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- DER FREIE HERR KNIGGE - LEBENSKLUGHEIT, REVOLUTION UND PFÄLZER WEIN (SWR2 / 2006) ( von Lutz Neitzert) MUSIK: KNIGGE "Klaviersonate Es-Dur / 1. Satz" (Claudia Birkholz) KNIGGE: "Ich will nicht etwa ein Komplimentierbuch schreiben, sondern einige Resultate aus den Erfahrungen ziehen, die ich gesammelt habe, während einer nicht kurzen Reihe von Jahren, in welchen ich mich unter Menschen aller Arten und Stände habe umhertreiben lassen... Was die Franzosen den esprit de conduite nennen, die Kunst des Umgangs mit Menschen ! Aber habe ich denn auch wohl Beruf, darüber zu schreiben, ich, der ich selbst in meinem Leben vielleicht sehr wenig von diesem Geiste gezeigt habe? Nun - habe ich widrige Erfahrungen gemacht, die mich von meiner eigenen Ungeschicklichkeit überzeugt haben - desto besser! Wer kann so gut vor der Gefahr warnen, als der, welcher darin gesteckt hat? " MUSIK: (der traurige Satz aus) KNIGGE "Klaviersonate Es-Dur / 2. Satz" "Die Toren und Narren in Deutschland feiern ein Freudenfest, und die Klugen und die Rechtschaffenen trauern, denn es starb ein edler deutscher Mann, Adolph Freiherr von Knigge. Unermüdet geißelte er Toren und Affen, wo er sie fand, züchtigte Bösewichter und 1

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- DER FREIE HERR KNIGGE - LEBENSKLUGHEIT, REVOLUTION UND PFÄLZER WEIN (SWR2 / 2006)

( von Lutz Neitzert)

MUSIK: KNIGGE "Klaviersonate Es-Dur / 1. Satz" (Claudia Birkholz)

KNIGGE: "Ich will nicht etwa ein Komplimentierbuch schreiben, sondern einige

Resultate aus den Erfahrungen ziehen, die ich gesammelt habe, während einer nicht

kurzen Reihe von Jahren, in welchen ich mich unter Menschen aller Arten und

Stände habe umhertreiben lassen...

Was die Franzosen den esprit de conduite nennen, die Kunst des Umgangs mit

Menschen !

Aber habe ich denn auch wohl Beruf, darüber zu schreiben, ich, der ich selbst in

meinem Leben vielleicht sehr wenig von diesem Geiste gezeigt habe?

Nun - habe ich widrige Erfahrungen gemacht, die mich von meiner eigenen

Ungeschicklichkeit überzeugt haben - desto besser!

Wer kann so gut vor der Gefahr warnen, als der, welcher darin gesteckt hat?"

MUSIK: (der traurige Satz aus)

KNIGGE "Klaviersonate Es-Dur / 2. Satz"

"Die Toren und Narren in Deutschland

feiern ein Freudenfest,

und die Klugen und die Rechtschaffenen

trauern, denn es starb ein edler deutscher

Mann, Adolph Freiherr von Knigge.

Unermüdet geißelte er Toren und Affen,

wo er sie fand, züchtigte Bösewichter und

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(hier ein kurzes musikalisches Zitat aus

der "Marseillaise" in die Sonate

einblenden)

half den unschuldig Leidenden. Mit

männlichem Mute griff er jedes Vorurteil

an und achtete nicht der unmenschlichen

Neckereien, womit das Heer der Pinsel

und Buben ihn, wie jeden rechtlichen

Mann, um so heftiger verfolgte, da diese

elenden Pygmäen vor dem Talente und

dem unerschöpflichen Witze des guten

Knigge zu beben Ursache hatten.

So ruhe denn sanft in deiner Gruft, edler,

oft verkannter Dulder ! Verfolgter Freund

des Rechts und der Wahrheit, Feind

jedes schändlichen Aberglaubens und

jedes Wahn; unermüdeter Arbeiter fürs

Menschenglück, ruhe sanft !"

Am 6. Mai 1796 starb Adolph Freiherr von

Knigge – nach einem kaum 44 Jahre

dauernden Leben, in welchem er reichlich

Unruhe gestiftet, Furore gemacht,

Unmengen Papier beschrieben und

ausgesuchte Freund- und Feindschaften

gepflegt hatte.

Die Wohlmeinenden unter seinen

Zeitgenossen jedenfalls waren sich

sicher, daß die Nachwelt ihn einmal als

einen großen Menschenfreund und –

kenner schätzen würde und daß

dereinst...

"... Wissensdurstes herwallende

Jünglingsscharen ihn lieben und ihn

preisen werden !" Nun, die Jahrhunderte überlebt hat allein sein Name. Und wüßte er, wozu "Knigge"

heute zum Synonym geworden ist, er würde sich im Grabe umdrehen.

War ihm doch kaum etwas mehr zuwider als steife Etikette.

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Eine Ironie der Geschichte!

Doch beginnen wir von vorn.

Geboren wird der "tiefe Kenner der Menschen und der Bestien" (wie Heinrich Heine

ihn nannte) in dem kleinen Örtchen Bredenbeck bei Hannover. Und danach reiht

jener beredte Ratgeber in Fragen der Lebensführung in seiner Biographie eine

private Katastrophe an die andere und einen beruflichen Mißerfolg an den nächsten.

Seine Eltern hinterlassen ihm eine gediegene aristokratische Ausbildung und einen

imposanten Schuldenberg. Alles, was er anfasst, beginnt mit einem

vielversprechenden Höhenflug und endet regelmäßig in der Tinte.

Als 19jähriger startet er in der Residenz des hessischen Landgrafen zu einer

höfischen Laufbahn comme il faut. Erste Erfolge stellen sich schon bald ein, nichts

scheint sein weiteres Fortkommen zu hindern und schließlich erreicht er als Leiter

der fürstlichen Meerschaumpfeifenmanufaktur und Planungsbeauftragter für den

Zichorieanbau einen ersten beruflichen Gipfel. Doch dann ziehen unvermittelt

dunklere Wolken auf über Junker Knigge und er gerät in das unheilvolle Gespinst

höfischer Intrigen. Vor allem hat er den verhängnisvollen Fehler begangen, die

Fürstin, welche offenbar Gefallen gefunden hat an dem jungen lebhaften

Hannoveraner, zurückzuweisen.

Und schon früh ahnt er, wie brüchig die Schloßfassaden sind, und daß er in einer

Epoche des Umbruchs lebt, in der auch ihm möglicherweise eine bedeutsame Rolle

zugedacht sein könnte. Die Welt des Adels, der er entstammte, hatte sichtbar und

spürbar begonnen zu bröckeln, und neue Ideen waren am Horizont aufgetaucht.

MUSIK: (leise im Hintergrund anspielen)

"Ah ! Ça ira, ça ira, ça ira - Les Aristocrates à la Lanterne!"

Inspiriert von Spöttern wie Georg Christoph Lichtenberg, mit dem er Tür an Tür

wohnt während seiner Studienjahre in Göttingen, und geschult an den Autoren der

französischen und englischen Aufklärung, an Voltaire oder Sterne, führt er seine

spitze Feder von da an in den Kampf gegen Absolutismus und Gottesgnadentum.

Schließlich wusste er aus eigener Anschauung, wovon er sprach.

KNIGGE: "Es ist schwer, an Höfen nicht flach zu werden, sondern Eigenheit und

Gepräge zu behalten. Wenn man beständig jene leere, konventionelle Höflichkeits-

und Falschheitssprache hört, alle seine Worte nach dem Maßstabe schlauer,

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lauernder Vorsichtigkeit abmessen und jede Handlung nach politischen Rücksichten

modeln muß. Wer wird da nicht zuletzt zu Grunde gehn?"

