Der erste Rebell der Neuzeit - — DER SPIEGEL 2020/32

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12 DER SPIEGEL / ULLSTEIN BILD Luther-Porträt von Lucas Cranach d. Ä., 1521 Der erste Rebell der Neuzeit Glauben Der 31. Oktober 1517 gilt als Beginn der Reformation. Mit seinen 95 Thesen, seiner Frömmigkeit und seinem Hass hat Martin Luther Deutschland geprägt wie kein anderer. Von Georg Diez

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12 DER SPIEGEL 44 / 2016

ULLSTE

IN BILD

Luther-Porträt von Lucas Cranach d. Ä., 1521

Der erste Rebell der NeuzeitGlauben Der 31. Oktober 1517 gilt als Beginn der Reformation. Mit seinen 95 Thesen, seiner Frömmigkeit und seinem Hass hat Martin LutherDeutschland geprägt wie kein anderer. Von Georg Diez

Titel

Der eine Mann schaut mutig in dieWelt, fast wie ein Krieger. SeinBlick offen und selbstbewusst, Gott

ist auf seiner Seite. Er weiß, es gibt keinZurück.Der andere Mann dagegen schaut müde.

Er ist mächtig, das sieht man an seiner Ge-stalt, an seiner Pose. Er ist sich immer nochsicher, dass Gott auf seiner Seite steht.Aber er weiß auch, wie viele Opfer dieKämpfe gekostet haben, die er ausgelösthat, und er weiß wohl auch, wie viele Op-fer es noch geben wird.Das eine Bild zeigt Luther als hageren

Mönch, mit Tonsur und Kutte. Es ist dasJahr 1520, in dem einige seiner wichtigstenSchriften erscheinen. Es ist das Jahr, indem Luther zu dem Luther wird, den wirzu kennen glauben. Das andere Bild zeigt Luther als Wür-

denträger mit feistem Gesicht. Seine Ängs-te, die immer stark waren, werden fastübermächtig in dieser Zeit. Er rechnet mitdem Ende, der Apokalypse. Es ist das Jahr1541, in dem die Türken die Städte Budaund Pest erobern. Für Luther sind die Tür-ken, wie er schreibt, „des Teuffels diener,das hat keinen Zweifel“.In den Jahren, die zwischen den beiden

Bildern liegen, die Lucas Cranach der Äl-tere von Martin Luther machte, war dieWelt eine andere geworden. Sie war brü-chiger geworden, komplizierter, größer,moderner. Schon in den Jahrzehnten zu-vor hatte sie große Fortschritte gemacht.Johannes Gutenberg hatte um 1450 dieDruckerpresse mit beweglichen Metall -lettern erfunden und damit eine medialeRevolution hervorgerufen, die Luthers Wir-kung erst möglich machte. Christoph Ko-lumbus hatte 1492 Amerika entdeckt undeine frühe Globalisierung in Gang gesetzt.In Italien arbeiteten Künstler und Gelehrteder Renaissance wie Leonardo da Vincidaran, den Menschen ins Zentrum desDenkens zu stellen, was Luther auf seineWeise bekämpfte. Und Luthers Zeitgenos-se Nikolaus Kopernikus stellte fest, dasssich die Erde um sich selbst und um dieSonne dreht. Es waren bewegte, verwir-rende Zeiten, für alle.Der Mensch wurde sich seiner Möglich-

keiten bewusst, der Weg der Freiheitzeichnete sich ab – das alles steigerte dieAngst derjenigen, die diesen Weg nichtmitgehen wollten. Es war ein Zeitalter imUmbruch, ganz ähnlich wie heute. Dietechnischen, naturwissenschaftlichen, wirt-schaftlichen und sozialen Umwälzungenerzeugten einen Druck, dem das gesell-schaftliche Gefüge nicht länger standhal-ten konnte. Und Martin Luther war mit-tendrin, er war der Mann auf der Schwelle,er war es, der das Alte mit dem Neuenverband, auf eine so einmalige Art, dasser noch heute als Modell dienen kann, dererste Rebell der Neuzeit.

Er war der Mann, der die Kirche nichtspalten wollte und schon gar nicht die Welt,denn Welt und Kirche waren eins im Mit-telalter – aber der Bruch, der von ihm aus-ging, setzte die Kräfte frei, die Europa indie Neuzeit vorantrieben. Er formulierte den Zweifel an Teilen der

herrschenden Lehre, und weil der Zweifeldem Menschen eigen ist, stärkte er denEinzelnen gegenüber der Institution, daswar sein Widerstand. Er botdem Papst die Stirn und demKaiser und der Korruption, diedie weltliche und die geistlicheMacht verband, er war ein mo-ralischer Krieger, und etwas vondiesem Fanatismus ist bis heutegeblieben.Er wollte die Kirche retten,

die er teilte, das ist der Wider-spruch Luthers, der aus einemtiefen Glauben heraus handelte,weil er sah, dass dieser Glaubein Rom verraten wurde. Die Re-formation also, die „Wiederher-stellung“ oder „Erneuerung“,das ist die eigentliche Bedeu-tung dieses Wortes, war tatsäch-lich eine Revolution. Die Folgevon Luthers Tat waren neue In-stitutionen, er veränderte diekonfessionelle Landkarte inDeutschland, er setzte einenProzess in Gang, der das Den-ken, den Glauben und dieabendländische Kirche grund -legend umstürzte.Ein halbes Jahrtausend da-

nach sind die Folgen noch im-mer spürbar, kulturell und poli-tisch, sie betreffen Alltag wieKunst, Essen wie Musik. Luther wurdezum Erfinder der Deutschen. Wie so oftin der Geschichte ist es schwierig, Folge,Wirkungen und Zufall auseinanderzuhal-ten – aber etwas war in ihm, Luther, die-sem groben, genialen, ehrgeizigen, volks-nahen Mönch und Professor, das ihn zumwütenden Weltenstürzer werden ließ.Weil auch das deutsche Reich in einer

