbeiten müsse.

Später, als Strecker schonals Deutschlehrer tätig war,führten Studierende seine Ar-beit fort. Im Januar 1969 eröff-neten sie an der Kölner Uni-versität eine neue Variante der»Ungesühnten Nazijustiz«, er-

weitert um die NS-Vergangenheit von Köl-ner Juraprofessoren. Der Rektor rief diePolizei und ließ die Ausstellung räumen.

Strecker sieht seine Aktionen als »Vor-lauf von 68«, sie seien ein Auftakt gewesen»für die Abrechnung mit der Eltern- undder Großelterngeneration, die sich nichtmit den NS-Verbrechen und den personel-len Relikten beschäftigt hatten«.

Anfang vergangenen Jahres beriet dieBezirksverordnetenversammlung von Ber-lin-Steglitz-Zehlendorf darüber, ob an demHaus, in dem Strecker und seine Freundedie »Ungesühnte Nazijustiz« erarbeitethatten, eine Gedenktafel angebracht wer-den solle. Das verhinderte die CDU, diestärkste Fraktion im Bezirksparlament.

Auf Streckers 43 Anzeigen gegen Nazi-juristen war keine einzige Verurteilung er-folgt. Der Bundestag beschloss 1961ein Ge-setz, nach dem Richter und Staatsanwälte,die schon dem NS-System gedient hatten,freiwillig aus dem Justizdienst ausscheidenkonnten - bei vollen Bezügen bis zur Pen-sionierung. 149 nahmen das Angebot an.

Strecker blieb bis zur Rente am Goethe-Institut in Berlin und brachte AusländernDeutsch bei. Das Erinnern blieb sein Le-bensthema. »Mein Zorn auf die Naziver-brecher hat bis heute nicht nachgelassen«,sagt der alte Mann. Bis die Deutschen »er-innert wurden und sich erinnert haben«,so Strecker, das habe lange gedauert, »aberder Kampf dafür hat sich gelohnt«.

Im August 2015 erhielt er das Bundes-verdienstkreuz. Dieser Akt später Aner-kennung hat ihn ein wenig versöhnt,ganz versöhnt mit der BundesrepublikDeutschland ist er nicht. Nach all derDiffamierung und Hetze gegen ihn, fürdie sich nie jemand entschuldigt hat, wirddaraus wohl nichts mehr werden.

Michael SontheimerMail: [email protected]