Und nach zwei an Eifersüchteleien, Amouren und Tritten in diverse Fettnäpfchen

desaströs gescheiterten Hofkarrieren – in Kassel und in Hanau – steigt er mit Ende

Zwanzig endgültig aus der Aristokratenlaufbahn aus.

Einmal kommt es während einer von ihm geleiteten Aufführung des Schloßtheaters

zu einem veritablen Eklat, als der als Schauspieler mitwirkende Potentat, vom

Publikum verspottet, wutschnaubend die Bühne verläßt.

Und auch seine unverhohlene Vorliebe für Obskures – für Magie und Alchimie -

hatten ihn zur beliebten Zielscheibe für den Hohn und den Spott der Hofgesellschaft

werden lassen.

Fortan tituliert er sich selbstbewußt als:

KNIGGE: "Der Freie Herr Knigge!"

Zunächst zieht er sich für einige Jahre völlig zurück und lebt als komischer Kauz in

Frankfurt am Main.

KNIGGE: "Dieser Ruf verfolgte mich... Da ging dann kein Geisterseher, kein

reisender Geheimnisjäger und kein bettelnder Goldmacher an meinem Haus

vorbei!... Doch von diesem Allen nun will ich mich unter dem Schutze des glücklichen

freien Landlebens losreißen; will natürlich, grade und ungekünstelt handeln gegen

jedermann; jede kleine Freude unversalzen zu genießen suchen; mich zeigen, wie

ich bin!"

Und dann, dann entdeckt er das Paradies ! Und zwar zu Fuß:

ATMO: eine pastorale Geräuschkulisse

mit Vogelgezwitscher, Bächleinrauschen,

Muh & Mäh etc. pp.

KNIGGE: "Das Fußgehn ist gewiß die

angenehmste Art zu reisen. Man genießt

die Schönheiten der Natur; man kann sich

unerkannt unter allerlei Leute mischen,

beobachten, was man außerdem nicht

erfahren würde. Man ist ungebunden;

kann das freundlichste Wetter und den

schönsten Weg wählen; man stärkt den

Körper; wird weniger gerüttelt. Ich bin auf

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diese Weise einige Kreise von

Deutschland verschiedenemal

durchwandert und habe auf solche Art die

erste genauere Bekanntschaft mit dem

Paradiese von Deutschland, mit der

schönen Pfalz, gemacht. Hier wurde der

Entschluß in mir reif, eine Zeitlang mich

da niederzulassen, wo ich nachher so

manche glückliche Stunde in der

herrlichsten Gegend, an der Seite edler

Menschen und unvergeßlich lieber

Freunde verlebt habe..."

Wie viele aus seiner Generation, so sucht auch Knigge – begeistert von der Lektüre

Rousseaus – in einem pastoralen Zurück-zur-Natur den ersehnten Ausweg aus den

einschnürenden Zwängen des Absolutismus und den un-natürlichen Künstlichkeiten

des Barock.

Und in der Pfalz glaubt er nun, alle Zutaten beisammen zu haben: eine malerische

Agrarlandschaft mit, wie es ihm schien, noch erdverbunden unverdorbenen

Eingeborenen - und dazu allerorten einen guten Tropfen.

( das "Plopp" eines Korkens und das anschließende Gurgeln des Weins (Riesling :-) )

im Glas )

Wobei er allerdings auch die besonderen Unannehmlichkeiten und Kalamitäten der

ländlichen Provinz nicht verschwiegen hat:

KNIGGE: "...Aber ich habe doch auch gefunden, daß diese Art zu reisen in

Deutschland mit einiger Schwierigkeit verknüpft ist. Zuerst hat man die

Ungemächlichkeit, nur wenig Bücher, Schriften und dergleichen mit sich führen zu

können. Diesem kann man indessen dadurch einigermaßen abhelfen, daß man, was

etwa ein Bote nicht tragen kann, mit der Post in die Hauptörter schickt, durch welche

man reisen will. Allein eine zweite Unbequemlichkeit besteht darin, daß diese in

Deutschland für einen Mann von Stande ungewöhnliche Art zu reisen zu viel

Aufmerksamkeit erregt, und daß die Gasthalter nicht eigentlich wissen, wie sie uns

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behandeln sollen. Ist man nämlich besser gekleidet als gewöhnliche Fußgänger, so

hält man uns entweder für verdächtige Menschen, für Abenteurer oder für Geizhälse;

man wird beobachtet, ausgefragt, und mit einem Worte, man paßt nicht in den Tarif,

nach welchem die Wirte ihre Fremden zu taxieren pflegen... Hat man große

Tagereisen zu Fuße zu machen, so genieße man früh morgens nichts als ein Glas

Wasser. Hat man dann einige Stunden zurückgelegt und fühlt sich ermüdet, so ist

Kaffee und Brot zur Erquickung heilsam. Selten ein Glas Wein kann auch nicht

schaden; Branntwein macht müde und schlaff... Auch verlasse man sich nicht auf die

Bauern, wenn sie uns Fußwege anzeigen, die näher als die gewöhnlichen sein

sollen... Und macht man den Weg durch einen unbekannten Wald und denkt binnen

einen oder zwei Tagen wieder zurückzukehren, so streue man hie und da

abgerissene Zweige auf seinen Pfad, um darnach den Weg wiederzufinden... Zudem

gehe man nie ohne Gewehr, wenigstens nie ohne Stock!"

In diesem Umfeld und vor jenem weltanschaulichen Hintergrund also verfasst er

seine Lebensregeln. Und demgemäß vermischen sich darin politisch philosophische

Glaubenssätze mit ganz praktischen Tipps zur Bewältigung des Alltags eines

Bürgers im ausgehenden 18. Jahrhundert.

Ganz konkret etwa instruiert er den Leser über das angemessene...

ATMO: "Wirtshaus"

KNIGGE:"...Betragen in Wirtshäusern:

Ich rate, keine fremden Weine, sondern

nur den gemeinen Tischwein zu

begehren. Es kommt doch alles aus

demselben Fasse, nur mit dem

Unterschiede, daß das, was man uns als

alten oder fremden Wein verkauft,

kostbareres Gift ist, als das, womit man

uns am allgemeinen Wirtstische

versorgt! ... Der Wein erfreut des

Menschen Herz, und wenn man dies

Vehiculum nicht als ein notwendiges

Bedürfnis, ohne welches man durchaus

nicht in frohe Laune zu setzen ist,

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sondern als ein Erweckungsmittel

braucht, um in trüben Augenblicken den

natürlichen guten Humor, der nie ganz

aus dem Gemüte eines ehrlichen

Biedermanns weichen darf, unter dem

Schutte von häuslichen Sorgen

hervorzurufen, so habe ich nichts

dagegen einzuwenden, sondern gestehe

vielmehr, daß ich selbst die wohltätige

Wirkung dieser herrlichen Arzenei aus

dankbarer Erfahrung kenne. Die

Wirkungen des Weins auf die Gemüter

der Menschen sind aber nach ihren

natürlichen Temperamenten sehr

verschieden. Manche zeigen sich äußerst

lustig; andre sehr zärtlich, wohlwollend

und offenherzig. Andre melancholisch,

schläfrig, verschlossen; andre hingegen

geschwätzig und noch andre zänkisch,

wenn sie berauscht sind!"

Er wurde ein begeisterter Wanderer und Flaneur - seine neuen Freiheiten genießend

und immer mit offenen Augen auf der Suche nach lebendigem Anschauungsmaterial

und neuen Sujets für seine Bücher.

Und wie viele empfindsame Intellektuelle (in der Nachfolge des "jungen Werther"), so

war auch er ein leidenschaftlicher Briefeschreiber. Es war die Ära der

handschriftlichen Korrespondenzen über Freud und Leid und Gott und die Welt.