Krise war, agierte er in einem hochpoliti-schen Umfeld, er baute seine Macht aufdie Unterstützung einiger Fürsten, die ihnbeschützten, weil sie ihre Macht gegenüberdem deutschen Kaiser stärken wollten, dieihm 1518 die Flucht ermöglichten und ihn1521 sich auf der Wartburg verstecken hal-fen. Er war und ist für viele eine deutscheSehnsuchts- und Schicksalsgestalt und eineFigur auf dem Schachbrett der europäi-schen Geschichte – jede Zeit sieht einenanderen Luther, jeder hat seinen eigenenLuther.Dabei ist dieser Mann immer noch nah,

in seinen Widersprüchen, in seinem Wol-len, in seinen eigenen Worten. Er ist derMann zwischen Mittelalter und Neuzeit.

Martin Luder, mit diesem Namen wurdeer geboren, am 10. November 1483 in Eis-leben, der erste oder zweite Sohn, ganz sicher ist das nicht, von insgesamt wohlneun Kindern – mitten im damals boomen-den mitteldeutschen Bergbaugebiet, woder Vater vom Bergmann zum Hüttenpäch-ter aufstieg. Seine Familie war den Zwän-gen der Herkunft enthoben und doch demDruck der Erwartungen verpflichtet. Sie

war nicht arm und nicht bäuer-lich, wie es manche Luther -legende wollte, sondern Teil desim 16. Jahrhundert entstehen-den Bürgertums und durchauswohlhabend – Martin sollte denAufstieg fortsetzen, er sollteJura studieren, das war der Plandes Vaters.Hans Luder hieß der Vater,

streng guckt er auf dem Bild,das Cranach auch von ihm ge-malt hat, breite Stirn, wuchtigeNase, der Blick in die Ferne –seine Frau Margarete dagegen,hager, fast bäuerlich karg in ih-rem Aussehen, hat ihren Blicknach innen gewendet. Der Vater ließ den Sohn in

verschiedenen Dom- und Pfarr-schulen erziehen – schon äußer-lich unterschied sich der jungeMartin damals von seinen Al-tersgenossen durch die Uniform,die er trug, die Uniform des Lateinschülers. Die Erziehungwar streng und auf Strafen undOrdnung angelegt. Der jungeLuther galt als zurückhaltendund auch etwas eingeschüchtertvon dem harten Regiment, aber

seine intellektuelle Begabung war frühdeutlich.1501 begann er sein Studium in Erfurt, ei-

ner der bedeutendsten Universitäten desLandes. Das vom Vater gewünschte Jurastu-dium im Jahr 1505 aber dauerte nur wenigeWochen, bis zu einem Ereignis, das durchLuther selbst zur Legende geworden ist.Es war ein Gewitter, das alles veränder-

te, am 2. Juli 1505, in der Nähe des DorfesStotternheim. In Todesangst übergab Lu-ther sein Leben Gott: „Hilff du, S. Anna,ich wil ein monch werden“, so schilderteer es später selbst. Die eigentümlicheWechselwirkung von Altem und Neuem,die Luthers Wesen und Werk prägte, wirdhier deutlich – er wendet sich zurück, zumAberglauben, zum Mittelalter, und forciertgerade dadurch den Gang in die Neuzeit.Noch im selben Monat trat er gegen den

Willen des Vaters ins Kloster der Augusti-nereremiten in Erfurt ein, wo es zu dieserZeit Diskussionen über den Zusammen-schluss verschiedener Konvente des Or-dens gab. Luther wurde von diesen Diskussionen geprägt, er wurde hier zum

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500JahreReformation

SPIEGEL-SerieDas Jahr 2017

steht im Zeichendes Reformations-jubiläums. DerSPIEGEL beginntmit diesem Hefteine fünfteilige Serie, die sich

mit Martin Luther,seiner Zeit

und mit der Kultur-geschichte

des deutschen Protestantismus

befasst.

Bewegte Welt Martin Luther und seine Zeit

1483Luther wird am 10. November als Martin Luder in Eisleben geboren.

1498–1501Besuch der Lateinschulein Eisenach

1501–1505Studium der Artes liberales

1505Beginn des Jurastudiumsin Erfurt

2. Juli 1505Der Student wird fast vom Blitz getroffen, woraufhin er gelobt, Mönch zu werden.

17. Juli 1505Eintritt ins Augustiner-eremiten-kloster in Erfurt

1492Christoph Kolumbus bricht, finanziert von Königin Isabella von Kastilien, zu seiner ersten Reise auf. Seine Fahrt führt zur Entdeckung des amerikanischen Kontinents. Sie gilt heute als eines der Daten für das Ende des Mittelalters.

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um 1450Johannes Gutenberg erfindet den Buchdruck mit beweglichen Metall-lettern und revolutioniert damit die Verbreitung von Schriftstücken.

von 1440 bis 1509 v

1508–1509Theologiestudiumund Vorlesungen zur Moral-philosophie in Wittenberg

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Zeitgeschehen

Luthers Leben

Ablasshandeldes Papstes

(Holzschnitt vonLucas Cranach

d. Ä., 1521) AKG

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Titel

Diakon und Priester und schließlich zumProfessor in Wittenberg, wo es erst seit einpaar Jahren eine Universität gab. Er warder Mann des Neuen.Unter dem Einfluss seines Mentors Jo-

hannes von Staupitz formte er in dieserZeit sein theologisches Weltbild: GottesBarmherzigkeit, so erkannte er, offenbartsich in Christus – der leidende Jesus, daswar seine theologische Revolution, ist einZeichen der Hoffnung und des Heils. Eswar die antike Tradition, die Luther dabeivor allem in seinem Denken beeinflusste,die Gnadentheologie des lateinischen Kir-chenlehrers Augustinus, der im 4. und 5. Jahrhundert nach Christus gelebt hatteund eine entscheidende Figur im Übergangvon der Antike zum Mittelalter war.All das blieb die spirituelle Grundlage

der theologischen Schlachten, die Lutherspäter focht. Seine frühen Schriften alsTheologieprofessor zeugen davon. In die-ser Zeit, zwischen 1512 und 1518, formtesich sein Glaubensfundament. Er formu-lierte Revolutionäres und orientierte sichan der Vergangenheit.Zum Werkzeug wurde ihm die Bibel

selbst, er las sie immer wieder und neu –der Rückgriff auf die Quellen, auf die Ur-sprünge des Glaubens, eröffnete ihm einenWeg in die Zukunft. Die römische Kirchehatte sich von den Gläubigen getrennt, siewar ein System, das für sich selbst exis-tierte – und die Angst ausnutzte und dieNot der Gläubigen ausbeutete. Das wardie spirituelle und institutionelle Krise, indie Luther seine Botschaft setzte – es gabeine Elite, die die Bibel lesen konnte, weilsie noch nicht verbreitet war, und es gabdas Volk, das ausgeschlossen war.Der Zeitgeist stand auf Umsturz. Das

Neue war bereits in der Welt, in Gestaltder technischen, philosophischen und wirt-schaftlichen Neuerungen, aber die alteFrömmigkeit und Heiligenverehrung hattenoch die Macht. Ein Riss ging durch dieWelt. Angst prägte die Menschen des spä-ten Mittelalters, die Angst vor allem vor

dem Jenseits und vor den Qualen der Höl-le – und die Kirche bot Ablassbriefe an,die das Heil im nächsten Leben an dasGeld in diesem Leben banden, verbundenmit einem ausufernden Reliquienkult: EinBesuch in Rom in der Basilika, in der derheilige Petrus beerdigt sein soll, würde ei-nem Gläubigen 7000 Jahre Fegefeuer er-lassen. Wer die Kreuzpartikel küsste, demwurden 17000 Jahre erlassen. Aber auchmit Geld ließ sich die jenseitige Leidenszeitetwas verkürzen. Nur die Kirche konnte die Sünden verge-

ben, hieß es – dagegen wandte sich Luthersneue Gnadentheologie, über die jedemGläubigen die direkte Beziehung zu Gottmöglich wurde. Luther griff damit ein durch-aus frühkapitalistisches System an, das aufden mittelalterlichen Ablasshandel aufge-baut war: Die verschwenderischen Renais-sancepäpste waren genauso beteiligt wie derErzbischof von Mainz, Albrecht von Bran-denburg und das Augsburger Bankhaus Fug-ger. Es war also nicht nur eine theologischeoder spirituelle Frage, in der Luther sich ge-gen die herrschende Macht richtete – es gingseinen Gegnern in vielem ganz weltlich da-rum, den Geldfluss und damit die Grundlageder Macht aufrechtzuerhalten.Luther wandte sich, in direktem Bezug

auf Paulus und den Römerbrief, von dieseroberflächlichen Vorstellung von Sündeund Vergebung ab: Der Mensch, so Luther,ist als Sünder geboren und wird als Sündersterben, durch Jesus Christus aber wird ergerecht.Aus diesem Geist, aus dieser Sicherheit,

die er in der Bibel gefunden hatte, trat Lu-ther an zum Kampf gegen das verrotteteRom – aus „enttäuschter Liebe“, wie esder Reformationshistoriker Thomas Kauf-mann nennt, eine Liebe, die in Hass um-schlug, als Rom sich ihm widersetzte.All das bündelte sich vor fast 500 Jahren

in einer symbolisch überhöhten und histo-risch umstrittenen Tat: Am 31. Oktober 1517,so geht die Legende, nagelte Luther, wie esim akademischen Diskurs damals üblich war,

seine Protestschrift gegen den Ablasshandel,seine 95 Thesen, an die Tür der WittenbergerSchlosskirche. Der Bruch danach war unver-meidlich: Die römische Kirche, so sah er es,hatte den Glauben verraten. Luther trat an,um den Glauben zu retten – und spaltete inder Folge eine korrupte Kirche.„Aus Liebe zur Wahrheit und in dem

Bestreben, diese zu ergründen“, mit diesenWorten begann Luther seinen Wittenber-ger Thesentext, der den Papst direkt an-griff und ihm jedes Recht absprach, Bußezu erlassen. Das ganze Leben, so Luther,sei Buße, die ganze Existenz sei Schuldund Sühne: „Daher bleibt die Strafe, so-lange der Hass gegen sich selbst – das istdie wahre Herzensbuße – bestehen bleibt,also bis zum Eingang ins Himmelsreich.“Luthers 95 Thesen waren ein populis -

tischer Aufschrei gegen die Macht der ver-kommenen Institution, erst auf Lateinischveröffentlicht und schließlich in der deut-schen Übersetzung, als „Sermon von Ab-lass und Gnade“, ein publizistischer Sen-sationserfolg. Der Volksheld Luther wurdedamals geboren, der Schmähschreiberauch, der die direkte, oft genug vulgäreSprache nutzte, um später gegen die „Huren- und Hermaphroditenkirche“ zuschimpfen, „des Teufels Grundsuppe“.Ist das also der Luther, der von der evan-

gelischen Kirche gefeiert wird, die ganzeLutherdekade über, bis zum 31. Oktober2017: Der Glaubensextremist, der Sprach-schöpfer, der Gott-helfe-mir-Amen-Christ,der widerspenstige Rationalist, wie er demSelbstbild der Deutschen entspricht?

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1519–1522Dem Portugiesen Fernão de Magelhães (Magellan) gelingt die erste Weltumsegelung. Im Zuge der Eroberungen der Spanier und Portugiesen beginnt das Zeitalter der Kolo-nialisierung und die Missionierung der indigenen Einwohner zum Katholizismus.