Sensible Seelen teilten sich all ihre Befindlichkeiten und ihre Erlebnisse mit. Wobei

die Grenzen zwischen privat und literarisch oft verwischten. Auch Knigges zahllose

Briefe changieren stets zwischen banal und vielsagend.

KNIGGE: "Mannheim, den 27sten April -

Im Gasthofe `Zum goldenen Bocke´.

Teuerste Freundin! Aus einer der schönsten Städte in Teutschland schreibe ich

Ihnen auf schlechtem Papiere, denn ich habe noch nicht ausgepackt. Auch bleibe ich

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nur kurze Zeit hier, also haben diese Zeilen nur die Absicht Ihnen zu sagen, daß ich

auf meiner kleinen Reise recht vergnügt und gesund bin. Ich denke so oft an Sie!"

MUSIK: KNIGGE "Klaviersonate C-Dur / 2. Satz"

KNIGGE: "Heidelberg, den 17ten Mai -

Kaiserslautern, wo ich die Nacht zubrachte, weil ich dort mit jemand zu reden hatte,

scheint jetzt noch öder wie ehemals, seitdem die Cameral-Schule von da hierher

nach Heidelberg verpflanzt worden ist. Bis Kaiserslautern läßt man zur linken Seite

einige angenehme Ebenen liegen; von dort aus, bis nach Dürkheim, ist die ganze

Gegend bergig, aber höchst reizend. Man hat eine angenehme Aussicht, die aber

doch nicht zu vergleichen ist mit der, die in dem unfern von da gelegnen Städtchen

Neustadt und in dem Dorfe Herxheim jeden bezaubert, der empfänglich für die

Schönheiten der Natur ist. Sie kennen meine Vorliebe für die Pfalz; in diesem

schönen Lande, und besonders in Freinsheim, Deidesheim, in Monzingen und

Kreuznach, in Monsheim, in Weinheim, in Bretten und Zeizenhausen, habe ich

glückliche, heitre Tage verlebt. Einst, von Kummer aller Art tief niedergebeugt und

zum Mißmut hinabgesunken, machte ich eine Fußreise in der Pfalz umher, zur Zeit

der Weinlese, und fand in dem Genusse unschuldiger ländlicher Freuden den

verlornen Frieden wieder.

So zwanglos verstrichen die kurzen Tage! Einen so leichten Ton im Umgange kennt

man auch nur in den Wein-Ländern. In den nördlichen Gegenden von Teutschland,

wo Bier und Branntwein und eine Menge materieller Speisen und die feuchte Luft die

Menschen träge, schwerfällig, mißlaunig und bedenklich macht, da wird alles

abgemessen und abgezirkelt, und während man sorgfältig überlegt, ob dieser oder

jener kleine, unschuldige Schritt sich mit den unzähligen Konventionen und

Rücksichten vereinigen läßt, entflieht der Augenblick des Genusses. Glückliche

Pfälzer!"

Im Kontrast zum uniformierten und im Korsett der Etikette deformierten Höfling

erfreut er sich nicht zuletzt an der pittoresken Vielfalt der Mentalitäten der

verschiedenen sozialen und regionalen Milieus. Er preist das bunte Treiben

außerhalb der Schloßmauern, beobachtet seine Mitmenschen dabei genau und

kategorisiert - augenzwinkernd.

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MUSIK: KNIGGE

"Klaviersonate C-Dur / 1. Satz"

KNIGGE: "Der treuherzige, naive,

zuweilen ein wenig bäuerische, materielle

Bayer ist äußerst verlegen, wenn er auf

alle verbindlichen, artigen Dinge

antworten soll, die ihm der feine Sachse

in einem Atem entgegenschickt; dem

schwerfälligen Westfälinger ist alles

hebräisch, was ihm der Österreicher in

seiner ihm gänzlich fremden Mundart

vorpoltert; die zuvorkommende Höflichkeit

und Geschmeidigkeit des durch

französische Nachbarschaft polierten

Rheinländers würde man in manchen

Städten von Niedersachsen für

Zudringlichkeit, für Niederträchtigkeit

halten! Man glaubt da, ein Mann, der so

äußerst nachgiebig ist, müsse gefährliche

und niedrige Absichten haben oder

müsse falsch oder sehr arm und

hilfsbedürftig sein, und oft ist dort ein

wenig zu weit getriebene äußere

Höflichkeit hinlänglich, den Mann, der

sich am Rheine dadurch allgemeine Liebe

erwerben würde, an der Leine verächtlich

zu machen!"

Vor allem aber interessieren ihn die Lebensumstände der kleinen Leute – der

Leibeigenen, der Bauern und der Handwerker. Und dabei setzt er für die Zukunft

offenbar einige Hoffnung in die Segnungen der beginnenden Industrialisierung und

die damit sich völlig neu organisierenden Arbeitswelten jenseits der feudalen

Gesellschaft.

Ein augenfälliges Exempel für die ihm dabei vorschwebende schöne neue Welt, das

findet er gleich in der Nähe, in Heidelberg.

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KNIGGE: "Es gibt Gegenden, die, wenn ich so reden darf, einen üppigeren Anblick

gewähren, wo Natur und Kunst gemeinschaftlich eine unermeßliche Tafel voll

gehäufter Schätze vor uns hingelegt haben, wie zum Beispiel die Landschaft, welche

man von Oppenheim oder von Hochheim aus überschauet; aber keine hat eine

solche Mannigfaltigkeit wie die von Heidelberg.

Dazu tragen die Manufakturen das ihrige bei. Die beträchtlichste darunter ist die

Seiden-Spinnerei. Jedes pfälzische Dorf ist verbunden, eine bestimmte Anzahl

Maulbeer-Bäume zu ziehn, um die Blätter in der Fabrik zu verkaufen, wo sie zu

Fütterung der Würmer gebraucht werden...

MUSIK: ein schönes "Spinnerinnen-Lied"

("Spinn, spinn, meine liebe Tochter" o.ä.)

...Und wo besonders arme Mädchen ihr

Brot finden. Es ist eine Wonne anzusehn,

wie diese fröhlich ihre Arbeit treiben und

dabei in Chören Lieder singen. Und das

ist kein Gebrülle, wie man es in den

Spinnstuben im nördlichen Teutschlande

hören muß, sondern ein harmonischer,

zweistimmiger und dreistimmiger Gesang

von Mädchen, deren einige recht hübsch

sind. Wie denn überhaupt in der Pfalz die

Musik bis in den niedrigsten Ständen in

großer Vollkommenheit getrieben wird."

Daß ausgerechnet die Weberzunft, wie wir heute wissen, das erste Opfer des

Kapitalismus werden sollte, das konnte Knigge nun wirklich nicht ahnen !

Der Abneigung gegenüber dem blasierten Gehabe der Oberschicht entsprach eine

Zuneigung auch zu den kulturellen Hervorbringungen der Unterschicht. Gerade in

Künstler- und Schriftstellerkreisen versuchte man damals bewußt, das Volkstümliche

wieder ernster und sogar zum Vorbild zu nehmen.

MUSIK: KNIGGE

"Klaviersonate B-Dur / 1. Satz"

Vor allem in der Musik gab es plötzlich

wieder beschwingtere Melodien. Und

auch die Gesellschaftstänze verloren

mehr und mehr ihre aristokratische

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Steifheit.

Doch während bei Hofe die Menuette und

Sarabanden nach streng vorgegebenen

Choreographien getanzt wurden, bedurfte

es beim bürgerlichen Tanzvergnügen

doch offenbar einiger Maßregeln zur

Vermeidung unsittlicher Exzesse.