Juni 1519Karl, der Habsburger-König der vereinigten Reiche Kastilien und Aragón, wird als Karl V. ein-stimmig zum römischen König und somit zum Kaiser gewählt.

1513–1521Papst Leo X., Gegenspieler Luthers im Vatikan, fördert den Ablasshandel, um den Bau eines neuen Petersdoms zu finanzieren.

1517Umbenennung in „Luther“; er schickt seine 95 Thesen gegen den Ablasshandel an den Erzbischof von Mainz, Albrecht von Brandenburg. Beginn des Ablassstreits

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von 1512 bis 1519

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Oktober 1512Promotion zum Doktor der Theologiein Wittenberg

1518Luther veröffentlicht den „Sermon von Ablass und Gnade“. Rom erklärt die Thesen für ketzerisch. Bei einem Verhör vor Kardinal Cajetan in Augsburg verweigert er den Wider-ruf und flüchtet nach Wittenberg. Kurfürst Friedrich der Weise lehnt Luthers Auslieferung an Papst Leo X. ab.

Juni 1519Disputation mit Johannes Eckin Leipzig: Luther bestreitet das göttliche Recht des Papsttums und relativiert die Konzilien.

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Aber was wäre dann mit dem anderenLuther? Dem Gehorsamkeitsprediger, demAntisemiten, dem Verräter in den Bauern-kriegen, dem Taktiker im Geflecht derFürsten, dem Wutbürger, der gegen dieFreiheit des Einzelnen wetterte, wenn sienicht an Gott gebunden ist? In der wildenZeit nach der Veröffentlichung der Thesenwurde all dies deutlich. Und auch der

Trotz, der dem Protestantismus gebliebenist und sich bis zu Friedrich Nietzsche undGudrun Ensslin verfolgen lässt.Direkt nach dem Bekanntwerden der

Thesen wurde gegen Luther ein Ketzer-prozess eingeleitet – was ihn nur in seinemWiderstand bestärkte. Er sah sich verratenvon der Kirche und erhoffte sich Rettungallein von Gott. Der Glaube also, der radi-

kale, kategorische Glaube war der Ur-sprung von Luthers Rebellion – in gewisserWeise war es ein Fundamentalismus, derihn antrieb, ein Glaube auch an die Machtdes Wortes, der sich bis heute im Protes-tantismus findet.Dieser Glaube gab ihm die Stärke, sich

dem Papst zu widersetzen: Es ist eine zün-delnde Radikalität, die sich hier zeigt, eine

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CONSTANTIN BEYER / ARTO

THEK

Zeitgenössische Bildnisse der Eltern Luthers: Den Zwängen der Herkunft enthoben

CONSTANTIN BEYER / ARTO

THEK

Januar 1521Der Papst ex-kommuniziert Luther mit dem Bann „Decet Romanum Pontificem“.

April 1521Unter dem Schutz Kaiser Karls V. reist Luther zum Reichstag in Worms, um dort seine Thesen zu verteidigen und den Widerruf zu verweigern.

Mai 1521Es wird die Reichsacht über ihn verhängt und seine Lehre verboten. Am 4. Mai tauchtLuther als „Junker Jörg“ auf der Wartburg unter.

1520Im Dezember verbrennt Luther in Wittenberg die Bannandrohungs-bulle des Papstes vom Juni des Jahres.

von 1520 bis 1522 v

März 1522Luther verlässt die Wartburg. Verbreitung weiterer Schriften; immer mehr Mönche und Nonnen verlassen ihre Orden.

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März 1521Die Reformation beginnt in Zürich durch Huldrych Zwingli.

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Luther vor demReichstag in Worms(Darstellung aus dem 19. Jahrhundert)B

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Gefährlichkeit und Gefährdung, die jedenhistorischen Bruch begleitet. Luther selbstmusste sich im Oktober 1518 öffentlich fürseine Thesen rechtfertigen. Er wurde inAugsburg von einem Bevollmächtigten desPapstes verhört – und wiederholte, dassfür ihn die Heilsgewissheit allein auf dieVerheißung Christi gründe und nicht aufdie Macht der Kirche. Das Drama lief aufseinen Höhepunkt zu: Wer als Erster nach-gab, der hatte verloren, Papst oder Ketzer,Rom oder Wittenberg, die Macht oder dieProvinz, die alte Zivilisation oder das neue,rohe, raue deutsche Land.Luther sprach von einer deutschen Na-

tion, in seiner Schrift „An den christlichenAdel deutscher Nation“, die im August1520 erschien – ein kühner Wurf, hinterden es kein Zurück mehr gab, nicht fürihn und nicht für Papst Leo X. Luther, sowurde es oft interpretiert, prägte diese Na-tion mit seinen Worten und Schriften, erbaute sie auf als Gegenmacht zu Rom, alsIdentität, Kultur, Gemeinschaft. Das bleibtein Vermächtnis Luthers, bis heute. Dasist die Kontinuität bis zu Hitler, wie sieimmer wieder beschrieben wurde.In dieser Schrift formulierte Luther sei-

nen Appell, eine Kirche der Laien zu schaffen und die Idee eines allgemeinenPriestertums aller Getauften. Eine Art De-mokratisierung des Glaubens. Und ande-

rerseits führte das zum Bündnis zwischenGlauben und Fürstenmacht, das späte Fol-gen hatte, von der konfessionellen Klein-staaterei, die in Deutschland bis heute ihreSpuren hinterlassen hat, bis zum obrig-keitsstaatlichen Denken, weil der Glaubeunter die Macht des Adels gestellt wurde.Die Wirkung auch der anderen Schrif-

ten, die in diesen Jahren entstanden, warenorm: Die Gesamtauflage allein seiner287 Flugschriften, die bis 1525 erschienen,wird auf über zwei Millionen geschätzt.Kein Autor war siebzig Jahre nach Guten-bergs Erfindung so verbreitet wie Luther– der Ketzer, zu dem ihn der Papst im Jahrdarauf erklärte, gewann überlebensgroßeStatur als Reformator.Im Oktober 1520 erreichte die Nachricht