KNIGGE: "Vom Betragen beim Tanze:

Ich habe bemerkt, daß man (dies ist

besonders bei Damen der Fall) sich beim

Tanze oft von einer nicht vorteilhaften

Seite zeigt. Wenn das Blut in Wallung

kommt, so ist die Vernunft nicht mehr

Meister der Sinnlichkeit; verschiedene

Arten von Temperamentsfehlern werden

dann offenbar. Man sei also auf seiner

Hut! Der Tanz versetzt uns in eine Art von

Rausch, in welchem die Gemüter die

Verstellung vergessen. Wohl dem, der

nichts zu verbergen hat!

Anständigkeitsregeln beim Tanze

übergehe ich hier. Wer Erziehung hat,

bedarf deren nicht, und weiß z. B., daß

man sich nicht vordrängen und Damen

nicht plump angreifen, drücken und

herumreißen darf; daß es beim

Händegeben schicklich ist, der Hand des

Vornehmern über der seinigen den Platz

zu lassen und dergleichen mehr..."

Er liebt, wie wir gehört haben, Heidelberg – doch selbst hier ist nicht alles nach

seinem Geschmack – einerseits...

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KNIGGE: "...der Neckarwein, den sie hier trinken. Denn der hat für mich etwas sehr

Widriges, dahingegen die Weine, welche in andern Gegenden der Pfalz wachsen,

lieblich und gewürzhaft schmecken..."

...und andererseits achtet er als Mann der Feder natürlich penibel auf sprachliche

Fein- bzw. Unfeinheiten:

KNIGGE: "Es wundert mich, daß die hiesigen Einwohner durch die Nachbarschaft

des vortrefflichen Theaters in Mannheim ihren Geschmack so wenig verfeinert

haben, daß sie geduldig eine falsche Deklamation und Sprachfehler ohne Zahl

ertragen können. Zwar, was die Sprache betrifft, so nimmt man es damit in den

Rhein-Gegenden so genau nicht. Die mehrsten Menschen hier schreien in einer

Mundart, von der man nicht recht weiß, ob man sie für teutsch oder wofür sonst

halten soll... Es scheint, als hätten die Leute gar kein Gehör. Sie verwechseln ohne

Unterlaß ö und e, ä und e, ü und i, eu und ei und accentuieren ganz falsch. Der

Direktor der hiesigen Schauspieler-Gesellschaft selbst verwechselte immer mir und

mich, dem und den !"

Das `vortreffliche Theater in Mannheim´ sieht ihn am 17. April 1784 im Publikum der

Premiere eines epochemachenden Trauerspiels. Drei Tage zuvor hatte er von dort

einen Brief erhalten.

Absender war ein aufstrebendes literarisches Nachwuchstalent.

"Sehen Sie es als eine schriftstellerische Eitelkeit an, daß ich Sie nunmehr beim Worte

fasse und Sie zu `Kabale und Liebe´ einlade. Wenn mir nicht an einigen angenehmen

Augenblicken, die ich bei dieser Gelegenheit in ihrer Gesellschaft gewinne, zu viel gelegen

wäre, so würde ich mir diese Freiheit niemals erlaubt haben... Ihr Friedrich Schiller !"

Der "Sturm & Drang" des jungen Autors gefällt Knigge sehr, wendet doch auch er

sich in seinen Versen vehement und wortgewaltig gegen jede Fürstenwillkür.

Mit dem zweiten Protagonisten der "Weimarer Klassik" hat er allerdings weniger

erquickliche Begegnungen. Über ein Abendessen mit Goethe im Hause eines

Mannheimer Verlegers berichtet ein Augenzeuge, Knigge habe ...

..."schrecklich gegen den lebendigen und gewandten Goethe abgestochen" ...

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Dem schon damals weit berühmteren Poeten ist er also offenbar weder

schriftstellerisch noch in der Rolle des Salonlöwen gewachsen. Und umso mehr

verachtet er dann später den alternden Geheimrat, der in seinen Augen als Dichter-

Fürst auch gesellschaftlich die Seiten gewechselt hatte:

KNIGGE: "So wie Goethe jetzt schreibt, so lebt er auch - ein höchst üppiges Schlemmer-

Leben, an der Seite seiner Maitresse !"

Aber einen Charakterzug teilt er sich mit dem Frankfurter Schwerenöter.

Auch Knigge gibt sich stets zuvorkommend, charmant, galant und hingerissen im

Angesicht holder Weiblichkeit:

KNIGGE: "Frankfurt, den 26sten Mai -

Als ich im Begriff war, von Heidelberg abzureisen, und nur noch auf die Ankunft des

Fuhrwerks wartete, wandelte ich in dem Vorhause des Gasthofs auf und nieder. Ein

sauber gekleidetes, hübsches junges Frauenzimmer trat herein, machte mir im

Vorbeigehen eine anständige Verneigung und fragte dann ein paar Leute, die im

Hofe standen, ob man ihr nicht eine Retour-Kutsche oder irgendeine andre

Gelegenheit, um wohlfeilen Preises nach Frankfurt zu kommen, anweisen könnte.

Man sagte ihr: der Herr dort stehe im Begriff, dahin zu reisen; man wisse aber nicht,

ob er geneigt sei, jemand mitzunehmen. Ich hörte diese Unterredung in einiger

Entfernung an und beäugelte nun noch einmal das Frauenzimmer vom Kopfe bis zu

den Füßen, indem ich erst mit mir selbst ausmachen wollte, ob ich ihr meine

Gesellschaft anbieten könnte. Sie hatte indes auch den Kopf nach mir hingewendet

und schien ihre Bescheidenheit um Rat zu fragen, ob sie mir die Bitte vortragen

dürfte oder nicht. Ihre hellen, freundlichen blauen Augen hatten schon zur Hälfte den

Antrag getan, als, mit Vorsatz oder durch Ungefähr, ein kleines, zierliches, in Atlas

gekleidetes Füßchen schelmisch unter dem Rocke hervorblickte und mich vollends

bestimmte, ihr entgegenzukommen...!"

MUSIK: (noch einmal ganz kurz einige Takte aus der) "Marseillaise"

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"Alle deutschen Demokratennester sind der Widerhall Kniggischer Grundsätze, und

Knigge ist der Widerhall der ganzen deutschen Aufklärungspropaganda !"

... schreibt die "'Wiener Zeitung" und der Leibarzt des Alten Fritz ereifert sich – ganz

im Sinne seines Herrn:

"Man beklatschet diesen Volksaufwiegler Knigge wegen der unzählbaren Pasquillen,

die er des lieben Brodes willen schreibt !"

Knigge vergißt also über seine intimeren Freuden nie den hehren Auftrag zur

Weltverbesserung. Schon die Titel seiner Romane verraten sein politisches

Sendungsbewußtsein:

"Josephs von Wurmbrand politisches Glaubensbekenntnis, mit Hinsicht auf die

französische Revolution und deren Folgen !"

... und ...

"Benjamin Noldmanns Geschichte der Aufklärung in Abyssinien !"

... sowie ...

"Sechs Predigten gegen Despotismus, Dummheit, Aberglauben, Ungerechtigkeit,

Untreue und Müßiggang !"

1788 erschien dann jenes Werk, welches bis heute seinen Ruhm begründet hat:

KNIGGE: "Über den Umgang mit Menschen !"

Der Kulturphilosoph Egon Friedell spricht (in seiner 1927 erschienenen

"Kulturgeschichte der Neuzeit") davon als dem...

"...berühmtesten Buch der deutschen Aufklärung, welches durchaus verdient, noch

heute von jedermann zitiert zu werden, und durchaus nicht verdient, von nahezu

niemandem mehr gelesen zu werden !"

Wer sich einmal die Mühe und das Vergnügen macht, diesen oft bemühten, aber

offensichtlich nie studierten Text wirklich zu lesen, der wird überrascht sein, darin

kein Wort von all dem zu finden, was man gemeinhin mit dem Namen "Knigge"

verbindet. Kein Wort über den angemessenen Werkzeuggebrauch beim Verzehr

toter Fische und dergleichen. Stattdessen ist es ein Ratgeber für ein der Vernunft

gemäßes Leben unter sympathischen wie auch unsympathischen und übelwollenden

Zeitgenossen. Knigge behandelt in 26 Kapiteln das angemessene Verhalten

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gegenüber den verschiedensten Typen von Menschen: über den Umgang mit Alten,

Kindern, Eltern, Ehepartnern, Verliebten und Betrunkenen, Gaunern und Heuchlern,

Künstlern und Schwärmern, Geistlichen, Lehrern, Ärzten, Juristen u.v.a.m.

MUSIK: KNIGGE

"Sonate für Cembalo Nr.6 G-Dur"

Vom Umgang mit Geistlichen:

KNIGGE:"Menschen ohne Erziehung und Sitten,

ohne gesunde Vernunft und ohne andre

Kenntnisse, als die dazu gehören, sich

nach einem elenden Schlendrian

examinieren zu lassen, drängen sich in

diesen Stand ein, haschen nach reichen

Pfründen und Pfarreien und erlauben

sich, um dahin zu gelangen, alle Arten

von Schleichwegen und

Niederträchtigkeiten. Haben sie nun ihren

Zweck erreicht, dann fährt der echte

Pfaffengeist in sie. Geizig, habsüchtig,

wollüstig, gefräßig, Schmeichler der

Großen und Reichen, übermütig und stolz

gegen Niedre, voll Neid und Scheelsucht

gegen ihresgleichen, sind sie größtenteils

daran schuld, wenn Verachtung der

heiligsten Religion so allgemein einreißt.

In Prälaturen und Klöstern muß man den

Ton der Herrn Patrum anzunehmen

verstehn, wenn man ihnen willkommen

sein will. Ein guter, gesunder Appetit;

nach Verhältnis ebensoviel Durst und die

Gabe, ein Gläschen mit Geschmack und

oft genug ausleeren zu können; ein

jovialischer Humor; ein Witz, der nicht zu

fein, sondern ein wenig materiell sein

muß; zuweilen ein Wortspielchen; ein

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lateinisches Rätsel, eine Anspielung auf

eine scholastische Spitzfindigkeit...

In Nonnenklöstern kann man mit einer

hübschen stämmigen Figur und einem

Sacke voll Märchen, und Späßchen

ziemlich weit kommen !"

"Vom Umgang zwischen Eltern und

Kindern:

KNIGGE: Wenngleich das

Zeugungsgeschäft nicht eigentlich

absichtliche Wohltat für die folgende

Generation ist, so gibt es doch wenig

Menschen, die nicht ganz gut damit

zufrieden wären, daß jemand sich die

Mühe gegeben hat, sie in die Welt zu

setzen.

Wer die Mutter nicht liebt, deren Brüste er

gesogen, was für Interesse soll der wohl

an dem Ganzen nehmen? Daß aber

diese Bande täglich lockrer werden,

beweist nichts, als daß wir uns täglich

weiter von der edeln Ordnung der Natur

entfernen!"

"Vom Umgang mit Verliebten:

KNIGGE: Mit Verliebten ist

vernünftigerweise gar nicht umzugehn;

sie sind so wenig als andre Betrunkene

zur Geselligkeit geschickt!"

"Vom Umgang mit Enthusiasten,

überspannten und romanhaften

Menschen:

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KNIGGE: Kraftgenies und exzentrische

Leute lasse man laufen, solange sie sich

noch nicht gänzlich zum Einsperren

qualifizieren. Die Erde ist so groß, daß

eine Menge Narren nebeneinander Platz

darauf haben!"

Letzteres war sicherlich durchaus auch ein wenig selbstkritisch gemeint, denn etwas

`überspannt´ und `enthusiastisch´, das war er ganz sicher.

Vor allem aber bei seinem wichtigsten Thema redet Knigge - hier wie anderswo -

unmißverständlich Klartext:

"Vom Umgang mit den Großen der Erde, Fürsten, Vornehmen und Reichen:

KNIGGE: Man würde ungerecht handeln, wenn man behaupten wollte, alle Fürsten,

alle sehr vornehmen und alle sehr reichen Leute hätten dieselben Fehler miteinander

gemein, durch welche viele von ihnen ungesellig, kalt, unfähig zum echten

Freundschaftsbande und schwer zu behandeln im Umgang werden; allein man

versündigt sich wahrlich nicht, wenn man sagt, daß dies bei den mehrsten von ihnen

der Fall ist. Sie werden in der Erziehung verwahrlost, von Jugend auf durch

Schmeichelei verderbt, durch andre und sich selbst verzärtelt. Wer nicht

schlechterdings dazu verdammt ist, an Höfen zu leben, der bleibe fern von diesem

Schauplatz des glänzenden Elends. Mußt oder willst Du aber in der großen Welt

bestehen, so sei höflich und geschliffen im Äußern; nimm eine Art von Würde und

von Hoheit an gegen den Hofschranzen, damit nie der Gedanke in ihm aufkeimen

könne, Dich zu foppen oder zu mißbrauchen. Diese Sklavenseelen zittern vor dem

Übergewichte des verständigen, konsequenten Mannes.

Sage diesen Leuten zuweilen einmal, doch ohne Hitze und Grobheit, die Wahrheit.

Schlage ihre flachen, schiefen Urteile kaltblütig mit Gründen nieder, wo es nach den

Umständen die Klugheit erlaubt. Stopfe ihnen das Maul, wenn sie den Redlichen

lästern. Setze ihren Schleichwegen Mut, Tätigkeit und wahre Kraft entgegen!"

Das Buch wird in der gelehrten Welt ganz Europas ein viel beachteter Erfolg.

Natürlich nimmt auch die Obrigkeit Notiz von dieser in höchstem Maße

17

unbotmäßigen Schrift. Als Knigge schließlich nach 1789 auch noch als vehementer

Verfechter der Französischen Revolution auftrat, wurde er immer mehr zum Opfer

staatlicher Schikane und Verfolgung.

MUSIK: die ersten Takte der Sarastro-Arie aus MOZARTs "Zauberflöte"

("In diesen heilgen Hallen...")

Doch zunächst einmal hat er all seine Hoffnungen auf soziale Veränderung in einen

neuentstandenen freimaurerischen Geheimbund gesetzt: die "Illuminaten" – deren

Gründer Adam Weishaupt ihn zu einem seiner wichtigsten Propagandisten macht.

Und in dieser Mission, als Proselytenmacher, besucht er rheinabwärts am Fuße des

Westerwaldes auch einmal die Stadt Neuwied, um die dortige Loge "Caroline zu den

3 Pfauen" in seinen Orden zu überführen.

In der entsprechenden Urkunde heißt es:

"Wir von den erlauchten hochwürdigen Obern der alten echten Freimaurerei dazu

bevollmächtigte, unter dem hohen Schutze frei erwählten Direction unserer

geheimen großen Nationalloge von Teutschland haben uns auf Ansuchen einiger

würdigen und erleuchteten Brüder, mit gnädiger Bewilligung der Landesherrschaft

entschlossen, in Neuwied eine echte Loge der gereinigten Freimaurerei anzulegen.

Wir ermahnen alle diejenigen Brüder, welche dieser ehrwürdigen, gerechten und

vollkommenen Loge freiwillig und mit Zuversicht beitreten wollen, zu wahrem

maurerischem Fleiße; so wird der große Baumeister ihre stillen Arbeiten zum besten

der Menschheit segnen.