der päpstlichen Bannandrohungsbulle „Ex-surge Domine“ Luther – und im Dezemberverbrannte Luther in Wittenberg SchriftenRoms, darunter das Kirchenrecht und dieBulle. Von nun an also kämpften zwei Ket-zermächte um das Heil der Christenheit,so spitzte Luther, der Provokateur, denKonflikt zu. In Städten wie Erfurt undLeipzig regte sich der Zorn gegen Rom,gegen die Zentralmacht, Luthers Gegen-spieler Johannes Eck musste sich tätlicherÜbergriffe erwehren. Das Klima wurde gif-tiger, die Angriffe erfolgten direkt, es wareine Stimmung der Agitation, die das Land

ergriffen hatte und sich in weiteren Hetz-schriften zeigte – die medialen Mittel, diedirekte Kommunikation, der Feind, dervon außen kam, all das stachelte die Wutweiter an.Luther, so schien es in diesem Jahr, war

bereit, seine Rolle als radikaler Reformatoreinzunehmen: Mit seiner Schrift über die„babylonische Gefangenschaft der Kirche“will er im Rückgriff auf das Evangeliumdie von kirchlichen Dogmen überwucher-ten Fundamente des christlichen Glaubenswieder freilegen. Die dritte wichtigeSchrift des Jahres 1520 schließlich, „Vonder Freiheit eines Christenmenschen“, for-mulierte Freiheit als Freiheit von Rom,aber gleichzeitig als Gehorsam gegenüberGott – politische Freiheit war nichts, wasLuther interessierte.In gewisser Weise war das Werk damit

getan: Wäre Luther 1520 oder spätestens1521, als er sich in Worms vor dem Kaiserverantworten musste, hingerichtet worden– die Reformation, die längst eine breiteVolksbewegung geworden war, wäre auchohne ihn weitergegangen. Die wider-sprüchliche Mechanik der Neuzeit war inGang gesetzt worden, und Luther hatteseinen Anteil daran: Die Zukunft gehörtdem Individuum, das war die Signatur dersich anbahnenden Epoche, das Cogito vonDescartes und das Credo Luthers. All dassteckt auch in seinem berühmten Satz:„Hier stehe ich, ich kann nicht anders, Gotthelfe mir, Amen.“Diese Worte sollen in Worms gefallen

sein, wo sich Luther vor dem Kaiser recht-fertigen musste, und ob sie genau so fielen,ist im Grunde egal: Jeder, der wollte, glaub-te, dass er diese Worte gesagt hatte. Fürden Weg zum Showdown in Worms undauch zurück hatte der Kaiser ihm zwarfreies Geleit zugesagt – trotzdem reiste Lu-ther voller Angst ab. Und sein Landesherr,der sächsische Kurfürst Friedrich der Wei-se, ließ Luther heimlich zur Sicherheit aufdie Wartburg bei Eisenach bringen.Hier lebte Luther ein dreiviertel Jahr

lang, jetzt mit Vollbart und ohne Tonsur,als Junker Jörg. Die Welt, die er in Bewe-gung gesetzt hatte, drehte sich ohne ihnweiter. Auf der Wartburg begann er 1521

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September 1522Luthers Übersetzung des Neuen Testaments erscheint nach nur elf Wochen Arbeit. Er gilt seitdemals Mitbegründer der deutschenSchriftsprache.

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von 1522 bis 1529

1524Streitschriften gegen Luther von Bauernführer Thomas Müntzer und dem Philosophen Erasmus von Rotterdam erscheinen.Luther verlässt seinen Orden.

1525Der Bauernkrieg weitet sich aus.Luther predigt gegen den Bauernaufstand. Im Sommer werden die Aufstände blutig niedergeschlagen.

Juni 1525Luther heiratet die ehemalige NonneKatharina von Bora.

1528Luthers Schrift „Vom Abendmahl Christi. Bekenntnis“ erscheint.

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1524Der Aufstand der Bauern beginnt im Schwarzwald.

Mai 1525Bei der Schlacht von Frankenhausen wird der Bauernführer Müntzer gefangen genommen und zwölf Tage später enthauptet.

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1521–1544Kaiser Karl V. und Franz I. von Frankreich führen mehrere Kriege um die Vorherrschaft in Oberitalien, die mit dem Friedensschluss von Crépy beendet werden.

1529Im Herbst belagern die Türken zum ersten Mal die Stadt Wien.

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mit seinem größten Werk: Er übersetztedas Neue Testament ins Deutsche und trugso entscheidend mit dazu bei, dass jeder,der wollte, die Bibel lesen konnte. Für dieBreite, die Tiefe, die Ernsthaftigkeit desGlaubens war diese Übersetzung entschei-dend – es war eine theologische und lite-rarische Großtat von bleibender Wirkung.Lästermaul, Lockvogel, Gewissensbisse,