Daß ich, auf Befehl der erlauchten hochwürdigen Obern, vorstehende Constitution

denen sehr ehrwürdigen Brüdern in Neuwied ohnentgeldlich überliefert, und diese

neue Loge am Johannis-Fest des Jahres 1782 nach Christi Geburt eingeweihet

habe, solches bescheinige ich hiermit –

Gezeichnet: Adolph Freiherr Knigge !"

Er trägt den schönen Ordensnamen "Philo" und gibt – wieder einmal – Alles. Bis zum

Rande der Erschöpfung engagiert er sich. Doch sein anfänglicher Feuereifer erlischt

mehr und mehr, als er sieht, daß auch in seinem hehren Bund Eigennutz und

Profilneurosen mindestens ebenso virulent sind wie die Ideale Freiheit-Gleichheit-

18

Brüderlichkeit. Und dass der Ordensgründer Weishaupt in ihm bald einen

unliebsamen Konkurrenten sieht, zudem die Geschäfte ziemlich dilettantisch führt.

Und daß sich außerdem in Freimaurerkreisen neben solch hochkarätigen

Schöngeistern wie Lessing, Herder oder Pestalozzi auch allerlei zwielichtige

Gestalten herumtreiben. So berichtet er etwa von einer obskuren Versammlung in

KNIGGE: ..."W*** bei M*** "...

...(also Wiesbaden bei Mainz !), wo ein ...

KNIGGE: "...gewisser Herr von G*** an alle Logen schrieb und eine Einladung

schickte an die angesehensten Brüder, in sehr vielversprechenden Ausdrücken. Und

da die Erwartung itzt auf das Höchste gespannt war, so sagte jedermann: `Nun

sehet! Da bekommen wir doch endlich vollkommnes Licht!´ Doch jener Herr fing mit

einem schlecht zusammenhängenden Gewäsche seine Sitzung an und die

ernsthaften Männer waren dergleichen Torheiten bald herzlich müde !"

Schließlich verläßt er reichlich desillusioniert die "Illuminaten".

1783 übersiedelt er mit Gattin Henriette und ihrer achtjährigen Tochter Philippine

nach Heidelberg und widmet sich fortan mit umso größerer Energie der

Schriftstellerei.

MUSIK: die ersten Takte der Königin der Nacht-Arie aus MOZARTs "Zauberflöte"

("Der Hölle Rache...")

Doch zunächst einmal rechnet er, wie es so seine Art war, konsequent und

schonungslos ab:

KNIGGE: "Unter die mancherlei schädlichen und unschädlichen Spielwerke, mit

welchen sich unser philosophisches Jahrhundert beschäftigt, gehört auch die Menge

geheimer Verbindungen und Orden verschiedner Art. Man wird heutzutage in allen

Ständen wenig Menschen antreffen, die nicht von Wißbegierde, Tätigkeitstrieb,

Geselligkeit oder Vorwitz geleitet, wenigstens eine Zeitlang Mitglieder einer solchen

geheimen Verbrüderung gewesen wären. Und doch möchte es wohl nun endlich

einmal Zeit sein, diese teils zwecklosen, törichten, teils dem gesellschaftlichen Leben

gefährlichen Bündnisse aufzugeben. Ich habe mich lange genug mit diesen Dingen

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beschäftigt, um aus Erfahrung reden und jeden jungen Mann, dem seine Zeit lieb ist,

abraten zu können, sich in irgendeine geheime Gesellschaft, sie möge Namen

haben, wie sie wolle, aufnehmen zu lassen!"

Nun ist er also ein freier Schriftsteller. Und er schreibt, schreibt und schreibt !

Und hat schnell Erfolg.

"Die richtige Schilderung und getreue lebendige Darstellung der handelnden

Personen, die Reinigkeit und Anmut der Schreibart erheben ihn unendlich weit über

den Troß der alltäglichen Romanschreiber..."

...lobt das renommierte "Magazin der Kunst und Literatur".

Doch wie bei allem, so tut er auch als Autor oftmals des Guten zuviel. Seine

Textproduktion nimmt bald schon unübersehbare Ausmaße an. Ein gutes Dutzend

dickleibiger Romane und Erzählungen, ein Mehrfaches an politisch philosophischen

Essays zu Tagesthemen und Grundsatzfragen, daneben diverse Dramen,

ungezählte Rezensionen und Übersetzungen – vor allem französischer Schriften wie

Rousseaus "Bekenntnisse" oder auch des (durch Mozart vertonten) Skandalstücks

"Figaros Hochzeit" von Beaumarchais.

Und nicht alles, was er veröffentlicht, hat literarischen Wert. Das allerdings wußte er

selbst:

KNIGGE: "Ich halte die Schriftstellerei in unsern Zeiten für nichts mehr als für

schriftliche Unterredung mit der Lesewelt. Und man darf es dann im

freundschaftlichen Gespräche so genau nicht nehmen, wenn auch einmal ein

unnützes Wort mit unterliefe. Man soll es also dem Schriftsteller nicht übel

ausdeuten, wenn er, verführt von ein wenig Geschwätzigkeit,etwas drucken läßt, das

nicht gerade die Quintessenz von Weisheit, Witz, Scharfsinn und Gelehrsamkeit

enthält!"

Einige Theaterstücke jedenfalls reüssieren und viele seiner Unterhaltungsromane

werden veritable Bestseller:

"Die Verirrungen des Philosophen oder Geschichte Ludwigs von Seelberg !"

"Des seligen Herrn Etatsrats Samuel Conrad von Schaafskopf

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hinterlassene Papiere !"

"Die Reise nach Braunschweig"

... und vor allem der Schelmenroman "Geschichte Peter Clausens".

In letzterem beschreibt er auch reichlich selbstironisch den Literaturbetrieb:

KNIGGE: "Der Gedanke, in einem so fruchtbaren Felde, wie die teutsche Literatur

ist, mein Glück zu machen, fing an, mir zu gefallen. Ich wurde ein Kritiker. Da

schickten mir nun die Buchhändler die Werke zu, welche in ihrem Verlage

herauskamen, legten gewöhnlich einen Gulden bei und schrieben mir vor, wie und

was ich loben, tadeln, verdächtig machen sollte. Zuweilen mußte ich es dahin zu

bringen suchen, daß ein Buch in irgendeiner Gegend verboten wurde, damit es im

Preise steigen möchte. Bei dieser Gelegenheit las ich dann viel und wurde recht

eingeweiht in die neueste Literatur. Wenn meinem Schutzherrn Manuskripte

geschickt wurden, so mußte ich erst beurteilen, ob sie des Drucks würdig waren oder

nicht. Aber wohl zu verstehn! nicht nach ihrem innern Werte, sondern nach dem

Gepräge, das ihnen die Mode gab. Ernsthafte, der Welt nützliche Werke wurden

schlecht bezahlt oder die armen Schriftsteller wohl gar mit dem Bescheide

abgefertigt: `Dieser Artikel geht nicht´. Aber kleine Romane, wie die Geschichte

Peter Clausens, Bücher über den Zweck der Freimaurerei, über alte und neue

Mysterien, Vademecums, Blumenlesen und dergleichen... Wenn wir uns aber auch

noch so viel von einem Buche zu versprechen hatten, so durfte doch das der

Verfasser nicht gewahr werden. Wir zuckten die Achseln, klagten, das Papier sei

teuer, der Druckerlohn kostbar, der guten Werke dieser Gattung zu viel – Kurz! wir

machten uns die besten Talente zinsbar und lebten von dem sauern Verdienste

Andrer!...

Was mich aber selbst bewogen hat, diesen Roman herauszugeben? Ey nun! Was

andre Schriftsteller auch bewegt, Bücher zu schreiben. Der Herbst ist vor der Tür; die

Kinder wollen gekleidet sein; die Frau spricht von einem neuen Pelzmantel... Also

braucht man Geld. Also sucht man einen Verleger, und wenn dieser gut bezahlt und

die Finger nicht lahm sind, so schreibt man ein Bändchen voll und streicht dafür ein

billiges Honorarium ein. Kaufe und lese dann, wer lesen kann und will !"

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Er profitiert nicht ungeschickt von den noch ungeordneten Zuständen und

Geschäftsbedingungen des gerade entstehenden bürgerlichen Literaturlebens, aber

er lernt ebenfalls dessen Kehrseiten kennen – von gehässigen Rezensionen bis hin

zu existenzbedrohenden staatlichen Zensurmaßnahmen.

"Wir haben mit dem größten Befremden wahrgenommen, daß von Euch eine äußerst

anstössige Schrift herausgegeben worden. Wir befehlen Euch deshalb namentlich

hinführo nichts mehr drucken zu lassen, was nicht vorher gehörigen Ortes zur Zensur

eingereicht worden und selbige passieret hat !"

Zwar gab es stets Mittel und Wege, dem Zensor letztendlich irgendein Schnippchen

zu schlagen, doch das Berufsverbot hing als ein drohendes Damoklesschwert

ständig über seinem Schreibtisch.

Dennoch – und trotz ewig angegriffener Gesundheit – bleibt seine Produktivität

ungebrochen.

Auch seiner Wahlheimat setzt er etliche literarische Denkmäler. In der Geschichte

von "Benjamin Noldmann" etwa beschreibt er aus dem Blickwinkel eines Höflings die

Bildungsreise eines Prinzen:

KNIGGE: "Jetzt, auf dieser Reise, fanden sich der Gelegenheiten irrezugehen noch

weit mehr. Er kam in Frankfurt ein paarmal betrunken nach Hause; ich machte sanfte

und ernste Vorstellungen; man antwortete leichtsinnig und spöttisch und in Mainz

hatten sich ein paar junge Domherren ein Fest daraus gemacht, ihn in ein

berüchtigtes Haus zu führen, wo er sich eine ekelhafte Krankheit holte. Ich ahndete

dies bald an seiner Gesichtsfarbe, ließ einen Arzt rufen und hoffte, dieser Unfall

sollte ihn von Ausschweifungen zurückbringen; allein kaum war er hergestellt, so

ging wieder das vorige Leben an.

In Mannheim konnte er der Versuchung nicht widerstehen, sich einen Geheimrats-

Titel zu kaufen. Er wurde um neunhundert Gulden einig, konnte aber nicht die

Erlaubnis erlangen, diesen Titel auf seinen siebenjährigen Sohn vererben zu

dürfen...!"

MUSIK: (als kurze musikalische Zäsur noch einmal die ersten Takte aus)

KNIGGE "Klaviersonate C-Dur / 2. Satz"

22

Auch das Musikleben, welches er ebenfalls mit großem Interesse verfolgt, scheint

damals bereits ähnlichen Regeln und Marketingstrategien gefolgt zu sein wie heute.

Selbstdarstellung und Image waren für einen Virtuosen bereits ebenso wichtig wie

seine Fingerfertigkeit.

Auch das wurde zum Romansujet – in der "Geschichte Peter Clausens":

KNIGGE: "Endlich fiel mir ein, daß, weil ich doch ein guter Tonkünstler wäre, ich

mich auf diese Art vielleicht nicht nur zu einem reichen Manne, sondern auch

vielleicht einmal zu einem Konzertmeister bei einem großen Fürsten erheben

könnte.... Zur Sicherheit sowie des Wohlklangs wegen hatte ich meinen Namen

Peter Claus in Signor Pedro Clozetti umgeschaffen... und meine Leser sehen mich

also jetzt in einer neuen Laufbahn, als reisender Musiker, mein Glück suchen. Ein

Virtuose, der reist, um sich hören zu lassen, baue nur ja nicht auf die Größe seines

Talents. Wenn er in einem einfachen Rocke mit dem gewöhnlichen Postwagen

ankömmt, sich bescheiden ankündigt, ohne daß ein Herold ihn unter das müßige

Publikum ausschreiet, so mag er immerhin besser wie der selige Generalfeldmusikus

Orpheus spielen; er wird wenig Bewunderer finden und eine kärgliche Einnahme

haben. Selbst die wahren Kenner, deren es in einer Stadt immer wenige gibt, werden

entweder von dem Modeton hingerissen werden oder ihrer eignen Empfindung nicht

trauen oder nicht den Mut haben, den Mann zu loben. Aber der elendeste

musikalische Luftspringer, der keine Note rein greift, aber zuweilen mit der linken

Hand bis zu dem Stege hinaufrennt, komme mit Extrapost vor den besten Gasthof

gefahren, kündige sich prahlerisch an, erscheine in sammetnen und seidnen

Kleidern...und vorzüglich, wenn er etwa eine hübsche Sängerin bei sich hat, wird er

ganze Säcke voll Dukaten verdienen. Was mich betrifft, so hatte ich diese Rolle

herrlich auswendig gelernt, und durch Hilfe meiner Empfehlungsschreiben galt bald

in ganz Teutschland der Signor Pedro Clozetti für den ersten Geiger in Europa. Ich

hoffe, Sie werden Alle von mir gehört haben!

In Stade erwarb ich mir die Gunst einer artigen bemittelten Witwe von etwa dreißig

Jahren, welche sehr die Musik liebte. Sie ließ mirs nicht undeutlich merken, daß sie

es nicht verschworen hätte, zum zweitenmal sich in das sanfte Joch der Ehe zu

spannen, wenn sie einen Mann fände, der ihr sonst gefiele und der zugleich Musik

verstünde. So groß auch diese Versuchung war, eine solche Entschließung zu

meinem Vorteile zu lenken, so gab mir doch mein guter Genius ein: ich dürfe die

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Sache nicht weiter treiben, weil ich schon verheiratet wäre, und ich lehnte also den

Antrag ab!"

Knigge selbst hat – in den (etwas zu großen) Fußstapfen seines freimaurerischen

Vorbildes Mozart – übrigens auch komponiert - Sonaten, Sinfonien, ein Konzert für

Fagott & Streicher, sowie einige Messen für ein Dominikanerkloster in der Nähe von

Heidelberg.

Gedruckt und publiziert wurden davon allerdings lediglich sechs - ab und an etwas

holperige, aber durchaus hörenswerte – Klaviersonaten im vorklassischen Stil, die in

Ausschnitten bereits zu hören waren:

MUSIK: KNIGGE "Klaviersonate B-Dur / 1. Satz"

Und dann gab es da noch eine ganz besondere Spezies, mit der er lebenslang in

Fehde gelegen hat und die eine Hauptursache dafür gewesen ist, daß er trotz seiner

Popularität am Ende doch nie auf einen grünen Zweig kommt. Seine finanzielle Lage

bleibt sein Leben lang prekär.

KNIGGE: "Die Geschichte Peter Clausens ist in Teutschland mit Beifall gelesen

worden, und es würde schon früher eine neue Auflage davon erschienen sein, wenn

nicht die Nachdrucker dafür gesorgt hätten, daß es nie an Exemplaren fehlte. In

Bezeugung meiner Dankbarkeit für die Ehre, welche man mir erwiesen hat, einige

meiner Schriften nachzudrucken, bin ich entschlossen, ein Werk auf Pränumeration

herauszugeben, das den Titel führen soll: `Diebeschronik oder Sammlung von

Lebensbeschreibungen und Bildnissen der berühmtesten teutschen Nachdrucker´.

Der Text der Biographien soll auf schönes graues Löschpapier, ungefähr nach dem

Muster desjenigen, auf welchem kürzlich ein Nachdruck in Leipzig erschienen ist,

gedruckt werden !"