Schandfleck, Bluthund, Feuereifer, all dassind Worte, die Luther für seine Bibelüber-setzung erfand. Er schuf den „Wolf imSchafspelz“ und das „Buch mit sieben Sie-geln“ und lehrte die Deutschen auch, dasssie die „Zähne zusammenbeißen“.Die Sprache, direkt, plakativ, plastisch,

war immer Luthers Werkzeug – zusammenmit den Bildern von Lucas Cranach demÄlteren entstand so ein wort- und bild-mächtiges Riesenwerk, das in seiner Wir-kungsmacht schon die massenmediale Pro-paganda der Moderne ankündigte. Auf derWartburg aber, an diesem einsamen Ort,erkannte Cranach einen anderen Luther:weich, in sich gekehrt, verloren fast, dieHand greift ins Leere, der Blick geht insNichts, verdreht wirkt der Körper, als wän-de sich etwas in ihm. Der amerikanischePsychoanalytiker Erik Erikson hat in denFünfzigerjahren die Diagnose gewagt, dassLuther zeit seines Lebens unter psy-chischen Problemen litt und geplagt warvon Melancholie und schweren Schuldge-fühlen. In diesem Bild zumindest ist eineTraurigkeit und Erschöpfung zu erkennen. 1522 kehrte Luther zurück nach Witten-

berg und warf sich schon bald darauf indie nächste Schlacht: Der Abendmahlstreitbehandelte innerreformatorische Streitig-keiten und führte zu erneuten Spaltungenzwischen Luther auf der einen und demSchweizer Reformator Zwingli auf der an-deren Seite. Es ging um die Frage: SindChristi Leib und Blut real präsent beimAbendmahl? Luther sagte: Ja – wie die katholische

Kirche. Er wurde in den Jahren nach seinerRückkehr konservativer, kein Freund mehrradikaler Lösungen. Das zeigte sich auchin seiner Haltung zu den Bauernkriegenund zu sozialen Unruhen, die das Reicherschütterten, angeführt von den Bauern

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STIFTUNG LUTH

ERGEDENKSTÄTTEN / EPD-BILD

Luther-Porträt aus der Werkstatt von Lucas Cranach, um 1541: Zwischen Wut und Glauben

von 1530 bis 1539 v

1530Im „Augsburger Bekenntnis“ formulieren dieProtestanten ihr Glaubensverständnis. Nach der „Rechtfertigungslehre“ erlangt der Mensch Seelenheil nicht durch Geld oder fromme Werke, sondern allein durch die Gnade Gottes.

1532Mit dem Nürnberger Religionsfrieden findet die Verfolgung der Protestanten ein Ende.

1534Luthers erste vollständige Bibelübersetzung „Biblia,das ist die ganze Heilige SchriftDeutsch“ erscheint.

1539Der erste Band der Gesamtausgabe von Luthers Werken wird veröffentlicht.

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1531Mehrere protestantische Fürsten und Städte schließen im „Schmalkaldischen Bund“ eine Verteidigungskoalition gegen die kaiserliche Religionspolitik.

1534Heinrich VIII., König von England, lässt sich zum Oberhaupt der englischen, also anglikanischen,Kirche ernennen und sagt sich somit vom Papst los.

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Titelblatt vonLuthers Bibel-übersetzung 1534A

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Titel

und anderen sozialen Schichten, die sichwirtschaftlich und politisch zunehmend un-ter Druck gesetzt fühlten. Luther, dem sol-che weltlichen politischen Fragen ziemlichegal waren, trat den „Mordischen und Reu-bischen Rotten der Bawren“, wie er sie ineiner Schrift 1525 nannte, entschieden ent-gegen. Angetrieben wurde er dabei von der

Hoffnung, durch ein Bündnis mit den Fürs-ten seine Reformation zu retten. Er wolltesie vor einer Radikalisierung schützen, dieer nicht mehr kontrollieren konnte. Waszur Folge hatte, dass die Reformation ihrenCharakter als Volksbewegung verlor. Eswaren, so sagte Luther selbst, zwei Reiche,eines von Gott und eines der weltlichenMacht. Die obrigkeitsstaatliche deutscheGehorsamstradition hat hier eine Wurzel. 1530 wurde die Position der Protestan-

ten, wie sie seit 1529 genannt wurden,schriftlich fixiert und dem Kaiser überge-ben: Die „Confessio Augustana“ war einwichtiger Schritt, das Überleben der Re-formation zu sichern. Die theologischenVordenker der Reformation waren, wie soviele Revolutionäre, weniger radikal alsam Anfang, um den Erfolg zu sichern. Doch entwickelte Luther schon bald

eine Sprache des Hasses. Man solle dieBauern „zerschmeißen“, schrieb er 1525,sie „würgen und stechen, heimlich oder öf-fentlich, wer da kann, gleich als wenn man

einen tollen Hund totschlagenmuss“. Das war der Ton für Lu-thers spätere Jahre, die eineReihe von blutrünstigen, po-gromartigen Schriften aufwei-sen – Luthers Worte wurdenWaffen.Der Mann, in dessen Theo-

logie die göttliche Gnade einezentrale Rolle spielt, wurde zueinem Mann, der sich und sei-ne Welt mehr und mehr vonFeinden umgeben sah. Hierdas radikale Heilsversprechen,dort die radikale Verdammung,auch das war Luther. Bis zu sei-nem Tod 1546 suchte sich dieseheiße Wut Luthers immerneue Ziele: die Türken etwaund besonders die Juden. Es begann, indem Luther in

seiner ersten Schrift „Dass Je-sus Christus ein geborener Jude sei“ 1523der Hoffnung Ausdruck verlieh, viele Ju-den könnten dank der reformatorischenAuslegung der Schrift erfolgreich missio-niert werden: Konversion sei der natürli-che Gang der Dinge. Zwanzig Jahre späterhatte sich Luthers Haltung geändert. „Keinblutdürstigeres und rachgierigeres Volk hatdie Sonne je beschienen“, schreibt Luther1543 in „Von den Juden und ihren Lügen“,„sie seien darum Gottes, dass sie sollenund müssen die Heiden morden und wür-gen.“ Die Juden seien „Zungendreschervor Gericht“, von „Silbersucht“ befallen,„Herren der Welt“, die die Christen aus-beuten und verachten, „den Gojim fluchen,speien und maledeien“. Also zweifle nicht,so folgert er, „dass du nächst dem Teufelkeinen bittereren, giftigeren Feind hast alseinen rechten Juden, der mit Ernst einJude sein will“.Sein Ratschlag: Verbrennt die Synago-

gen, zerstört ihre Wohnhäuser, nehmt denJuden alles Hab und Gut und Gold, zwingtsie zu harter körperlicher Arbeit, verbietetihre Geldgeschäfte, „siebenmal höher alsandere Diebe“ müssten diese Wuchererhängen. Die christliche Obrigkeit solle es

wie die „treuen Ärzte tun: Wenn das hei-lige Feuer in die Knochen gekommen ist,fahren sie mit Unbarmherzigkeit zu undschneiden, sägen, brennen Fleisch, Adern,Knochen und Mark ab“.Das war auch die Sprache und das Den-

ken der Pogrome und der Vernichtung im20. Jahrhundert. Und Tage vor seinem Tod schrieb er

nach einem Schwächeanfall an seine FrauKatharina von Bora: „Aber wenn du wärest da gewest, so hättestu gesagt, eswäre der Juden oder ihres Gottes Schuldgewest. Denn wir mussten durch ein Dorfhart vor Eisleben, da viel Juden innenwohnen, vielleicht haben sie mich so hartangeblasen.“Die Heirat mit Katharina von Bora 1525,

einer ehemaligen Nonne, die aus dem Klos-ter geflohen war und ihm sechs Kinder ge-bar, war ein Ereignis von besonderer Sym-bolkraft. Schon früh hatte Luther das Ehe-verbot für Priester infrage gestellt. Undeinzelne Pfarrer hatten den Zölibat schonbald gebrochen, aber die beiden warennun das Urpaar, Adam und Eva des pro-testantischen Pfarrhauses, das als Insti -tution des Glaubens, aber vor allem der

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AKG-IMAGES

Luther-Handschrift aus dem Jahr 1543 Gottes Wort und Wille in der Heiligen Schrift

von 1540 bis 1555

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1543Die antisemitische Schrift„Von den Juden und ihrenLügen“ wird publiziert.

1546Luther stirbt am 18. Februarin Eisleben.

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1541Auf dem Regensburger Reichstag kommt es zu einem Religions-gespräch zwischen Protestanten und Katholiken, das zu keiner Annäherung führt.

1545–1563Mit dem Konzil von Trient versucht die katholische Kirche sich zu erneuern.

1547In Frankreich beginnt König Heinrich II. mit der Verfolgung der Hugenotten, der Pro-testanten des Landes.

September 1555Im Augsburger Religionsfrieden wird geregelt, dass Protestanten, sofern sie das Augsburger Bekenntnis anerkennen, reichsrechtlichKatholiken gleichgestellt werden. Kaiser Karl V., der dagegen ist, dankt 1556 ab. Die Entscheidung der Konfessionszugehörigkeit eines Landes wird dem jeweiligen Fürsten überlassen.

Bildung Deutschland bis heute prägt. An-gela Merkel, die Kanzlerin, ist ein Pfarr-kind und der Präsident Joachim Gauck einPfarrer. Am 18. Februar 1546 starb Martin

Luther in Eisleben, auf einer Reise, um einen Streit zu schlichten, und nicht da-heim in Wittenberg: Das Pflichtbewusst-sein gehört zu seinem Erbe, der Trotzauch, die Wut und das Wort, das durchihn fast etwas Heiliges bekam in der deut-schen Kultur.Er prägte ein Land, das durch die Folgen

seiner Tat zersplitterte und im Dreißigjäh-rigen Krieg verwüstet wurde. Er prägte esdurch seine Haltung, durch seine Botschaft,durch etwas Überwölbendes, das mit demChristentum verbunden war und mit derKultur, die daraus erwuchs. Das Erbe Lu-thers ist groß. Es gibt kaum jemanden, derdieses Land, seine Kultur und seine Men-schen so geprägt hat wie er.Und auch die Harschheit seiner Worte

spiegelt sich auf eigenartige Weise in derHärte der gegenwärtigen Auseinanderset-zungen darüber, wer zu diesem Land ge-hört und wer nicht. Luther sah schon da-mals den Islam auf dem Vormarsch, er warbeseelt von einer Türkenangst, voller Sor-ge über eine Gefahr, die alles vernichtenkönnte, woran er glaubte. „Und man sie-het’s auch zwar wohl an der Tat“, schrieber 1529, „wie greulich er die Leut, Kind,Weiber, jung und alt erwürget, spießet, zu-hacket, die ihm doch nichts getan, und sohandelt, als sei er der zornige Teufel selbsleibhaftig.“Als wahrhaft endzeitliche Katastrophe

erschien ihm die militärische Bedrohungdurch die Armeen des Osmanischen Rei-ches, die bis weit nach Europa vorgedrun-gen waren und schließlich Wien belagerten– die Angst hetzte ihn voran, der Angstlieh er sein Wort.Die Vernunft wiederum, wie sie die

Grundlage der Aufklärung und schließlichder Moderne war, als Vernunft, die demMenschen gegeben ist und ihn erst zumMenschen macht, galt Luther wenig – derMensch wurde für ihn nur durch Gott ge-

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ULLSTE

IN BILD

Luthers Frau Katharina von Bora 1526: Eine ehemalige Nonne, die aus dem Kloster geflohen war

Titel

rechtfertigt. Die Enge, aus der er kam, ver-ließ ihn sein Leben lang nie und prägtesein Denken. Er war ein Mann, der in ganzEuropa gelesen wurde, der selbst allerdingsEuropa kaum kannte.Luthers Widersprüche prägten die Jahr-

hunderte, die ihm folgten. Die PrägungLuthers ist die Prägung dieses Landes –und die allgemeinen Krisenphänomenedamals wie heute ähneln sich. Populisti-sche Wut? Antielitärer Ekel? Die Abnei-gung gegen das Denken und die Kulturunserer west lichen Nachbarn? Der Hangzum Antikapitalismus? Der deutsche An-tisemitismus? Auch an Luther lässt sichdas studieren. Er war ein Stichwortgeberdes Ressentiments. Und zugleich schuf er die Figur des