Im 18. Jahrhundert war das Urheberrecht gesetzlich noch weitgehend ungeregelt,

das provozierte im Buchhandel geradezu zum Mißbrauch.

Seinen Kampf gegen die "Nachdrucker", den hat Knigge dann posthum endgültig und

folgenschwer verloren. Viele Verleger - vor allem aber seine eigene Tochter -

begannen nach seinem Tod, den ursprünglichen Text seines Buches "Über den

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Umgang mit Menschen" zu entschärfen und ganze Passagen skrupellos

umzuschreiben - um den Verkaufserfolg nicht zu gefährden und der Zensur keinen

Anlaß zu einem Verbot zu geben. Bis am Ende tatsächlich jene Benimmfibel stand,

die seine revolutionären An- und Absichten praktisch in ihr Gegenteil verkehrte und

der er bis heute seinen zweifelhaften Nachruhm verdankt.

MUSIK: KNIGGE

"Klaviersonate Es-Dur / 2. Satz"

Knigge am 3. März 1787 an seinen

Berliner Verleger Friedrich Nicolai:

KNIGGE: "Ich melde Ihnen,

wertgeschätzter Herr und Freund,

gehorsamst, daß ich vor 8 Tagen alle

meine Rezensionen und die Bücher von

der letzten Messe in Frankfurt zu weiterer

Besorgung an Sie geschickt habe, und

also nicht mehr in Rest bin.

Vom 1sten Mai an werde ich in Hannover

wohnen.

Ich habe mit schwerem Herzen meinen

Aufenthalt in der schönen Pfalz

aufgegeben. Meine Rückkehr in mein

Vaterland ist ein Opfer, so ich meiner

lieben Tochter bringe. Meine Güter sind

Lehen und noch immer mit väterlichen

Schulden behaftet. Meine Gesundheit ist

hinfällig. Wenn ich stürbe, so würde die

Separation des Erbes vom Lehen die

Meinigen in Prozesse verwickeln. Bei

eigener Gegenwart kann ich dies vor

meinem Abschiede ins Klare bringen.

Übrigens werde ich dort eben so häuslich

und einfach als bisher leben, das heißt:

acht Stunden des Tages dem Unterrichte

meiner Kinder widmen. Mein ganzer

Haushalt besteht, außer meiner Frau und

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Tochter, aus 6 angenommenen Kindern

und ich habe eigentlich gar keine

Domestiken. Häusliche Freuden, Musik

und Lektur füllen des Rest des Tages

aus... !"

Das Schlußkapitel seines kurzen,

ereignisreichen Lebens, das spielte also

wieder im hohen Norden.

Um seine Familie zu ernähren, gab er

sein freies Schriftstellerleben auf.

Notgedrungen nahm er eine subalterne

Stelle in der Bremer Schulbehörde an.

Und so verbrachte er seine letzte Zeit

gewissermaßen als ein "Radikaler" im

öffentlichen Dienst.

Und auch in jenen Jahren erinnerte er sich – aus gegebenen Anlässen – immer

wieder gerne an seine Zeit in der Pfalz:

ATMO: (noch einmal eine Weinflasche entkorken)

Zum Wohle, Herr von Knigge!

KNIGGE: "Daß es hier sehr guten alten Rheinwein gibt, wissen Sie vermutlich; aber

daß ich gestern mit einigen hiesigen Freunden im Bremer Ratskeller (welcher allein

das Privilegium hat, Rheinwein zu verkaufen) diese Panacäe gekostet und überaus

heilsam gefunden, das habe ich die Ehre Ihnen hiermit zu melden. Der erste Grund

zu diesem Schatze wurde gelegt durch die ziemlich wohlfeile Ankaufung eines

ganzen Weinlagers, das in den Rhein-Gegenden verhandelt wurde. Und nach jenem

guten Kaufe hat man von Jahren zu Jahren den Vorrat durch Anschaffung alter und

junger Rheinweine vermehrt. Es gibt hier in der sogenannten Rose (einer besondern

Abteilung im Keller) so alten Wein, daß man berechnet hat, es komme, wenn man

den Ankaufspreis, die verlornen Zinsen, dann wieder die Zinsen von den Zinsen,

endlich den Auffüll-Wein und andre Unkosten in Anschlag bringt, jede Quartier-

Flasche voll über tausend Taler zu stehn. Dieser Wein aber wird auch gar nicht

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verkauft, sondern nur bei Feierlichkeiten und, auf Befehl des Präsidenten, für Kranke

hergegeben!"

Selbst im Angesicht seines Grabes in Bremen spaltete Knigge seine Leserschaft.

"Einer der schamlosesten Volksaufwiegler ist er gewesen...!"

Eine Zeitung spekulierte gar - unter der Überschrift...

..."Ob Baron Knigge auch wirklich tot ist ?" ...

...daß dieser "intrigante Revoluzzer" seinen Tod möglicherweise nur vorgetäuscht

haben könnte, um fortan aus dem Untergrund seine staatszersetzenden Ziele zu

verfolgen.

Doch man konnte sich beruhigen - er lebte wirklich nicht mehr.

Im Zorn über die vielen bösartigen Nachrufe lief einer seiner engsten Freunde, der

Domkantor der Freien Hansestadt, Wilhelm Christian Müller, zu lyrischer Höchstform

auf und verfasste das folgende Epitaph:

"Heiligen Schauers raste, Biederpilgrim ! Unter diesem Steine schlummern die

irdischen Überbleibsel des unsterblichen Knigge; der edel, schön, bieder dachte,

schrieb, waltete als Bürgerfreund, Aufklärer, Völkerlehrer, voll Großmut gegen seinen

Feind, mit heiterfeinem Witz, rastloser Tätigkeit, endloser Körperschmerzen sanfter

Dulder bis an den letzten Lebenstag !"

Um es noch einmal in aller Klarheit zu sagen:

Weder war er der oberste Sittenwächter seiner Zeit, noch war er ein Pedant in

Sachen Kleiderordnung, weder scherte er sich darum, wie Messer und Gabel bei

Tisch platziert gehören, noch darum, ob es nun der Etikette entspricht, wenn ein Herr

einer Dame hinterhertritt. Weder war er es, der den anständigen Lippenabstand beim

stilvollendeten Handkuß ausgemessen hat, noch sprach er überhaupt jemals von so

etwas wie dem guten Ton oder dem guten Benehmen. Vor allem den kleinen Mann

wollte er in die Lage versetzen, wenn es Not tat, auch einmal mit Fürsten und

anderen verstaubten Perückenträgern gekonnt, taktvoll und gefahrlos Schlitten zu

fahren.

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MUSIK: (die letzten Takte aus)

KNIGGE

"Klaviersonate B-Dur / 1. Satz"

Halt! Ein einziges Mal, da sprach er doch

von den Tischsitten bzw. von den

ungeahnten Gefahren, die lauern können

bei einem gar zu vornehmen Mahl. KNIGGE:"Einst speisete ich mit dem Benediktiner-

Prälaten aus I*** bei Hofe in H***. Man

hatte dem dicken

hochwürdigen Herrn den Ehrenplatz

neben Ihrer Hoheit der Fürstin gegeben;

vor ihm lag ein großer Ragoutlöffel zum

Vorlegen. Er glaubte aber, dieser größere

Löffel sei, ihm zur besondern Ehre, zu

seinem Gebrauche dahingelegt, und um

zu zeigen, daß er wohl wisse, was die

Höflichkeit erfordert, bat er die Prinzessin

ehrerbietig, sie möchte doch statt seiner

sich des Löffels bedienen - der freilich viel

zu groß war, um in ihr kleines Mäulchen

zu passen!"

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