Christen, der allein auf sich gestellt,

ohne Vermittlung von Tradition und Kir-che, Gottes Wort und Willen in der Hei -ligen Schrift vernimmt und damit selbst-bewusst gegen die etablierte Ordnung auf-begehrt.Martin Luther war ein Mann zwischen

Gestern und Heute, zwischen Glaube undWut – und die Welt wird heute noch zer-rissen von diesen Extremen. Er war einMann von Gehorsam und Umsturz, er ver-traute in die Macht Gottes und der Gewiss-heit, dass die Welt an ein Ende kommenwürde – und die Kräfte, die an ihm zerrtenund auch seine Zeit auseinandertrieben,erinnern an heutige Konstellationen.Luthers Faszination ist es, zugleich fern

und nah zu sein, allzu bekannt und fastvöllig unbekannt. In vielem bewirkte erdas Gegenteil von dem, was er wollte. Er

war tatsächlich ein Revolutionär wider Wil-len: Was er tat, das widerfuhr ihm. DieAbsicht konstruierte, wie so oft, die Nach-welt. Er war damit Reformator und Reak-tionär in einer Person. Er ist der Riss, derdurch das Christentum geht und damit, invielem, durch die Welt.Es gibt heute eine Playmobil-Figur von

Luther zu kaufen. Da schaut er ganz harm-los aus.

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Lyndal Roper: „Der MenschMartin Luther. Die Biographie“.S. Fischer; 736 S.; 28 EuroDie Oxford-Historikerin ist eineder führenden Expertinnen fürdas 16. Jahrhundert. Zehn Jahrelang hat sie an ihrer Lutherbio-grafie gearbeitet, für die sie ausseinen Schriften und Briefendas komplexe Bild eines Man-nes am Übergang von Mittelalterund Neuzeit herausarbeitet. Das Standardwerk für die kom-menden Jahre.

Willi Winkler: „Luther. Ein deut-scher Rebell“. Rowohlt Berlin;640 S.; 29,95 EuroWinkler, Autor bei der „Süddeut-schen Zeitung“, erzählt in seinerBiografie von Luther, dem Moder-nisierer und Rebellen. EinemMann des 16. Jahrhunderts, derseine Welt vom Kopf auf dieFüße gestellt hat.

Heinz Schilling: „Martin Luther: Rebell in einer Zeit des Umbruchs“.C.H. Beck; 728 S.; 19,95 EuroMartin Luther in seiner Zeit:Schilling, emeritierter Professorfür die Europäische Geschichte

der frühen Neuzeit an der Humboldt Universität in Berlin,verortet Luther in seiner Epo-che – zwischen Bauernkriegen,Medienrevolution und theologi-schem Disput.

Dietmar Pieper, Eva-Maria Schnurr(Hg.): „Die Reformation. Aufstandgegen Kaiser und Papst“. DVA; 256 S.; 19,99 EuroSPIEGEL-Autoren schildern denepochalen Wandel, den Lutherund andere Kirchenrebellen vor500 Jahren einläuteten – undzeigen, warum deren Ideen einesolche Wirkung hatten.

Thomas Kaufmann: „Erlöste undVerdammte. Eine Geschichte derReformation“. C.H. Beck; 508 S.;26,95 EuroKaum ein Ereignis hat die Weltso tief greifend verändert wiedie Reformation. Kaufmann, Pro-fessor für Kirchengeschichte an der Universität Göttingen,legt mit „Erlöste und Verdamm-te“ eine äußerst faktenreicheGeschichte dieser Bewegungvor, die Europa in Aufruhr ver-setzte.

Volker Leppin: „Die fremdeReformation. Luthers mystischeWurzeln“. C.H. Beck; 248 S.; 21,95 EuroLuther mag die Erschaffung der modernen Welt angestoßenhaben, doch Volker Leppin,Kirchen historiker an der Universi-tät Tübingen, erzählt in seineraufregenden Studie eine andereGeschichte: von Luther, demmystischen Schriftsteller, dernoch tief im Glauben des Mittel-alters verwurzelt ist.

Johann Hinrich Claussen:„Reforma tion. Die 95 wichtigstenFragen“. C.H. Beck; 176 S.; 10,95 EuroVon „Hat die Reformation mitMartin Luther begonnen?“ über„Hat es den Thesenanschlagvon 1517 tatsächlich gegeben?“bis „Was ist das Prinzip des Protestantismus?“ – 95 klugeFragen und Antworten über Luther, sein Leben, seine Zeitund seinen Glauben. Claussenist der Kulturbeauftragte derEvangelischen Kirche inDeutschland und schreibt fürden SPIEGEL.

Georg Diez: „Martin Luther,mein Vater und ich“. C. Bertelsmann; 256 S.; 17,99 EuroDiez ist in einem Pfarrhaus auf-gewachsen, sein Vater, seinGroßvater – alle waren Pfarrer.Sein Buch ist politischer Essayund autobiografische Tiefen -bohrung. Der SPIEGEL-Autor be-gibt sich auf die Suche nachdem Protestantismus in sichselbst, nach seiner Familien -geschichte – und danach, ob Luther der heutigen Zeitüberhaupt noch etwas zu sagen hat.

Bruno Preisendörfer:„Als unser Deutsch erfundenwurde“. Galiani Berlin;496 S.; 24,99 EuroEine gebildete Reise in die Lutherzeit. Wie aß man? Wiekleidete man sich? Wie lebte essich als Mitkämpfer von Götzvon Berlichingen? Der Literatur-wissenschaftler Preisendörfererzählt, wie Südamerika erobertund Nürnberg belagert wurde.Wie Albrecht Dürer malte – undwie Luther die deutsche Spra-che erfand.

Die wichtigsten Bücher zum Lutherjahr

Im nächsten Heft:Ritter, Tod und Teufel – die Menschen imMitteleuropa des 16. Jahrhunderts

Video: Luthers Leben

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